Kapitel 20

Es regnete wie aus Kübeln, als die Tonopah Maru mit dem Eisberg im Schlepp in die Bucht von San Francisco einlief. Wie passend, dachte Carpenter, dass der erste Regen seit Gott weiß wie vielen Monaten genau an dem Tag so verrückt und übermäßig über San Francisco niedergehen muss, an dem er mit seinem Trawler einen gewaltigen Wasservorrat heranschleppte.

Die gesamte zweite Hälfte der Fahrt verlief in grausamer Wolkenlosigkeit, nirgends eine Spur der sonst fast allgegenwärtigen Wasserdunstmassen, die sich ballen und in allen Erdregionen fast die ganze Zeit den Himmel bleichen. Auch dies war eine Auswirkung des Treibhauseffekts, diese Zunahme von Wasserdunst in der Atmosphäre, wodurch der relativ geringe ursprüngliche Erwärmungsimpuls, den das CO2 und andere Treibhausgase hervorrufen, multipliziert wurde. Doch aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen war der Himmel über der Tonopah Maru draußen auf See Tag um Tag makellos gewesen, und die Sonne hatte mit ungehemmter Wut auf den Eisberg niedergebrannt. Und dieser hatte unter dem täglichen solaren Trommelfeuer ein Gutteil seiner Masse verloren.

Aber es war noch reichlich Wasser für San Francisco übrig. Und da waren sie nun, am Ende ihrer Fahrt, und tuckerten mit etwa siebzehn-, achtzehnhundert Kilotonnen antarktischem Eis im Schlepp unter der ehrwürdigen Golden Gate Bridge hindurch in einen dunklen stürmischen Nachmittag voll unablässiger Sturzbäche, die mit wahnsinniger Wut auf die Stadt an der Bucht niederstürzten.

»Mann, schau dir das an!«, sagte Hitchcock, der neben Carpenter in den Wassergüssen stand. »Echter verdammter Regen!«

»Wundervoll«, knurrte Carpenter. »Großartig.«

Das war es natürlich nicht wirklich. Der Regen ließ in den Straßen Wolken von Umweltgiften aufsteigen, wirbelte die seit Monaten, vielleicht Jahren angehäuften Ablagerungen von Staub vor sich her, so dass der prasselnde Niederschlag noch dreckiger grau war, wenn er wieder zu Boden sank. Vom Himmel kamen Ströme von Gülle. Ja, dachte Carpenter, sehr bezaubernd, sehr hübsch der Anblick.

Es gab auf der Erde Gegenden, das wusste er von seiner kurzen Einlage beim Samurai Weather Service, in denen süßer, reinigender, Fruchtbarkeit bringender Regen an fast jedem Tag fiel, etwa am Ostrand des Mittelmeeres, im Korngürtel von Saskatschewan oder in den Ebenen Sibiriens. Aber nicht hier. An der Westküste der Vereinigten Staaten war Regen eine derartige Seltenheit geworden, dass er, wenn er schon einmal kam, mehr eine Plage war als erfreulich, weil er dann im allgemeinen in derart übertriebener Maßlosigkeit fiel wie jetzt. Regen fiel hier so unregelmäßig, dass die Aufrechterhaltung der Wasserversorgung nie gesichert war, und er diente hauptsächlich dazu, den angesammelten Chemiedreck auf Straßen und Wegen freizusetzen und sie zu Rutschbahnen zu machen, scheußliche Rinnen in die verbrannten und entlaubten Hügelhänge östlich der Bucht zu schneiden und die losen Schmutzpartikel durcheinander zu buttern, die überall in der Stadt herumlagen, und den Dreck umzuverteilen, nicht aber ihn zu beseitigen.

Ach, zum Teufel. Er war sicher zurück, und mit Fracht. Also war die Fahrt ein Erfolg, abgesehen von dem einen kleinen Schönheitsfehler: dieser Sache mit dem Kalmarfänger. Doch daran versuchte er nicht zu denken.

Er trat aus dem Regen unter die Kuppelblase am Achterdeck. Dort erledigte Caskie irgendwelche Verrichtungen am Kontrollbord. Er sagte zu ihr: »Hol mir das Hafenbüro von Samurai in Oakland, bitte. Ich muss wissen, an welchem Pier ich das Ding abliefern soll. Ich nehme den Ruf in meiner Kabine an.«

»Yessir. Sofort, Sir.«

»Sir?«, fragte Carpenter. Bisher hatte ihn an Bord noch niemand ›Sir‹ genannt, und in der Art, wie Caskie es nun tat, lag etwas Unwirkliches und seltsam Aufsässiges. Aber die kleine Funktechnikerin war bereits in ihr Kommunikationsnest davongehuscht, um seinen Ruf durchzugeben.

Er machte sich nach unten auf. In seiner Kabine wartete auf dem winzigen Wandvisor bereits der Oaklandoperator.

»Captain Carpenter. Melde sicheres Einlaufen der Tonopah Maru mit Eisberg von ungefähr siebzehnhundert Kilotonnen plus. Erbitte Anlegeinstruktionen.«

Der Android nannte ihm die Nummer der Pier, zu der er den Berg bringen sollte. Dann setzte er hinzu: »Captain, du sollst dich sofort nach Kommandoübergabe an das Hafenteam in der Administration im Schuppen Vierzehn melden.«

»Kommandowechsel?«

»Korrekt. Du wirst das Kommando an Captain Swenson übergeben und dich sofort zu Schuppen Vierzehn zu einer einleitenden 442-Befragung begeben.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du wirst von Captain Swenson abgelöst und wirst dich …«

»Ja, das habe ich gehört. Du sagst ›442‹?«

»Korrekt. Es gibt ein 442, Captain.«

Carpenter war verwirrt. Was, zum Teufel, war ein 442? Aber der Android redete nur drum herum und gab keine klare Antwort. Er schaltete die Verbindung aus und ging dann an Deck.

»Hitchcock?«

Der eisgraue Ebenholzschädel des Navigators schob sich aus der Kuppel.

»Suchst du mich, Sir?«

Wieder dieses Sir. Irgendwas war wirklich faul.

»Hitchcock, was ist ein 442?«

Hitchcocks Gesichtsausdruck war heiter, beinahe verschmitzt, aber in den sehr weißen, blutgeäderten vorstrebenden Augen war ein merkwürdiges Glitzern. »Standeswidriges Verhalten, Sir.«

»Standeswidrig?«

»Verstoß gegen die Vorschrift, Sir.«

»Ihr habt mich angezeigt? Wegen der Calamari-Maru-Sache?«

»Sir, die 442er Vernehmung wird entscheiden …«

»Antworte mir!« Carpenter hätte Hitchcock am liebsten am Hemd gepackt und ihn gegen die Reling gestoßen. Aber er hielt sich zurück. »Habt ihr mich angezeigt?«

Hitchcock sah ihn heiter an. »Ja, wir alle, Sir.«

»Alle?«

»Rennie. Nakata. Caskie gab den Spruch durch.«

»Wann war das?«

»Vor vier Tagen. Wir haben denen gesagt, dass du eine Gruppe von Seeleuten in Seenot im Stich gelassen hast.«

»Ich kann es nicht glauben. Ihr habt denen gesagt, dass ich …«

»Das war eine scheußliche Sache, Sir. Ein Verstoß gegen jeglichen allgemeinen menschlichen Anstand, Sir.« Hitchcock war schrecklich gelassen. Er schien auf das Dreifache seiner normalen Größe angeschwollen zu sein, wirkte wie die monströse Verkörperung der Rechtschaffenheit und Moral. »War unsre Pflicht, Sir, die Autoritäten von diesem Verstoß gegen das Seerecht zu informieren.«

