Kapitel 4

Es war zehn Uhr morgens, und Nick Rhodes wunderte sich noch immer über das Wetter. In Anbetracht der Jahreszeit und der zu erwartenden atmosphärischen Bedingungen war der Tag rätselhaft, ja wunderbarerweise klar und hell: die photochemische Intensität ganz niedrig, beim Nebel war es ebenso, und Stückchen blauen – also, jedenfalls beinahe blauen – Himmels lugten durch die unvermeidlichen kräftig gefärbten Schichten der Treibhausbrühe und den dahinter liegenden gewohnten unheilvollen weißen Hintergrund. Rhodes hatte als Junge in Geschichtenbüchern von blauen Himmeln gelesen, aber im Verlauf der letzten etwa dreißig Jahre bot sich ihm wenig Gelegenheit, sie wirklich zu Gesicht zu bekommen. Doch heute war die Luft aus irgendwelchen Gründen sauber. Also, jedenfalls relativ sauber. Von seinem Büro aus, das im dreizehnten Stockwerk des schlanken graziösen Turms von Santachiara Technology lag, oben am höchsten Kamm der Berkeley-Berge, nur ein paar Meilen südwärts vom Campus der Universität, hatte er einen Ausblick von dreihundertsechzig Grad über die ganze Region der San Francisco Bay: die Brücken, das glitzernde Wasser, die hübsche kleine Spielzeugstadt jenseits der Bucht, die weiter landwärts rollenden runden Hügelberge in seinem Rücken mit ihrem hellen löwenfarbenen Fell von vertrocknetem Gras. Aus dieser Entfernung konnte man nicht sehen, dass die Außenflächen nahezu eines jeden Gebäudes von den unablässigen Dünsten und Dämpfen fleckig und zerfressen waren. Und dann da droben die Himmelskuppel, und heute war sie zu einem großen Teil blau, grandios und unglaublich. An einem solchen Tag konnte man sich unmöglich auf seine Arbeit konzentrieren. Rhodes schritt von einem Fenster zum anderen, bis er die ganze Runde vollendet hatte.

Ein grandioser Tag, o ja. Aber er wusste, lange konnte es nicht so bleiben. Und er behielt recht.

Das Warnlicht blinkte, und die kühle Androidenstimme sagte: »Dr. Van Vliet wartet auf Drei, Dr. Rhodes. Er möchte wissen, ob es schon eine Reaktion auf seinen Bericht gibt.«

Rhodes hatte das Gefühl, als sackte ihm der Magen weg. Es war noch viel zu früh am Tag, um sich mit Van Vliet und den Komplikationen zu befassen, die der Mann bedeutete.

»Sag ihm, ich habe eine Besprechung und dass ich ihn leider zurückrufen muss«, sagte er automatisch.

Nick Rhodes war Associate Research Director des Survival/Modification Program in Santachiara Technologies, und das hieß, er verdiente sein Geld damit, dass er nach Methoden suchte, wie man menschliche Wesen so verändern konnte, dass sie dann entweder übermenschlich oder subhuman waren; Rhodes selbst war sich nicht ganz sicher, was von beidem. Santachiara Tech waren eine Tochter von Samurai Industries, des Gigantokonzerns, dem fast alle Bereiche des Universums gehörten, die nicht im Besitz von Kyocera-Merck, Ltd. waren. Und Alex Van Vliet war wahrscheinlich der klügste, sicher aber der aggressivste Kopf im Santachiara-Team junger, vor Ehrgeiz brennender Gentechniker. Und angeblich hatte er einen brandneuen Adapto-Plan entwickelt, der auf Haemoglobinersatz basierte und von dem diejenigen, die ihn während seiner Lunchpause darüber dozieren gehört hatten, sagten, er besitze echte ›Durchbruchchancen‹. Es war ein neuer Gesichtspunkt, schön und gut, aber Rhodes fand ihn auf unbestimmte Weise bedrohlich, ohne recht zu begreifen, weshalb. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick, lag ihm sehr viel daran, ein Gespräch mit Van Vliet zu vermeiden.

Nicht aus Ängstlichkeit, versicherte Rhodes sich selbst. Einzig aufgrund einer gewissen moralischen Unsicherheit. Das machte einen Unterschied, redete Rhodes sich stets gern ein. Früher oder später würde er diese innerlichen Widersprüche, in die er sich letzthin verstrickt sah, klärend sortieren, und dann würde er sich mit Van Vliet befassen. Aber bitte nicht gerade jetzt, dachte er. Nicht jetzt, okay?

Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

Sein Arbeitsplatz sah enorm bedeutend aus: Eine glatte bumerangförmige Platte hochglanzpolierten Holzes, rötlich gemasert, ein für sagenhafte eine Million Dollar aus dem Kern eines südamerikanischen Regenwaldriesen geschnittenes Stück Holz. Und die Platte war ebenso bedeutungsschwanger von ›Arbeit‹ bedeckt. In dieser Ecke Stapel von Datenwürfeln, dort Videos, ein hoher Berg von Virtualitäten, darunter auch Van Vliets Simulationen und Vorschläge, ganz am Rand der Platte. Auf der linken Seite, versenkt unterhalb der Platte, befand sich eine Batterie von Kontrollknöpfen für sämtliche elektronischen Spielzeuge im Raum; rechts, in einem Hängeschränkchen und durch ein Kristallschloss gesichert, befand sich ein kleiner Vorrat von Cognacs und Whiskeys, die Privatreserve des Dr. phil. Nicholas Rhodes. Und mitten in alledem, neben dem Lautsprechergitter der Hauskommunikation, war der elegante sechsseitige Holochip, den seine Freundin, Isabelle Martine, Rhodes zu Weihnachten geschenkt hatte, der (wenn man ihn im richtigen Winkel ansah) in feurigen Lettern das Sechs-Worte-Mantra zeigte, das Rhodes formuliert hatte, um die speziellen Zielsetzungen seiner Abteilung präzise in Worte zu fassen, ein Wort pro Fläche:

KNOCHEN – NIEREN

LUNGEN – HERZ

HAUT – HIRN

Süß von ihr. Besonders da Isabelle grundsätzlich nur Verachtung für seine Arbeit übrig hatte und heimlich hoffte, sie würde erfolglos bleiben. Rhodes hob das Mantra hoch und drehte und rollte es in der Hand, als wäre es eine übergroße Sorgenperle. KNOCHEN. LUNGEN. HAUT. Ja. NIEREN. HERZ. HIRN. Er blickte ein paar Augenblicke lang starr auf die Zeichen HIRN. Ach ja, da lag das wirkliche Problem, dachte er, das echte Unheil liegt im Bewusstsein, im HIRN.

Das Intercom blinkte wieder heftig, und diesmal sagte die Stimme: »Meshoram Enron, auf Zwei.«

»Wer?«

»Meshoram Enron«, wiederholte das Automaton mit exakter Aussprache. »Der Journalist aus Israel. Du wolltest heute mit ihm zum Lunch gehen.«

»Oh. Ja, richtig.« Rhodes zögerte. Er war in diesem Moment auch nicht wirklich in Stimmung, sich mit Enron zu treffen – jedenfalls schon gar nicht unter vier Augen. »Sag ihm, ich schaffe die Lunchverabredung nicht, und wie es mit Dinner wäre.« Gedankenlos griff er nach Van Vliets Virtualkonvoluten, legte sie wieder weg, zog sie wieder zu sich heran und starrte darauf, als wären sie gerade erst jetzt bei ihm auf dem Tisch gelandet. »Und falls er zusagt, rufe für mich Ms. Martine an und lege sie mir dann herein, wenn du sie erreicht hast. Ich möchte, dass sie uns Gesellschaft leistet.«

Einige Minuten später kam von dem Androiden der Bericht: Mr. Enron werde sich freuen, mit ihm zu dinieren. Ob Dr. Rhodes ihn vielleicht um halb acht in seinem Hotel in San Francisco abholen könne? Was Ms. Martine angehe, die sei telefonisch nicht erreichbar, aber man habe bei der Nummer eine Suchnachricht hinterlassen. Ferner gebe es eine weitere Nachricht von Dr. Van Vliet, der begierig auf die Möglichkeit warte, so bald wie möglich seine Vorschläge mit Dr. Rhodes persönlich zu besprechen, blahblah, und auf möglichst baldige Antwort warte, blahblahblah …

Ja. Blahblahblah. Auf einmal war es ein voller Tag. Rhodes begann sich bedrängt zu fühlen. Van Vliet rückte ihm auf den Pelz. Und dieser Enron wollte herumschnüffeln, um gottweißwas herauszufinden. Ein Spion, ganz ohne Zweifel. Diese Israelis waren auf die eine oder andere Art alle Spione, dachte Rhodes. Und was stand als nächstes an? Dabei war es erst zehn Uhr morgens. Schon Zeit für den ersten Drink?

Nein, entschied er scharf. Noch nicht.

Doch wenn es noch zu früh war für einen Schluck, und zu früh, sich Van Vliets Bericht vorzunehmen, dann setzte er nur Zauderei auf seine Tagesordnung, und auch das war wenig behaglich. In einem plötzlichen manischen Schub räumte Rhodes sämtliche bisher getroffenen Entscheidungen beiseite. Totale Richtungsänderung, das war die richtige Entscheidung. Er langte unter seinen Schreibtisch, entriegelte geschickt das Schloss seiner Schubladenbar, holte den Cognac heraus und kippte einen deftigen Schluck hinunter, überlegte kurz und nahm noch einen, diesmal kleineren Schluck. Dann, als die Wärme sich in seinem Körper auszubreiten begann, nahm er sich Van Vliets Vorschlagreport erneut vor und schob ihn in den Playbackschlitz.

