Kapitel 23

Isabelle fragte: »Hast du irgendwas von Paul gehört, Nick?«

»Er rief vor ein paar Tagen an«, antwortete Rhodes. »Ich glaub, von irgendwo in Nevada. Sagte, seine Firma hat ihn rausgesetzt. Er hinterließ eine Nachricht, dass er nach Chicago fahren will, aber er hat keine Nummer hinterlassen. Seitdem nichts mehr.«

»Wieso ausgerechnet Chicago? Von allen möglichen scheußlichen Orten?«, fragte Isabelle.

»Er sagt, er hat Freunde dort. Ich hab keine Ahnung, wen er damit meint.«

»Meinst du, es ist eine Frau?«

»Höchstwahrscheinlich. Paul ist schon immer zu den Frauen gelaufen, wenn er Probleme hatte und Trost brauchte.«

Isabelle lachte, legte ihm die Hand auf die Schulter und grub ihm fest, aber nicht schmerzhaft die Finger in den dicken verkrampften Muskel. »Zwei vom gleichen Kaliber, das seid ihr zwei. Wenn's für euch irgendwo brenzlig wird, lauft ihr und versteckt den Kopf an Mammis Busen. Aber, warum nicht? Dafür ist der ja unter anderem auch da, vermute ich.«

Sie waren in seinem Apartment oben in den Bergen, es war fast Mitternacht, nach einem späten Abendessen in Sausalito. Und Isabelle wollte über die Nacht dableiben. Zur Abwechslung fühlte Rhodes sich einmal gelassen und grandios und sicher. Heute Abend lief alles so, wie er sich das Leben stets wünschte: gedämpftes Licht, gedämpfte unaufdringliche im Raum schwebende Musik, er mit einem Glas von seinem besten Cognac in der Hand. Und Isabelle bei ihm. Ihre Beziehung zueinander hatte während der letzten paar Tage ein euphorisches Hoch erreicht, Isabelle war relativ sanft zu ihm, einfühlsam, ja sogar zärtlich.

Er war schon fast entschlossen, das Angebot von Kyocera anzunehmen, trotz einiger schwelender beunruhigender Anfälle von Zauderei, diese ängstlichen Anflüge von Zwiespältigkeit. Sechzig-vierzig dafür, dachte er. An manchen Tagen war es siebzig zu dreißig. Und an manchen Tagen genau umgekehrt. Aber das nur selten. Heute Abend stand es etwa achtzig-zwanzig für den Wechsel. Isabelle hatte bisher noch keine Ahnung von seinem Angebot. Sie wusste, dass er seit einer Weile in einer innerlichen Entscheidungskrise steckte, aber sie war zu taktvoll, da nachzubohren. Aber da zwischen ihnen beiden ja momentan alles so ruhig lief, verspürte Rhodes kein Verlangen danach, erneut ihren Zorn zu entfachen, wie das bei dem Angebot von Kyocera, ihm noch viel größere Expansionsmöglichkeiten für seine Adapto-Forschungen zur Verfügung zu stellen, fast sicher geschehen musste. Ganz besonders jetzt, wo Jolanda von ihrem Ausflug in die L-5-Welten zurückgekehrt war, am selben Morgen, wie Isabelle erfahren hatte. Jolanda würde ganz bestimmt dafür sorgen, dass nach dieser kurzen Phase der Beruhigung Isabelles politischer Kampfgeist zur alten Glut wieder angefacht wurde.

Rhodes trank sein letztes Glas leer. »Gehen wir ins Bett?«, fragte er.

»Gleich.« Aber Isabelle machte keine Anstalten, das Wohnzimmer zu verlassen. Sie trat ans Fenster, sie stand da und schaute starr hinaus auf die Hänge der Berkeleyberge bis zur Bucht hinab, wo jenseits des Wassers die Lichter von San Francisco noch immer blass schimmerten. Es war eine klare Nacht, heiß und trocken, die Regenstürze von neulich nur noch eine kaum glaubhafte Erinnerung. Selbst in der nächtlichen Dunkelheit konnte man unter dem vollen Mond deutlich die Streifen der giftigen Abgasemissionen über den Himmel ziehen sehen, und ab und zu in Lücken die in der Nacht tanzenden, schimmernden Sterne.