»Du verdammter hinterhältiger Bastard«, sagte Carpenter. »Du hast ebenso wie ich gewusst, dass wir an Bord keinen Platz für diese Leute hatten!«

»Yessir.« Hitchcock sprach, als wäre er mehrere Milchstraßen weit weg. »Das ist mir bewusst, Sir. Trotzdem, es kam zu einer Regelwidrigkeit, und es oblag uns, das zu melden.«

Regelwidrigkeit! Verstoß! Oblag uns! Hitchcock redete auf einmal wie ein Schulmeister. Aus Carpenters Kehle stieg ein dunkler unartikulierter Laut. Am liebsten hätte er Hitchcock über Bord geschleudert. Aber Rennie und Nakata waren, ungeachtet des heftigeren Regens, aufgetaucht und beobachteten sie aus einiger Entfernung. Carpenter fragte sich, welcher Paragraph die Regelwidrigkeit bezeichnete, wenn ein Kapitän seinen Navigationsoffizier vor Zeugen in die Bucht von San Francisco werfen sollte.

Er begriff nun, dass es verrückt gewesen war, ihnen zu befehlen, sie sollten ›vergessen‹, dass sie die Leute von der Calamari Maru im Stich gelassen hatten. Sie gehorchten ihm, aber sie waren nicht bereit, es zu vergessen. Und die einzige Möglichkeit für sie, sich der Verantwortung für das zu entziehen, was er dort draußen getan hatte, war eben die Anzeige gegen ihn gewesen.

Carpenter dachte zurück an diesen Moment auf offener See, als sie die drei Dinghis von der kenternden Calamari Maru auf sich zurudern sahen. Seine eigene Ungerührtheit, Hitchcocks ungläubige Verblüffung.

Und während er die Szene jetzt wieder vor sich sah, vermochte er kaum zu glauben, dass er so etwas getan hatte. Er hatte diese Menschen da draußen im Stich gelassen und dem Tod überantwortet, hatte sich abgekehrt und war davongesegelt, und damit hatte es sich. Regelwidrig, ja.

Aber dennoch …

Es gab doch keine andere Wahl, dachte er. Sein Schiff war zu klein. Der Eisberg fing an zu schmelzen. Sie hatten nicht genug Verpflegung für diese ganzen zusätzlichen Leute an Bord gehabt, auch nicht ausreichend Screen, überhaupt keinen Platz für Passagiere, nicht einmal für einen oder zwei …

Das würde er bei dem 442-Hearing alles vorbringen. Es war eine Frage situationsbedingter Ethik, würde er erklären. Diese verdammte beschissene Welt! Das hatte Hitchcock gesagt, als er ihm befahl, die Boote nicht zu beachten. Ja, manchmal zwang dich diese verdammte beschissene Welt dazu, verdammte beschissene Dinge zu tun. Carpenter begriff, dass sein Verhalten als kaltschnäuzig und brutal erschienen war. Aber sie hätten alle draufgehen können, die Retter und die Geretteten. Und er hätte den Verlust seines Eisbergs riskieren müssen, vielleicht sogar sein Schiff, wenn er versucht hätte …

Jetzt schauten sie ihn alle an. Und grinsten.

»Zur Hölle mit euch!«, sagte er. »Ihr habt von gottverflucht nichts 'ne Ahnung.«

Er ging mit finsterem Gesicht an ihnen vorbei und stieg wieder in seine Kabine hinab.


Der Verwaltungsschuppen Vierzehn war ganz und gar kein Schuppen; es war eine Art tubusförmiger Raum, eine längliche enge graue Stahlröhre, die wie auf gut Glück an einer der oberen Etagen des verwickelten Gewebes von Gebäuden und Stegen angebracht war, welche die Betriebszentrale des Hafens von Oakland war.

Und das Hearing war auch kein wirkliches Verhör. Jedenfalls nicht im wörtlichen Sinn. Denn Carpenters Stimme kam, außer in einigen kurzen Sätzen, überhaupt nicht zu Gehör. Es war eher eine Art formeller Information, dass ein Verfahren gegen ihn eingeleitet sei, ja eine Anklage gegen ihn erhoben. Ein Beamter der Hafenbehörde hatte den Vorsitz, ein gelangweilt wirkendes Teiggesicht namens O'Reilly oder O'Brian oder O'Leary – jedenfalls irgend etwas Irisches, doch Carpenter hörte den Namen nur zu Beginn und vergaß ihn beinahe sofort wieder. Während der ganzen Verhandlung steckte der Mann fast unablässig die Nase in seinen Visor und schaute Carpenter kaum an. Er hatte den Eindruck dabei, dass O'Reilly oder O'Brian gleichzeitig bei zwei oder drei Fällen präsidierte, von mehreren Computer-Outputs Informationen einholte, während er mit halbem Ohr dem Nölen der Anwälte vor sich zuhörte.

Ein Mann im Siebten Rang von Samurai vertrat Carpenter, ein schmaläugiger plattgesichtiger Mann namens Tedesco, an den Wangen und auf der Stirn pockennarbig von einer wahrscheinlich allergischen Reaktion auf Screen. Dass sein Fall von einem Siebten Grad vertreten werden sollte, dass ein Siebener den ganzen Vormittag hier wartete, während Carpenter anlegte und sein Kommando übergab, ließ darauf schließen, dass die Sache ernst war und er möglicherweise in echten Schwierigkeiten steckte. Doch er war zuversichtlich, dass der Untersuchungsausschuss, sobald er erst einmal das Dilemma verstanden hatte, in dem Carpenter gewesen war, zu seinen Gunsten entscheiden werde.

»Sag keinen Ton, ehe du was gefragt wirst!«, befahl Tedesco ihm gleich im ersten Augenblick. »Und wenn du antwortest, dann pass auf, dass es knapp und zur Sache ist, keine Abschweifungen! Sowas hassen die Leute hier.«

»Brauche ich denn einen Anwalt?«, fragte Carpenter.

»Das hier ist keine gerichtliche Verhandlung. Nicht heute. Und wenn es zu einer kommen sollte, wird dir die Firma jeglichen nötigen juristischen Beistand liefern. Vorläufig greifst du nur meine Stichworte auf.«

»Was für Strafen drohen mir hier?«

»Disqualifikation, Entlassung aus dem Seedienst. Du würdest dein Patent verlieren.« Tedescos Stimme war frostig. Seine ganze Person strahlte Angewidertheit über den Fall aus, gegen diesen gemeinen Zwischenfall auf See, gegen die Peinlichkeit, dass eine Schiffsmannschaft Anschuldigungen gegen ihren eigenen Kapitän erhoben hatte, gegen die bedauerliche Notwendigkeit, dass ein Mann seines Ranges seine Zeit hier mit einer dermaßen ekligen Lappalie im Oaklandhafen vergeuden musste.

»Was ist mit meinem Grad in der Firma?«

»Das ist eine firmeninterne Angelegenheit. Hier und jetzt handelt es sich um eine Sache der Hafenbehörden. Eins nach dem andern; aber ich denke, ich muss dir nicht sagen, dass es sich nicht eben günstig auf deine Aufstiegschancen auswirken wird, wenn du hier unter Anklage gestellt bist. Aber das bleibt abzuwarten.«

»442-Sache, Nummer 100-939399«, sagte O'Reilly oder so plötzlich weit oben am anderen Ende der Röhre und schlug mit einem Hammer auf den Tisch. »Paul Carpenter, suspendierter Kapitän, tritt vor zur Verhandlung.«

»Aufstehen«, murmelte Tedesco, doch Carpenter war bereits auf den Füßen.