Sogleich stand ein virtueller Alex Van Vliet vor ihm: klein, wie im wirklichen Leben, ein schmaler, drahtiger Typ, ein Kerlchen, frostige blaue Augen, winziges schmales Kinnbärtchen, geradschultrig und aufgereckt, um die schwächliche Gestalt imposanter erscheinen zu lassen. Rhodes selbst, der stämmig, groß und tapsig war, hegte einiges Misstrauen gegenüber kleineren, beweglichen Männern. Sie vermittelten ihm das Gefühl, als wäre er ein in die Enge getriebenes Gorillamännchen, das von einer Horde keckernder Affen bedrängt wird. Und Gorillas, die waren doch schon ausgestorben, eigentlich. Aber die kleinen Affen gediehen prächtig in den Dschungeln dieser neuen Welt.

Hinter Van Vliet, sein Bild umwabernd und vorwärts strebend wie ein aufgeklappter Nimbus, war ein 3-D-Muster von Farbpunkten zu sehen, die Rhodes fast sogleich als ein Beta-Strang-Haemoglobinmolekül identifizierte. Van Vliet sagte: »… es handelt sich um konjugierte Proteine und sie bestehen aus vier verschiedenen Hämatogruppen und dem Globinmolekül. Die Hämakomponente ist ein Porphyrin, in dem das eingeschlossene Metallion, das Eisen, im Zustand von Fe+2 befindlich ist. Die Globinkomponente setzt sich aus vier Polypeptidketten zusammen, die wir als Alpha, Beta, Gamma usw. bezeichnen, je nach ihrem Aminosäurenaufbau.«

Er war mitten in einer Vorlesung über die Funktionen von Haemoglobin gelandet. Rhodes erkannte, dass er das Video irgendwie an der falschen Stelle eingelegt hatte und Van Vliets Einführungen verpasst hatte. Aber das spielte keine Rolle. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die gewesen wären. Am besten, man ließ die Sache ganz beiläufig auf sich einwirken. Oberflächlich.

»… ganz wesentliche Rolle des Haemoglobinpigments bei der Atmung der Säugetiere ist die lockere Verbindung mit Sauerstoffmolekülen, wodurch der Sauerstofftransport von der Aufnahmestelle des Organismus an den Ort seiner Nutzung ermöglicht wird. Doch das Haemoglobin besitzt zu zahlreichen anderen Molekülen ebenfalls eine Affinität: es verbindet sich beispielsweise leicht mit Kohlenmonoxid, was unheilvolle Auswirkungen auf den Körper hat. Auch mit Nitroxid verbindet es sich leicht. Sulfhämoglobin, also Haemoglobin plus Wasserstoffsulfidgas, ist eine weitere pathologische Form des Pigments. Hämatin, die Hydroxilverbindung …«

Beim Sprechen wanderte Van Vliet auf seiner virtuellen Bühne auf und ab, justierte die Molekularmodelle im Hintergrund mit raschen selbstsicheren Handbewegungen – wie ein Zauberkünstler, der seine Utensilien neu ordnet. Unter seinem geschickten Griff machten die leuchtenden Muster eine blitzschnelle Metamorphose durch und demonstrierten jede veränderte Haemoglobinform, die Van Vliet aufrief. Es waren sehr hübsche Farben. Rhodes genehmigte sich noch einen kleinen Schluck. Das brach das Eis. Nach und nach ließ seine Aufmerksamkeit nach, nicht so sehr wegen des Cognacs, sondern schlicht weil ihn das Ganze langweilte und ärgerte.

Van Vliet aber machte einfach weiter und kreuzte erbarmungslos durch die seichten Küstengewässer der Biochemie. Ganz offensichtlich war das Visual auf Leute zugeschnitten, die in höheren Managerpositionen saßen als Rhodes und bei denen Sachwissen etwas dürftiger war. »Eisensalze – unzureichende Sauerstoffzufuhr in die Gewebe – Affinität zu Kohlenstoff, Phospor, Mangan, Vanadium, Wolfram – das Eisen bildet Dihaloide mit allen vier gewöhnlichen Halogenen …«

Ja. Aber ja, selbstverständlich.