Rhodes trat zu ihr, schob die Hände unter ihren Armen durch und griff nach ihren Brüsten.

Sie sah immer noch aus dem Fenster. »Ich fühle mich so bedrückt wegen ihm«, sagte sie. »Ich kannte ihn ja kaum, aber ich komme mir vor, als wäre ein lieber guter Freund von mir in scheußliche Schwierigkeiten geraten. Sein ganzes Leben in einem einzigen Moment in Trümmern. Glaubst du nicht, dass du irgendwas für ihn tun könntest?«

»Kaum, fürchte ich.«

»Irgendwo einen Job in deiner Abteilung?«

»Er wurde regulär entlassen. Unmöglich, dass man ihn jetzt in irgendeiner Abteilung von Samurai unterbringen könnte.«

»Und unter einem anderen Namen?«

»Ich wollte, das ginge. Aber du kannst dir nicht einfach irgendeine Identität erfinden und dich dann um eine Arbeit bewerben, Isabelle. Du brauchst eine plausible Identität, die man vorweisen muss. Er könnte unmöglich beim Personalscan eines Megakonzerns durchkommen und verheimlichen, was los war.«

»Also kann er jetzt überhaupt keinerlei Anstellung mehr kriegen?«

»Nichts, was seinen Qualifikationen entsprechen würde, nein. Einen Job als Arbeiter, vielleicht, aber das weiß ich nicht. Für jede Art manueller Arbeit müsste er sich gegen diese ganzen Leute von den Unterklassenverbänden bewerben. Die haben direkte Verbindungen, was die Zuteilung von Drecksjobs angeht. Und jeder, der von einem Angestelltenlevel runtersackt, hat es verdammt schwer, wieder irgendwo zu landen, wenn es so viele andere Unterklasse-Bewerber vor ihm gibt, die sauber sind. Ein hoher Intelligenzquotient garantiert wirklich nicht, dass du in der Bewerberschlange an die erste Stelle rückst.«

»Also ist er einfach erledigt. Er fällt einfach raus aus dem System. Ist nicht vermittelbar. Sowas kann ich kaum glauben.«

»Ich will versuchen, mir was einfallen zu lassen«, versprach Rhodes.

»Ja, das müsstest du wirklich.«

Aber was? Was denn? Er zerschmolz innerlich vor Mitgefühl mit seinem alten Freund, aber sein Kopf war leer, und er fand keine Lösung für Pauls Schwierigkeiten. Entlassungen dieser Art kamen vor in der Megafirmen-Welt. Widerspruch war eine dermaßen fragwürdige Sache.

Und es war auch etwas völlig Neues für ihn, dass er sich Sorgen um Paul machen musste. Ihr ganzes Leben lang war es umgekehrt gewesen: Rhodes in der Scheiße oder doch unsicher und verwirrt, irgendwo festgefahren, und Carpenter, kühl und klar kalkulierend, erklärte ihm, wie er mit dem Problem umgehen sollte. Es war so neu, dass er in Carpenter jetzt den Verletzlichen, einen Hilflosen, einen Angeknackten sehen musste. Carpenter war stets der fähigere von ihnen beiden gewesen, hatte sich mit sicherer Zielstrebigkeit durchs Leben gehangelt. Nicht so gescheit wie Rhodes, nein, das nicht, in keiner Richtung besonders begabt, aber klug, selbstbestimmt, immer glatt und selbstsicher von einem Posten zum nächsten wechselnd, von einer Stadt in die andere, von einer Frau zur nächsten, einer, der immer wusste, was er als nächstes tun wollte und wo ihn das hinbringen würde.

Und nun?

Ein schwacher Moment, eine Fehlentscheidung, und da saß Carpenter in der Wüste, auf dem Trockenen, von einem verrückten schicksalhaften Kick seines Schicksals an den tödlichen öden Strand einer erbarmungslosen Welt gespült. Plötzlich hatte sich das dynamische Gewicht in ihrer Freundschaft völlig umgekehrt. Rhodes erkannte das jetzt: Carpenter war jetzt der, der verwirrt war und hilfebedürftig – und er sollte die Lösungen für verzwickte Probleme finden. Nur – leider hatte er keine Lösungen parat.