Es war sehr seltsam, so im Mittelpunkt eines Disziplinarverfahrens zu stehen. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der wegen eines kindischen Vergehens abgekanzelt werden soll. Die Übergabe seines Schiffs an Swenson, den ihn ablösenden Kapitän, war peinlich genug gewesen, besonders da Hitchcock und Rennett ihm von der Kuppel her triumphierend zugrinsten, als er seinen Software-Anschluss übergab; aber das hatte wenigstens eine Spur von Dramatik à la Joseph Conrad gehabt und war so erträglicher, von feierlicher Theatralik. Doch hier in diesem absurden rigatoniähnlichen Raum stehen zu müssen, dem Regen zuzuhören, der auf das metallene Dach prasselte, einem feisten stumpfäugigen Bürokraten gegenüber, der ihn nicht einmal anzusehen schien, der aber dennoch die Macht besaß, seiner Karriere zu schaden, ja sogar ihn vielleicht lahmzulegen – das war entwürdigend, es war lächerlich und grotesk.

Einer der Gerichtsbeamten, eine Frau, die wie ein Android aussah, aber anscheinend doch keiner war, erhob sich und leierte monoton eine lange Litanei von Juristenkauderwelsch herunter. Die Anschuldigungen – regelwidriges Verhalten, Pflichtvernachlässigung, Verstöße gegen Vorschriften soundso und soundso. Die Kläger wurden benannt. Seine eigene Besatzung. Gesabber über die vorläufige Stornierung seines Kapitänspatents während der Untersuchung des Zwischenfalls. Und weiter und weiter, fünf Minuten, zehn, voller dumpfer Fachbegriffe, denen Carpenter schon sehr bald nicht mehr folgen konnte.

»Zu Protokoll genommen«, sagte O'Reilly oder O'Brien. »Zurückgestellt zur Beweisaufnahme.« Ein Schlag mit dem Hämmerchen. »Antrag auf 376.5 notiert und abgelehnt. Antrag auf 793f stattgegeben. Termin der Anhörung festzusetzen und Vorladungen zuzustellen.« Ein Klopfen des Hämmerchens, bäng. Und nochmals bäng. »Vertagt.« Bäng.

»So, das war's«, sagte Tedesco. »Du bist jetzt frei und kannst tun, was du willst. Aber verlasse das Gebiet von San Francisco nicht, bis der Fall entschieden ist.«

Tedesco wandte sich zum Gehen.

»Eine Sekunde!«, sagte Carpenter. »Bitte. Was bedeutet das ganze Zeug, das er abgelehnt, beziehungsweise angenommen hat?«

»Ein 376.5 ist die Abweisung aller Beschuldigungen. Routinemäßig vorgetragen und genauso routinemäßig abgelehnt. Ein 793f ist die Entlassung auf Ehrenwort ohne Kautionsstellung. Das bekamst du, weil du bisher noch nie straffällig geworden bist.«

»Kaution? Steht mir denn ein Strafprozess ins Haus?«

»Nur eine amtliche Vernehmung«, sagte Tedesco. »Doch es besteht immer die Möglichkeit von Weiterungen, ein Strafverfahren, möglicherweise ein Zivilprozess, den die Vertreter der ausgesetzten Schiffbrüchigen anstrengen könnten. Der Hafen ist gegenüber den Zivilbehörden dafür verantwortlich, dass du dich ständig hier zur Verfügung hältst, bis die Sache entschieden ist. Wir haben uns dem Hafenamt gegenüber verpflichtet, und deshalb wurde keine Kaution erhoben, und deshalb bist du jetzt uns gegenüber verantwortlich, dafür zu sorgen, dass gegen den Beschluss nicht verstoßen wird. Wir glauben, dass du dich kooperativ verhalten wirst.«

»Selbstverständlich. Aber wenn es zu weiteren Anschuldigungen kommen sollte, zu weiteren Gerichtsverfahren nach diesem da …«

»Wir können nicht wissen, ob es dazu kommt. Eins nach dem anderen, klar, Carpenter? Und jetzt, wenn es dir nichts ausmacht …«

»Bitte, ich muss noch was wissen.«

»Also los.«

»Ich habe doch noch meine Elferprivilegien, ja? Wohnung und Lebensunterhalt?«

»Selbstverständlich. Du bist in keiner Sache schuldig gesprochen, Carpenter. Das Hafenamt ist nur bemüht herauszufinden, ob die gegen dich erhobenen Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen oder nicht. Und die Firma steht hinter dir. Vergiss das nicht. Die Firma steht hinter dir.« Er sagte das ganz ohne Wärme, doch es war die erste beruhigende Bemerkung, die er seit dem Einlaufen zu hören bekam. Die Firma steht hinter dir. Seine dumm-dumpfe gehässige Mannschaft, die geistig ganz und gar unfähig war, das Entscheidungsdilemma zu begreifen, vor dem er da draußen im Pazifik gestanden hatte, hatte ihn in diese Scheiße gebracht, aber die mächtige Riesenfirma würde nicht zulassen, dass ein nützlicher Elfer wegen Klassenkampfgeschichten den Wölfen vorgeworfen würde. Dessen war Carpenter sich nun ganz sicher. Bei dem eventuellen Hearing würde er aufzeigen, dass eine Rettung völlig unmöglich gewesen war, dass er gezwungen gewesen war, sozusagen eine Triage vorzunehmen, eine abwägende Entscheidung nach Schweregraden, dass er die Erhaltung seines Schiffs und das Überleben seiner Mannschaft gegen die Forderungen dieser inkompetenten fremden Meuterer hatte abwägen müssen, und dass er, bevor er beide Schiffe und Besatzungen ins Verderben schickte, indem er sein kleines Fahrzeug überfrachtete, mit schweren Bedenken und Gewissenspein die Besatzung der Calamari Maru zurückgelassen hatte, damit sie sich auf See allein durchschlage. Die Zeiten sind schwer, wollte er dem Gericht sagen, Entscheidungen schwer und hart. Mit der besten Absicht der Welt hätte er diese Leute nicht retten können. Und er hatte die beste Absicht gehabt. Es war doch wohl einsichtig, dass ein Mann von seiner Intelligenz und Unbescholtenheit nicht leichthin würde Schiffbrüchige dem Tode preisgegeben haben, wenn er eine andere Möglichkeit gesehen hätte. Das musste Tedesco doch sicher verstehen. Und O'Brien, O'Leary oder wie er heißen mochte, dem würde man es auch begreiflich machen. Die Anklage würde fallengelassen werden.

Und wenn das Ganze vorbei war, überlegte Carpenter, würde man es sich bei Samurai möglicherweise angelegen sein lassen, ihn aus dem Seedienst zu nehmen, wenn man bedachte, wie eine solche Geschichte am Ruf eines Mannes klebt, und er würde vielleicht ein, zwei Jahre lang nicht befördert werden; aber man würde ihm eine neue Stellung in irgendeiner anderen Abteilung anbieten, und wenn die Zeit reif war, würde alles in Ordnung kommen.

Ja, wenn die Zeit gekommen war.

Inzwischen goss es immer noch in Strömen. Die Luft im Freien hatte einen süßen, fast angenehmen Hefeduft, nur dass Carpenter sicher war, dies müsse von irgendwelchen ekligen, möglicherweise giftigen Schadstoffen herrühren, die normalerweise gebunden in der San Francisco-Bucht schlummerten.

