Kapitel 22

Der Regen hörte auf, als Carpenter etwa fünfzig Meilen von San Francisco nach Osten gefahren war. Zwischen der Sintflut an der Küste und dem trockenen Landesinneren gab es eine scharfe Demarkationslinie. Hinter ihm lagen der dicke schwarze Regen und die überschwemmten Abflüsse; doch wenn er nach vorn schaute, in das geschwollene blutunterlaufene Auge der über den Sierravorbergen aufgehenden Sonne, erkannte er, dass da immer noch alles fest unter der Pranke der endlosen Dürre litt.

Er fuhr in einen Landstrich ausgetrockneter, unfruchtbarer Hügel, rund und fahl gelbgrau, mit verstreuten kugeligen grünen Wipfeln uralter Eichen, die wie Wachposten auf ihnen standen, und blauen Tälern, die von schimmernden Staubschatten erfüllt waren. Darüber breitete sich ein weiter unerbittlicher, nur hie und da von Schäfchenwolken gesprenkelter Himmel. Die merkwürdige Sintflut, die während der paar letzten Tage über die Gebiete um die Bucht und den restlichen Küstenstreifen niedergegangen war, würde keinen Vorteil für die Wasserversorgung in San Francisco bringen. Die hauptsächlichen Reservoirs lagen weit landeinwärts, hier in den Vorbergen und den Bergen selbst; und hier fiel kein Regen, und im Hochland lag kein Schneevorrat, der später genutzt werden könnte.

Hier draußen war alles sehr ruhig. Die Umweltvergiftung durch die Industrie hatte die meisten der kleinen Vorortgemeinden im diesem Teil des Tals des Sacramento River erwürgt, und der Raubbau an den Wasservorräten hatte die dahinter gelegenen ländlichen Gemeinden ruiniert. Carpenter wusste, noch weiter östlich lagen die Geisterstädte der Mother Lode und dann, riesenhaft und erschreckend, die Bergwand der Sierra; und jenseits davon das dürre Ödland Nevada. Sobald er die Berge überquert hatte, würde er anderthalb Tage lang durch eine echte Wüste fahren.

Und trotzdem, trotzdem …

Es war schön hier, wenn man Einsamkeit und Dürre als schön empfinden konnte. Mit dem Sterben der Landstädte und Farmen war eine Art prähistorische Stille in das Sacramento Valley zurückgekehrt. So muss es vor Tausenden von Jahren hier ausgesehen haben, dachte Carpenter – abgesehen von dem Pompeji-Effekt, den die Grundstücksumrisse aus dem 19. und 20. Jahrhundert erweckten, die Trockenwälle der Grenzmarkierungen überall, eine Vielzahl kniehoher, sich überschneidender weißgrauer Linien, die durch verdorrtes Gras und Felder und Anhöhen schnitten wie verblasste Markierungen auf dem Land, die fast nicht mehr sichtbaren Spuren der Häuser, die da einst gestanden hatten. Doch sogar dies besaß einen gewissen altertümlichen Charme. Fußspuren der Vergangenheit, Hinweise auf eine verschwundene Welt. Und die Luft hier draußen, so still und klar, dass sie fast wie die eines verflossenen Jahrhunderts wirkte.

Doch Carpenter ließ sich nicht täuschen. Diese Luft war beinahe ebenso tödlich wie die Luft überall sonst. Weit tödlicher sogar, weil die Giftstoffe niemals fortgeweht wurden aus dieser Zone unveränderlicher atmosphärischer Stagnation, wo sie sich einfach aufbauten und verblieben, und wenn sich jemand längere Zeit hier aufhielt, fraßen sie ihm glatt die Lungen aus der Brust. Wenn man sich die Mühe machen wollte, konnte man es exakt an den Bäumen dieser ländlichen Gegend ablesen. Die unnatürlichen Astansätze und Winkel, die spillerigen Zweige, die spärliche Belaubung mit gichtigen Blättern, allerlei genetische Deformationen, die durch hundert Jahre Ozondefizit hervorgerufen worden waren, die Anreicherung von Aluminium und Spuren von Selen im Boden und noch weitere aufregende Formen von Umweltverwüstung.

Luft und Wasser und der Boden dieser unserer Erde sind zu einer lebensfeindlichen Umwelt verkommen, dachte Carpenter, zu einer Zone der Antifruchtbarkeit, pestbringend für alles, was mit ihr in Berührung kommt. Vielleicht entwickelte sich ja irgendwann eine neue mutierte nicht-lebendige Form und gedieh in dem neuen Medium, irgendein im Grunde totes Wesen, das in der Lage sein würde, seine Stoffwechselprozesse jenseits der Existenz fortzuführen, sich vermehrend und aus dem Grab heraus gebärend, ein Geschöpf, das zerfressende Giftgase atmen konnte und hochentwickelte Kohlenwasserstoffe durch seine unverwüstlichen Adern pumpte.

Er saß entspannt hinter dem Steuer und ließ den Wagen allein arbeiten, der ihn höher und höher hinauftrug zu dem hochragenden Rückenkamm Kaliforniens.

Stunden vergingen, und nun blieben auch die letzten Spuren menschlicher Zivilisation hinter ihm zurück. Er war jetzt mitten in den Vorbergen, wo die Häuser im allgemeinen aus Holz erbaut worden waren, und so gab es hier kaum noch irgendwelche Ruinen zu sehen. Das hatte das Feuer bewirkt; die natürlichen Serien von Waldbränden, die Jahr um Jahr in der Trockenzeit durch die unbewohnten Siedlungen gefegt waren, hatten die Spuren der Anwesenheit des Menschen fortgewischt.

So friedlich alles. Eine leere Welt lag da vor ihm.

