Kapitel 24

Farkas war noch nie vorher in San Francisco gewesen. Seine normale Operationsbasis war in Europa: London, Paris, manchmal Frankfurt/Main. Wenn er gelegentlich für die Firma in die USA musste, dann war er meist in New York. Einmal war er in Los Angeles gewesen, diesem flachen auswuchernden krebsartigen Albtraum, scheußlich beklemmend und von überwältigender Hässlichkeit, erstickend in peststinkender Luft und mörderischer Hitze: eine Stadt, die für menschliches Leben bereits ungeeignet war, obwohl angeblich das volle wütende Ausmaß der Inversionsgiftkatastrophe noch um etliche Jahre in der Zukunft liegen sollte.

San Francisco war ganz anders, dachte Farkas. Es war kleiner und recht hübsch zwischen Bucht und Ozean. Seine spezifische Art zu ›sehen‹ übersetzte ihm das hügelige Gelände in ein angenehm freundliches Muster von flachgedeckten Wellenformationen, und von den zwei begrenzenden Wasserflächen zu beiden Seiten der Stadt strömte ihm eine harmonische burgunderrote Emanation von samtiger schmeichelnder Textur zu.

Aber natürlich war auch die Luft über San Francisco schwer belastet mit Treibhausgasen, doch traf das inzwischen auf fast jeden Ort auf der Erde zu, an den man kam, aber in San Francisco verhinderte der fast immer von der See wehende Wind, dass die schädlicheren ätzenden Substanzen zu lange an Ort und Stelle sich ablagern konnten. Und wenn auch das Wetter eklig warm war, die Meeresbrise hielt das Unbehagen doch einigermaßen in Grenzen. Das Klima hier erinnerte mehr an das von London oder von Paris als an das irgendeiner anderen Stadt, in der er in den Staaten zu Besuch gewesen war. Die waren alle richtige Glutöfen gewesen; in San Francisco war die Hitze immerhin etwas weniger erbarmungslos. Aber ihm fehlte der ständige sanfte Regen Westeuropas. Auch San Francisco briet unter dieser immerwährenden Wüstensonne, die Farkas als einen Regen von funkelnden goldenen Dolchen wahrnahm.

Jolanda, Enron und er hatten gemeinsam am Shuttle-Terminal im weiten flachen Tal östlich der Stadt die Highspeed-Bahnkabine bestiegen. Dann hatten die beiden ihn zu seinem Hotel im Stadtzentrum gebracht und waren zu Jolandas Wohnung in Berkeley gefahren, wo sie bleiben wollten. Und in ein paar Tagen, sobald Jolanda bestimmte Arrangements für ihr Haus und ihre Tiere getroffen haben würde, wollten sie alle drei nach Südkalifornien gehen, sich da mit Davidov treffen und die endgültigen Bedingungen für die Partnerschaft zwischen Israel und Kyocera für die finanzielle Unterstützung bei der Eroberung Valparaiso Nuevos festzulegen.

Er wusste, dass es wahrscheinlich am klügsten gewesen wäre, wenn er von der Raumstation direkt mit Davidov nach Los Angeles gefahren wäre, wo dann die anderen beiden später, wenn Jolanda ihre Angelegenheiten erledigt hatte, zu ihnen hätten stoßen können. Dabei hätte sich ihm möglicherweise die Möglichkeit geboten, Davidov und seine Verbündeten genauer zu inspizieren und herauszufinden, wie kompetent die Leute tatsächlich waren. Doch er hatte keine große Lust, sich so rasch wieder den Scheußlichkeiten von Los Angeles auszusetzen.

Hinzu kam auch, dass er gern in der Nähe von Jolanda bleiben wollte. Diese eine Eskapade mit ihr in ihrem Hotel in Valparaiso Nuevo hatte ihm Appetit auf mehr gemacht. Er fühlte sich leicht verlegen, sogar vor sich selber, dass er eingestehen musste, dass die Entscheidung, zuerst in San Francisco Station zu machen, hauptsächlich darauf zurückzuführen war, dass Jolanda zunächst hierhin wollte. Nach der langen Zeit sexueller Abstinenz merkte er, wie vollkommen hingerissen er war von ihrer üppigen großzügigen Fleischesfülle, ihrer unkomplizierten Hingabebereitschaft, ihrer leicht erregbaren leidenschaftlichen Natur.