Aber ich muss eine finden, sagte er sich. Das war er Carpenter zumindest schuldig. Nein, viel mehr. Irgendwas muss für ihn getan werden, dachte er. Von mir. Es gibt sonst keinen, der ihm helfen kann. Doch im Augenblick war er blockiert.

Seine Stimmung sank rapide. Er merkte, dass er sich Carpenter unter dem dampfenden Dreckhimmel Chicagos vorstellte, wie er einsam und verloren in der fremden Stadt umherirrte, in einer Umwelt, neben der die nächtlichen Gasstreifen am Himmel hier wie lustige weihnachtliche Festdekorationen wirkten.

»Ins Bett«, wiederholte er. »Wie wär's damit?«

Isabelle wandte sich zu ihm um. Lächelte. Nickte. Ihre Augen waren warm, verlockend auffordernd. Paul Carpenter mit seinen Problemen verschwand in den Hintergrund. Er ertrank in einem Ansturm von Liebe zu Isabelle.

Morgen erzähle ich ihr von dem Kyocera-Job, versprach er sich. Vielleicht nicht gerade die Beteiligung von Wu Fang-shui, aber das übrige, die erweiterten Labormöglichkeiten, die Karriereverbesserung, die erhöhte Förderung seitens der Firma. Isabelle würde verstehen, wie wichtig es für ihn war, seine Arbeiten fortzusetzen und zum Erfolg zu führen. Wichtig nicht bloß für ihn, für alle, für die ganze Welt.

Er dachte an das Geschenk, das er von ihr beim letzten Weihnachtsfest erhalten hatte: den Holochip mit dem Mantra aus den Wörtern, die das Hauptfeld seines Adapto-Projekts bezeichneten:

KNOCHEN – NIEREN

LUNGEN – HERZ

HAUT – GEHIRN

Sie verstand ihn. Sie würde es letztlich nicht so weit kommen lassen, dass seine Arbeit sie auseinander brachte, davon war er überzeugt. Bei all ihrer Neigung, modische wissenschaftsfeindliche Politslogans nachzuplappern, war ihr doch auf einem tieferen Bewusstseinsniveau klar, dass Modifikationen des menschlichen Körpers dringend vonnöten waren, bevor die Luft- und Umweltbedingungen sich noch weiter verschlechterten. Und das würden sie zwangsläufig, trotz aller bereits unternommenen Bemühungen, weiterer Beschädigung der Umwelt Einhalt zu gebieten und die bereits angerichteten Schäden zu heilen. KNOCHEN, LUNGEN, HAUT, NIEREN, HERZ, GEHIRN. Fünf dieser sechs würden radikal verändert werden müssen; und Rhodes wusste, das entscheidende Faktum dabei würde sein, dass Nummer Sechs mehr oder weniger unbeeinträchtigt blieb, dass also nach der Vollendung seiner Arbeit der in dem Knochen-Fleischgerüst hausende Verstand noch ein erkennbar menschlicher blieb.

Isabelle durchquerte das Zimmer und hinterließ eine Leitspur von Kleidungsstücken. Rhodes folgte ihr und betrachtete mit geschärftem Wohlgefallen das Spiel ihrer Muskeln auf dem sich schmal nach oben verjüngenden Rücken, die zarte Linie der Rückenwirbel unter der straffen Haut, die atemberaubende nach innen gebogene Kurve ihrer Taille. Um den langen schlanken Hals wölbte sich wie eine wolkige Flammenkrone ihr zinnoberrotes Haar.

Und im Moment, da sie im Schlafzimmer verschwand, meldete sich das Telefon.

Um diese Zeit!

Rhodes knipste automatisch an, und im Visor erschien Paul Carpenters rotäugiges, müdes, verspanntes Gesicht. Wenn man an den Teufel denkt, dachte Rhodes.