Der totale Gegensatz zu dem hektischen dichtbevölkerten San Francisco und all den übrigen urbanen Albträumen, die sich die Küste entlang fast ununterbrochen erstreckten bis hinab zu dem Großen Belial selbst, dem Tausendköpfigen Tier: Los Angeles. Allein bei dem Gedanken an L. A. schauderte Carpenter. Dieser monströse Schandfleck in der Landschaft, dieses krebsartig wuchernde Schwarze Loch von unauslöschlicher Hässlichkeit, in dem sich ungezählte Millionen bedrückter Seelen in unaussprechlicher Hitze zusammendrängten, in einer Luft, die so dick und giftig war, dass man sie schneiden und aufstapeln konnte …

Los Angeles, seine Geburtsstadt …

Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters aus dessen Jugend in einer noch nicht kaputtgemachten Welt – sentimentale Erinnerungen an das alte Los Angeles von damals, lange her, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts vielleicht? Anfang des einundzwanzigsten? Ein verlorenes Paradies, hatte der alte Mann gesagt, ein Ort, an dem der Wind frisch und rein vom Meer her wehte und die Tage mild und angenehm waren. Überall Parks und üppige Gärten, geräumige Wohnhäuser, ein sternfunkelnder Himmel, Schnee auf den winterlichen Berggipfeln hinter Pasadena und San Gabriel. In seinen Träumen trieb es Carpenter sogar noch jetzt manchmal in dieses verschwundene Los Angeles: das unverdorbene wunderschöne Los Angeles der fernen Vergangenheit, in jenen unerreichbar vergangenen Spätneunzigern des zwanzigsten Jahrhunderts etwa, ehe sich der eiserne Himmel über alles gesenkt hatte. Er hoffte, dass das alles nicht nur eine romantisierende, senile Wunschvorstellung seines Großvaters gewesen sein möge, dass es damals wirklich so gewesen war. Er glaubte fest daran. Doch jetzt war das alles dahin und würde nie wieder zurückkehren.

Weiter. Ostwärts.

Über den sonnenverbrannten Himmelsdom zuckte ein Blitz, ein weißleuchtender Speerschaft quer durch die andere Helle. Ein dumpfes Donnergrollen in der Ferne. Er wusste, das hatte nichts zu bedeuten. Ein bloßes Räuspern von Zeus. Das Wetterleuchten entstand durch Temperaturunterschiede, und es folgte danach fast nie ein Regen. Höchstens kamen danach Brände, die sich weiter und weiter kahlscherend durch das Grasland fressen würden.

Der Baumbestand war jetzt anders geworden. Statt der Eichen standen hier hochragende Nadelbäume und schlanke milchigweiße Bäume, die möglicherweise Espen waren. Niedrige verkrüppelte Dickichte von Chaparral – Manzanita und Greasewood hauptsächlich – bedeckten den Rand des alten Highways. Er sah keine anderen Fahrzeuge. Er war der letzte lebendige Mensch auf der Welt. An manchen Stellen, wo kürzlich die Flammen zugeschlagen hatten, erstreckten sich in alle Richtungen meilenweit über der versengten Erde die verkohlten Baumstümpfe.

Feuer war gut. Feuer war etwas Reinigendes.

Soll es doch überall alles verbrennen, betete Carpenter. Es soll die ganzen Sünden der Welt wegbrennen!

Er dachte: Wie unbegreiflich absurd, dass die menschliche Rasse ihre allerschlimmsten nationalen Zwistigkeiten und ihre Religionskriege überlebt hatte, dass sie soviel blödsinnige, belastende Irrationalität hinter sich lassen und in eine Ära des wirklichen Friedens und der Zusammenarbeit, jedenfalls sozusagen, übergehen konnte. Und dann dies: überall Fäulnis, tropische Hitze und Luftverschmutzung und Untergang. Absurd, absurd, ganz absurd. Nick Rhodes in seinem Labor quält sich mit seinem Gewissen herum, während er gleichzeitig danach strebt, die menschliche Rasse in Wesen mit Kiemen und grünem Blut umzubauen. Und Kovalcik, unter der brutalen Sonne da draußen im Pazifik, die ihr Schiff mit Seeungeheuern für die Versorgung der hungernden Menschheit vollstopft. Der arme Paul Carpenter, der arme Trottel mit Scheiße im Kopf, ist dermaßen wild versessen, einen Eisberg in eine blöde undankbare Stadt zu schleppen, dass er das Wenige an menschlichem Anstand, das ihm je einprogrammiert worden war, vergessen kann und lässt kalt Menschen in Not …

Nein! Denk nicht an das!

Was du im Augenblick machst, mahnte er sich, ist, dass du vor dem ganzen Schlamassel den Schwanz einziehst und davonläufst.

Bruchstücke eines alten, kaum noch bewussten liturgischen Gebets kamen ihm in den Sinn. Miserere, Miserere. Qui tollis peccata mundi. Agnus Dei. Qui tollis … Peccata mundi.

Dona nobis pacem. Pacem. Pacem. Pacem.

Und weiter. Weiter nach Osten.


Die Straße stieg und stieg und stieg und führte schließlich in einem von der herannahenden Dunkelheit bedeckten, ziemlich geraden Pass. Nun war er im Hochland. Dünne Luft, Zahnstocherwälder von schlanken Nadelgehölzen kämpften sich bis zur Baumgrenze hinauf, darüber die nackten Felswände wie riesige Schilde aus Granit. Überall rings um ihn ragten die graupurpurnen Massen der gewaltigen Berge auf, die höchsten Gipfel der Sierra.

Wenn es doch überall schneien würde, dachte Carpenter.

Wenn doch das ganze Land von Küste zu Küste von einer schimmernden weißen Decke überzogen würde. Und wenn wir dann unter ihr hervor in einen neuen reinen Frühling eines köstlichen frischen erneuerten Lebens schreiten könnten.

Klar. Aber klar doch!