Das alles war recht dumm, und er wusste es, sehr unreif und unbedacht, vielleicht sogar gefährlich und möglicherweise auch nutzlos. Enron schien es darauf anzulegen, Jolanda von ihm fernzuhalten. Aber er war sicher, dass dieses Besitzgehabe Enrons weiter nichts war als eine Art Machtprobe, die Enron aus reinem männlichen Reflexverhalten heraus anstellen wollte. Er spürte, dass dem Israeli eigentlich wenig an Jolanda lag, außer vielleicht als einer bequemen Annehmlichkeit, die eingesetzt werden konnte, um höhere Zwecke zu fördern.

Und anscheinend begriff Jolanda dies auch. Vielleicht konnte er sie ja von dem Mann loseisen, solange sie hier waren. Und Farkas unterstellte (wie er glaubte, mit recht gutem Grund), dass sie sich ebenso stark zu ihm hingezogen fühlte wie er zu ihr. Er dachte, wenn dieses unvorhersehbare, abenteuerliche Unternehmen in Valparaiso Nuevo erst einmal hinter ihm liegen würde, wäre es doch angenehm, ein paar Wochen in und um San Francisco herum mit Jolanda Urlaub zu machen, während sie diese Porträtskulptur von ihm vollendete, die als Vorwand gedient hatte – und er gab sich da keinerlei Illusionen hin, es war weiter nichts als ein Vorwand gewesen – für ihre Hotelzimmeraffäre.

Im Augenblick allerdings war er in einem anderen Hotelzimmer, und allein. Vorläufig.


Er packte seine Sachen aus, duschte, holte sich aus der Minibar in seinem Zimmer ein Gläschen Brandy. Erneut dachte er daran, New Kyoto anzurufen und die Bosse zu informieren, was er im Ärmel hatte; und erneut verwarf er den Gedanken wieder. Früher oder später würde er die Firma unterrichten müssen, dass er drauf und dran war, sie in eine internationale Verschwörung zu verwickeln. Aber bislang bestanden ja noch keinerlei bindende Verpflichtungen. Das sollte in Los Angeles passieren, nach der letzten Besprechung mit Davidov und seinen Leuten. Dann erst wollte er dem Exekutivkomitee Einzelheiten hinaufschicken. Wenn denen dort der Plan nicht gefiel oder sie Bedenken bei irgendwelchen grundsätzlichen Punkten hatten, würde es leicht genug sein, alle bislang gegebenen Zusagen abzustreiten. Und wenn sie seinem Plan zustimmten, dann durfte er sich möglicherweise seine Beförderungsurkunde selbst schreiben: Stufe Acht, bestimmt, vielleicht noch höher – Victor Farkas, Grad Sieben, überlegte er genüsslich. Besoldung nach Grad Sieben, die Privilegien, das Dachappartement in Monaco, das Sommerhaus an der Küste von New Kyoto. Bis das Sternenschiff einsatzbereit war und er die Erde für immer hinter sich zurücklassen konnte.

Das Telefon zirpte leise.

Er trennte sich nur ungern von seinen Wunschvorstellungen eines Lebens als Siebener-Grad. Aber er nahm den Ruf doch an. Es gab nur zwei Personen im Universum, die wussten, wo er sich aufhielt …

Ja. Richtig, es war Jolanda. »Alles zu deiner Zufriedenheit?«, fragte sie.

»Alles wunderbar, ja.« Und dann – hastig, vielleicht zu hastig: »Ich überlege mir gerade, hast du schon was für heute Abend geplant, Dinner? Ich könnte ein paar Kyocera-Leute anrufen, aber falls du Lust hättest, mit mir …«

»Würde ich wahnsinnig gern«, sagte sie. »Aber Marty und ich sind für den Abend mit Bekannten hier verabredet, hier drüben in Berkeley, mit Isabelle Martine und Nick Rhodes – sie ist Kinetiktherapeutin, meine engste Freundin, eine wundervolle, faszinierende Frau, er ist ein brillanter Gentechniker, arbeitet für Samurai – Adapto-Forschung, muss ich leider sagen, richtig scheußliches Zeug, aber er ist so ein lieber Mensch, dass ich ihm verzeihe …«

»Also vielleicht morgen?«, fragte Farkas.

