»Ich sollte wirklich nicht«, sagte Carpenter, als Rhodes ihm das Glas wegnahm, um nachzuschenken. »Ich vertrag das Zeug nicht so gut wie du.«
»Ach, lass dich doch mal gehen«, sagte Rhodes. »Warum sollste nicht, verdammt?« Die bernsteingoldene Flüssigkeit schoss in sein Glas. Carpenter hatte inzwischen vergessen, ob sie Scotch tranken oder Bourbon. Bourbon schmeckt weicher, sagte er sich, aber inzwischen war ihm die Fähigkeit abhanden gekommen, zwischen den Geschmacksvarianten noch zu unterscheiden. Er hatte das Gefühl, den ganzen Abend lang ununterbrochen getrunken zu haben. Rhodes jedenfalls hatte das bestimmt getan. Aber das war ja bei ihm immer so.
Hab ich etwa Glas für Glas mit ihm gleichgezogen?, überlegte Carpenter.
Doch … Ich denke, das hab ich.
»Lass dich mal gehen«, sagte Rhodes. Aber das hatte er doch schon einmal gesagt, oder? Fing er jetzt schon an, sich zu wiederholen? Oder hatte sich in Carpenters Gehirn nur einfach die vorherige Bemerkung von Rhodes erneut abgespult. Er war da nicht sicher.
Und es spielte auch keine Rolle. »Denke, es kann nichts schaden«, sagte er. »Wie du das so lieb gesagt hast, Nick, warum, verdammt, sollte ich nicht?«
Nach einer wilden Fahrt, an die er sich kaum noch recht erinnern konnte, war Carpenter von Chicago wieder in der Bay Area angelangt. Der Wagen lief die ganze Strecke über auf Automatik und war programmiert, den kürzesten Weg zwischen Illinois und Kalifornien zu nehmen, und er hielt nur, wenn er sich wieder aufladen musste, und kümmerte sich kaum um Geschwindigkeitsbeschränkungen. Carpenter verschlief fast die ganze Fahrt wie ein Bündel alter Kleider auf dem Rücksitz. Er erinnerte sich, dass es ein paar schwierige Momente gab, als der Wagen an einen der erweiterten neuen Ausleger der Quarantänezone geriet und weit nach Norden ausweichen musste; er erinnerte sich, dass er die Sonne über West-Nebraska wie einen stürzenden roten Feuerball untergehen sah; er hatte eine unbestimmte, wenig zuverlässige Erinnerung daran, dass er am folgenden Tag durch eine weite unbegreifliche Ebene voll Aschehaufen und schimmernder Vulkanschlacke kam. Und damit hatte es sich auch schon, an mehr von der Fahrt erinnerte er sich nicht.
Aber an Chicago erinnerte er sich doch sehr deutlich.
Jeanne, die atemlos vor Überraschung in seinen Armen lag in dieser langen Nacht gieriger Umarmung. Jeanne, die in der selben Nacht, später, urplötzlich krampfhaft zu schluchzen begann und sich weigerte zu sagen, weshalb. Jeanne, die ihm gestand, sie sei zum Katholizismus konvertiert, und die sich erbot, für ihn zu beten. Jeanne, die ihn schließlich im Morgengrauen von sich stieß und sagte, sie sei aus der Übung im Bett und hätte jetzt schon mehr gehabt, als sie vorläufig verkraften könne.
Und wie sie dann, Hand in Hand und vollgepumpt mit Screen und mit Gesichtsmasken, in einer mittäglichen Gluthitze, die in Satan persönlich Heimwehgefühle hervorgerufen hätte, Chicagos Loop entlang gezogen waren, unter einem verschmierten grünlichen Himmel, der aussah wie eine umgekehrte Schüssel voll Erbrochenem. Der Gestank nach faulen Eiern von den Schwefelwasserstoffen in der Luft kam sogar durch die Schutzmaske. Der Blick die hohen uralten Steinfassaden hinauf, die von ätzender Luft und Giftregen zu einer Phantasmagorie willkürlicher gotischer Brüstungen, Türme, Spitzen und asymmetrischer Dachkronen zernagt worden waren.
Jeanne, die am gleichen Tag später ihren Körper vor ihm unter einem unförmigen zeltartigen Kleidungsstück verbarg und erklärte, sie sei zu hässlich, sich bei Licht sehen zu lassen, und die wütend wurde, als er sagte, sie sei verrückt, und ihr Körper sei wirklich wunderschön.
Und dann, als sie sagte: »Es war wirklich wundervoll, Paul, dass du hier warst. Ich mein's ganz im Ernst. Dass du es fertig gebracht hast, es Wirklichkeit werden zu lassen, nachdem es so lange nur gespielt war. Aber jetzt – wenn du glaubst, du kannst dich zusammenraffen und die Kraft finden, jetzt weiterzumachen …«
Und er hatte sich daran gemacht, Jeannes magere Alkoholvorräte zu vernichten und das Zeug stetig und hingebungsvoll in sich hineingeschüttet, in einer Weise, die eines Nick Rhodes würdig gewesen wäre. Hatte versucht, Jolanda in Berkeley anzurufen, dabei gehofft, dass es Jeanne nicht zu sehr verstören würde, wenn er sich so rasch einer anderen Frau zuwandte; hatte aber nur das Anrufband bekommen, nicht einmal eine Anzeige, dass ein Suchruf weitergeleitet würde. Dann der Anruf bei Nick. Bei dem er sich selbst eingeladen hatte. Dann die Ankündigung zu Jeanne, dass er noch in dieser Minute nach Kalifornien abreisen wollte, und ihr Gesicht, plötzlich ganz verloren und bekümmert. Und wie er sich gefragt hatte, ob es wirklich richtig war, es wörtlich zu nehmen, dass er verschwinden solle. »Aber es ist mitten in der Nacht, Paul«, hatte sie gesagt. Und er: »Macht nichts. Es ist so 'ne weite Fahrt. Ich mach mich besser gleich auf den Weg.« Der feuchte Schimmer in ihren Augen. Tränen der Bekümmerung? Erleichterung? Von Jeanne kamen stets diese gemischten Signale.
»Du bleibst doch in Verbindung, Paul? Komm wieder und besuch mich, wann immer du willst.«
»Ja. Ja.«
»Es war wunderschön, dich bei mir zu haben.«
»Ja. Ja. Ja.«
»Ich liebe dich, Paul.«
»Ich liebe dich, Jeannie. Wirklich.«
In den Wagen. Auf die Straße. Die Augen verschwollen vor Übermüdung, die Zunge pelzig vom Alkohol, das Gesicht ein Stoppelacker. Die Quarantänezone. Die sinkende rote schwangere Sonne. Asche und Bimsstein. Und dann, tausend Jahre später, die glattgerundeten gelbbraunen Berge über der Bay und der Tunnel nach Berkeley; und hoch oben am Hang das Apartment von Nick Rhodes mit diesem grandiosen Blick.