Und nun war er jenseits der graupurpurnen Berge, jenseits der Passhöhe und fuhr durch endlose Haarnadelkurven nach Nevada hinunter, wie er vermutete. Die Nacht kam nun ganz rasch. Ein starrer schwarzer Himmel, ohne Mond, mit vielen Sternen, zwischen denen die geisterhaften schweigenden Raumhabitate, ab und zu dem bloßen Auge sichtbar, ihre Lichtbahnen zogen. Es war Zeit, eine kleine Pause einzulegen, damit der Reziprokator des Wagens Gelegenheit bekam, etwas mehr Energie ansammeln konnte, als er verbrauchte, damit die Batterien für die nächste Etappe der Fahrt geladen sein würden.

Selten hatte er eine so tiefschwarze Hintergrundkulisse und so intensiv darüber hinwegziehende Helligkeit erblickt. Der Himmel hier wirkte kalt, kalt wie der Weltraum selber, eisig kalte Bergluft und in ihr eine erschreckende eisige Klarheit, die völlig anders war als die Luft in der Stadt, in der beständig Dreck und Gifte wirbeln. Aber Carpenter wusste, dass dies nicht stimmte. Der Himmel da droben war heiß, genau wie überall anders auch. Wo immer man in dieser traurigen Welt hinging, der Himmel war immer heiß, sogar um Mitternacht, sogar hier am Rande dieses dunklen von Sternen gesprenkelten Königreichs.

Carpenter bog auf einen aus dem Hang herausgeschnittenen Rastplatz neben der Straße ein und verzehrte lustlos ein Päckchen Algenkekse, die er aus Oakland mitgebracht hatte. Er spülte sein Dinner mit einem Schluck von dem sauren Wein hinunter, den er unter dem Armaturenbrett verstaut hatte. Dann rollte er sich zusammen und schlief im Wagen; die Alarmanlagen ließ er eingeschaltet, wie wenn er mitten in einer tödlich feindlichen Stadt wäre. Als die Sonne in den Morgenhimmel hüpfte und durch die Frontscheibe knallte, setzte er sich verwirrt hastig auf und wusste für einen Augenblick nicht, wo er war und was vorging, er dachte benommen, er sei wieder in Spokane, in seinem kleinen, schäbigen Hotelzimmer im dreißigsten Stock des Manito.

Direkt vor ihm lag im Talgrund tatsächlich so etwas wie eine Stadt. Sie wirkte sogar bewohnt: ein paar Dutzend Häuser, einige Läden, ein Restaurant, ein zweites. Sogar so früh am Morgen fuhren Autos umher.

Er hielt vor dem ›Desert Creek Diner‹. Das Restaurant sah aus, als wäre es seit ungefähr 1925 nicht mehr renoviert worden. Carpenter bekam das Gefühl, nicht nur räumlich, sondern auch in der Zeit gereist zu sein.

Im Lokal trugen alle Leute Gesichtslungen. Das wirkte irgendwie deplatziert, einen Atemschutz in diesem uralten Außenposten aus dem Jahre 1925 zu tragen, aber Carpenter setzte seinen auf und trat ein.

Eine richtige Menschenfrau als Bedienung. Keine Androiden, keine Tischvisoren, keine Datenfelder, um eine Bestellung aufzugeben. Die Augen über der Maske lächelten ihm funkelnd entgegen.

»Was soll's denn sein? Rühreier? Kaffee?«

»Wunderbar«, sagte Carpenter. »Genau das hätte ich gern.«

Kurz darauf entdeckte er, dass er noch immer in Kalifornien war. Die Grenze zu Nevada lag noch einige Meilen weiter unten auf der Straße.

Seine Firmenkreditkarte beglich das Frühstück. Anscheinend besaß er immerhin noch soviel Firmenzugehörigkeit.

Nach dem Essen machte er sich wieder ostwärts auf den Weg. Von Utah her strömte ihm der Morgen entgegen. Hier war alles sandig und nahezu ohne Farben, und das Land sah aus, als hätte es mindestens seit dem dreizehnten Jahrhundert keinen Tropfen Regen mehr verspürt. Es gab gezackte Berge, kein Vergleich zu denen der Sierra, aber immerhin ganz schön hoch, rosig und goldbraun im Frühlicht. Fusselige weiße Wolken, ein tiefblauer Himmel mit Streifen fahlgelber Giftemissionen.

Es war eine so wunderschöne Welt, dachte Carpenter, bis wir sie versaut haben.

Wieder betete er unbestimmte Gebetsfetzen. Ave Maria, gratia plena. Ora pro nobis. Jetzt und in der Stunde unseres Todes. Für uns arme Sünder.


Weiter östlich tauchten ihm unvertraute Berge auf, lange Ketten scharfer engsitzender Zacken, leuchtend rot, als glühten sie von einem inneren Feuer. Sie sahen unglaublich alt aus. Fast erwartete er, dass vor ihnen im Flachland prähistorische Tiere grasten. Brontosaurier, Mastodonten.

Aber keine Dinosaurier waren da. Nicht ein einziges Mastodon. Eigentlich nichts. Kiesel, etwas verkümmertes Gras, ein paar huschende Eidechsen. Mehr nicht. Er stieß auf ein altes Reservoir, das noch etwas Wasser enthielt, und zog sich aus, um ein Bad zu nehmen, was er allmählich dringend nötig hatte. Das Wasser sah ungefährlich genug aus, und so früh am Morgen durfte er es riskieren, seine Haut der Sonnenstrahlung etwas mehr auszusetzen.

Der Teich war dunkel und tief, und Carpenter fürchtete, das Wasser könnte vielleicht zu kalt sein, aber dem war nicht so, jedenfalls nicht besonders. Eher lau. Doch relativ sauber. Keine Chemieverschmutzungen, die die Oberflächenspiegelung opalisieren ließ, kaum Schaumbildung, keine Alligatoren, die ihn aus der Tiefe herauf angrinsten, nicht einmal ein Frosch war zu sehen. Ein echtes neues Erlebnis dies, ein richtiges Bad im Freien, in echtem, unverseuchtem Wasser. Es war angenehm, sich wieder sauber zu fühlen. Es war wie eine Art neuer Taufe.