»Ach ja, deswegen rufe ich ja eigentlich an. Morgen Abend …«

Gespannt beugte er sich vor. »Vielleicht könnten wir ja zusammen zu Abend essen? In San Francisco. Nur wir zwei beide …«

»Doch, das wäre hübsch, ja. Aber was soll ich mit Marty machen? Außerdem möchte ich, dass du hier rüberkommst und dir meine Skulpturen anschaust …« Ein unsicheres Kichern. »Sie erfährst, sollte ich vielleicht sagen. Es ist eine kleine Dinnerparty. Dabei kannst du auch gleich Isabelle und Nick kennenlernen, und einen Freund von Nick, Paul Carpenter, der war Kapitän von einem Eisbergschiff für Samurai, und dann ist er auf See in irgendwelche Schwierigkeiten geraten und hat seinen Job verloren, und jetzt ist er wieder in der Stadt, und wir versuchen alle, ihn ein bisschen aufzumuntern, während er sich überlegt, was er jetzt machen wird …«

»Ja. Ja, natürlich. Wie bedauerlich für ihn. Aber wie wäre es dann tagsüber? Jolanda – könnten wir vielleicht zusammen irgendwo mittagessen?«

Er kam sich absurd vor, dass er so hinter ihr herhechelte – aber es bestand ja immer eine Chance, dass …

Nein. Die Chance bestand nicht.

Freundlich sagte Jolanda zu ihm: »Würde ich wahnsinnig gern machen, Victor. Das weißt du ja. Aber wir müssen warten, bis Marty wieder nach Israel fliegt, nicht? Ich meine, er ist jetzt da, er wohnt bei mir, und es wäre alles schrecklich peinlich – das siehst du doch sicher ein. Aber dann später, sobald die Geschichte mit Valparaiso Nuevo erledigt ist – dann haben wir massenhaft Zeit – und nicht bloß für ein kurzes Mittagessen. Ich hätte es ja auch lieber, wenn es jetzt irgendwie anders ginge, aber es geht eben nicht. Ehrlich, es geht nicht.«

»Ja«, sagte er mit trockenem Hals. »Ich verstehe.«

»Also dann, morgen Abend – in meinem Haus in Berkeley …«

Er notierte sich den Transitcode, hauchte ihr einen Kuss zu und schaltete ab.

Es erstaunte ihn, dass er so erregt und verstört war. Auch überrascht von seiner Besessenheit. Es war lange her, dass er sich so aufgeführt hatte. Nein, vielleicht hatte er sich noch nie so verhalten. Wieso bedeutete ihm diese Frau so viel? Vielleicht, weil sie im Augenblick für ihn unerreichbar war, sich entzog? Es gab schließlich auf der Erde noch mehr Brüste und Schenkel und Lippen. Seine Fasziniertheit von dieser Jolanda erschien ihm auf einmal ein klein wenig riskant.

Aus der Serviceliste des Hotels wählte er sich eine Begleitung zum Dinner und buchte sie für zusätzliche drei Stunden danach. Vor langem schon hatte er gelernt, sich in Zeiten physischen Bedarfs professioneller Hilfe zu bedienen. Gute Professionelle hatten fast nie Probleme, ihre ersten Reaktionen über sein Aussehen zu beherrschen, und es gab hinterher keine langwierigen ärgerlichen Beziehungskisten. Farkas hatte nie viel übrig gehabt für emotionale Bindungen. Aber was die körperliche Seite der Sache anging – ja, das! –, da gibt es keine Möglichkeit, dem auf unbegrenzte Zeit zu entkommen, dachte er. Und es war gut, dass es Mittel und Möglichkeiten gab, da Abhilfe zu schaffen.

Er holte sich noch einen Brandy aus der Minibar und setzte sich gemütlich hin, um auf seine Begleitung zu warten.

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