»Isabelle muss gleich da sein«, sagte Rhodes. »Wir haben eine Verabredung zum Dinner. Jolanda möchte, dass du ebenfalls kommst. Aber natürlich, wenn du sie nicht treffen möchtest … Dieser Enron ist mit ihr zusammen, weißt du. Das sagte ich dir doch, als du angerufen hast, oder?«
»Hast du. Zum Teufel, warum nicht? Je mehr, desto besser.«
Ein eigenartiger Abend. Isabelle war bestürzend lieb, freundlich und zartfühlend und äußerte nachdrücklich mehrfach, wie tief sie das bekümmerte, was Carpenter in der letzten Zeit alles hatte durchmachen müssen – Isabelle, die Therapeutin, wie er sie vorher noch nicht erlebt hatte, diese weichere anschmiegsame Frau, die sein Freund Nick Rhodes so verzweifelt liebte. Die zwei betrugen sich im Restaurant wie ein glückliches verliebtes Ehepaar, wie echte Partner diesmal, keine Spur von Aggressivität. Auch Jolanda informierte Carpenter, wie leid ihr das mit seinen Schwierigkeiten tue, und tröstete ihn mit einer hitzeglühenden Umarmung, drückte ihre Brüste fest gegen ihn, ihre Zunge züngelte und glitt ihm zwischen die Lippen, was bei jeder anderen Person als unmittelbare Aufforderung ins Bett hätte betrachtet werden müssen, was aber bei Jolanda, das begriff er rasch, nur ihre freundliche Standardbegrüßung bedeutete. Enron schien es nicht zu stören. Er sah fast nie zu ihr her und zeigte nicht das geringste Interesse an ihr. Er war überhaupt merkwürdig zurückhaltend, da war nichts mehr von dieser fieberhaften Intensität wie bei jenem anderen Dinner, vor Ewigkeiten, in Sausalito. Er sagte kaum ein Wort, war physisch anwesend, aber im Geist schien er ganz woanders zu sein.
Das Dinner – früh am Abend und in einem Carpenter nicht bekannten Restaurant in Oakland – bestand unter anderem aus Unmengen Wein und Unmengen von oberflächlichem Geschwätz und wenig sonst. Jolanda hatte offenbar die Maximaldosis Hyperdex genommen und plapperte plätschernd unablässig von den Wundern des L-5-Habitats, aus dem sie und Enron gerade zurück waren. »Und weshalb seid ihr da hingegangen?«, fragte er Jolanda, und Enron antwortete statt ihrer, etwas zu hastig und zu betont: »Ein Kurzurlaub. Weiter nichts als ein paar Tage Urlaub.« Seltsam.
Auch Nick Rhodes wirkte irgendwie beklommen. Er war schweigsam, irgendwie in Gedanken verloren und trank, sogar für seine Verhältnisse, gewaltig viel. Aber andererseits, dachte Carpenter, irgend etwas bedrückte ihn doch eigentlich immer.
»Morgen«, sagte Jolanda, »sind wir alle bei mir zu Hause zum Dinner, du, Nick, du, Paul, Isabelle, Marty und ich. Wir müssen alles wegputzen, was ich noch im Freezer habe.« Sie wollte schon wieder verreisen, sie mit Enron zusammen, nach Los Angeles diesmal. Merkwürdig, dass die zwei so viel gemeinsam verreisten, wo sie sich doch anscheinend kaum um einander kümmerten. Jolanda sagte zu Carpenter: »Ach ja, morgen Abend kommt noch ein anderer Gast dazu, ein Mann, den wir in Valparaiso Nuevo kennenlernten. Er heißt Victor Farkas. Es ist vielleicht nützlich, mal mit dem zu reden, Paul. Der arbeitet für Kyocera, ziemlich hochgradige Position, und ich hab ihm schon ein bisschen von deinen kürzlichen Problemen erzählt. Vielleicht kann er irgendwas für dich bei Kyocera finden. Jedenfalls wirst du feststellen, dass er ein interessanter Mann ist. Sehr ungewöhnlich, sehr faszinierend, bestimmt, auf eine unheimliche Weise.«
»Ohne Augen«, sagte Enron. »Ein pränatales Genexperiment, eine von diesen Scheußlichkeiten in Zentralasien während des Zweiten Aufbruchs. Aber er ist enorm wach. Sieht alles, sogar was hinter seinem Rücken vorgeht, irgendwie beinahe auf telepathische Weise.«
Carpenter nickte. Die sollten sich zu ihrem Dinner einladen, wen sie wollten, einen Mann mit drei Köpfen oder gar keinem, ihm konnte das gleich sein. Er schwebte jetzt über dem Boden, es interessierte ihn nicht, was um ihn herum vorging. Noch nie im Leben hatte er sich dermaßen müde gefühlt.
Jolanda und Enron verschwanden gleich nach dem Essen. Isabelle fuhr mit Carpenter und Rhodes zurück, blieb aber nicht. Carpenter war darüber erstaunt, nach der Demonstration von warmer Vertrautheit zwischen den beiden im Restaurant. »Sie möchte uns beiden die Chance geben, uns allein zu unterhalten«, erklärte Rhodes. »Sie kann sich vorstellen, dass wir einander viel zu erzählen haben.«
»Haben wir?«, fragte Carpenter.
Das war, bevor der Bourbon aufgetischt wurde, oder war es Korn.
»Wer ist dieses Weib in Chicago?«, fragte Rhodes.
»Ach, nur eine Freundin, vom Samurai-Büro in St. Louis. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Eine sehr liebe Frau und freundlich, aber ein bisschen verkorkst und frustriert.«
»Auf alle verkorksten, frustrierten Frauen«, sagte Rhodes. »Und alle frustrierten Männer!« Sie stießen die Gläser klirrend aneinander. »Warum bist du nicht länger bei der geblieben?«
»Dazu wäre sie wohl nicht bereit gewesen. Wir waren vorher nie zusammen im Bett, weißt du. Waren nur so gute Freunde. Ich glaube, Sex ist für sie irgendwie was furchtbar Kompliziertes. Es war lieb von ihr, dass sie mich so aufgenommen hat, fast ohne Ankündigung von mir, sie sagte einfach, ich soll gleich zu ihr kommen. Ein Hafen im Sturm. Sehr willkommen.«
»Auf die Häfen. Die Stürme!« Rhodes hob das Glas zu einem neuen Toast. Trank aus. Goss beide Gläser voll.