Nach einigen Stunden Fahrt jenseits der flammenden Bergklüfte wirkte die Landschaft wieder mehr und mehr bewohnt. Einige erbärmliche wackelige Farmhäuser, ein paar baufällige Scheunen, die mindestens fünfhundert Jahre alt aussahen. Die Leute, die dort hausten, waren wahrscheinlich nicht besonders xenophil. Also fuhr er durch, ohne anzuhalten. Hinter den Farmen kam eine verstaubte kleine Ortschaft, danach ein größere Stadt, die er umfuhr. Über allem hier breitete sich ein trüber grauer Dunst. Sogar in seinem abgeschotteten Wagen spürte er die Wirkung des inneramerikanischen Dilemmas, der Überhitzung, des Smogs, der ausgreifenden Tentakeln der schweren drückenden Masse von Dreck, die mit brutaler Gleichgültigkeit überall auf den mittleren Regionen des Landes lastete. Diese Luft war wie eine sich ballende Faust. Er wusste, wenn er anhielte und aus dem Wagen stiege, würde ihm ein trockener Gluthauch wie in der Sahara entgegenschlagen.


Später am Morgen rief er Nick Rhodes an, einfach um ihm zu berichten, was mit ihm passiert war, wo er jetzt war und wohin er fahren wollte. Tags zuvor hatte er nicht mit ihm reden wollen, aber jetzt kam es ihm falsch vor, so einfach zu verschwinden, ohne ihm ein Wort zu sagen. Wenn Rhodes nämlich irgendwie herausbekam, dass Carpenter bei Samurai gefeuert worden war, könnte er vielleicht glauben, dass er sich umgebracht hätte. Und das wollte Carpenter nicht.

Der Android in Rhodes Büro sagte ihm, dass Dr. Rhodes in einer Besprechung sei. Ein wenig erleichtert, sagte Carpenter: »Sag ihm, dass Paul Carpenter angerufen hat, dass ich aufgrund kürzlicher Geschehnisse aus der Firma ausgeschieden bin und jetzt nach Chicago fahre, um dort für ein paar Tage Freunde zu besuchen, und dass ich mich wieder mit ihm in Verbindung setzen werde, sobald ich weiß, wie meine weitere Planung aussieht.« Er überhörte die Frage des Androiden nach seiner Telefonnummer, unter der er zu erreichen sein würde. Für den Moment konnte er es nicht über sich bringen, mehr Kontakt zu dem Leben, das er hinter sich zurückgelassen hatte, aufzunehmen.

Er hoffte, dass er nun spät in der Nacht, oder schlimmstenfalls im Morgengrauen Chicago erreichen werde. Sein Wagen zeigte keine Ermüdung. Er brauchte nur still dazusitzen und die Meilen zu Hunderten unter sich fröhlich wegflitzen zu lassen. Aber er hatte nicht mehr sehr viel zu essen dabei, doch andererseits hatte er auch nicht besonders großen Appetit. Sitz still, lass die Meilen vorbeirauschen.

Er fuhr durch weite Strecken von schrecklich verödetem Land: Schlackenhalden, Aschehaufen, verbrannte Heide. An manchen Stellen stieg Rauch auf; die Reste von alten Feuern, die dort unten weiterbrannten, eine Unterwelt, die sich auf mysteriöse Weise selber auffraß. Ein völlig dunkler Wald von toten Bäumen auf einem scharfrückigen, langen, braunen Hügelkamm, aus denen wie ein absurder Witz ein verrostender Skilift herabhing. Ein ausgetrockneter See. Ein Streifen toter grauer Erde, ein Gewirr geschwärzter ineinander verhedderter Drähte, Haufen von Schrottautos – im Hintergrund skeletthafte Spuren einer verlassenen Stadt, stählerne Bauträger, Fensterrahmen wie leere Augenhöhlen.

Dann wurde alles flacher. Die Luft sah graubräunlich aus. Er kam jetzt in die Gegend der Dust Bowls, der Staubschüsseln, in das traurige ausgetrocknete Herzstück des Kontinents, wo einstmals die riesigen Weizenfelder waren, ehe die Sommer sich zu Glutöfen verwandelten, bevor die Luft schlecht wurde und der Regen anderswohin verschwand. Die weiten Himmel und die Majestät der purpurblauen Berge waren immer noch da, sicher, dicht hinter ihm in Utah und Wyoming, doch jetzt war er schon weiter östlich davon, in Nebraska, vielleicht schon Iowa, und die fruchtbaren Ebenen waren zum Teufel gegangen, und Carpenter fand nirgendwo Spuren der früheren bernsteingoldenen Getreidefelder.

Doch es lebten noch Menschen hier. Im dunkelnden Abend sah er zu beiden Seiten der Straße die Lichter von Ortschaften und Städten. Weshalb Leute in dieser Gegend hausen wollten, überstieg Carpenters Begriffsvermögen, aber er sagte sich, dass ihnen wahrscheinlich keine große Wahl geblieben war, sie waren hier geboren und sahen keine Chance, an einen besseren Ort zu ziehen, oder aber sie waren auf den Wellen des Missgeschicks an diesen wasserlosen Strand gespült worden, und da waren und da blieben sie. Requiescant in pace.

Wenigstens haben sie ein Zuhause, dachte er.

Er dachte darüber nach, was er tun sollte, wenn seine lange Irrfahrt von nirgendwo nach nirgendwo und zurück vorbei und er eine neue Lebensetappe zu beginnen bereit war. Aber welche neue Etappe? Wohin sollte er gehen? Was tun? Er hatte nichts, was er sein Zuhause nennen konnte. Los Angeles? Das kannte er kaum noch. San Francisco? Spokane? Die Firma war sein Zuhause gewesen, und die Firma hatte ihn nach Belieben von Boston nach St. Louis und Winnipeg und Spokane versetzt. Und wo er auch war, er gehörte immer noch zur Firma.

Und jetzt war das vorbei. Dies begann er erst jetzt mühsam zu begreifen. Keinerlei Aufstiegschancen, keine Privilegien mehr. Der erste Junge seines Jahrgangs, der es schaffte auf einem Null-Niveau zu landen.