»Nick? Tut mir leid, dich so spät zu stören …«

»Spät?« Ja, spät war es wirklich. Rhodes versuchte das beiläufig abzutun. »Hier ist es noch nicht so spät, aber in Chicago muss das ja mitten in der Nacht sein. Du bist doch noch in Chicago, Paul?«

»Vorläufig.« Pauls Stimme klang dumpf und unklar. Er war entweder betrunken oder sehr, sehr müde. »Ich werde morgen hier abhauen, denke ich. Ich komme zurück nach Kalifornien.«

»Das ist fein, Paul«, sagte Rhodes vorsichtig. »Freut mich, das zu hören.«

Eine kurze Pause. »Es war fein für mich, hier in Chicago. Vielleicht bin ich dabei ein bisschen klarer im Kopf. Aber diese Freundin, bei der ich zu Besuch war, also – sie hat ihr eigenes Leben, und ich kann mich ihr nicht auf unbegrenzte Zeit aufhalsen. Und das hier ist ehrlich ein beschissener Ort, wenn man hier leben muss, wirklich scheußlich. Also habe ich mir gedacht – Kalifornien – und ein neuer Anfang …«

»Fein«, sagte Rhodes wieder und verabscheute sich, weil seine Stimme so kühl und unbegeistert klang. »Das Land des Neubeginns.« Er wünschte, er hätte ihm etwas Handfestes anzubieten, und er kam sich schäbig und unbedarft vor, weil er das nicht konnte.

Er schaute starr auf den Visor. Müde, verquollene Augen schauten zu ihm zurück. Es schien Paul schwerzufallen, den Blick zu konzentrieren. Er war eindeutig betrunken. Dessen war sich Rhodes jetzt sicher. Diese Symptome kannte er besser als sonst einer.

»Ich habe gerade Jolanda angerufen«, sagte Carpenter. »Ich dachte vielleicht kann sie mich für ein paar Tage aufnehmen, bis zu meiner Verhandlung, weißt du, und bis ich mir klargeworden bin, was ich dann mache und so weiter, du weißt schon …«

»Aber sie ist noch droben in L-5«, sagte Rhodes. »Sie soll morgen eigentlich wieder da sein.«

»Aha. Habe ich mir fast gedacht.«

»Sie ist aber immer noch mit diesem Israeli zusammen. Der kommt ebenfalls mit runter. Und noch einer, den sie da droben aufgegabelt haben. Sie hörte sich an, als brächte sie einen ganzen gottverdammten männlichen Harem mit.«

»Ach so«, sagte Carpenter. »Dann rechne ich wohl besser nicht mit ihr.«

»Nein, besser nicht.«

Wieder langes Schweigen, unangenehm zäh.

Dann sagte Carpenter: »Ich frage mich, Nick, ob … also, ob es vielleicht ginge, wenn ich …«

»Aber ja. Natürlich geht das«, sagte Rhodes hastig. »Dass du 'ne Weile hier bei mir bleibst, Paul. Du weißt doch, du bist mir stets willkommen.«

»Und ich störe dich auch bestimmt nicht?«

»Sei kein Arsch. Hör zu, ruf mich an, sobald du losfährst, und dann noch mal, sobald du noch etwa einen Tag von der Bay-Region entfernt bist. Hinterlass mir Nachricht, oder was du eben meinst. Sag mir, wann ich mit dir rechnen kann, damit ich auch sicher zu Hause bin. – Bist du sonst okay, Paul?«

»Mir geht's grandios. Wirklich.«

»Geld?«

»Ich komm hin.«

»Also, dann seh ich dich in – drei Tagen? Vier?«

»Weniger«, sagte Carpenter. »Ich freue mich auf dich. Sag Isabelle einen Gruß von mir. Du bist doch noch mit Isabelle zusammen?«

»Natürlich«, sagte Rhodes. »Sie ist im Augenblick grad hier. Wenn du mit ihr sprechen willst …«

Doch dann hatte er den leeren Visor vor sich.

Isabelle, inzwischen völlig nackt, kam aus dem Bad. Sie wirkte gespannt und ungeduldig. Mehr so wie ihr gewohntes Selbst: ärgerlich über die Störung und darüber, dass Rhodes sie so bereitwillig zugelassen hatte.

»Wer war denn das?«

»Paul«, sagte Rhodes. »Aus Chicago. Er kommt wieder zurück. Möchte ein Weilchen bei mir wohnen.«

Ihre Verärgerung verflog urplötzlich. Auf einmal war sie ganz echt besorgt.

»Wie geht es ihm?«

»Er sah scheußlich aus. Wirkte betrunken. Der arme Hund.« Dann schnippte Rhodes die Beleuchtung im Wohnzimmer aus. »Komm schon«, forderte er sie auf. »Gehen wir schnell ins Bett, bevor es wieder klingelt.«

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