Mit diabolischem Grinsen sagte Van Vliet urplötzlich: »Aber das alles wird sehr bald obsolet sein, jedenfalls soweit es die menschliche Rasse betrifft. Da, wie ich bereits angedeutet habe, unsere übereinstimmenden Projektionen auf den Zustand der Erdatmosphäre um etwa 2350 der Zeitrechnung auf einen signifikanten Schwund von Sauerstoff und Luftstickstoff und ihren Ersatz durch komplexe Kohlenwasserstoff- und Schwefelverbindungen schließen lassen, werden wir die menschliche Atmungskapazität entsprechend anpassen müssen. Die Risiken bei der fortgesetzten Verwendung des ferrogestützten Haemoglobinpigments als lebenswichtiges Transportprotein sind offenkundig. Wir werden die Abhängigkeit der menschlichen Gattung vom Sauerstoff zerschmettern müssen. Eine mögliche Alternative wäre ein Wasserstoff-Methan-Zyklus, unter Einsatz eines Trägerproteins, das den Zusammenschluss und die Trennung einer doppelten Schwefelverbindung benutzt, wie hier in diesem Diagramm ersichtlich.«

Das Demonstrationsmuster war jetzt so etwas wie eine dicht zusammengerollte Schlange mit aggressiver roter und knallig violetter Zeichnung, deren Kopf über ihrem Schwanzende wie zum Zustoßen bereit schwebte.

Rhodes schaltete die Präsentation Van Vliets auf HOLD und fuhr so etwa sechzig Sekunden zurück.

Die Risiken bei der fortgesetzten Verwendung des ferrogestützten Haemoglobins als lebenswichtiges Transportprotein sind offenkundig. Wir werden die Abhängigkeit der menschlichen Gattung vom Sauerstoff zerschmettern müssen.

Er ist verrückt geworden, dachte Rhodes.

… eines Trägerproteins, das den Zusammenschluss und die Trennung einer doppelten Schwefel …

Stimmt. Ja. Das Visual spielte weiter ab und hatte den Punkt erreicht, an dem Rhodes zurückgegangen war. Und erneut baute Van Vliet, wie ein Kapriolen schlagender Halbgott auf der Bühne, vor Rhodes' Schreibtisch mit raschen geschickten feinen Gestikulationen der Hände mitten in der Luft seine rote und purpurblaue Schlange auf. Rhodes rückte nach vorn und stemmte das Kinn auf die Fäuste, und dann sah er sich Van Vliets Kreuzfahrt bis zum Ende der ersten Kapsel an, worin dieser weitere apokalyptische Neuigkeiten über die menschliche Atmung in der heranbrechenden Ära einer sauerstoff-entleerten Luft darbot. Auf der zweiten Kapsel, versprach Van Vliet verlockend, befänden sich die neuesten technischen Spezifikationen für die korrektive Arbeit, die er vorzunehmen gedachte. Rhodes nahm die zweite Kassette, legte sie aber nicht ein.

… die Abhängigkeit der menschlichen Gattung vom Sauerstoff zerschmettern müssen.

Der kleine Kerl schlug da nichts Geringeres vor als die Umgestaltung des gesamten menschlichen Respirationskreislaufs, so dass der Mensch dann in der Lage sein würde, ein Gemisch aus Schwefeldioxid, Methan und Kohlendioxid zu atmen – und zum Teufel mit seinem Sauerstoffbedürfnis! Dies war bei weitem das radikalste unter allen den Adaptationsvorschlägen, die während der letzten anderthalb Jahre in den Santachiara-Laboratorien herumschwirrten. Bei weitem, bei weitem, bei weitem … Niemand hatte jemals die totale Umgestaltung ins Auge zu fassen gewagt. Auch nachdem er sich ein paar der Spezifikationen Van Vliets durchgesehen hatte, bezweifelte Rhodes, dass die Geschichte je in den Griff zu bekommen sein würde. Es lag zu weit außerhalb dessen, was Rhodes für möglich hielt.

Er spürte, wie sich in seiner Wange ein Muskel spannte wie ein winziger Akrobat, der zum Weitsprung ansetzt, und er presste kräftig mit den Kuppen zweier Finger dagegen, um die sich dort aufbauende Spannung zu entladen.

Noch ein Schlückchen?

Nein, entschied er. Noch nicht gleich.

Konnte Van Vliets Masche funktionieren?

Nicht in Millionen Jahren, dachte er. Man würde alles neu entwerfen müssen, von oben bis unten, den gesamten Bestand von Organen – Lunge, Leber und die Lichter auch, was immer mit Lichtern gemeint sein mochte, bis hinab zur Osmosekapazität der Zellwände – eine Totalüberholung, ja eigentlich die Neuerschaffung des Menschengeschlechts. Es war ein absolut übertrieben ehrgeiziges Konzept und lag weit außerhalb der in Santachiara erreichbaren technischen Möglichkeiten, und es würde, falls es doch auf irgendeine Weise, trotz der offenkundigen Schwierigkeiten, irgendwie erfolgreich durchgeführt werden konnte, die menschliche Rasse bis zur Unkenntlichkeit verwandeln.