Und was nun?

Zunächst eine Bleibe.

Als er von Spokane hergekommen war, um diesen Job anzunehmen, hatte ihm die Firma ein Apartment im Firmenblock des Marriott Hilton zugewiesen, drüben am Frisco-Ufer. Und da er ja noch immer ein Elfergrad war, ging es vielleicht in Ordnung, wenn er sich dort ein Zimmer nahm.

Aber als er dann die Wohnungsvermittlung über sein Flexterminal anrief und das Marriott verlangte, beschied man ihm, dass man für ihn bereits in einem Hotel namens Dunsmuir auf der Oaklandseite ein Zimmer reserviert habe. Daran beunruhigte ihn etwas. Weshalb nicht San Francisco? Nicht das Marriott? Er verlangte eine Umbuchung. Nein, erklärte man ihm, er müsse ins Dunsmuir.

Und als er dort eintraf, verstand er, weshalb. Das Hotel war eine Absteige, wie damals das Manito in Spokane, nur noch übler – ein trister Schuppen für Handelsvertreter, der mindestens hundert Jahre alt zu sein schien, in einer öden ehemaligen Industriegegend, die jetzt fast ausgestorben war, auf halbem Weg zwischen dem Oakland Airport und dem Freeway. Nichts vom Glanz des Marriott und keine Spur von dessen Komfort. Die Art Hotel, in dem mittlere Handlungsreisende logieren, die eine Nacht in Oakland verbringen müssen, bevor sie nach San Diego oder Seattle weiterziehen.

Die Firma steht hinter dir. Aber was ihn betraf, zog die Firma anscheinend langsam bereits ihre Fittiche von ihm zurück, dabei war er doch noch in keinem Punkt schuldig gesprochen. Vielleicht hatte er doch mehr Grund zu Besorgnis, als er geglaubt hatte.


Es dauerte bis zum späten Nachmittag, bis Carpenter sich in dem kleinen, düsteren, muffigen Zimmer eingerichtet hatte, das allem Anschein nach für die nächste Zeit seine Behausung sein würde. Er platzierte einen Anruf an Nick Rhodes in Santachiara, und zu seiner Verblüffung erreichte er ihn sofort.

»Ahoi, Junge!«, schrie Rhodes. »Der Seemann ist im Heimathafen, zurück von der wilden See!«

»Ja, so könnte man's nennen«, sagte Carpenter mit flacher, dumpfer Stimme. »Soweit ich mich erinnere, steht das auf irgend 'nem Grabstein.«

Rhodes wirkte sofort bestürzt. »Paul? Verdammt, was ist los? Paul?«

»Weiß ich noch nicht genau. Vielleicht ein ganzer Brocken. Ich bin in einen beschissenen Standgerichtsprozess gezogen worden.«

»Um Himmels willen, Paul! Was hast du getan?«

Müde erzählte Carpenter: »Da war dieses Schiff, dem wir draußen im Pazifik begegneten. Die hatten eine Meuterei an Bord – ach, das ist Geschichte. Ich mag das jetzt nicht alles noch mal durchkauen. Hör mal, hast du heute Abend frei? Wollen wir uns treffen und uns richtig besaufen, Nick?«

»Natürlich. Wo bist du?«

»In 'ner Absteige namens Dunsmuir, beim Airport.«

»Drunten am SFO?«

»Nein. Dem von Oakland. Das ist das Feinste, was die Firma derzeit als angemessen für mich ansieht. Aber jedenfalls bequemer für dich.« Und dann, verspätet: »Und wie geht's dir, Nick?«

»Mir geht's gut.«

»Und Isabelle?«

»Der geht es ebenfalls gut. Wir sehen uns immer noch, musst du wissen.«

»Klar tut ihr das. Ich habe nie mit was anderem gerechnet. Was treibt ihre bescheuerte Freundin, die mit der üppigen Ausrüstung?«

»Jolanda? Die ist derzeit droben in den Habitats. Aber sie müsste in ein paar Tagen wieder zurück sein. Sie ist mit Enron hingeflogen.«

»Mit dem Israeli? Ich dachte, der ist zurück in Tel Aviv.«

»Der hat sich entschlossen, noch in San Francisco zu bleiben. Bezirzt von Jolandas üppiger Ausrüstung, nehme ich an. Und dann flogen sie plötzlich zusammen zu den Satelliten rauf. Frag nicht weiter, ich weiß nicht mehr. Wo treffen wir uns heute Abend?«

»Dieses Restaurant von damals, am Kay in Berkeley?«

»Antonio's, meinst du? Gern. Welche Zeit?«

»Jederzeit. Je früher, desto besser. Ich muss dir gestehen, Nick, ich fühl mich ziemlich elend. Besonders bei dem Regen. Ich könnte einen guten Freund vertragen.«

»Wie wär's mit jetzt gleich?«, fragte Rhodes. »Ich bin sowieso für heute fast fertig. Und ich könnte ebenfalls einen guten Freund vertragen, wenn ich die Wahrheit sagen soll.«

»Stimmt was nicht?«

»Ich weiß nicht genau. Eine Komplikation, immerhin.«

»Mit Isabelle?«

»Nein, Frauen haben gar nichts damit zu tun. Ich werd's dir erklären, wenn wir uns treffen.«

»Isabelle kommt heute also nicht mit?«

»Himmel, nein«, sagte Rhodes. »Also, in 'ner halben Stunde im Antonio's. Okay? Freu mich, dich zu sehen. Willkommen daheim, du alter Seehund!«

»Ja«, sagte Carpenter. »Der Seemann ist im Hafen. So oder so.«


Der Regen prasselte auf die Perspexkuppeln des Hafenrestaurants wie von einem zornigen Riesen geschleuderte Kieselsteine. Die Bucht war fast nicht sichtbar, verschwamm im grauen Zwielicht und dem heftig wirbelnden Wassersturm. Die beiden waren praktisch allein in dem Lokal.

Nick Rhodes wirkte wie betäubt von Carpenters Bericht über die Ereignisse auf See. Er hörte sich die ganze Sache in einer dumpfen Ungläubigkeit an, sprach kaum ein Wort, sondern starrte Carpenter nur die ganze Zeit an und unterbrach seine starre Konzentriertheit nur, um ab und zu sein Glas an die Lippen zu heben. Als Carpenter geendet hatte, begann er Fragen zu stellen, zunächst fernerliegende, dann ging er direkter die Frage an, ob es an Bord wirklich keinen Platz für die zerstrittenen Parteien der Captains Kovalcik und Kohlberg gegeben habe, so dass Carpenter schließlich die ganze Geschichte stückweise noch einmal erzählen musste.

Und je öfter er die Geschichte wiederholte, desto schwerer fiel es ihm selbst, seine Version der Ereignisse zu akzeptieren. Allmählich schien ihm, als hätte es doch keine ernsthaften Schwierigkeiten bedeutet, wenn er die Schiffbrüchigen an Bord genommen hätte. Er hätte fünf da, sechs dort verstauen können, in Kammern und Toiletten und jedem anderen freien Ort, er hätte die Screenrationen reduzieren können, so dass es für alle reichte …

Oder er hätte sie vielleicht wenigstens in ihren drei Dinghis bis nach San Francisco ins Schlepptau nehmen sollen …

Aber nein. Nein.