Irgendwo mitten in Illinois, eine, zwei Stunden westlich von Chicago, kam es zu Staus auf der Straße, und sein Wagen erklärte ihm, dass weiter vorn eine Straßensperre sei. Aus westlichen und südlichen Richtungen waren alle Zufahrten in die Stadt abgesperrt, außer über die offiziellen Quarantäneschleusen.

»Was ist da los?«, fragte Carpenter.

Doch sein Wagen war nur ein billiger Miettyp und nicht programmiert, mehr als Basisinformationen zu bieten. Das beste, was er zustandebrachte, war ein Kartendisplay der roten Sperrzone mit weiten Bereichen von Missouri und West-Illinois bis weit nach New Orleans hinunter und auf der anderen Seite des Mississippi von Louisiana nach Kentucky und Teile von Ohio hinein. Nach der Angabe des Wagens lag die nächste Zugangsmöglichkeit in die Schutzzone für Reisende, die nach Chicago wollten, in Indianapolis, und der Wagen schlug den entsprechenden Umweg vor.

»Wie du meinst«, sagte Carpenter.

Er schaltete das Radio an und bekam teilweise die Antwort. Da sprachen sie von einem Ausbruch von Chikungunya in New Orleans und Befürchtungen, dass sich dort Guanarito und Oropouche ebenfalls ausbreiten könnten. Aus dem Gebiet um St. Louis wurden Sekundärfälle berichtet. Carpenter hatte noch nie etwas von Chikungunya, Guanarito oder Oropouche gehört, aber es handelte sich eindeutig um Krankheitsbezeichnungen; anscheinend grassierte drunten im Süden irgendeine Epidemie, und die Behörden versuchten, eine Ausbreitung nach Chicago zu verhindern.

Als er Indianapolis erreichte, es ging schon gegen Mittag, erfuhr er den Rest, als er an der Quarantänestation darauf wartete, befragt zu werden. Die Krankheiten mit den langen Namen wurden von Tropenviren hervorgerufen, erklärte man ihm. Ausreißer aus Afrika und Südamerika, die sich in den neuen Regenwäldern Louisianas, Floridas und Georgias herumtrieben – sie lebten in tierischen Wirtskörpern, wurden übertragen durch Zecken und Wanzen und gelangten über sie ins Blut der zahllosen keckernden Affen und unzähligen riesigen Nager, die ihrerseits Flüchtlinge aus den früher einmal am Amazonas und am Kongo wuchernden Regenwäldern waren und nun die feuchten dampfenden Dschungel im Süden der USA überrollt hatten.

Alle Bewohner der neuen Dschungelregionen mussten sich ständig impfen lassen, das wusste Carpenter, weil immer wieder das eine oder andere Virus von seinem tierischen Träger auf einen menschlichen Pechvogel überwechselte, was dann zu immer neuen Epidemien führte. Doch hier oben gab es keinen Regenwald. Weshalb also hier oben in dem trockeneren, kühleren Klima um Chicago diese panische Furcht vor Tropenkrankheiten aus dem Dschungel?

»Ein Haufen infizierter Affen hat sich auf einem Frachtkahn eingeschifft, der mit Früchten von New Orleans den Mississippi rauffuhr«, erklärte man Carpenter. »Einige sind in Memphis entwischt und haben ein paar Leute gebissen. Der Rest blieb bis Cairo auf dem Kahn. Memphis und Cairo sind jetzt abgeriegelt. Wir wissen bisher noch nicht genau, um welches Virus es sich handelt, aber schlimm sind die alle. Wenn du gebissen wirst, fängst du an anzuschwellen und wirst zu 'nem Sack voll schwarzem Blut, und dann zerplatzt der Sack, und alles, was drin war, fließt raus auf den Boden, bis du leer bist …«

»Jesus«, sagte Carpenter.

»Wir glauben, wir konnten die Sache vor St. Louis stoppen. Wenn der Mist je bis Chicago vordringen könnte, würde die Stadt in die Luft gehen wie ein Scheiterhaufen. Bei vier Millionen Menschen, so dicht zusammengepackt? Und mit 'ner ansteckenden Krankheit, die du kriegen kannst, wenn du jemand bloß schief anschaust? Vergiss es, Mann … Können wir mal deinen Fahrtschreiber sehen, bitte?«

Carpenter reichte seinen Routenschreiber hinaus.

»Keine Abstecher ins östliche Missouri, irgendwas, was auf deinem Routenplan nicht auftaucht? Irgendwelche Abstecher nach Tennessee oder Kentucky?«

»Ich bin über die Nordstrecke hergefahren«, sagte Carpenter. »Da, ihr seht doch, an welchem Tag ich von Kalifornien losgefahren bin. Ich hatte bestimmt keine Zeit, woanders hinzufahren, als direkt quer durch die Berge und Nebraska und Iowa.«

»Geschäftlich hier?«

»Ja, geschäftlich.«

Das war ein kniffliger Moment. Carpenter war immer noch unter der Samurai-Flagge unterwegs, als Gehaltsempfänger der Elferklasse, unterwegs für die Firma nach Chicago. Ein einziger kleiner Telefonanruf, und ihm ging die Luft aus. Aber noch führte ihn die Firma auf der Angestelltenliste. Die Verbindung mit dem Mega-Multi wirkte und brachte ihn durch, in den Desinfektionsraum und danach wieder weiter auf den Highway nach Chicago.

Memphis und Cairo sind abgeriegelt.

Die Fernstraßen und Flugverbindungen blockiert, keiner kann rein, keiner kommt raus. Memphis und Cairo hätten ebenso gut von der Landkarte gelöscht worden sein können. Affen stürmen in Louisiana aus dem Dschungel und tun ihr Werk für die Kräfte des Chaos, und deine Stadt verschwindet von der Erde, während du auf die Oropouche-Viren oder wie immer das Zeug heißen mochte, wartest, das dir in die Blutadern kommt, dich anschwellen und zu einem Sack voll schwarzem Blut werden lässt. Himmel, erbarme dich, dachte er.