Und das ist genau das, dachte Rhodes, weswegen wir hier sitzen, oder? Wofür ich bezahlt werde, und nicht zu knapp. Weswegen ich mir den jungen Alex Van Vliet zur Hilfe geholt habe.

Und wenn Van Vliet recht hat und sein Vorschlag ist durchführbar, und ich irre mich …?

Er blickte auf seine Hände. Sie zitterten leicht. Er spreizte die Finger weit, um sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann hieb er auf die Starttaste und schaute sich erneut Van Vliet an, diesmal von Anfang an.

Gockelhaft, selbstsicher grinste Van Vliet ihm entgegen wie ein alter Kumpel. Fünfundzwanzig war der, oder? Fast jung genug, um Rhodes' Sohn zu sein. Fast. Mit seinen vierzig hatte Rhodes noch nie vorher die Bedrohung durch die nachrückende Generation verspürt. Das Gefühl gefiel ihm gar nicht.

»Mit dieser Präsentation«, sagte Van Vliet, »möchte ich eingangs eine grundsätzliche Neueinschätzung unserer bisherigen Adapto-Bemühungen vornehmen, und ich stütze mich dabei auf die Prämisse, dass angesichts einer zu bewältigenden extremen Situation die einzige angemessene Lösung extreme Maßnahmen sind.«

Van Vliet verschwand, und an seine Stelle trat das virtuelle Bild einer reizenden weiblichen Gestalt in luftiger Kleidung, eines zierlichen jungen Mädchens, das vor einem gallig erbsengrünen dicken Giftsuppenhimmel durch einen Wald tänzelte. Sie war von zerbrechlicher schlanker Eleganz, eine prärafaelitische kaukasische Schönheit mit einem hinreißenden Teint: das waschechte archetypische Bild des entzückenden kleinen Mädchens. Und überall um sie herum drückte und drängte die scheußliche Luft herein, dick, beklemmend, erfüllt von Anhäufungen, die aussahen wie Kotbrocken in der Luft. Doch das schien ihr nicht das geringste auszumachen, und sie schien sich überhaupt nicht darum zu kümmern. Rhodes sah, wie die zierlichen Nasenflügel sich weiteten, während sie niedlich eine Lungevoll nach der anderen von dieser Giftbrühe einatmete, neckisch herumtänzelte und ein Liedchen trällerte.

Dies sollte, erkannte Rhodes, so etwas wie ein Werbespot sein für die Neue Menschliche Rasse, die Van Vliet zu erschaffen gedachte. Sollte die neue scheußliche Erde der Zukunft tatsächlich von derartigen schönen blonden Feenjungfrauen bevölkert sein?

Van Vliet sprach weiter: »Es kann keine signifikanten Zweifel daran geben, dass unsere Projektion richtig ist und dass nach vier, fünf weiteren Generationen, im Höchstfall nach sechs als günstigster Prognose, die Luft dieses Planeten von Angehörigen der menschlichen Rasse in ihrem jetzigen Zustand nicht mehr zu atmen sein wird. Trotz aller Korrekturmaßnahmen ist ersichtlich, dass der Zuwachs der Luftverseuchung und der Treibhauseffekt bereits vor einiger Zeit einen irreversiblen Zustand geschaffen haben, und dass es jetzt unvermeidbar ist, während die Gasemissionen früherer eingelagerter Schadstoffe sich ständig fortsetzen, vor der Schwelle haltzumachen, bevor wir unter das tiefstmögliche Sauerstofflimit geraten werden – und zwar zu Lebzeiten der Enkel der jetzt auf die Welt kommenden Kinder.

Da wir nicht über die Kapazität zu einem Makromanagement unserer Erdatmosphäre verfügen, um sie in ihren vorindustriellen Reinheitszustand zurückzuführen, angesichts der sich unvermeidlich fortsetzenden Belastung der Atmosphäre mit Kohlenwasserstoffen, die in unverantwortlicher Weise im 19. und 20. Jahrhundert in den Ozeanen und festen Landmassen der Erde eingeschlossen wurden, haben wir uns hier am Santachiara statt dessen zu dem Versuch entschlossen, durch Mikro-Management das menschliche Genom so zu verändern, dass es den kommenden drohenden Bedingungen angepasst ist. Es werden verschiedene Adapto-Pläne von unterschiedlicher Komplexität erarbeitet, aber ich vertrete die wohlerwogene Überzeugung, nachdem ich eine gründliche Analyse des gesamten Santachiara-Programms in seiner derzeitigen Konzeptionsform durchführte, dass wir uns leider auf ein Programm der halben Maßnahmen festgelegt haben, die unweigerlich zum Scheitern verurteilt sind, und …«

Herrgott, dachte Rhodes. Der sagt mir das glatt ins Gesicht – und grinst noch dabei!