»Es war nicht machbar, Nick. Du musst es mir einfach auf Wort glauben. Das waren fünfzehn oder zwanzig Leute, und wir hatten nicht mal genug Platz für uns fünf Leute an Bord. Von den Verpflegungs- und Screenvorräten ganz abgesehen. Jesus Christus, glaubst du etwa, ich wollte diese Menschen mitten im Pazifik im Stich lassen? Glaubst du nicht, dass mir die Entscheidung verdammt schwer gefallen ist?«

Rhodes nickte. Dann schaute er Carpenter seltsam an und fragte: »Hast du irgendwem gemeldet, dass du einem Schiff in Seenot begegnet bist?«

»Das war nicht nötig«, sagte Carpenter dumpf. »Die hatten selber Funkverbindung.«

»Du hast also mit keinem Wort das Seefahrtsamt informiert? Du hast einfach kehrtgemacht und sie dort gelassen?«

»Ja, ich hab einfach kehrtgemacht und sie dort sitzen lassen.«

»Jesus, Paul«, sagte Rhodes leise. Er gab das Zeichen für eine weitere Runde. »Mann, das war wirklich gar keine gute Idee, fürchte ich.«

»Nein. Das war es nicht. Wie wenn man sich bei einem Unfall schleunigst verdrückt, was?« Es fiel ihm schwer, Nicks Blick standzuhalten. »Aber du warst nicht dabei, Nick. Du weißt nicht, unter welcher Belastung ich stand. Unser Schiff war winzig. Ich hatte diesen Eisberg im Schlepp und wollte weg, bevor er schmolz. Die Besatzung auf dem Kalmarschiff war sich seit Wochen an die Gurgeln gegangen, und sie wirkten absolut verrückt und gefährlich. Außerdem waren es Leute von Kyocera, nicht dass das meine Entscheidung mitbestimmt hätte, aber ich wusste es eben. Es war schlichtweg unmöglich, sie zu uns an Bord zu nehmen. Also bin ich schleunigst abgezogen. Ich erwarte nicht, dass man mich dafür belobigt, aber ich habe es nun mal getan. Und was die Sendung eines Notrufs für sie angeht, ich dachte mir, dass die selbst schon ihr SOS losgeschickt haben und ich das nicht noch einmal zu tun brauchte. Und was einen offiziellen Eintrag ins Logbuch angeht, das habe ich nicht getan, weil … weil …«

Er suchte einen Moment lang nach Worten, fand aber keine passenden.

Dann plötzlich sagte er direkt in die fest auf ihn gerichteten Augen von Rhodes hinein: »Ich nehme an, ich dachte mir, es würde ein schlechtes Licht auf mich werfen, wenn ich berichten würde, dass ich einem Schiff in Seenot begegnet bin und nichts zu seiner Hilfe unternommen habe. Also versuchte ich eben, das Ganze unter den Teppich zu kehren. Jesus, Nick, es war mein erstes Kommando!«

»Und du hast deiner Besatzung befohlen, nichts darüber zu sagen.«

»Ja. Aber sie haben trotzdem geredet.«

»Die Überlebenden von dem anderen Schiff haben dich wahrscheinlich ebenfalls angezeigt, ja?«

»Welche Überlebenden? Es kann keine gegeben haben.«

»Oh, Paul … Paul!«

»Es war mein erstes Kommando, Nick. Ich hab nie darum gebeten, ein beschissener Seekapitän zu werden.«

»Aber du hast dich trotzdem von ihnen dazu machen lassen.«

»Stimmt. Das habe ich. Und damit habe ich zum ersten Mal in meinem Leben was richtig beschissen Blödes angestellt und … ja, es tut mir leid! Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen, Nick. Verstehst du das nicht?«

»Trink noch was.«

»Das wird mir auch nicht helfen.«

»Mir hilft es gewöhnlich schon ein bisschen. Vielleicht wirkt's ja auch bei dir.« Rhodes lächelte. »Ich denke, am Ende wird es für dich gut ausgehen, Paul. Das Hearing und alles.«

»Glaubst du?«

»Die Firma wird dich decken. Wie du sagst, es gab keine Möglichkeit, diese Leute an Bord zu nehmen. Dein einziger Fehler war, dass du den Zwischenfall nicht ordnungsgemäß gemeldet hast, und das wird dich möglicherweise in der Beförderung ein bisschen zurückwerfen, aber Samurai wird nicht wollen, dass es publik wird, dass eins ihrer Schiffe Leute in Seenot im Stich gelassen und dem Tod preisgegeben hat – das macht sich nicht gut, auch wenn es gerechtfertigt war – und die von der Firma werden sich irgendwie mit dem Gericht arrangieren, damit die Anschuldigungen niedergeschlagen werden, und so die ganze Geschichte aus dem Blickfeld verschwindet. Und dich werden sie still und leise zum Wetterdienst zurückversetzen, oder sonst wohin. Schließlich, wenn man dich den Wölfen vorwerfen würde, würde das diese Kyocera-Crew auch nicht wieder lebendig machen, und jede Art Schuldspruch würde veröffentlicht, und das würde dem Samurai-Image nicht besonders förderlich sein. Sie werden die ganze Sache begraben und so tun, als ob sich da draußen zwischen deinem und dem Kyocera-Schiff nie etwas abgespielt hätte. Ich bin ganz sicher, Paul.«

»Vielleicht hast du ja recht.« Carpenter hörte eine seltsame Mischung aus Skepsis und verzweifelter Hoffnung in seiner eigenen Stimme.

Bis zu diesem Punkt hatte er alles, was passiert war, auch das 442-Hearing, als relativ unbedeutend angesehen, als harte Prüfung, der er, so gut er konnte, sich gestellt hatte, betrachtete man alle Umstände, die jedoch jetzt – dank der eingefleischten Klassenressentiments von Hitchcock und den anderen – ihn in ein Disziplinarverfahren verstrickt hatte, das ihm im schlimmsten Fall einen Negativpunkt in der Personalakte eintragen würde. Aber im Verlauf der halben Stunde, die er jetzt mit seinem ältesten und engsten Freund gesprochen hatte, war ihm auf einmal alles irgendwie viel schlimmer und übler erschienen, wie das Handeln eines Menschen, der in krimineller Weise vor Panik den Kopf verloren und in der einzigen wirklich kritischen Entscheidung seines Lebens versagt hat. Er fühlte sich allmählich so, als hätte er die Leute in den drei Dinghis mit eigenen Händen ermordet.

Nein. Nein. Nein. Nein!

Es gab nichts, was ich zu ihrer Rettung hätte tun können. Nichts. Nichts! Gar nichts!