»He, mach langsam«, sagte Carpenter. »Ich bin kein so bodenloses Loch wie du.«
»Aber klar bist du das. Du hast bloß deine Kapazität nicht voll ausgeschöpft.« Rhodes goss sein Glas erneut voll und schenkte Carpenter nach. Er sah eine Weile stumpf brütend auf seine Schuhe. Sagte endlich: »Ich denke, ich werde den Job bei Kyocera annehmen.«
»Oh?«
»Ich bin noch nicht sicher. Aber es steht sechzig zu vierzig, dass ich's tue. Vielleicht Siebzig-dreißig. Übermorgen gebe ich ihnen meine definitive Entscheidung.«
»Du nimmst den Job. Ich weiß, du wirst.«
»Aber es macht mir Angst. Mit Wu Fang-shui zu arbeiten. Wir werden Wunder vollbringen, das weiß ich. Und genau das ist das Problem. Meine gute alte Angst vor dem Erfolg.«
»Du hast vielleicht Angst davor, aber du liebst den Erfolg auch. Nimm den Job an, Nick. Lass dich nicht aufhalten, verwandle uns alle in Ungeheuer. Das isses, was die verfluchte Welt verdient hat.«
»Genau. Prost!«
»Prost! Weg damit!«
Sie lachten.
Dann sagte Rhodes: »Wenn ich zu Kyocera gehe, vielleicht kann ich dann dort was für dich finden. Was meinst du dazu?«
»Du machst dich über mich lustig. Du und Jolanda, ihr alle beide. Die hat vorhin auch schon gesagt, sie will mit ihrem Freund Farkas wegen einer Stelle bei denen reden. Habt ihr denn alle keinen Funken gesunden Verstand? Ich bin der Kerl, der einen Haufen von ihren Kyoceraleuten auf See verrecken ließ, hast du das vergessen?«
»Das ist denen doch scheißegal, sobald ein bisschen Gras drüber gewachsen ist. Ich kann sie vielleicht dazu kriegen, dich einzustellen, als Gefälligkeit, oder dieser Farkas könnte das vielleicht sogar noch leichter hinbekommen. Du änderst deinen Namen, damit das nicht zu schief aussieht, und die schieben dich irgendwo rein. Höchstwahrscheinlich in 'ner niedrigeren Klasse, als deiner bisherigen, aber du kannst dich ja wieder hocharbeiten. Exzellenz strebt immer nach oben und setzt sich durch.«
»Du spinnst. Bei Kyocera bekäme ich nicht mal 'nen Händedruck.«
»Ich kenn da einen Dreiermann bei denen. Ehrlich. Wenn ich dem sage, sie können mich nicht kriegen, wenn sie nicht meinem Freund eine Stellung geben, der kürzlich ein bisschen Pech hatte und ein angeknackstes Image wegen einer Geschichte, der aber bemüht ist, sich unter einem andren Namen zu rehabilitieren, und einen neuen Anfang braucht …«
»Mach das nicht!«
»Warum nicht?«
»Weil es dumm ist«, sagte Carpenter. »Dumm und unmöglich. Versuch's nicht mal. Bitte, Nick!«
»Aber was willst du denn dann machen?«
»Aus irgendwelchen Gründen fragt mich das jetzt jeder. Und ich sage, ich weiß es nicht. Aber ich glaube nicht, dass ich bei Kyocera eine Zukunft habe. Schluss!«
»Na ja, könnte sein. Da, trink noch was.«
»Sollte ich eigentlich nicht. Ich schaff das Zeug nicht so gut wie du«, sagte Carpenter.
»Ach, lass dich mal gehen! Verdammt, warum nicht?«
Mitten in der Nacht irgendwann bemerkte Carpenter ohne die geringste Panik deswegen, dass er in ein Delirium zu sacken begann. Sie saßen immer noch an dem Tisch in Rhodes' Wohnzimmer, zwei leere Flaschen vor sich, vielleicht waren es auch drei (so unwichtige Details ließen sich inzwischen nicht mehr genau erkennen), und Rhodes füllte weiter automatisch ihre Gläser mit Alkohol, als wäre er ein durchgeknallter Android hinter einer Bar. Ihr Gespräch war mehr und mehr schon lange erloschen. Die Lichter von San Francisco gegenüber erloschen nach und nach ebenfalls. Es war vielleicht zwei Uhr nachts, vielleicht schon drei oder vier Uhr morgens.
Über die Fensterscheiben krochen jetzt Ranken. Große schlangenhafte Reben, so dick wie sein Arm, mit kleinen kalmarähnlichen Saugnäpfen und dichten Blattbüscheln. Alles wurde grün. Die Luft draußen war von einem grünen Dunst erfüllt. Leichter, stetiger Regen. Grün. Auf eine magische Weise hatte die Dürre an der Westküste ein Ende gefunden, und San Francisco und die Bay Area gehörten nun auch zu dem erdumfassenden Treibhaus und waren voller üppiger krebshafter tropischer Wucherungen.
Carpenter spähte durch das Grüngewächs aus dem Fenster. Die Verwandlung über Nacht war verblüffend. Grünes Licht spielte über dem Hang. Überall sah er Schlingpflanzen, Kriechgewächse, riesenhafte Farne, gigantische unbekannte Sträucher mit mächtigen schimmernden Blättern und großen fleischigen vulgärbunten Blüten. Es war ein Garten, der Amok lief, ein magischer Irrgarten ja, aber einer, bei dem der Zauber, der ihn hervorgerufen hatte, von der dunklen, üblen Art war. Der Regen strömte ohne Ende nieder, und die Pflanzen wogten unter ihm und murmelten, reckten sich, dehnten sich von Augenblick zu Augenblick weiter aus, hoben sich, strafften sich und breiteten ihre Arme aus.
»Gehn wir doch raus und laufen ein bisschen«, sagte er zu Rhodes. Und sie traten aus den versiegelten Fenstern und schwebten schwerelos in die feuchtgrüne Welt hinaus.
