Kapitel 1

Der gehört mir, sagte Juanito zu sich selbst. Der dort drüben. Genau der, bestimmt.

Er schaute angestrengt zu den frischen Dinkos hinüber, die mit dem Mittagsshuttle von der Erde angekommen waren. Der Mann, auf den er sich ansetzen wollte, war groß und breit, und er hatte überhaupt keine Augen, da war einfach nichts von der Stirn bis zum Nasenrücken, nur eine Andeutung von dunkelschattigen Gruben unter der glatten Haut des Schädels. Nicht einmal Augenbrauen, nur die Knochenwülste. Als hätte man ihm die Augen ausradiert, dachte Juanito. Aber wahrscheinlich hatte er überhaupt noch nie Augen besessen. Es sah nicht nach einer genetischen Retrofitsache aus, eher schon nach einer pränatalen Spleißung.

Er wusste, er musste rasch handeln. Die Konkurrenz war ziemlich stark. Hier im Warteraum hockten fünfzehn, zwanzig Kuriere dicht beisammen wie die Geier, und darunter ein paar der Topleute: Ricky, Lola, Kluge, Nataniel, Delilah.

Und sie sahen heute alle hungrig aus. Juanito konnte es sich nicht leisten, außen vor zu bleiben. Seit sechs Wochen hatte er nicht gearbeitet, es war höchste Zeit. Sein letzter Job war ein schnellschnatterndes ukrainisches Showdance-Geschöpf gewesen, das auf Commonplace und vielleicht zwei, drei weiteren Habitatwelten wegen Plutoniumgeschäften gesucht wurde. Juanito hatte die Type bis zum letzten Tropfen gemolken, aber jede Kuh ist irgendwann mal leer. Die Neulinge lernen, begreifen das System, sie assimilieren sich, verschmelzen, werden unsichtbar, und dann haben sie natürlich keinen Grund mehr, weiter zu bezahlen. Und dann musst du dir eben einen neuen Kunden suchen.

»Also dann«, sagte Juanito und sah die anderen herausfordernd an. »Der dort gehört mir, der verkorkste Typ da mit dem halben Gesicht. Sonst einer scharf auf den?«

Kluge sagte lachend: »Mann, der gehört ganz dir allein.«

»Ja«, sagte Delilah und schauderte ein bisschen dabei. »Der gehört ganz dir.« Es betrübte ihn ein wenig, dass auch sie zustimmte. Es hatte Juanito schon immer traurig gemacht, dass Delilah nicht über so viel Phantasie verfügte wie er selbst. »Jesus!«, sagte sie. »Ich wette, der macht 'ne Menge Schwierigkeiten.«

»Die Problemfälle zahlen sich am besten aus«, sagte Juanito. »Wenn ihr euch lieber mit Leichtgewichten abgeben wollt, mir ist es recht.« Er grinste breit und winkte ihnen zu. »Und wenn alle einverstanden sind, dann denke ich, ich zieh mal los und geh runter. Bis später dann, Leute!«

Er setzte sich nach unten auf der Wandung der Andockröhre der Shuttles in Bewegung. Von der silbrigen Kante des Andockmoduls und ebenso von der dicken Verbindungsröhre der Erdfähre reflektierte blendend das Sonnenlicht. Die Röhre steckte wie ein dicker Spieß in einem überzuckerten Krapfen in der Mitte des Moduls. Gegenüber wankten die soeben eingetroffenen Dinkos wabbelbeinig unter dem zehn Meter hohen Leuchtbild des El Supremo vorbei in das rote Fiberglaszelt, die Räucherkammer. Und wie immer machte ihnen die geringere Schwerkraft zu schaffen; hier an der Nabe betrug sie nur maximal 1/16 Ge. Und wahrscheinlich bereitete ihnen auch die Atmosphäre Beschwerden. Die Luft hier war rein, hatte einen ziemlich hohen Sauerstoffgehalt und war ohne Schadstoffbelastungen. Die Neuankömmlinge waren die übelriechende Giftsuppe gewöhnt, die man auf der Erde als ›Luft‹ bezeichnete, das Giftgas, das sie dort die ganze Zeit atmen, den Schwall abstruser, giftiger chemischer Schadstoffe, die einem die Lungen zerfraßen und die Knochen in Gelee verwandelten.