Es war Zeit, von etwas anderem zu reden. Er sagte: »Am Telefon sagtest du, du hättest irgendwie Schwierigkeiten bekommen, während ich fort war, und dass du mir jetzt davon erzählen wolltest.«

»Ja.«

»Und?«

»Ich hatte ein Angebot«, sagte Rhodes. »Kurz nachdem du losgefahren bist. Kyocera-Merck lud mich in ihre hiesige Zentrale am Walnut Creek, und dort hatte ich eine Unterredung mit einem ihrer Dreiergrade namens Nakamura, dem eiskaltesten menschlichen Wesen, dem ich je begegnet bin, und er lud mich ein, mit meinem ganzen Adapto-Team zu K-M überzulaufen. Sie wollten mir einen Blankoscheck geben, sozusagen, ich kann mir alles an Laboreinrichtung wünschen, was ich will.«

»Darüber haben wir doch kurz vor meiner Ausfahrt noch gesprochen. Du hast dir Sorgen darüber gemacht, dass Samurai zu mächtig werden und zu großen Einfluss auf die künftige genetische Entwicklung der menschlichen Rasse gewinnen könnte. Und genau das habe ich dir damals geraten, dass du zu Kyocera überwechseln – ich glaube, ich habe die ganz direkt genannt – und bei denen eine Art Konkurrenzbetrieb der Adaptotechnik aufbauen solltest. Und dass du damit das Genmonopol bei Samurai verhindern könntest, das du so befürchtest. Na, machst du's?«

»Du kennst noch nicht die ganze Geschichte, Paul. In die Sache ist ein Mann namens Wu Fang-shui verwickelt. Bis so vor etwa zwanzig Jahren war der das erstrangige Genie in der Genforschung. Der Einstein, der Isaac Newton in dem Zweig sozusagen. Das Schlimme war, dass er Zweck und Methode durcheinanderbrachte und ein wahrhaft scheußlich unethisches Gensplittingprogramm in einer der Republiken in Zentralasien durchführte. An Menschen. Unfreiwilligen Versuchsobjekten. Richtig albtraumhaftes Zeug, fast möchte man sagen, das Tun eines wahnsinnigen Wissenschaftlers. Nur war er eben geistig völlig gesund – bis auf einen absoluten Mangel an Moral. Mit der Zeit wurde ruchbar, was dieser Wu trieb, und man nahm an, dass er sich umgebracht hätte. In Wahrheit verkleidete er sich sehr überzeugend als Frau und verzog sich ins Asyl im Weltraum – er verschwand in einem der L-5-Habitate, und man hörte nie wieder was von ihm.«

»Und du siehst dich auch schon als so ein unmoralisches Ungeheuer wie diesen Wu Fang, ja?«

»Ganz und gar nicht«, sagte Rhodes. »Es ist folgendes passiert: Kyocera hat Wu Fang-shui irgendwie aufgestöbert, aus seinem Asylort rausgekriegt – frag mich nicht, wie –, und er arbeitet jetzt bei ihrem Projekt der Konstruktion eines Sternenschiffs mit Überlichtgeschwindigkeit mit. Anscheinend wird die Besatzung eine Art Genretroadaptation brauchen, und Wu führt das für die Firma durch. Nakamura sagte, dass er meinem Forschungsteam als Berater zur Verfügung gestellt werden kann.«

»Dieser verdrehte, aber höchst abscheuliche Genetiker?«

»Der Einstein der Sparte, ja. Und ich soll mit dem zusammenarbeiten.«

»Aber du verabscheust ihn dermaßen, dass du nicht im Traum …«

»Du hast es immer noch nicht kapiert, Paul«, sagte Rhodes. »Bis jetzt sind wir noch weit von der Lösung etlicher der komplizierteren Adaptorätsel entfernt. Die große ehrgeizige Totaltransformation, die mein kleiner Van Vliet dargelegt hat, steckt noch voller unübersehbarer Löcher, und inzwischen sieht sogar er das selber ein. Aber ein Hirn wie das von Wu Fang-shui könnte mit diesen Problemen fertig werden. Wenn der in unserem Team ist, dann haben wir möglicherweise in ganz kurzer Zeit eine vollkommene Adaptotechnik parat. Und das würde bedeuten, dass Kyocera über genau das Genmonopol verfügt, das ich Samurai nicht zu verschaffen wage.«

»Also wirst du das Angebot ablehnen?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Nicht?«

»Ich überlege immer noch her und hin. Habe ich wirklich irgendein Recht, mich einer Technik in den Weg zu stellen, die die Menschheit in die Lage versetzt, mit den Veränderungen fertig zu werden, die auf sie zurollen?«

Carpenter wusste, dass sich in Rhodes' Logik früher oder später ein Loch zeigen musste. Und hier war es. »Du kannst nicht beides haben, Nick. Du sagst, du willst den Fortschritt nicht behindern, aber gerade hast du mir erklärt, dass es dich beunruhigt, einer Firma ein Monopol zu verschaffen …«

»Es bedrückt mich, ja. Aber ich wiederhole meine Frage. Mein Team zusammen mit Wu Fang-shui könnte möglicherweise die Lösungen erbringen, die wir für unser Überleben brauchen. Aber mein Team gehört Samurai, und Wu gehört Kyocera. Wenn wir beide zusammentun, finden wir die Lösung wohl innerhalb von zwei, drei Jahren. Wenn wir nicht zusammenarbeiten, wer weiß, ob dann jemals einer die Lösung findet? Möchte ich die Schlüsselfigur werden und die Totaltransformation Wirklichkeit werden lassen? Oder will ich die Schlüsselfigur sein, die eine Totaltransformation verhindert oder gravierend verzögert? Es liegt alles bei mir, oder? Und ich bin ganz und gar nicht sicher, was ich tun soll. Eigentlich bin ich völlig durcheinander, Paul.« Rhodes grinste schief. »Und nicht zum ersten Mal.«

»Nein«, sagte Carpenter. Der altvertraute Dunsthauch moralischer Verwirrtheit, der von Rhodes ausging, lenkte ihn beinahe von seinen eigenen Sorgen ab. »Nein, nicht zum ersten Mal.«


Das 442-Hearing fand dann drei Tage später statt. Wieder in Schuppen Vierzehn der Hafenbehörde von Oakland. Der Regen hatte keinen Moment ausgesetzt in den drei Tagen: ein stetiger ärgerlicher Dauerregen, ein Getrommel dicker dreckiger Tropfen, das in einem irren Umschwung der langgewohnten Wettermuster auf die gesamte Bay-Region niederging. Niemand vermochte zu prognostizieren, wie lange das so weitergehen würde, bevor Trockenheit und Dürre wieder mit unerbittlicher Faust die Westküste heimsuchen würden. Inzwischen waren die Straßen überspült, Häuser rutschten torkelnd über Klippen, Hänge waren von tiefen Rinnen durchschnitten, auf den Straßen flossen Ströme von Dreck.

Als Carpenter sich zur Anhörung einfand, waren nur zwei weitere Menschen im Raum: der Vernehmungsbeamte mit dem irischen Namen und die androidisch aussehende Gerichtsdienerin. Carpenter fragte sich, wo Tedesco blieb, der ihn im Auftrag von Samurai anwaltlich vertreten sollte. Nahm der sich etwa wegen des Regens frei?

O'Brien, O'Reilly, O'Leary eröffnete mit seinem Hämmerchen die Anhörung. Diesmal merkte Carpenter sich den Namen. Er war O'Reilly. O'Reilly.

»Einspruch«, sagte Carpenter sofort. »Mein Anwalt ist nicht da.«

»Anwalt? Wir brauchen hier keinen Anwalt.«

»Mr. Tedesco von Samurai. Er vertritt mich. Er sollte heute hier dabei sein.«

O'Reilly sah die Gerichtshelferin an.

»Mr. Tedesco hat Antrag auf Stipulation a posteriori gestellt«, sagte die Frau.

»Was?«, fragte Carpenter.

»Das Ersuchen, heute nicht anwesend sein zu müssen, und später eine Abschrift der heutigen Verhandlung ausgehändigt zu bekommen. Er will entsprechende Einlassungen und Anträge später stellen, falls er sie für nötig erachtet«, sagte O'Reilly.

»Was? Ich soll heute ohne Rechtsbeistand sein?«, fragte Carpenter.