Und diese Welt leuchtete. Gespenstische Elmsfeuer brannten darin, ein allgegenwärtiges zuckendes Glühen. Die Luft war dick, feucht, kränklich-süß. Alles schien wie von einem Pelz bedeckt. Nein, kein Pelz, irgendein Pilzgewächs, eine dichte, feuchte Schimmelschicht. Aus prallen Organen brachen periodisch pulsierend dunkle Sporenwolken hervor, die nach Spalten und Nischen suchten, um sich festzusetzen, und die sie rasch fanden. Man sah nirgendwo scharfe Kanten oder glatte Flächen: Alles war überwuchert. Die riesenhaften mächtigen Bäume sahen aus wie bartbewachsene Riesenknollen. Überall seltsame Knollen und Wuchergeschwülste.
Der Mond schimmerte blässlich durch die Dunstschwaden. Sein pockennarbiges Gesicht war von gezacktem, wildem Bambusgezweig bedeckt. Daraus tropfte grünes Blut über den Himmel.
Gestalten bewegten sich in dem Dunst – Trolle, fremdartige knochenlose ungestalte Wesen mit Tentakeln, monströs unvertraut, als stammten sie von einem anderen Stern; doch während Carpenter sich ihnen näherte, erkannte er Gesichter, Augen, und er sah, wie menschlich sie waren. Die starrenden, von Entsetzen erfüllten Augen, die angstvoll weit aufgerissenen Münder. Und die schuppige Haut, die glitschigen Glieder, die schwabbeligen Puddingleiber, diese fremdartigen Gestaltungen um den in ihrem Innern immer noch erkennbaren Humankern. Auch mit ihnen war in dieser Nacht eine magische Verwandlung erfolgt.
Nick Rhodes schien sie alle zu kennen. Er begrüßte sie, wie man Nachbarn begrüßt, Freunde. Stellte ihnen Carpenter mit lustigem Tentakelschwenken vor.
»Das ist mein Freund Paul«, sagte er. »Mein ältester und liebster Freund.«
»Nett, dich kennenzulernen«, sagten sie und zogen weiter durch den Dunst, den grünen Regen, den Wald der Zottelbäume, die Wolken pelziger Sporen, die die Luft erfüllten.
Von jedem Gebäude baumelten Girlanden von seildicken Schlinggewächsen. Unter dem zimtfarbenen Himmel wucherte mörderisch ungehemmtes pflanzliches Leben. Hinter den Peitschenschnüren, den Streberanken und Seilen der sich ausbreitenden Wuchergewächse konnte Carpenter undeutlich die Umrisse der Ruinen der früheren Welt erahnen: flechtenüberwucherte Pyramiden, zertrümmerte Kathedralen, Marmorstelen, mit unleserlichen Hieroglyphen bedeckt, umgestürzte zertrümmerte Statuen von Göttern und Herrschern. An einem in grünes Blut getauchten Altar fand eine Opferung statt, eine Menge tentakelbestückter Wesen scharte sich feierlich um einen ihresgleichen, der mit pelzigen dicken Stricken auf einen Steinquader gebunden war. Ein stumpfpelziges Messer hob sich und stieß nieder. Carpenter hörte einen fernen Gesang – nein, eigentlich war es eine Litanei – auf einer einzelnen Note. »Oh-oh-oh-oh-oh …«, wie ein leiser verschwommener und weit entfernter Schrei voll unaussprechlicher Qual.
»Wie lang geht das schon so?«, fragte er Rhodes. Doch der zuckte nur die Achseln, als sei eine solche Frage sinnlos.
Carpenter starrte fasziniert hin. Die ihm bekannte, vertraute Welt war für immer dahin. Die. Erde der Menschen lag im Todeskampf – oder war bereits tot. Die lange Geschichte des Menschen war nun zu Ende: Jetzt kam die Zeit der Pilze und schleimigen Schimmelwucherungen, der Lianen und Bambusgewächse. Der Dschungel würde alles vom Menschen Geschaffene überwachsen und verschlingen. Der Mensch selbst würde in diesem Dschungel verschwinden, zu einer Horde gehetzter, ständig auf Jagd befindlicher Wesen reduziert sein, die auf der Flucht wären vor diesen zugreifenden sich vorwärtsschlingenden Wucherranken, sich erbärmliche kleine Überlebensnischen zu ergattern versuchen in dieser wilden wütenden Wachstumswelt der neuen Schöpfung. Doch es würde nirgends Sicherheit geben für sie. Früher oder später würden sich auch die letzten Humanoiden zu einer Art Pflanzengattung entwickeln, die sich mit den neuen Sporen vollstopfen und eine Generation von unvorstellbaren neuen Wesen zeugen würden.
Und was wird mit uns?, fragte er sich. Aus denen, die nicht verwandelt wurden? Die noch immer in der alten Tiergestalt herumlaufen, mit den starren Knochen, der alten Menschenhaut? Ist für uns kein Platz mehr? Werden wir zwangsläufig in der allgemeinen Katastrophe untergehen?
Er schaute zu dem bambusgefesselten Mond auf, den unergründlichen, funkelnden Sternen.
Dort, dachte er. Ein Neubeginn, eine Neugeburt zwischen den Sternen, da liegt unsere einzige Hoffnung. Ja. Dorthin. Wir werden von der Erde fortgehen, hinauf zu den Sternen, dann sind wir gerettet. Ja. Und die verkrüppelte Erde hat Zeit, sich ohne uns wieder zu erneuern.
»Schau!« Rhodes wies auf die Bucht hinab.
Dort hob sich etwas Riesenhaftes in die Höhe, eine starre feste grüne Säulenmasse, gekrönt von einem Ring von Augen, ein unvorstellbar fremdartiges Wesen. Wasser traufte von seinen Schultern und fiel in zischenden Wolken zurück in die Bucht. Die Augen waren riesenhaft, von überwältigendem Grimm erfüllt. Rhodes war auf die Knie gesunken und bedeutete Carpenter, er solle sich gleichfalls niederknien.
»Was ist denn das?«, fragte Carpenter. »Das Ding da – was ist es?«
»Nieder und erweise deine Ehrerbietung!«, flüsterte Rhodes heftig. »Knie dich hin und bete an!«
»Nein!«, sagte Carpenter. »Ich begreife nicht.«
Doch alle Welt verneigte sich vor dem Ding aus dem Wasser. Eine gewaltige Musik erscholl aus der Tiefe und erfüllte die Himmel. Ein neuer Gott war erschienen, der höchste Herrscher über diese veränderte Welt. Gegen seinen Willen fühlte Carpenter sich betroffen von der grandiosen fremdartigen Erscheinung. Seine Knie wurden weich. Er kniete nieder auf den feuchten schwammigen Boden.