Für den Augenblick hatte er mehr als genug von dem Kerl. Er schlug auf die Taste, und Van Vliet verschwand.

Sofort meldete sich die Vermittlung: »Ms. Martine wartet auf Eins.«

Dankbar für die Unterbrechung holte Rhodes sie auf den Visor. Isabelle, Kopf- und Brustbild, tauchte vor ihm auf. Isabelle, eine schlanke, intensive Frau mit seltsam widersprüchlichen Zügen. Scharfe funkelnde grauviolette Augen; eine feingeformte Nase; weiche volle Lippen; nichts passte so recht zusammen. Im letzten Frühling hatte sie sich eine vulkanrote Haartönung zugelegt, und Rhodes war noch immer nicht so recht daran gewöhnt.

Sie kam sofort zum Thema, brüsk und ohne Umschweife wie gewöhnlich. »Was war das mit dem Dinner heut' Abend mit einem Israeli, Nick? Ich dachte, wir fahren nach Sausalito und …« Sie brach plötzlich ab. »Nick? Du siehst so komisch aus. Nick!«

»Wirklich? Komisch, wie denn?«

»Dein Gesicht ist ungewöhnlich gespannt. Deine Pupillen sind geweitet. Du hast Schwierigkeiten, ja?«

Isabelle erkannte stets rasch irgendwelche somatischen Veränderungen bei ihm. Aber schließlich gehörte das zu ihrem Beruf als Kinesiktherapeutin. Sie beherrschte die Körpersprache, als wäre sie damit geboren. Man konnte ihr nie etwas verheimlichen. Seit zweieinhalb Jahren sahen sie einander nun regelmäßig, und die Leute begannen bereits zu fragen, wann sie heiraten würden.

Sie bedachte ihn mit einem ihrer einfühlsamen besorgten Therapeutenblicke: Mama Isabelle, eifrig bemüht, ihn von seinen Kümmernissen zu befreien. Sag es mir doch, mein Süßer. Erzähl's mir alles, dann fühlst du dich bestimmt besser …

Rhodes sagte: »Es war ein anstrengender Morgen, Lady. Vor ein paar Tagen reichte mir einer von den Jungs hier den gottverflucht absurdesten Adapto-Vorschlag rein, der mir je unter die Augen gekommen ist. Eine absolut revolutionäre Idee. Und heute konnte ich mich zum ersten Mal mit den Virtuals beschäftigen, die er mir reingereicht hat, und ich habe die Hälfte durch, aber ich bin zu durcheinander, um weiterzumachen.«

»Wie kommt das?«

»Zum Teil, weil das Zeug dermaßen radikal ist. Es würde auf diese Extremmaßnahmen hinauslaufen, die du immer so befürchtet hast, somatische Adaptation des Menschen von Grund auf, nicht bloß eine rasche Behelfslösung. Und zum Teil auch, weil seine Präsentation dermaßen rotzfrech ist. Gleich zu Beginn sagt er quasi, wir anderen seien alle so hoffnungslos konservativ, dass wir hier am besten möglichst schnell kündigen und ihm das Laboratorium überlassen sollten.«

»Konservativ? Du?«

»Für den Laden hier, ja. Jedenfalls, ich bin noch nicht ganz soweit, dass ich mir von einem Jungen, der halb so alt ist wie ich, mehr oder weniger deutlich sagen lasse, es sei Zeit, dass alte Knacker wie ich Platz machen und aufhören, die Lösung des Problems zu behindern.«

»Eine Lösung, die er bieten kann?«

»Soweit bin ich nicht gekommen. Vielleicht kann er's. Vielleicht nicht. Ich neige dazu zu glauben, dass er es nicht kann, weil seine Vorschläge dermaßen grotesk und abseitig sind, dass ich sie für undurchführbar halte. Es gibt dabei einige technische Probleme, die ich für inhärent unlösbar halte. Aber was weiß ich schon? Ich bin ja bloß ein alter Knacker. Er will, dass wir es mit einem Haemoglobin auf Schwefel-, anstatt auf Eisenbasis versuchen, damit wir dann ohne Sauerstoff auskommen können, wenn es dann in so zweihundert Jahren tatsächlich zur äußersten Katastrophe kommt.«

»Und es wäre möglich? Was denkst du?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich bezweifle es stark. Aber wenn sich herausstellt, dass es möglich ist, dann ist er hier in einem Jahr der Superbarsch, und ich sitz' draußen auf meinem – Ohr.« Rhodes brachte ein unsicheres Lächeln zustande. »Vielleicht sollte ich ihn am besten gleich umlegen lassen, auf die unwahrscheinliche Gefahr hin, dass er tatsächlich etwas Brauchbares gefunden hat.«

Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verfinstert, während er sprach. Die Augen wurden stählern. Fort war die Therapeutin, verschwunden, das Gesicht auf dem Bildschirm war jetzt das der leidenschaftlichen politischen Aktivistin. Rhodes begann sich Sorgen zu machen. Er fürchtete diesen Ausdruck bei ihr.