Juanito war immer neugierig auf die Neuen. Was hatte sie dazu veranlasst, sich ausgerechnet Valparaiso Nuevo zu wählen, von allen möglichen bewohnten Welten im Raum. Alle wollten sie von der Erde fortkommen, das war verständlich. Die Erde war ein Misthaufen. Aber es gab doch Satellitenwelten die Menge, auf die sich diese Leute flüchten konnten. Und auf jeder davon gab es gute, saubere Luft und ein erträgliches Klima zu finden. Wer sich also für Valparaiso Nuevo entschied, der musste dafür ganz besondere Gründe haben. Eigentlich waren es zwei Kategorien: solche, die sich verstecken wollten, und solche, die suchen wollten.

Im Grunde war der Ort hier nichts weiter als ein großer, durch den Raum ziehender Ort der Sicherheit, Ruhe und Ungestörtheit, ein Unterschlupf und Asyl. Wer Gründe hatte, für eine Weile ungestört zu bleiben, der kam nach Valparaiso Nuevo und erkaufte sich hier ein wenig Privatleben. Aber die Voraussetzung dabei war natürlich, dass jemand etwas getan hatte, das andere dazu veranlassen konnte, ihn nicht in Ruhe zu lassen. Und so kamen auch eine Menge Leute, die einen suchten, der nicht so gern gefunden werden wollte, nach Valparaiso. Von beiden Sorten gab es immer genug: Solche, die sich versteckten, solche, die sie suchten … Und El Supremo blickte auf sie alle mit seinem gütigen Auge. Und nicht nur El Supremo.

Die Neuankömmlinge drunten bemühten sich, zackig zu marschieren, als wäre alles normal. Nur ist es ziemlich schwer, wenn man den ganzen Körper verkrampft, als hätte man Angst davor, bei jedem Aufsetzen der Füße einen Meter in die Luft abzuheben. Juanito fand es belustigend, wie die Typen da entlanghampelten, schlurfend wie überfressene Schlammkriecher.

Schwerkraftprobleme kannte Juanito überhaupt nicht. Er hatte sein ganzes Leben hier draußen in den Habitaten, den Satellitenwelten, zugebracht, und er akzeptierte es als eine Selbstverständlichkeit, dass die Anziehung schwankte, je nachdem, wie weit man vom Zentrum entfernt war. Man nahm einfach automatisch die nötige Ausgleichsanpassung vor. Mehr war da nicht nötig.

Juanito hatte Mühe, sich einen Ort vorzustellen, an dem die Schwerkraft immer und überall gleichbleibend war. Er hatte nie einen Fuß auf die Erde oder einen der anderen natürlichen Planeten gesetzt, hatte auch gar keine Lust dazu und rechnete auch nicht damit, es je zu tun. Die Niederlassungen auf dem Mars und auf Ganymed waren reine wissenschaftliche Anlagen, Luna war verdammt hässlich, und was die Erde anging, also da musste jemand schon verrückt sein, wenn er auf die Erde wollte, und sei es nur zu Besuch. Der bloße Gedanke an die Erde konnte einen schon kotzübel machen.

Die Wache am Eingang zur Quarantänestation war ein Android mit einem platten Kunststoffgesicht. Der Name oder die Fabrikationsbezeichnung oder was immer es war, lautete Velcro Exxon, und Juanito hatte ihn schon früher an dieser Schleuse getroffen. Als er zu dem Androiden trat, streifte ihn dieser mit einem Blick und fragte: »So rasch wieder am Werk, Juanito?«

»Ein Mensch muss essen, oder?«

Der Android zuckte die Achseln. Höchstwahrscheinlich spielte das Essen bei ihm keine so vordringliche Rolle. »Hast du nicht damals diesen Plutonium-Dealer von Commonplace gehabt?«