»Bete an!«, flüsterte Rhodes erneut. Und Carpenter schloss die Augen und beugte den Kopf, und er benetzte die feuchte Erde mit seinen Tränen. Verwirrt und ohne zu begreifen, huldigte er dem neuen Herrn der Welt, und dann verschwand die Vision, und er erwachte, ernüchtert und bestürzt, als das erste graue Frühlicht ins Zimmer sickerte. Sein Schädel pochte. Überall lagen leere Flaschen herum. Nick Rhodes lag flach neben der Couch auf dem Boden. Carpenter drückte und rieb sich die schmerzenden Schläfen in der vagen Hoffnung, den Schmerz wegmassieren zu können, und er horchte auf das dumpfe Dröhnen in seinem Kopf und sagte zu sich in tiefster überzeugter Trostlosigkeit, dass es für die kaputtgemachte, traurige alte Erde keine Hoffnung mehr gebe. Nicht die geringste. Alles war aus und vorbei. Alles. Alles. Vorbei. Zu Ende.
Vorbei. Verloren.
Verloren.
Nach einem Enzymbad und nachdem er den Tag über in der Wohnung herumgehangen hatte, nach ein, zwei Stunden in Nick Rhodes' Wirbelkabine, damit sein Nervensystem die ganzen Verkrampfungen wieder ausdampfen konnte, jedenfalls für eine Weile, fühlte er sich beinahe wieder funktionstauglich. Rhodes zeigte keinerlei sichtbare Nachwirkungen von der durchsoffenen Nacht. So gegen fünf am Nachmittag erschien Isabelle Martine, und war prompt wieder äußerst liebenswürdig und von besorgter Unaufdringlichkeit, und nach etlichen Gläschen Sherry und etwas nettem Geplauder zogen sie zu dritt hinüber zu Jolandas Haus nördlich vom Campus.
Die verquält übertriebene Pracht des winzigen Häuschens amüsierte Carpenter und gefiel ihm gleichzeitig auch sehr – dieses äußerliche ›barocke‹ Erscheinungsbild, die Vielzahl von Zimmerchen im Haus, allesamt vollgepackt mit kuriosen Pseudokunstgegenständen, wabernde Weihrauchschwaden in der Luft, die Scharen von Katzen, jede davon irgendwie fremdartig und von ihm unbekannter eleganter Hochzuchtrasse. Es war genau die Art von moderat lächerlicher, aber exzentrischer Vitalität, wie er sie in Jolandas Haus erwartet hätte, nur eben noch drastischer.
Und Farkas, der augenlose Kyoceraner, den Jolanda unterwegs irgendwo in den L-5er-Welten aufgelesen hatte, schien genau zu dem übrigen Kram zu passen, war ein Sammlerstück, eine einmalige Rarität.
Allerdings konnte man nicht umhin, von dem Mann beeindruckt zu sein, fand Carpenter. Die enorme Körpergröße, die kräftige herrschaftliche Gestalt, die Ausstrahlung von Selbstsicherheit und Stärke, er beherrschte praktisch das kleine Zimmer, in dem Jolanda ihnen neckische Appetithäppchen servierte. Gute Kleidung, ein perlgrauer Anzug, orangeroter Foulard, spiegelblank polierte Stiefeletten: kurz, ein hochgradiger Dandy. Vortretende Wangenknochen, kräftiges markantes Kinn. Und über alledem diese hohe glatte gebogene Stirn, diese wie hypnotisch den Blick auf sich ziehende Fläche leerer glatter Haut, wo alle anderen Augen und Brauen haben: diese monströse Missbildung, wie etwas aus einem Traum, etwas, das man nie im wirklichen Leben zu sehen erwarten würde. Nicht etwa nur ein blinder Mensch, sondern ein Mensch ganz ohne Augen. Und dennoch ließ nichts an den Bewegungen von Farkas den Schluss zu, dass er nicht sehen könne.
Carpenter nippte vorsichtig an einem Glas, knabberte an einem Brötchen, beobachtete die fluktuierende Szene.
Seltsame soziale Konstellationen bildeten sich, bestanden ein paar Augenblicke lang und lösten sich wieder auf. Beständig schwammen und schoben sich Leute im Raum herum.
Farkas und Enron – ein gewaltiger herrschaftlicher Brocken von Mann und ein kleiner Mann, angespannt wie eine fest aufgezogene Sprungfeder – sprachen in einer Ecke leise miteinander wie zwei ungleiche nicht zusammenpassende Geschäftsleute, die über einen Deal hecheln, von dem sie sich bald Erfolg erhoffen. Möglich, dass sie genau das waren.
Dann trat Farkas zu Jolanda. Die beiden standen eng beisammen, und Enron schaute von drüben säuerlich zu ihnen herüber. Farkas schien unverkennbar von Jolanda fasziniert zu sein, seine ganze Haltung morste intensives Interesse an der Frau. Die Schultern vorgezogen, der gewaltige Kuppelschädel zu ihr hinabgeneigt; er benutzte offenbar irgendeine extrasensorische Röntgenwahrnehmung und schaute glatt durch Jolandas prächtiges scharlachrotes Zeltkleid bis in die darunter schwellende fleischige Nacktheit.
Und sie genoss es. Sie errötete wie ein Schulmädchen, sie wand sich, wackelte geschmeichelt vor Vergnügen, und warf sich ihm fast an den Hals. Es sah tatsächlich so aus, als verabredeten sich die zwei direkt vor den Augen Enrons ins Bett. Enron jedenfalls sah so aus, als vermutete er das. Sein finsteres Gesicht war höchst ausdrucksvoll. Und dann kam Isabelle dazwischen, lenkte Enron ab und zog ihn beiseite. Weibliche Loyalität gegen die Freundin, dachte Carpenter. Schaff den Israeli aus dem Weg, damit Jolanda ihre Netze auswerfen kann. Nicht dass es bei Farkas viel Mühe zu machen schien, ihn zu fangen.
Und dann sprach Enron mit Nick Rhodes. Noch ein weiteres Interview? Jolanda ging zu den beiden hinüber. Rhodes und Jolanda tauschten merkwürdig vertraulichverständnisvoll ein Grinsen, aber nur ganz flüchtig. Carpenter fiel wieder ein, was Rhodes ihm damals abends bei dem Essen in Sausalito über Jolanda gesagt hatte, und er begriff, dass Jolanda mit so ziemlich jedem Mann hier im Raum im Bett gewesen sein musste, und dass sie darauf auch noch stolz war.