Unbeeindruckt sagte der Vernehmungsbeamte: »Fahren wir fort. Wir führen folgende Beweisaufnahmen vor …«

»Einen Moment! Ich verlange den Beistand eines offiziellen Anwalts!«

O'Reilly warf Carpenter einen langen kalten Blick zu.

»Du hast einen angemessenen Rechtsbeistand, Captain Carpenter, und er wird zu gegebener Zeit Gelegenheit erhalten, entsprechende Erklärungen abzugeben. Ich wünsche keine weiteren störenden Ausbrüche, bitte! Wir führen folgende Beweisaufnahmen durch und nehmen sie zu Protokoll …«

In bleierner Schwere sah Carpenter zu, wie Beweisstück A auf dem Visor am Ende des langen schlauchartigen Raums erschien. Es war die Aussage Rennetts (Maintainance/Operations), die schilderte, wie sie mit Kapitän Carpenter die Calamari Maru besucht hatte. Knapp und eindrucksvoll umriss Rennett die Zustände, die sie an Bord des Kalmarschiffs vorgefunden hatte: die abgesetzten, unter Beruhigungsmitteln stehenden Offiziere, die Angaben der meuternden Kovalcik. Carpenter kam das alles ziemlich wahrheitsgemäß vor, und es schien in keiner Weise schädlich für ihn zu sein. Dann folgte Beweisaufnahme B, die Aussage Hitchcocks (Navigator), der berichtete, wie das Rollen des eingefangenen Eisbergs in der gröber werdenden See den Havaristen schließlich geflutet hatte, wie die drei Dinghis hilfesuchend auf die Tonopah Maru zusteuerten und wie Kapitän Carpenter seiner Mannschaft befohlen hatte, sich nicht um die Schiffbrüchigen zu kümmern, sondern die Rückfahrt nach San Francisco anzutreten. Diese Aussage erschien selbst Carpenter ziemlich scheußlich, doch er konnte nicht behaupten, dass Hitchcock irgendeinen Punkt besonders verdreht dargestellt hätte. Es war tatsächlich so, wie es passiert war.

Er nahm an, jetzt würden die Aussagen von Caskie und Nakata folgen. Danach würde man ihm vermutlich Gelegenheit geben, etwas zu seiner Verteidigung zu sagen – die schwierige Lage zu erklären, die Beengtheit auf seinem Schiff anführen, die unzureichende Versorgung mit Proviant und Screen, zu erklären, dass er sich in diesem entscheidenden Moment entschlossen hatte, das Überleben seiner eigenen Mannschaft für wichtiger zu halten als das dieser Fremden. Er war bereits vorher entschlossen gewesen zu erklären, wie sehr es ihn bedrückte, diese Schiffbrüchigen ihrem Schicksal überlassen zu haben, dass er dies zutiefst bedauerte, aber dass es notwendig gewesen war, und dass er hoffe, man werde ihm diese Zwangsentscheidung vergeben und auch, dass er danach zu durcheinander war, um vorschriftsmäßig Meldung zu machen. Ob Tedesco damit einverstanden war, dass er sich reumütig zeigte? Vielleicht nicht, vielleicht schwächte so etwas seine Chancen vor Gericht. Ach, scheiß auf Tedesco! Der hätte hier sein müssen, um ihn zu beraten, und er war nicht erschienen.

Carpenter gestattete sich ein Fünkchen Zuversicht, trotz allem. Ihm ging durch den Kopf, was Rhodes zu ihm gesagt hatte.

– Die Firma wird zu dir stehen …

»Beweisstück C«, verkündete O'Reilly. »Aussage von Kapitän Kovalcik.«

Was?

Ja, da erschien sie auf dem Visorschirm, mit einem steinernen Gesicht, eisigen Augen, eindeutig Kovalcik in Fleisch und Blut. Sie war also gar nicht draußen auf See in dem offenen Boot zugrunde gegangen. Da war sie, leibhaftig, und starrte grimmig aus dem Visor, und sie erzählte eine schauerliche Seemannsgeschichte von ihrem Überleben auf dem Meer, von Entbehrungen und Qualen, von der schließlichen Rettung durch ein Patrouillenschiff. Die Hälfte ihrer Mannschaft war gestorben. Und alles nur, weil der Kapitän des Samurai-Eisbergtrawlers keinen Finger rühren wollte, um ihnen zu helfen.

Carpenter selbst musste sich eingestehen, dass dies eine furchtbare Beschuldigung war. Aber Kovalcik sagte kein Wort über die Meuterei, deren Anführerin sie gewesen war, sie unterschlug ganz ungeniert die Tatsache, dass die Calamari Maru als Konsequenz ihrer eigenen Fehlentscheidung, weiter in der Nähe des riesigen eingefangenen Eisbergs zu bleiben, geflutet worden war; und sie erwähnte mit keiner Silbe Carpenters Beteuerungen, dass sein Schiff für die Übernahme einer so großen Zahl von Passagieren zu klein sei. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Bitte um Hilfe und Carpenters herzlose Weigerung, sie zu gewähren. Als Kovalcik zu Ende gesprochen hatte, starrte ihr schreckliches Gesicht ihn noch weiter aus dem Visor heraus an, als hätte es sich in die Beschichtung des Visors gebrannt.

»Captain Carpenter?«

Also sollte er endlich seinen großen Auftritt vor Gericht haben. Er stand auf und wiederholte die ganze trübselige Geschichte erneut: das Hilfeersuchen von Kovalciks Schiff, die offensichtlichen Zeichen der Meuterei, die unter Drogen gesetzten Offiziere, ihre Aufforderung, sie zu sich an Bord zu nehmen; dann wie das Schiff voll lief und die drei Dinghis auf dem Wasser tanzten. Seine eigenen Worte und sein Verhalten kamen ihm auf einmal hohl und fragwürdig vor. Ich hätte sie aufnehmen müssen, egal was dann passiert wäre, sagte er sich. Selbst wenn sie alle auf der Rückfahrt verhungert wären. Selbst wenn sie in anderthalb Tagen kein Screen mehr gehabt hätten und durch Haut und Fleisch bis auf die Knochen verbrannt worden wären. Oder aber, andere zu ihrer Rettung herbeirufen? Aber er zog die Sache durch und machte weiter, schilderte die Abläufe, legte erneut seine Argumente dar, seine Selbstvorwürfe, die Argumentation zwischen Effizienz und Möglichkeit, er äußerte sein Bedauern und seine Reue über seine möglicherweise getroffenen Fehlentscheidungen.

Und plötzlich hatte er keine Worte mehr und stand stumm vor dem Richter und der Protokollführerin.

Das Schweigen war dröhnend. Was würde jetzt geschehen? Das Urteil? Eine Strafe?

O'Reilly schlug mit seinem Hämmerchen auf den Tisch. Dann wandte er das Gesicht ab, als vertiefte er sich in einen anderen ihm vorliegenden Fall.

»Muss ich warten?«, fragte Carpenter.

»Die Verhandlung ist vertagt«, sagte die Gerichtsassistentin, nahm ein Aktenpaket auf, schien jegliches Interesse an ihm verloren zu haben, nicht dass sie überhaupt je dergleichen gehabt hätte.

Kein Mensch sagte etwas zu ihm, als er das Gebäude verließ.

Eine halbe Stunde später, als er im Dunsmuir, seiner Hotelabsteige, angelangt war, platzierte er einen Ruf an Tedesco unter der Samurai-Nummer, die er erhalten hatte. Er rechnete mit dem üblichen Ringeltanz, wie er bei Großunternehmen üblich ist, doch zu seiner Verblüffung kam Tedesco fast sofort auf den Schirm.