Christus, erbarme dich. Heilige Maria, du Mutter Gottes, bitt für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes.


Endlich, gegen vier Uhr nachmittags, war er in Chicago und rief Jeanne Gabel in der Samurai-Zentrale von Wacker and Michigan an und bekam die Verbindung nach nur etwa einer halben Minute, bis man sie aufgespürt hatte.

»Wo bist du?«, fragte Jeanne.

»Auf 'nem Parkplatz an – hmmm – der Ecke Monroe-Green.«

»Gut. Bleib dort. Ich kann gut hier etwas früher weg. Ich komm und hol dich.«

Müde und verdreckt von der langen Fahrt blieb er im Wagen hocken und blickte voll missmutiger Ergriffenheit in den düsteren Smoghimmel. Die Luft in dieser Stadt war wie eine ölige Suppe und hinterließ dunkle Streifen auf der Windschutzscheibe. Sie war phantastisch gefleckt und gemasert von dicken Farbtupfern, gelb, purpur, grün, blau, alles ineinander laufend, es sah aus wie eine eklige Prellung unter der Haut, und die Sonne lugte blässlich durch den Vorhang von Schmutz wie eine kleine angelaufene Kupfermünze. Er war schon lange nicht mehr in diesem Teil des Landes gewesen; er hatte vergessen, welche Gifte hier die Luft belebten. Wohin er sah, trugen die Leute ihre Schutzmasken. Er setzte sich seine auf und vergewisserte sich, dass sie an den Wangen und am Kinn dicht schloss.

Jeanne traf mit verblüffender Schnelligkeit bei ihm ein. Freude schoss bei ihrem Anblick in ihm auf – das erste vertraute Gesicht seit Oakland – und dem folgte sogleich als Gegenreaktion eine tiefe Verwirrung. Er hatte keine Ahnung, weshalb er zu ihr hergefahren war, noch was er von ihr erwartete, von dieser Frau, zu der er seit fast einem halben Dutzend Jahren eine distanzierte Flirtfreundschaft unterhalten hatte, ohne sie je auf die Lippen geküsst zu haben.

Jetzt hätte er sie gern geküsst, aber mit der Gesichtslungenmaske war das schwierig zu bewerkstelligen. Er begnügte sich mit einer Umarmung. Jeanne war eine kräftige Frau, von der Mutterseite her irgendwie ein wenig orientalisch, doch ohne eine Spur von orientalischer Zerbrechlichkeit, und sie nahm ihn stark und fest und herzlich in die Arme.

»Los, komm«, sagte sie. »Du brauchst ganz dringend eine Dusche, und dann was zu essen, richtig?«

»Richtig getippt.«

»Gott, ist das schön, dich wiederzusehen, Paul.«

»Ich freu mich auch.«

»Aber es steht wohl ziemlich schlimm, ja? Ich hab dich noch nie mit so einem Gesicht gesehen.«

»Nein, es steht nicht sehr gut. Das stimmt genau.«

Jeanne stieg auf der Fahrerseite ein und befahl dem Wagen, wohin er sie bringen sollte. Während sie sich in den Verkehr einfädelten, sagte sie: »Ich hab in der Personalzentrale nachgefragt. Anscheinend bist du nicht mehr in der Firma.«

»Sie haben mich terminiert.«

»Ich habe noch nie gehört, dass die sowas machen, außer es gibt Gründe.«

»Es gab Gründe, Jeanne.«

Sie schaute ihn an. »Um Himmels willen, was war los?«

»Ich hab Mist gemacht«, sagte er. »Ich tat etwas, das ich für richtig hielt, und es war falsch. Ich kann dir das Ganze erzählen, wenn es dich interessiert. In der Hauptsache war es so, dass die Sache eine Menge schlechte Werbung bedeutete und der Firma Ärger mit Kyocera brachte, also haben sie mich mit 'nem Tritt in den Arsch rausgesetzt. Eine Sache der Firmenpolitik. Sie mussten mich feuern.«

»Armer Paul. Da haben sie dir aber richtig einen reingewürgt. Was hast du jetzt vor?«

»Duschen und irgendwas essen«, sagte er. »Weiter kann ich derzeit nicht planen.«

Jeanne bewohnte ein Zweizimmerapartment – Wohnzimmer mit Küche, ein Schlafzimmer – draußen in einer der westlichen Vorortbezirke Chicagos. Die Räume waren dermaßen dicht versiegelt, dass sie nahezu luftlos wirkten, und die Klimaanlage war alt und asthmatisch, laut und fast wirkungslos.

Für Gäste war in der beengten Wohnung kaum Platz. Carpenter überlegte, ob er sich für die Nacht wohl ein Hotel suchen müsse, wenn er nicht wieder im Wagen schlafen wollte, und fragte sich, wie er das bezahlen sollte. Vielleicht erlaubte ihm Jeanne ja, auf dem Fußboden zu schlafen. Er duschte so hingebungsvoll lange, wie er es anständigerweise glaubte tun zu dürfen, vielleicht sechs, sieben Minuten lang, und zog sich frische Sachen an. Als er wieder erschien, hatte Jeanne zwei Teller voll Algenkekse und Sojaspeck und etliche Flaschen Bier auf dem Tisch.