Lächelnd fragte Juanito zurück: »Was für einen Plutonium-Dealer?«

»Geht klar«, sagte der Android. »Ich habe dich verstanden.«

Er hielt ihm die wachshäutige Hand hin. In Valparaiso Nuevo mussten sogar die Maschinen geschmiert werden. Juanito legte ihm einen Plastikchip, fünfzig Callaghanos, auf die Hand. Die normale Gebühr für unerlaubtes Betreten des Zollbereichtanks betrug zwar nur fünfunddreißig Callies, aber Juanito war Anhänger der Wohlstandsverteilungstheorie, besonders wenn es sich um Staatsbedienstete handelte. Schließlich brauchten sie ihn ja nicht in den Sperrbereich zu lassen. Und an manchen Tagen warteten mehr Kuriere, als dann Dinko-Passagiere ankamen, und dann mussten die Wachen entscheiden, wer etwas zugeteilt bekam. Die Wachen überzubezahlen, das war einfach kluge Investitionsstrategie. »Herzlichen Dank«, sagte der Android. »Ganz herzlichen Dank!« Er tippte den Scanner auf Override. Juanito trat durch den Sicherheitsschirm in den Zolltank und sah sich dort nach seinem Objekt um.


Die neuen Dinkos wurden nun in die Fumigationskammer getrieben. Sie waren darüber ärgerlich – das waren sie immer –, doch die Wachen drängten sie unerbittlich weiter zwischen den dichten rosa, grünen und gelben Explosionsstößen der in der Decke angebrachten Desinfektionsbrausen hindurch. Es durfte niemand den Quarantänebereich der Immigrationssektion verlassen, der nicht zuvor durch diese Kammer geschleust worden war. El Supremo litt an fast paranoischer Furcht vor einem Eindringen fremder Mikroorganismen in den geschlossenen ökologischen Kreislauf von Valparaiso Nuevo. El Supremo war in mancherlei Hinsicht paranoid. Es wird eben keiner einziger und absoluter Herrscher einer eigenen kleinen Welt in einem Satelliten – und bleibt es siebenunddreißig Jahre lang –, ohne eine beachtliche Beimischung von Wahnsinn in seinem Charakter zu haben.

Juanito presste sich an die breite gekrümmte Glaswand und spähte angestrengt in die Dämpfe der Dekontaminationsduschen. Auch die anderen Kuriere kamen jetzt heran. Juanito sah zu, wie sie sich an die Arbeit machten, sich potentielle Kunden aufs Korn nahmen, sie in der Herde aussonderten. Die meisten Dinkos schlossen einen Vertrag, sobald man ihnen die Bedingungen erklärt hatte; aber wie üblich, es gab auch jetzt ein paar, die jede Hilfe ablehnten und darauf bestanden, sich alleine durchzuschlagen. Knauser, dachte Juanito verächtlich. Blöde Arschlöcher, dumme Nieten. Aber die würden es bald merken. Es war einfach nicht möglich, in Valparaiso Nuevo ohne die Mithilfe eines Kuriers etwas zu erledigen, egal für wie schlau sich einer hielt. Valparaiso war schließlich Freihandelszone. Und wenn jemand die Spielregeln kannte, blieb er hier auf Dauer so ziemlich von allen Unannehmlichkeiten verschont. Anderenfalls – eben nicht.

Zeit, den Kontakt aufzunehmen, dachte Juanito.

Es war nicht weiter schwierig, den Blinden herauszufinden. Er war sehr viel größer als die anderen Dinkos. Er war praktisch ein Riese. Ein breiter, langbeiniger Mann, um die dreißig, kräftige Knochen, mächtige Muskeln. In dem scharfen grellen Licht wirkte die augenlose Stirn wie ein Reflektor. Die geringere Schwerkraft schien ihm nicht viel auszumachen. Ebenso nicht seine Blindheit. Er bewegte sich mit geschmeidiger Sicherheit durch die Zollschleuse, es wirkte fast graziös. Wie alle Neuankömmlinge wies auch er die grobe, fleckige Haut auf, gerötet und schuppig, zu der die Erdlinge neigen, weil sie die ganze Zeit in diesem mörderischen, ausdörrenden Sonnenlicht auf ihrem Planeten braten.

Juanito schlenderte zu dem Mann hinüber und sprach ihn an: »Ich werde dein Kurier sein, Sir. Juanito Holt.« Er reichte dem Blinden knapp bis in Ellbogenhöhe.