»Ist das alles, woran du denken kannst, Nick? Dass der Knabe dich von deinem Posten verdrängen könnte? Und was ist mit der menschlichen Rasse, um Himmels willen? Eine Umgestaltung von Grund auf? Was soll das überhaupt heißen? Hat er vor, uns alle irgendwie in Science Fiction-Monster zu verwandeln?«

»Isabelle …«

»Schwefel im Blut? Es klingt scheußlich.«

»Ja. Ja, das tut es. Ich möchte mich am liebsten übergeben, wenn ich nur daran denke.« Er wünschte, er hätte sich ihr gegenüber nicht auf solche Details eingelassen: Es war unerlaubt, über Firmenangelegenheiten mit Außenstehenden zu sprechen, schon gar nicht mit Isabelle. Sie besaß Kontakte zu einem Halbdutzend von reaktionären humanistischen Gruppen in San Francisco. Wenn ihr der Sinn danach stand, konnte sie ihm echte Schwierigkeiten machen. »Hör mal, lass uns nicht jetzt über das alles sprechen, ja? Besonders am Telefon. Mir ist klar, dass du es nicht besonders charmant findest und nicht viel davon hältst, was da in der Luft hängt. Aber wir sprechen ein andermal darüber, ja? Zu heute Abend …«

»Dein Israeli.«

»Genau.« Als er sich jetzt ausmalte, wie die Begegnung mit Enron werden konnte, bedauerte er es immer mehr, dass er sich Isabelle gegenüber nicht mehr zurückgehalten hatte. »Er sagt, er ist Journalist. Arbeitet an einer von diesen aufbauenden Artikelserien über die Zukunft der menschlichen Rasse, mehr oder weniger – du weißt schon, vom Genre ›Bestürzende Neue Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und was unsere Brillantesten Gehirne dagegen zu tun gedenken‹ – für irgend so eine hochglanzglatte Großillustrierte mit zwei Millionen Lesern in der arabo-israelischen Welt. Er möchte mich über den derzeitigen Stand der Gentechnik in Amerika ausfragen. Ich denke, er ist ein Spion.«

»Aber sicher ist er das. Das sind sie doch alle, diese Israelis. Weiß doch jeder! Ich bin erstaunt, dass du dich bereitgefunden hast, überhaupt mit ihm zu reden.«

»Ich muss. Ich habe es mit New Tokyo abgeklärt. Natürlich soll ich ihm nichts Greifbares liefern, aber Samurai wünscht diesen PR-Effekt. Es ist eine sehr große Zeitschrift. Und die Fruchtbare Levante stellt einen riesigen Markt für die Samurai-Produkte dar. Wir sollen eine Position beziehen, die den Lesern suggeriert, dass wir die allerneueste und allerbeste Hoffnung auf Rettung für die Menschheit sind. Ich sollte eigentlich mit ihm zum Lunch gehen, doch ich ziehe ein Abendessen vor. Und ich hätte dich gern dabei, damit du mir unterm Tisch einen Tritt versetzt, wenn ich anfangen sollte, mich in Bereiche zu verirren, die der Geheimhaltung unterliegen.«

»Aber gern«, sagte sie und lächelte.

»Doch – bitte, Isabelle, keine Politik. Keine boshaften Angriffe! Wir zwei haben unsere verschiedenen Ansichten, und das ist gut und richtig so, aber heute Abend und vor diesem Enron ist nicht der passende Moment, unsere Differenzen auszukramen und durchzuhecheln.«

Ihr Lächeln verschwand. »Ich werde mir Mühe geben, mich unter Kontrolle zu behalten, Nick. Ich kann recht brav sein. Aber würde sein Artikel nicht an Tiefe gewinnen, wenn darin unterschiedliche Meinungsaspekte aus Amerika über den gesamten Komplex der Human-Adapto-Arbeiten dargelegt würden?«

»Bitte!«

»Na schön«, sagte sie. Ziemlich kühl. Rhodes überlegte, ob sie sich am Abend tatsächlich zurückhalten würde. Isabelle war voll bester Absichten, aber sie war auch unberechenbar und eine Frau. Möglich, dass es ein Fehler gewesen war, sie zu diesem Dinner zu bitten. Und überhaupt, vielleicht war seine ganze Beziehung zu Isabelle ein Fehler, und bisher hatte er sich noch nie erlaubt, Privatbeziehungen störend auf sein Berufsleben einwirken zu lassen.