Während sie aßen, erzählte er seine Geschichte, ruhig und leidenschaftslos, angefangen von dem Hilfsersuchen Kovalciks bis zu der abschließenden Unterhaltung mit seinem Anwalt Tedesco. Inzwischen kam ihm das alles eher vor wie eine Geschichte, von der er in den Abendnachrichten gehört, nicht wie etwas, das ihm selbst widerfahren war, und er blieb dabei fast völlig empfindungslos, als er Jeanne den Ablauf der Sache schilderte. Sie hörte fast kommentarlos bis zu Ende zu. Dann sagte sie nur: »Was für ein Scheißspiel, Paul.«

»Ja.«

»Hast du dran gedacht, Revision zu verlangen?«

»Bei wem? Beim Papst? Ich sitz auf meinem nackten Arsch, Jeanne. Das weißt du doch ebenso gut wie ich.«

Sie nickte nachdenklich. »Ja, wahrscheinlich. Ach, Paul, Paul …«

In der hermetisch abgeschotteten Wohnung brauchten sie die Atemschutzmasken nicht zu tragen. Sie wandte ihm das Gesicht zu, und er sah einen Ausdruck in ihren Augen, dessen Unwägbarkeiten ihn verwirrten: wie zu erwarten, war da Besorgtheit und Sympathie, aber hinter dem so etwas wie ein Schimmer von echter Liebe, und dahinter – was? Angst. Ja, es sah aus wie Furcht, dachte er. Aber Angst wovor? Vor ihm? Nein, dachte er. Sie hat Angst vor sich selbst.

Bedächtig schenkte er sich Bier in sein Glas nach.

Sie fragte: »Wie lang willst du in Chicago bleiben?«

Er zuckte die Achseln. »Ein, zwei Tage, denke ich. Weiß noch nicht. Aber ich will dir auf gar keinen Fall zur Last fallen, Jeannie. Ich musste ganz einfach bloß dringend für 'ne Weile aus Kalifornien weg, 'nen Ort, wo ich zur Ruhe kommen kann und sicher bin, bis ich …«

»Du kannst bleiben, solang du magst, Paul.«

»Ich bin dir dankbar dafür.«

»Weißt du, ich fühl mich irgendwie verantwortlich. Schließlich hab ich dir den Job auf diesem Eisbergschlepper aufgehalst.«

»Das ist echt Scheiße, Jeannie! Klar, den Job hast du mir besorgt, aber ich hab die Leute sitzen lassen, ganz allein und aus eigener Entscheidung hab ich das getan.«

»Ja, das habe ich schon verstanden.«

»Sag mir jetzt mal, wie es dir geht«, lenkte er ab. »Was hast du denn so getrieben?«

»Was gibt's da schon zu berichten? Ich arbeite, ich fahr heim, ich lese, und dann schlafe ich. Es ist ein gemütliches ruhiges Leben.«

»So, wie du's schon immer gern hattest.«

»Ja.«

»Fehlt dir Paris nicht?«

»Na, was denkst denn du?«, sagte sie.

»Gehen wir doch einfach hin«, sagte er. »Du und ich. Gleich jetzt. Du gibst deinen Job auf, und wir suchen uns ein nettes Plätzchen in der Nähe der Seine, und dann tanzen und singen wir in der Metro und sammeln Geld … Es wäre ja kein tolles Leben, aber wenigstens wären wir dann in Paris.«

»Ach, Paul. Was für eine wunderbare Idee!«

»Wenn wir es bloß könnten, nicht?«

»Ja, wenn.« Sie ergriff seine Hand und drückte sie kurz und flüchtig, dann zog sie die Hand wieder rasch weg, als wäre das bereits zu gewagt gewesen.

Carpenter erkannte, dass er im Grunde gar nichts über diese Frau wusste. Sie war warm und gut und freundlich, doch sie hatte sich die ganze Zeit wie hinter Glas abgeschirmt: eine Freundin, ein guter Kamerad, aber immer von einer Mauer gegen die Welt umgeben. Und nun war er innerhalb dieser Abschirmung.

Sie redeten stundenlang wie in den alten Zeiten in St. Louis; schwatzten über alte Freunde und über Firmengerüchte und allgemein über Weltereignisse. Er begriff, dass sie damit beabsichtigte, dass er sich entspannte – und vielleicht sie selbst sich ebenfalls. Es war leicht, die unterschwellige Nervosität in ihr zu spüren. Er begriff, dass er ganz schön viel von ihr forderte – indem er einfach so aus dem Nichts bei ihr antanzte, sich bei ihr einnistete und ihr die Trümmer seines kaputten Lebens vor die Füße warf und noch nicht einmal genau sagen konnte, was er nun von ihr erwartete. Und das konnte er nicht, weil er es nicht wusste.

Gegen halb elf sagte sie: »Paul, du musst doch todmüde sein nach der langen Fahrt praktisch ohne Stopp von Kalifornien herauf.«

»Ja. Ich such mir besser ein Zimmer in 'nem Hotel.«

Ihr Augen weiteten sich kurz. Wieder huschte ein rätselhafter Ausdruck über ihr Gesicht, wieder diese beklemmende Mischung aus Wärme und Unsicherheit.

»Du kannst meinetwegen gern hierbleiben«, sagte sie.

»Aber du hast doch so wenig Platz.«

»Wir kommen schon zurecht. Bitte. Ich würde mir gemein vorkommen, dich so in die Nacht rauszujagen.«

»Also …«

»Ich möchte, dass du bleibst.«

»Also«, wiederholte er und lächelte. »In diesem Fall …«

Sie ging ins Bad und blieb ziemlich lange dort. Carpenter stand neben dem schmalen Bett und wusste nicht, ob er sich ausziehen sollte. Als sie wiederkam, trug sie einen langen Bademantel. Dann ging Carpenter ins Bad, um sich zu waschen, und als er herauskam, lag sie im Bett und hatte das Licht gelöscht.

Er zog sich bis auf die Unterhose nackt aus und legte sich im Wohnzimmer auf den Boden.

»Nicht«, sagte Jeanne nach einer Weile. »Dummer.«

Dankbarkeit und Erregung und etwas, das man fast als Gewissensbiss hätte bezeichnen können, strömten gleichzeitig durch ihn. Er stolperte in der Dunkelheit zwischen den Möbeln durch und legte sich behutsam neben sie ins Bett, bemüht, sie dabei nicht zu berühren. Es war wirklich kaum Platz für beide.

Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass ihr Nachtgewand offen und sie darunter nackt war und dass sie zitterte. Carpenter streifte seine Shorts ab und schleuderte sie fort. Dann legte er ihr behutsam die Hand auf die Schulter.