»Kurier?«

»Hilfsservice für Neue Gäste. Erleichterung bei den Einreiseformalitäten. Zollabwicklung, Geldumtausch, Hotelunterbringung, Daueraufenthaltserlaubnis, falls du das wünschst. Und Spezialservice, nach Absprache.«

Juanito schaute erwartungsvoll in das ausdruckslose Gesicht hinauf. Der Blinde wandte ihm direkt und stumpf das Gesicht zu. Wenn der Dinko Augen gehabt hätte, man hätte es als festen direkten Augenkontakt bezeichnen müssen. Das war gespenstisch. Noch unheimlicher aber war, dass Juanito das Gefühl hatte, der Augenlose könne ihn durchaus klar erkennen. Einen kurzen Augenblick lang fragte sich Juanito, wer bei diesem geschäftlichen Arrangement wen unter Kontrolle haben werde.

»Was sind das für Spezialdienste?«

»Alles, was du sonst noch wünschen könntest«, sagte Juanito.

»Alles?«

»Alles. Hier ist Valparaiso Nuevo, Sir.«

»Hmmm. Wie viel verlangst du?«

»Zweitausend Callaghanos Grundlohn pro Woche. Sonderleistungen entsprechend extra abgerechnet.«

»Und wie viel ist das in Capbloc-Dollars, deine Pauschale?«

Juanito sagte es dem Mann.

»Das ist nicht zu arg«, sagte der Blinde.

»Zwei Wochen Minimum, im Voraus zu entrichten.«

»Hmmm«, machte der Mann wieder. Und wieder kam dieses intensive augenlose Starren, das richtig durch ihn hindurchzudringen schien. Der Mann sagte eine Weile nichts. Juanito horchte auf seinen Atem. Der ging hastig und flach, aber so atmeten alle von Draußen. Als bemühten sie sich, die Nasenflügel zusammenzupressen, damit die in der Luft schwebenden Giftstoffe ihnen nicht in die Lungen dringen könnten. Aber in Valparaiso konnte man die Luft getrost und ungefährdet atmen.

»Wie alt bist du?«, fragte der blinde Mann plötzlich.

»Siebzehn.« Juanito platzte damit heraus, weil er dermaßen überrascht war.

»Und du bist gut, ja?«

»Ich bin erstklassig. Ich bin hier geboren. Ich kenne jeden.«

»Ich werde den Besten brauchen. Akzeptierst du einen Vertrag per Elektronikhandschlag?«

»Klar doch.« Es lief zu glatt, fand Juanito. Er überlegte kurz, ob er nicht drei Kilocallies pro Woche hätte verlangen sollen, aber jetzt war es dafür zu spät. Er zog sein Flexterminal aus der Tunikatasche und schob die Finger hinein. »Unity Callaghan Bank of Valparaiso Nuevo. Zugangscode 22-44-66. Und du kannst gleich auch einen persönlichen Sperrcode eingeben, weil es die einzige Bank hier ist. Konto Nummer 1133. Das ist meine.«

Der blinde Mann zog sein eigenes Terminal über und tippte geschickt die Zahlen auf dem Armband ein. Dann ergriff er fest Juanitos Hand, bis die Sensoren Kontakt hatten, und nahm die Überweisung vor. Juanito holte sich per Taste die Bestätigung: Ein hellgrün leuchtendes ›+Cl 4000‹ blinkte im Display in seiner Handfläche. Auftraggeber war Victor Farkas, und der Transfer erfolgte von einem Konto bei einer ›Royal Amalgamated Bank of Liechtenstein‹.

Juanito verzog die Stirn. »Liechtenstein. Ist das ein Land auf der Erde?«

»Doch. Ja. Ein sehr kleines. Zwischen der Schweiz und Österreich.«

»Schweiz, davon habe ich schon mal gehört. Du lebst auf Liechtenstein?«

»Nein«, sagte der Mann Farkas. »Meine Bank ist dort. In Liechtenstein würden wir auf der Erde übrigens sagen. Außer bei Inseln. Aber Liechtenstein ist keine Insel. So, aber was meinst du, könnten wir jetzt endlich von hier rauskommen?«

»Nur noch ein Transfer«, sagte Juanito. »Pumpe mir deine Einreise-Software rüber. Gepäckscheine, Pass, Visa. Damit wird es für uns beide einfacher, und wir kommen schneller von hier weg.«

»Und ich würde es dir ganz leicht machen, mit meinem Gepäck zu verschwinden, nicht? Und ich würde dich nie wiederfinden können, stimmt's?«

»Denkst du wirklich, ich würde sowas tun?«

»Es wäre für dich einträglicher, wenn du es nicht tun würdest.«

»Du musst deinem Kurier Vertrauen entgegenbringen, Mister Farkas! Wenn du deinem Kurier nicht vertrauen kannst, dann darfst du keinem in Valparaiso Nuevo trauen.«

»Das weiß ich«, sagte Farkas.


Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis sie Farkas' Gepäck und ihn selbst durch den Zoll gebracht hatten, und die unterschiedlichen Bestechungen beliefen sich auf etwa zweihundert Callies, so der gewöhnliche Durchschnitt. Von den Androiden, die das Gepäck aushändigten, bis zu der kessen Person am Geldwechselschalter – alle mussten geschmiert werden. Juanito hatte gehört, dass es auf den meisten übrigen bewohnten Welten nicht so funktionierte; aber Juanito wusste auch, dass Valparaiso Nuevo anders war als die Welten sonst. An einem Ort, dessen Haupteinnahmen darin bestanden, Flüchtlingen Schutz zu bieten, musste die Ökonomie zwangsläufig auf dem Umsatz von Bestechungsgeldern basieren.

Farkas allerdings wirkte überhaupt nicht wie die üblichen Flüchtigen. Während sie auf das Gepäck warteten, nahm Juanito sich den Software-Print vor, den der Blinde ihm herübergepumpt hatte, und sah, dass Farkas ein auf sechs Wochen beschränktes Besuchsvisum hatte. Als Arbeitgeber war eine Firma namens Kyocera-Merck, Ltd. angegeben. Also war der Mann ein Sucher, ein Fahnder, kein Flüchtling, und gekommen, um offenbar hier jemanden aufzuspüren, den eine der wichtigsten Megafirmen der Erde gefunden wissen wollte. Jäger, Gejagter – für einen Kurier waren beide Sorten ein einträgliches potentielles Geschäft. Jemand aufspüren, das war zwar normalerweise nicht Juanitos Ding, aber er würde sich anpassen, dachte er.

Die zweite Sache, und die störte ihn mehr, war, dass Farkas sich nicht wie ein Blinder verhielt. Er hatte keine sichtbaren Augen, schön, aber das schien ihn nicht daran zu hindern, seine Umgebung wahrzunehmen. Als sie aus der Zollschleuse traten, wandte er sich um und deutete auf das riesenhafte Porträt von El Supremo. »Wer ist das? Euer Präsident?«

»Der offizielle Titel lautet: Der Beschützer, Der Generalissimo, El Supremo, Don Eduardo Callaghan.« Und dann dämmerte es Juanito, und er blinzelte verwirrt und fragte: »Vergib mir, Mister Farkas, aber – du kannst das Bild sehen?«

»Gewissermaßen, ja.«

»Da komm ich nicht mit. Kannst du sehen, oder kannst du nicht?«

»Ja und nein.«

»Allerbesten Dank, Mister Farkas.«

»Wir können uns später ausführlicher darüber unterhalten«, sagte Farkas.


Seine Dinko-Neuzugänge steckte Juanito immer in ein bestimmtes Hotel, das ›San Bernardito‹, vier Kilometer von der Zentralnabe entfernt im Außenbezirk Cajamarca. »Hier lang«, sagte er zu Farkas. »Wir müssen zum Lift im C-Arm.«

Farkas schien ihm mühelos folgen zu können. Ab und zu sah Juanito sich um, aber der große Mann war stets drei, vier Schritte hinter ihm und folgte ihm unbeirrt durch den Gang. Er hat keine Augen, dachte Juanito, aber er kann irgendwie sehen. Bestimmt kann der irgendwie sehen.