»Ich hol dich um sieben ab«, sagte er. »Er wohnt in der City, und wir haben nichts ausgemacht, wo wir essen wollen. Vielleicht fahren wir doch noch nach Sausalito rüber.« Er blies ihr einen Kuss zu. Und dann überkam ihn ganz plötzlich die Vorstellung, wie der Abend enden könnte, wenn das ganze Geschwätz erledigt, er von Meshoram Enron erlöst sein würde, und wenn er mit Isabelle um Mitternacht allein in seinem Apartment über der Bay sein würde, sie beide allein – die Beleuchtung gedämpft, leise Musik im Hintergrund, vielleicht ein kleiner Cognac, dann die Couch, und Isabelle in seinen Armen, und wie ihr süßer Duft betörend zu ihm heraufsteigen würde, wie er dann seinen Kopf zwischen ihren Brüsten vergrub …

Ja. Ja. Zum Teufel mit Alex Van Vliet und seinen purpurroten Schlangen, zum Teufel mit Meshoram Enron, zum Teufel mit der ganzen dem Untergang geweihten, ausgezehrten, an Giftluft würgenden Welt. Was wichtig war – eine sichere Insel für sich zurechtzuzimmern, wenn die Nacht hereinbrach.

Christ, that my love were in my arms, and I in my Bed again!

Und schon wieder blinkte das Kommunikationslämpchen!

Jesus! Rhodes schaute die Maschine böse an. »Wenn es Van Vliet ist, kannst du ihm sagen …«

»Auf Eins ruft ein Mr. Paul Carpenter an«, sagte der Android ausdruckslos.

»Paul Carpenter?« Rhodes war verblüfft. Er drückte die Taste, und da war tatsächlich der alte Paul direkt vor ihm im Visor, unverkennbar der alte Paul, sah zwar ein bisschen älter aus, na, vielleicht sogar mehr als ein bisschen, und jetzt hatte er einen ungepflegten dunklen Bart, der die untere Gesichtspartie verdeckte, anstatt des kessen schmalen Vandykebärtchens, auf das er früher so stolz war. Auch das struppige blonde Haar war viel länger, als Rhodes es in Erinnerung hatte, und er war gebräunt und sah verwittert aus und hatte Krähenfüße im Gesicht, als hätte er sich letzthin ein bisschen zu lange im Freien aufgehalten, als gut für ihn war. Fünf Jahre waren es jetzt her, dass sie zuletzt Kontakt gehabt hatten.

»Himmel«, sagte Rhodes, »der verlorene Sohn kehrt zurück. Von wo aus rufst du denn an, verdammt?«

»Direkt hier von nebenan, aus San Francisco. Wie geht's bei dir, Nick? Hast du derzeit 'ne Menge interessanter Gene zu zersäbeln?«

Rhodes sah perplex aus. »San Francisco? Du bist hier in der Stadt? Wieso denn? Wozu? Wieso hast du mir nicht 'ne kleine Nachricht zukommen lassen, dass du reinkommst?«

»Ich habe mir gedacht, das wäre nicht nötig. Ich bleibe ein paar Wochen lang hier, dann verschifft mich die Firma in den beschissnen Südpazifik. Skipper auf einem Eisberg-Trawler. Nennt mich Ahab. Glaubst du, du könntest Zeit finden und mit einem alten Freund irgendwann nächste Woche mal zu Mittag essen?«

»Nächste Woche?«, sagte Rhodes. »Wie wär's mit heute?«

Carpenter wirkte überrascht. »Geht denn das so plötzlich? Bei 'nem bedeutenden Mann wie dir?«

»Ich möchte es aber gern. Eine Chance, dieser Klapsmühle für ein paar Stunden zu entkommen.«

»Also, ich könnte mir ein Pod über die Bucht nehmen und in einer halben Stunde bei dir sein. Ich könnte dann sofort zu eurem Labor raufkommen und die große Besichtigungstour über mich ergehen lassen, bevor wir zum Essen fahren – was hältst du davon?«

»Geht nicht«, sagte Rhodes. »Alle interessanten Arbeitsbereiche sind strikt abgesichert, und der Rest besteht nur aus Büros. Außerdem, es gibt hier im Moment jemand, dem ich an diesem Vormittag nicht begegnen möchte, und ich möchte mich nicht gern vor der Mittagspause aus meiner Höhle wagen.« Er blickte auf seine Uhr. »Treffen wir uns doch um zwölf bei Antonio's, einem Lokal direkt am Kai von Berkeley. Jeder Taxifahrer wird wissen, wo das ist. Jesus, es wird großartig sein, dich wiederzusehen, Paul. Jesus! Was für eine verdammte Überraschung!«

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