Und die Dinge veränderten sich weiter. Am Ende fand Carpenter sich im Gespräch mit Farkas. Natürlich hatte Jolanda ihn zu ihm herüber gebracht und gesagt: »Und das ist unser Freund Paul Carpenter. Du erinnerst dich doch? Ich habe dir von ihm erzählt.« Und sie bedachte beide mit einer Ladung lächelnder Herzlichkeit und glühenden Augenblitzen und entschwebte wackeltänzelnd in Richtung Enron.
»Du bist ein Samurai-Mann?«, sagte der Augenlose direkt. »Kapitän eines Eisbergschleppers, wie ich höre.«
»Das war ich mal«, sagte Carpenter brüsk. Die Abruptheit, mit der Farkas ein Gespräch eröffnete, verblüffte ihn. Er blickte zu dem eine Handbreit größeren Mann auf, seinen Blick auf die dunkel verschattete Stelle gerichtet, wo eigentlich die Augen hätten sein müssen. »Es gab da einen kleinen Skandal wegen eines Vorfalls auf See. Ich wurde entlassen.«
»Ja. Davon wurde ich unterrichtet. Aber ich war eigentlich überzeugt, dass man bei Samurai nur ganz selten Angestellte gehen lässt.«
»Auf der anderen Seite waren Leute von Kyocera betroffen. Es gab eine Seeamtsuntersuchung. Die Sache sah übel für das Image meiner Firma aus. Zu übel. Also entschied man sich dafür, mich für abkömmlich zu halten, und drückte allen Beteiligten gebührend das tiefste Bedauern aus.«
»Ja, das sehe ich«, sagte Farkas. Von ihm klang die Formulierung sehr abwegig. »Und jetzt? Hast du schon irgendwelche Pläne?«
»Ich hab dran gedacht, vielleicht eine Bank zu überfallen. Oder die Tochter von einer Einsernummer zu kidnappen und Lösegeld zu fordern.«
Farkas lächelte ernst, als bestünde diese Möglichkeit wirklich.
»Und wenn du versuchtest, in einem der Raum-Habitate eine neue Existenz für dich aufzubauen?«, fragte er.
»Unbedingt eine enorme Möglichkeit«, antwortete Carpenter. Der Gedanken war ihm bisher noch nicht in den Sinn gekommen. Aber ja, der Weltraum – dorthin verzogen sich doch alle, die auf der Erde an einem toten Punkt, am Ende, angelangt waren. Die Kunstwelten, die Habitate! Und warum nicht? Aber er würde natürlich irgendwie einen Weg finden müssen, um dort hin zu gelangen. Er drehte und wendete den neuen Gedanken benommen im Geist her und hin.
Dann merkte er, dass Farkas immer noch redete.
»Wir sind gerade aus Valparaiso Nuevo zurück. Dem Flüchtlingsparadies, weißt du. Das könnte dich vielleicht interessieren. Weißt du Bescheid darüber?«
»Ich hab davon gehört. Die letzte von den glorreichen Bananenrepubliken, nicht? Irgendein leicht bekloppter südamerikanischer Supergeneral betreibt den Laden wie ein Privatimperium und scheffelt ein Vermögen, indem er flüchtigen Verbrechern seine Protektion verkauft.« Carpenter schüttelte den Kopf. »Aber ich bin nicht auf der Flucht. Und ich bin nur in einem Punkt schuldig befunden, wegen einer Fehlentscheidung. Und meine einzige Strafe war, dass ich meine Stellung verlor. Aber außerdem habe ich auch kein Geld, um mich dort einzukaufen.«
»Aber nein«, sagte Farkas. »Du verstehst falsch. Ich meinte nicht, dass du dort Asyl suchen sollst. Ich meinte nur, dass sich dir dort gewisse Möglichkeiten bieten könnten.«
»Möglichkeiten? Was für welche?«
»Verschiedenartige.« Farkas sprach nun leiser, fast beschwörend und verführerisch. »Verstehst du, der dortige Generalissimo Don Eduardo Callaghan soll in Kürze durch einen Aufstand beseitigt werden.«
Carpenter wich verblüfft zurück.
»Er soll?« Das alles hörte sich allmählich ziemlich verrückt an.
»Ja, wirklich«, sagte Farkas gelassen. »Es entspricht alles genau der Wahrheit, was ich dir sage. Eine Gruppe von sehr kompetenten Verschwörern hat den Plan gefasst, seiner langen Herrschaft ein Ende zu machen. Ich gehöre zu dieser Gruppe. Jolanda ebenfalls und auch unser Freund Mister Enron. Und einige andere. Vielleicht hättest du Lust, dich uns anzuschließen.«
»Was du nicht sagst?« Carpenter fand das alles mehr und mehr rätselhaft.
»Mir kommt das wie ein recht deutliches Angebot vor. Wir müssen in Los Angeles noch ein paar Einzelheiten klären mit einigen Leuten, dann fliegen wir nach Valparaiso Nuevo und übernehmen dort den Laden. Es winken enorme Gewinne beim Verkauf der Flüchtlinge an die Stellen, die an ihrer Rückkehr interessiert sind. Du würdest am Gewinn beteiligt, und damit hättest du die nötige Grundlage, eine neue Existenz im Weltraum zu beginnen. Denn offensichtlich hast du ja auf der Erde keine Zukunftschancen.«
Wahnsinn, wirklich. Oder aber – eine Form von Sadismus. So sprachen doch keine echten Verschwörer, oder doch? Dass sie ihnen vollkommen fremde Personen so auf Anhieb ins Vertrauen zogen? Nein, bestimmt nicht. Farkas produzierte dieses Phantasiegespinst einfach nur, um sich einen kleinen grausamen Scherz zu erlauben. Oder aber, der Mann war verrückt. Carpenter bemühte sich, einen Sinn in das scheinbar absurde Gerede zu bringen, das der Augenlose so gelassen von sich gab, und er fühlte Ärger in sich aufsteigen.