Die Vierkilometerfahrt im Transporter des C-Arms an die Peripherie ist wirklich von Anfang bis zum Ende sensationell. Der Lift war eine gläserne Kabine, die durch eine Glasröhre an der Außenwandung der Speiche dahinglitt, und man hatte dabei einen atemberaubenden Blick auf den ganzen raffinierten Maschineriekomplex, aus dem die künstliche Welt Valparaiso Nuevo in ihrer Umlaufbahn um die Erde bestand. Die sieben gewaltigen Speichen, die von der Nabe, vom Mittelpunkt, zum entfernten Rand des Rades führten … und in jedem Speichenarm die sieben Glas-Aluminiumkugeln, in denen Wohnzonen, Geschäftssektoren, Agrarzonen, Erholungs-Freizeitanlagen und die geschützten Waldregionen untergebracht waren. Während der Fahrt, der Aufzug sank, und dabei stieg die Schwerkraft in den Randsiedlungen bis auf Ge-1, sah man auf den benachbarten Speichenarmen den scharfen Widerschein der Sonne, und ab und zu, hundertfünfzigtausend Kilometer entfernt, flüchtig den gewaltigen Wulstwanst der Erde, der den Himmel ausfüllte; und man sah auf den anderen nahen Umlaufbahnen die zahlreichen anderen bewohnten Künstlichen Welten. »Wie ein ganzer Fischschwarm von Glitzerquallen, die in einem tiefschwarzen Meer tanzen« – das sagten sie alle, die von der Erde hier heraufkamen. Juanito verstand nicht, wie ein Fisch aus Gallert sein sollte oder wieso ein Raumhabitat wie ein ›Fisch‹ aussehen sollte. Aber diese Leute sagten solchen Quatsch immer wieder.

Farkas verlor kein Wort über ›Quallenfische‹. Aber er schien irgendwie dennoch die Aussicht in sich aufzunehmen. Konzentriert stand er ganz dicht an der gläsernen Wandung des Aufzugs, klammerte sich an die Haltestange und sprach kein Wort. Hin und wieder gab er einen leisen Zischlaut von sich, wenn draußen etwas besonders Beeindruckendes vorüberzog. Juanito betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Was konnte der Mann denn sehen? In den verschatteten Kuhlen, die er statt Augen besaß, regte sich anscheinend überhaupt nichts. Und dennoch sah er auf irgendeine Weise durch diesen breiten, schimmernden leeren Hautstreifen über seiner Nase.

Es war verdammt beunruhigend. Richtig unheimlich.

Im San Bernardito gaben sie Farkas ein Außenzimmer mit Blick auf die Sterne. Juanito schmierte das Hotelpersonal entsprechend, damit seine Klienten angemessen gut behandelt würden. Das hatte ihm schon sein Vater beigebracht, als er noch ein ganz kleines Kerlchen gewesen war, nicht einmal alt genug, eine Schwarzschild-Irregularität von einem letzten Trumpf in der Hand zu unterscheiden. »Bezahl für das, was du haben willst und brauchen wirst«, hatte sein Vater ihm immer wieder gesagt. »Kauf es, dann hast du wenigstens eine Chance, wenn du was brauchst.« Sein Vater war zur Zeit des Empire in Mittelamerika ein Revolutionsführer gewesen. Und wenn der Umsturz erfolgreich verlaufen wäre, wäre er Premierminister des Landes geworden. Aber es war anders gekommen.

»Wünschst du, dass ich dir beim Auspacken helfe?«, fragte Juanito.

»Ich komme schon zurecht.«

»Klar«, erwiderte Juanito.

Er trat ans Fenster und blickte hinaus in den Himmel. Wie alle anderen Satellitenwelten auch war Valparaiso Nuevo durch eine drei Meter dicke Isolationsverschalung, die mit Lunarschotter gefüllt war, gegen schädliche kosmische Strahlung und streunende Meteoriten abgeschirmt. An der Außenwandung gab es v-förmige verspiegelte Öffnungen, die das Sonnenlicht durchließen, nicht jedoch die harte Strahlung. Das Hotel hatte es sich angelegen sein lassen, die Räume so anzulegen, dass man von jedem Zimmer auf dieser Seite aus durch die V-Schlitze einen Weltraumblick bekam. Inzwischen hatte sich die ganze Stadt Cajamara in Richtung Weltraumdunkel gedreht, und die Sterne waren scharf blitzend sichtbar.

Als Juanito sich vom Aussichtsfenster abwandte, sah er, dass Farkas bereits selbst seine Kleider säuberlich in den Schrank gehängt hatte und sich nun geschickt und exakt mit einem kleinen Handlaser rasierte.

»Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«, sagte Juanito.