»Du warst nicht dort!«, sagte Carpenter. »Weshalb nicht, verdammt noch mal?«

»Das war nicht nötig. Ich habe das Protokoll erhalten.«

»Schon? Das war aber verdammt schnell. Was wirst du jetzt weiter unternehmen?«

»Unternehmen? Was sollte ich unternehmen? Du stehst wegen fahrlässiger Pflichtverletzung unter Anklage. Die Hafenbehörde hat dein Seepatent eingezogen. Höchstwahrscheinlich wird Kyocera jetzt gegen uns prozessieren, weil wir ihre Leute da draußen im Pazifik haben krepieren lassen. Und das könnte ganz schön teuer werden. Wir müssen aber abwarten und sehen, was kommt.«

»Und? Werde ich zurückgestuft?«, fragte Carpenter.

»Du? Nein, du wirst gefeuert.«

»Was? Gefeuert?« Carpenter kam es vor, als hätte man ihn angestochen, und ihm ginge die Luft aus. Er rang nach Luft. »Bei dem ersten Hearing sagtest du, dass die Firma hinter mir steht. Und jetzt bin ich gekündigt? So steht ihr also hinter mir?«

»Die Lage hat sich verändert, Carpenter. Da wussten wir noch nicht, dass es Überlebende gibt. Überlebende verändern die ganzen Umstände, verstehst du? Kyocera verlangt deinen Kopf auf 'nem Silbertablett, und wir werden ihnen den geben. Wenn es keiner überlebt hätte, dann hätten wir dich vielleicht weiter behalten, weil das Ganze bloß eine rein interne Angelegenheit geblieben wäre, die nur die Oakland-Hafenbehörde und Samurai betroffen hätte – dein Wort gegen das deiner Besatzung, eine Dienstrangsache, weiter nichts –, aber jetzt tauchen da plötzlich Leute auf, die in der Öffentlichkeit schwere gehässige Anschuldigungen erheben. Es gibt einen gewaltigen Stunk. Wie sollen wir dich bei sowas halten, Carpenter? Wir hätten das Ganze gern in aller Stille erledigt, und dann hättest du bei uns weitermachen können, aber jetzt geht das nicht mehr, nicht mehr, seit sich Überlebende gemeldet haben und aussagen, und damit kriegt die ganze Firma ein Scheiß-Image. Glaubst du im Ernst, wir könnten dich jetzt auf 'ne andere Position versetzen? Deine nächste Aufgabe ist, dass du dich um einen neuen Job kümmerst, Carpenter. Du hast dreißig Tage, und du hast verdammtes Glück, dass du die kriegst. Ein Terminationsberater wird dich über deine Rechte informieren. Alles klar, Carpenter? Hast du begriffen?«

»Damit hatte ich nicht gerechnet, dass …«

»Nein. Vermutlich nicht. Es tut mir leid, Carpenter.«

Betäubt, mit schwerem stockenden Atem stierte Carpenter den Visor an, noch lange, nachdem der erloschen war. In seinem Kopf wirbelte es. Nie zuvor hatte er sich dermaßen öde und verloren gefühlt. Auf einmal klaffte da mitten in seinem Planeten ein Loch, und er stürzte da hinein – und er fiel und fiel …

Nach und nach beruhigte er sich ein wenig.

Er saß eine Weile still da, atmete tief durch, versuchte an gar nichts zu denken. Dann begann er automatisch, einen Ruf an Nick Rhodes zu platzieren.

Aber nein.

Nein, nicht jetzt. Nick würde verständnisvoll sein, gewiss, aber er hatte doch bereits ziemlich deutlich gesagt, dass Carpenter sich das Ganze selber zuzuschreiben hätte. Und das wollte er gerade jetzt nicht noch einmal hören.

Mit einem Freund reden. Einem Freund, der nicht Nick Rhodes heißt.

Er dachte an Jolanda. Die nette, dicke, unkritische Schwabbel-Jolanda. Ruf sie an und geh mit ihr zum Essen aus, und danach gehst du mit zu ihr in ihr Haus, irgendwo in Berkeley, bleibst über die Nacht und fickst sie, bis ihr Hören und Sehen vergeht. Das kam ihm enorm gut vor, bis ihm einfiel, dass Jolanda ja droben in den L-5-Satelliten mit diesem israelischen Enron war.

Dann eben jemand anderes.

Es muss ja nicht unbedingt hier in der Bay sein. Jemand weit weg. Ja, dachte er, Geh! Hau ab! Weit weg von hier! Lauf! Mach 'nen kleinen Ausflug!

Ein Besuch bei Jeanne zum Beispiel. Ja, die liebe Jeanne Gabel drüben in Paris. Die war immer ein guter Kamerad gewesen, hatte immer ein sympathisches Ohr und eine freundliche Schulter für ihn gehabt.

Und sie hatte ihm ja überhaupt diese Stellung als Seekapitän verschafft. Sie würde ihn nicht zu hart hernehmen wegen des Mists, den er da gebaut hatte. Und weshalb sollte er in den dreißig Tagen, während derer er noch Anspruch auf die Privilegien eines Elfers hatte, die Firma nicht für ein Flugticket nach Paris und für ein paar anständige Dinners in den Restaurants an der Seine bluten lassen?

Er wählte die Sammelnummer von Samurai und verlangte eine Firmenverbindung mit Paris. Rasch rechnete er aus, wie spät es in Paris sein musste: bereits nach Mitternacht, aber das machte nichts. Es ging ihm schlecht, Jeanne würde das verstehen.

Das Dumme war nur, dass Jeanne nicht mehr für die Pariser Filiale arbeitete. In guter alter Samurai-Manier war sie nach Chicago versetzt worden, erklärte man ihm.

Er verlangte die Umlegung dorthin. Es dauerte nur einen Augenblick, sie zu finden.

»Gabel«, sagte eine Stimme am anderen Ende, und dann war sie auf dem Visor: ihr fröhliches, gutes, warmes, breites Gesicht, das massige Kinn, die dunklen ehrlichen Augen. »Ja, Mann! Wie geht's dem Seemann im Hafen?«

»Jeannie, ich steck in der Scheiße! Kann ich zu dir kommen und mit dir reden?«

»Was ist …? Wie denn …?« Sie streifte rasch ihre Überraschung ab. »Natürlich, Paul.«

»Ich schwing mich in die nächste Maschine nach Chicago, okay?«

»Sicher, klar, komm, so schnell du kannst. Was für dich am besten ist.«

Aber seine Firmenkreditkarte schien Flugtickets nicht mehr zu decken. Nach mehrfachem Versuch gab er auf und versuchte es mit einem Leihwagen. Das hatten sie offenbar noch nicht storniert, denn beim ersten Versuch erhielt er die Reservation. Die Fahrt nach Chicago würde bestimmt kein Vergnügen werden, aber wenn er draufdrückte, würde er es vielleicht in zwei, höchstens drei Tagen schaffen. Er rief Jeanne zurück und sagte, sie solle ihn Mitte der Woche erwarten. Sie blies ihm einen Kuss zu.

Der Wagen stellte sich vierzig Minuten später vor dem Dunsmuir ein. Carpenter wartete draußen mit seinem Koffer. »Wir fahren nach Osten«, befahl er dem Wagen. »Richtung Walnut Creek und dann weiter.« Er schaltete auf Vollautomatik, und als sie auf die Berge zufuhren, lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Es gab sowieso nichts zu sehen, außer dem schwarzen, unerbittlichen Regen.

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