»Du erlaubst dir einen Witz mit mir, ja? Eine Art von perversem Vergnügen, ja?«
»Aber ganz und gar nicht. Ich spreche ganz im Ernst. Dieser Umsturz ist geplant. Und du bist ehrlich aufgefordert, dich dabei zu beteiligen.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum wollt ihr mich dabeihaben? Gerade mich?«
Gelassen sagte Farkas: »Nennen wir es einen spontanen Entschluss, eine Augenblicksentscheidung. Jolanda hat mir erklärt, dass du ein intelligenter Mann bist, der Pech gehabt hat. Sogar verzweifelt dran ist. Also vermutlich bereit, auch extreme Chancen ergreifen zu wollen. Und du besitzt viele Fähigkeiten und Möglichkeiten. Alles in allem, scheint mir, dass du für uns sehr nützlich sein könntest.« Die Stimme war nun zu einem schmeichelnden Schnurren geworden. »Und es würde mir ein großes Vergnügen bereiten, wenn ich einem Freund von Jolanda helfen könnte.«
»Das ist einfach nicht glaubhaft«, sagte Carpenter. »Du kennst mich doch überhaupt nicht. Und ich begreife nicht, wieso du mir derlei anvertraust, falls da wirklich was dahintersteckt. Ich könnte euch doch alle verkaufen und auffliegen lassen. Direkt zur Polizei gehen.«
»Aber weshalb solltest du so etwas tun?«
»Für Geld. Wofür sonst?«
»Ach«, sagte Farkas. »Aber nach einer Machtübernahme in Valparaiso Nuevo wären ganz andere Summen im Spiel, als irgendeine Polizeibehörde dir jemals bezahlen könnte. Nein nein, mein guter Freund, es gäbe nur einen einzigen Grund, weshalb du uns verraten könntest, und das wäre, wenn dich ein übertriebenes abstraktes Gerechtigkeitsgefühl beherrschte. Und vielleicht hegst du ja tatsächlich noch derartige Gefühle, sogar jetzt noch, nach deinen kürzlichen Erfahrungen. Doch ich bezweifle das sehr. – Sag mir eins, interessiert dich das, was ich dir gesagt habe, irgendwie?«
»Ich halte es immer noch für einen ziemlich gechmacklosen Witz.«
»Dann frag doch Mr. Enron. Frag Jolanda Bermudez. Sie sagt mir, ihr zwei seid Freunde. Oder? Dann vertraust du ihr ja vermutlich. Frage sie, ob ich es ernst meine. Bitte, Carpenter, geh und frag sie. Jetzt.«
Das alles war nicht wirklich. Ein groteskes Angebot aus dem blauen Nichts, von einem, der kaum menschlich aussah. Aber scheußlich verlockend, falls etwas dahinterstecken sollte.
Carpenter schaute durch das Zimmer zu Jolanda hinüber. Am vergangenen Abend hatte sie gesagt, dass dieser Farkas vielleicht bei Kyocera etwas für ihn auftreiben könnte, und er hatte dem kein bisschen Glauben geschenkt. Aber hatte sie das damit gemeint? Das?
Nein, das alles muss einfach ein übler Scherz sein, sagte er sich. Ein dummer kleiner Witz auf meine Kosten. Und Jolanda steckt bestimmt mit drin. Er würde zu ihr gehen und sie um eine Bestätigung dessen bitten, was Farkas ihm gerade eröffnet hatte, und natürlich würde sie es bestätigen, und so würde es weitergehen und weiter und weiter, und den ganzen Abend lang würden sie ihm immer mehr von diesem grandiosen Quatsch vorlabern, bis schließlich irgend jemand das Grinsen nicht mehr unterdrücken konnte, und dann würde das Riesengelächter losbrechen und …
Nein! Nicht mit ihm!
»Tut mir leid«, sagte er. »Aber ich bin momentan wirklich nicht in der Stimmung für Witze.«
»Wie du meinst. Dann vergiss mein Angebot, bitte. Es tut mir leid, dass ich es dir gemacht habe. Möglicherweise war es ein Fehler, dir soviel gesagt zu haben.«
Auf einmal hatte die Stimme von Farkas etwas Bedrohliches, und Carpenter empfand dies als unangenehm. Aber andererseits verriet es ihm auch, dass es sich wohl doch nicht um einen blöden Party-Witz handelte. Er hatte sich bereits abgewandt, um zu gehen, hielt dann aber inne und schaute dem Mann von Kyocera wieder in das bestürzende Gesicht.
»Du meinst das wirklich ganz ernst?«, fragte er.
»Absolut ernst.«
»Also, dann weiter. Sag mir mehr darüber.«
»Komm mit uns nach Los Angeles, wenn du mehr erfahren möchtest. Aber dann gibt es kein Zurück mehr für dich. Du gehörst dann zu uns; und dann kannst du dich nicht mehr von der Gruppe absetzen.«
»Du meinst es tatsächlich ernst.«
»Also glaubst du mir jetzt?«
»Wenn das ein Jux ist, Farkas, dann bring ich dich um. Und du glaubst mir besser, was ich sage, ich meine es ernst.« Carpenter fragte sich, ob er es wirklich so meinte.
»Es ist kein Jux.« Farkas reichte ihm die Hand. Nach kurzem Zögern ergriff Carpenter sie.
»Dinner ist auf dem Tisch!«, zwitscherte Jolanda aus einem anderen Raum.
»Wir reden später weiter«, sagte Farkas.
Unterwegs gesellte sich Nick Rhodes zu ihm und fragte: »Worum ist es denn dabei gegangen?«
»Eine merkwürdige Sache. Ich glaube, er machte mir ein Angebot.«
»Bei den Kyoceras?«
»Irgendwas Freiberufliches«, sagte Carpenter. »Ich bin da nicht sicher. Alles verdammt geheimnisvoll.«
»Magst du mit mir drüber reden?«, fragte Rhodes.
»Später.« Sie gingen ins Esszimmer.
Es wurde zwei Uhr morgens, ehe Carpenter seine Chance bekam, Rhodes von der Unterhaltung mit Victor Farkas zu berichten; nachdem sie von der Dinnereinladung in Rhodes' Wohnung zurück waren und Isabelle erklärte, sie könne nicht über die Nacht bleiben, weil sie am folgenden Tag zu einer Fachkonferenz nach Sacramento müsse, und endlich abzog. Dann standen die Freunde eine Weile in der stillen feuchtwarmen Nacht im Wohnzimmer und schauten auf die Bucht hinaus.
Obwohl es bei Jolanda ausgiebig zu trinken gegeben hatte, verlangte es Rhodes nach einem Schlummertrunk. Er förderte eine dunkle, seltsam geformte Flasche zutage, mit einem Etikett darauf, das mindestens hundert Jahre alt aussah mit der antiquierten Schrift und dem vergilbten Papier. »Echter französischer Cognac«, sagte Rhodes. »Aus Frankreich. Eine große Rarität. Ich bin in der Stimmung für 'ne kleine Feier. Wie steht's bei dir?« Er sah Carpenter fragend an.
»Ach, verdammt, wieso nicht. Aber nur ein Glas, Nick. Ich kann mir nicht schon wieder einen solchen Durchhänger wie gestern leisten.«
Rhodes schenkte bedächtig ein. Ein sehr seltenes, kostbares Getränk, ohne Zweifel. Carpenter trank langsam, nachdenklich behutsam. Es war ein besonderer, ein merkwürdiger Abend gewesen. Und er hatte das Gefühl, als hätte er eine fremde Grenze in ein völlig unbekanntes Land überschritten.