»Du willst wissen, wie ich sehen kann.«

»Ja. Es ist ziemlich erstaunlich. Muss ich sagen.«

»Ich kann nicht sehen. Nicht richtig in eurem Sinn. Und ich bin wirklich so blind, wie du denkst.«

»Aber wie kommt es dann …?«

»Man bezeichnet es als Blindsichtigkeit«, sagte Farkas. »Propriozeptives Sehvermögen.«

»Wie?«

Farkas lachte leise. »Die Welt ist voll von Daten, die nicht in Form von reflektiertem Licht auftreten, wie deine Augen es sehen. In diesem Zimmer hier vibrieren Millionen von Impulsen neben denen, die zufällig im visuellen Bereich des elektromagnetischen Spektrums liegen. Luft streicht um Gegenstände und wird davon verändert. Aber nicht nur die Luftbewegungen, auch Dinge, Gegenstände besitzen eine eigene Masse, haben eine Wärmestrahlung, sie haben – aber das Wort wird dir nichts sagen – Gestaltgewicht. Eine Qualität, die mit der Wechselwirkung von Masse und Form zu tun hat. Sagt dir das was? Nein? Das dachte ich mir. Aber mir bedeutet es etwas. Und für zweidimensionales Sehen von Bildern benutze ich eine anders geartete Technik. Schau, die Welt ist voll von Informationen, die man nutzen kann. Über das mit den Augen Sichtbare hinaus, wenn man das will. Und ich will es.«

»Du benutzt irgendeinen Apparat, um die Information aufzufangen?«, fragte Juanito.

Farkas tippte sich gegen die Stirn. »Hier drin. Ich bin damit geboren.«

»Ein anderes Sinnesorgan, statt der Augen?«

»Ja. Das kommt der Sache recht nahe.«

»Aber was siehst du dann wirklich? Wie sehen Gegenstände für dich aus?«

»Wie sehen sie für dich aus?«, fragte Farkas. »Wie sieht beispielsweise ein Stuhl aus?«

»Also, er hat vier Beine – und eine Rückenlehne …«

»Und wie sieht ein Bein aus?«

»Also, es ist viel länger als dick.«

»Genau.« Farkas kniete sich hin und strich mit den Händen über die schwarzen Röhrenbeine des hässlichen kleinen Sitzmöbels neben dem Bett. »Ich betaste den Stuhl, ich fühle die Form der Beine. Aber ich sehe keine beinförmige Gestalt.«

»Was denn dann?«

»Silberkugeln, die in weiten Kurven verlaufen. Die Rückenlehne des Stuhls hat Gelenke und lässt sich zusammenklappen. Das Bett ist eine helle quecksilbrige Pfütze, aus der lange grüne Stacheln ragen. Du selbst bestehst für mich aus sechs blauen übereinandergelagerten Kugeln, die durch einen dicken orangeroten Schlauch verbunden sind. Und so weiter.«

»Blau?«, murmelte Juanito. »Orange? Wie kannst du Farben bezeichnen?«

»Ganz genauso wie du. Ich bezeichne etwas als blau, etwas anderes als orange. Ich habe keine Ahnung, ob sie auch nur entfernt dem entsprechen, was für dich blau oder orange ist, aber was macht das? Mein Blau bleibt für mich blau. Es unterscheidet sich von der Farbe, die ich als rot empfinde, und von meinem Grün. Orange bleibt für mich konstant mein Orange. Es ist eine Frage der Bezugssysteme. Kannst du mir folgen?«

»Nein«, gestand Juanito. »Wie ist es überhaupt möglich, dass man sich damit zurechtfindet und irgendwas begreift? Was du siehst, hat doch überhaupt nichts mit den wirklichen Farben und Formen oder der Anordnung von irgendwas zu tun.«