Sie schauderte. »Kalt«, sagte sie.

»Wird gleich wärmer.«

»Ja, bestimmt.«

Er ließ die Hand tiefer gleiten. Ihre Brust war klein und fest, die Brustwarze ganz steif. Er fühlten ihr Herz darunter schlagen, so heftig, dass es ihn erschreckte.

Ein seltsames Zaudern kam über ihn. Mit fremden Frauen ins Bett zu gehen, das war für ihn eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber Jeanne Gabel war eigentlich keine Fremde für ihn, aber trotzdem kannte er sie nicht. Gekannt hatte er sie so lange Zeit – und sie überhaupt nicht gekannt, und sie waren so gute Freunde und dabei doch nie intim geworden. Und nun lag er hier neben ihr im Bett, und seine Hand streichelte ihre Brust. Und sie wartete. Aber sie hatte unverkennbar Furcht. Und sie schien ebenso wenig zu wissen, was tun, wie er. Ihm war bange, dass sie sich nur aus Mitleid mit ihm dazu bereitfand, und das wäre ihm gar nicht recht gewesen. Außerdem schoss ihm der absurde Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht noch Jungfrau sein könnte; aber nein, nein, sowas war unmöglich. Sie war mindestens fünfunddreißig. Frauen, die so lange jungfräulich blieben – jedenfalls falls es so etwas außerhalb von Klostermauern überhaupt noch gab –, wollten wahrscheinlich diesen Zustand bis an ihr Ende beibehalten.

Sie rückte enger zu ihm her, gab ihm ungeschickt zu verstehen, dass er weitermachen solle. Seine Hand glitt an die Stelle, wo ihre Schenkel sich trafen.

»Paul – ah, ja, Paul … ja …«

Die Theatralik, das bühnenreife irgendwie künstliche Seufzen störte ihn ein bisschen. Aber was sonst hätte sie schließlich sagen sollen? Was konnte sie in dieser spannungsgeladenen neuen Situation schon anderes sagen als ›Paul‹ und ›ja‹?

Er streichelte sie ausgiebig und zart und konnte es immer noch irgendwie nicht recht glauben, dass es wirklich geschah, dass Jeanne und er nach all dieser langen Zeit wahrhaftig miteinander im Bett waren. Und er war auch keineswegs völlig sicher, dass es richtig war, wenn es jetzt so geschah.

»Ich liebe dich«, flüsterte er. Worte, die er früher oft und oft zu ihr gesagt hatte, leichthin und spielerisch-neckend, und etwas schwang auch jetzt davon mit. Aber auch noch etwas anderes – ein Schuldgefühl vielleicht, dass er einfach so in Jeannes geordnetes Single-Leben geplatzt war, in seiner hirnlosen, panisch verzweifelten Flucht aus dem Chaos, in das er nach der Rückkehr nach San Francisco geraten war. Und dazu kam noch diese Komponente von Dankbarkeit, die er ihr gegenüber empfand, dass sie sich ihm hingab. Verspieltheit, Schuldgefühl, Dankbarkeit: keine besonders guten Gründe, jemandem zu sagen, dass man ihn liebt, dachte Carpenter.

»Ich liebe dich, Paul«, flüsterte sie mit kaum vernehmbarer Stimme, während seine Hände über die geheimen Orte ihres Körpers irrten. »Ich lieb dich wirklich.«

Und dann war in ihr.

Keine Jungfrau, nein, soviel war ziemlich sicher. Doch er vermutete, dass es lange her war, dass sie so mit einem Mann zusammen gewesen war. Eine sehr lange Zeit.

Ihre langen muskulösen Arme umschlangen ihn fest. Ihre Hüften bewegten sich in scheinbar eifriger Rhythmik, auch wenn es eine andere war als die seine, und das machte die Sache ein wenig schwierig. Sie schien aus der Übung zu sein. Carpenter setzte sein Gewicht ein und versuchte, alles besser zu koordinieren. Das schien zu klappen – sie beugte sich seiner erfahreneren Technik. Doch dann, ganz plötzlich, schwamm ihm alles, was er im Lauf der Jahre an diesbezüglichen Techniken gelernt hatte, auf einem tosenden Strom von Emotionen davon, der brüllend tief aus ihm heraufschoss, ein verzweifelter Ansturm von Entsetzen und Verlorenheit und des Bewusstseins, in was für einen Absturz in bodenloses Chaos sein Leben auf einmal geraten war, ohne Fallschirm, ungesichert. Durch seinen Kopf tosten wilde Stürme, heiße Howling Diablos jagten ihm Glutstöße durch die Seele, während ohne Ende durch Regionen von Giftgasen wirbelte. Er klammerte sich an diese Frau, er jammerte und stöhnte wie ein kleiner Junge in den Armen seiner Mutter.

»Ja, Paul, jaaa!«, flüsterte sie. »Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.«

Als er ejakulierte, war das wie ein Hammer, der aus ihm heraus zuschlug. Er schrie keuchend auf und vergrub seinen Kopf an Jeannes Hals, und die Tränen strömten ihm aus den Augen wie schon seit vielen, seit mehr Jahren, als er sich noch erinnern konnte, nicht mehr. Danach lagen sie lange wortlos da, fast ohne sich zu regen. Dann küsste sie ihn flüchtig auf die Schulter und glitt aus dem Bett und verschwand im Bad. Dort blieb sie sehr lange. Er hörte Wasser laufen und vielleicht auch, dachte er, ein Schluchzen, war aber nicht sicher, und er hätte bestimmt nicht nachzufragen gewagt. Wenn schon, dachte er, dann lass es doch wenigstens vor Befriedigung sein.

Danach kam sie zurück, stieg wieder in das schmale Bett und drängte sich ganz dicht an ihn. Sie sagten beide nichts. Er nahm sie in die Arme, und sie kuschelte sich an ihn; und nach einer Weile merkte er, dass sie eingeschlafen war. Und dann schlief auch er irgendwann.

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