Doch auch sein Freund Rhodes schien am selben Abend eine Grenze überschritten zu haben. Und jetzt schien er darüber reden zu wollen.
»Weißt du noch? Gestern Abend stand es sechzig zu vierzig. Und dann siebzig-dreißig. Aber die ganze Zeit über veränderte sich das Verhältnis und stieg, und als es bei neunzig zu zehn angelangt war, wusste ich, jetzt stecke ich drin.«
Carpenter sah müde zu ihm hinauf. »Wovon redest du da, Nick?«
»Na, von dem Kyocera-Job. Ich werde ihn definitiv annehmen. Ich hab mich so um Mitternacht dazu entschlossen.«
»Aha. Gut.«
»Morgen soll ich in Walnut Creek Bescheid sagen, wie ich mich entschieden habe. Die Nummer Drei dort, Nakamura, der mich anwerben wollte, wartet auf meinen Anruf. Und ich werde ihm zusagen.«
Carpenter hob seinen Schwenker zu einem formellen Toast.
»Meinen Glückwunsch. Ich bewundere es, wenn einer sich entscheiden kann.«
»Danke. Und prosit!«
»Ich steige auch auf einen neuen Job um«, sagte Carpenter dann.
Rhodes, der seinen Cognacschwenker bereits zum Mund geführt hatte, prustete und setzte das Glas ab.
»Was?« Er sah ungläubig aus. »Wo?«
»Für Farkas. Irgendwas Illegales in einer von diesen Satellitenwelten.«
»Schmuggel? Sag mir bloß nicht, dass Kyocera auch noch heimlich mit Drogen handelt!«
»Schlimmer«, sagte Carpenter. »Aber wenn ich dir darüber was sagen würde, weißt du, dann wärst du von vornherein Mitwisser. Aber ich sag's dir trotzdem, verdammt noch mal. Sie haben vor, Valparaiso Nuevo zu übernehmen, Nick. Eine Art Gemeinschaftsaktion zwischen Israel und Kyocera, die Gangster aus Los Angeles finanzieren, Jolandas wundervolle Freunde. Sie wollen dort die Kontrolle übernehmen und zu ihrem eigenen Profit ausbeuten. Jolanda und Enron und Farkas haben das Ganze anscheinend letzte Woche ausgebrütet, als sie zusammen droben in Valparaiso waren. Und jetzt hat Farkas mich eingeladen, da mitzumischen. Ich bin nicht sicher, worin genau meine Rolle da bestehen soll, aber ich vermute mal, sie wird recht nebensächlich sein, etwa sowas wie die Verbreitung gezielter Fehlinformation, Verwirrung und Vernebelung, während sie den Umsturz durchführen.«
»Nein!«, sagte Rhodes.
»Nein was?«
»Nein. Das machst du nicht, Paul. Das ist Wahnsinn.«
»Na klar ist das Wahnsinn. Aber was hab ich denn für andere Möglichkeiten? Ich bin nicht bloß arbeitslos, ich bin auf der Erde nicht mehr vermittelbar. Ich kann nur noch in den Weltraum verduften. Aber ich kann mir dafür nicht mal das Ticket leisten.«
»Das könnte ich dir doch bezahlen.«
»Schön. Und wenn, was dann? Wovon sollte ich leben, wenn ich dort bin? Von Verbrechen vermutlich. Irgendwelchen Wirtschaftsgaunereien wie alle die anderen Saubermänner mit blütenweißen Hemden? Nein, das ist einfacher und geht rascher. Da draußen geht doch alles, in diesen Habitaten. Und du weißt das auch. Bisher gibt es sowas wie ein interplanetarisches Recht noch nicht. Wir stürzen diesen Erz-Generalissimo, und sein Ding gehört uns, und kein Schwein wird dagegen protestieren.«
»Ich glaub's einfach nicht, dass du sowas sagst!«
»Ich glaub es auch nicht. Aber ich werde es tun.«
»Hör zu, Paul. Ich weiß ein bisschen Bescheid über diesen Farkas. Er ist absolut eiskalt und völlig skrupellos. Ein Ungeheuer, wörtlich und im übertragenen Sinn.«
»Wundervoll. Genau, was man für die Art Unternehmung braucht.«
»Nein. Hör doch zu! Wenn du dich mit dem einlässt, landest du am Ende auf dem Schrottplatz. Er ist gefährlich, unmoralisch, steckt voll Hass. Ihn kümmert es einen Dreck, was er tut oder ob er dabei jemandem schadet. Denk daran, was die Welt ihm angetan hat. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, der Welt das heimzuzahlen. Und wozu sollte er dich überhaupt brauchen? Er lässt dich eine Weile mitmachen, und wenn alles erledigt ist, lässt er dich fallen.«
»Aber Jolanda vertraut ihm«, sagte Carpenter. »Sie hat ihn doch dazu überredet, mich an der Sache zu beteiligen.«
»Jolanda!«, sagte Rhodes verächtlich. »Bei der sitzt doch das Gehirn in den Titten.«
»Und Enron? Hat der das Gehirn auch in den Titten sitzen? Er ist der Partner von Farkas. Und er scheint ihm ebenfalls zu trauen.«
»Enron vertraut nicht einmal seinem eigenen großen Zeh! Außerdem, selbst wenn Enron und Farkas zusammen ins Bett steigen, welche Garantie hast du denn dabei, dass du mit unter die Decke darfst? Halt dich von den Typen fern, Paul! Lass dich nicht mit denen ein.«
»Gibst du mir noch einen Tropfen von deinem Cognac?«, bat Carpenter.
»Aber sicher, gern. Aber versprich es mir, hörst du? Versprich mir – du lässt die Finger von dieser Sache.«
»Hab ich denn eine andere Chance, Mann?«
»Dein ewiger fataler Fehler«, sagte Rhodes. »Immer versuchst du, es so hinzudrehen, dass eine moralisch zweifelhafte Position wie etwas Unvermeidliches aussieht.« Er goss Cognac in Carpenters Glas. »Da! Trink das und genieße es, du verrückter blöder Hund. Und du willst die Sache wirklich machen?«
»Ja, wirklich«, sagte Carpenter und hob den Cognacschwenker. »Also, auf dein und mein Wohl! Auf unsere jeweilige künftige strahlende Laufbahn. Prost, Nick!«