Farkas schüttelte den Kopf. »Falsch, Juanito. Für mich ist das, was ich wahrnehme, eben einfach die Realität, die echte Wirklichkeit und Gestalt und Farbenzuordnung. Ich habe nie etwas anderes gekannt. Und wenn man mir jetzt per Retrofitting, einem neuen Verfahren, das, wie man mir sagt, weniger als fünfzig Prozent Erfolgschancen hat und außerdem scheußlich riskant ist, normale Augen geben könnte, würde es mir sehr schwerfallen, wenn ich versuchte, mich in eurer Welt zurechtzufinden. Ich würde Jahre brauchen. Oder es vielleicht nie lernen. Aber ich komme in meiner Welt ganz gut zurecht. Ich verstehe, wenn ich Dinge berühre, dass das, was ich in meiner Blindsicht ›sehe‹, nicht die tatsächliche Form ist. Aber ich sehe festgelegte Äquivalente. Verstehst du das? Für mich sieht also ein Stuhl immer so aus, wie ich mir einen Stuhl vorstelle, obwohl ich weiß, dass Stühle ganz und gar nicht so geformt sind. Wenn du die Dinge so sehen könntest, wie ich sie sehe, würde dir das vorkommen, als stammten sie alle aus einer anderen Dimension. Und es ist ja auch wirklich aus einer anderen Dimension. Das Informationsmaterial, auf das ich mich verlasse, ist anders als das, was du benutzt, weiter nichts. Aber auf meine Art kann ich ›sehen‹. Ich nehme Dinge wahr und kann sie zueinander in Beziehung setzen. Ich erfasse räumliche Befindlichkeiten, genau wie ihr. Verstehst du, Juanito?«

Juanito überlegte. Es klang so absurd. Die Welt zu sehen wie in den Zerrspiegeln einer Juxbude … blasige Kleckse, Kugeln, orangefarbene Kabelstränge und glitzernde quecksilberne Tümpel. Unheimlich, das alles, ja richtig unheimlich. Nach einer kurzen Weile sagte er: »Und du bist so geboren?«

»Richtig.«

»Eine genetische Panne?«

»Nein, keine Panne«, sagte Farkas leise. »Es war ein Experiment. Ein Super-Genchirurg, der mich im Bauch meiner Mutter bearbeitet hat.«

»Aha«, sagte Juanito. »Weißt du, eigentlich habe ich mir das gleich gedacht, als ich dich aus dem Shuttle kommen sah. Das muss irgendwie von einer Genspleißung stammen, habe ich mir gedacht. Aber wieso …« Juanito versagte die Stimme. »Ist es zu schwer für dich, darüber zu reden?«

»Nein, nicht sehr.«

»Wieso haben deine Eltern erlauben können …?«

»Sie konnten nicht anders, Juanito.«

»Aber – ist das nicht gegen das Gesetz. Genspleißung ohne Einwilligung?«

»Aber sicher«, erwiderte Farkas. »Und?«

»Aber wer macht denn so etwas mit …?«

»Es war im Freistaat Kasachstan, und natürlich hast du nie etwas von dem gehört. Eines der Länder, die aus der ehemaligen Sowjetunion entstanden, von der du wahrscheinlich auch noch nie gehört hast. Nach dem Ersten Zusammenbruch, vor hundert, hundertfünfzig Jahren. Mein Vater war ungarischer Konsul in Taschkent. Während des Zweiten Zusammenbruchs, wie sie den Restaurationskrieg nannten, wurde er getötet. Und meine Mutter, die damals mit mir schwanger war, durfte sich als Freiwillige für die Experimente in Pränataler Genchirurgie zur Verfügung stellen, die damals unter chinesischer Leitung in der Stadt durchgeführt wurden. In diesen Jahren wurden beachtliche Fortschritte erzielt. Sie versuchten damals, neue und nützliche menschliche Wesen für den Dienst an der Republik zu züchten. Ich war das Ergebnis eines der Experimente, in denen es um die Ausdehnung des menschlichen Wahrnehmungsbereichs ging. Eigentlich hätte ich das ganz normale Sehvermögen haben sollen, und dazu noch die Blindsichtigkeit, aber es klappte eben nicht so ganz.«

»Du nimmst das Ganze ziemlich gelassen«, sagte Juanito.

»Was würde es nützen, wenn ich darüber zornig wäre?«

»Das hat mein Vater auch immer zu mir gesagt«, bemerkte Juanito. »›Werde nicht wütend‹, sagte er, ›sieh zu, wie du quitt wirst.‹ Er war in der Politik, im Central American Empire. Als die Revolution fehlschlug, ging er hierher ins Asyl.«

»Wie der Chirurg, der bei mir die Pränataleingriffe durchgeführt hat«, sagte Farkas. »Das war vor fünfzehn Jahren. Er lebt noch immer hier. Ich möchte ihn ausfindig machen.«

»Ich wette, dass du das willst«, sagte Juanito. Denn nun war alles für ihn klar.

Загрузка...