Kapitel 6

Die beiden Mädchen hatten sie zur Toilette gebracht und waren, ohne irgend etwas dabei zu finden, dageblieben, als sie sie benutzt hatte. Eine Blonde und eine Brünette, beide nicht besonders gepflegt, beide mit dem Befehl, sich der Neuen gegenüber freundlich zu verhalten. Sie trugen Schuhe mit weichen Sohlen, die Hemden hingen ihnen locker über die Jeans, und zweimal waren sie mühelos mit ihr fertig geworden, als sie auf sie losgegangen war, und als sie sie mit Flüchen überhäuft hatte, hatten sie Charlie mit der distanzierten Freundlichkeit der Gehörlosen angelächelt.

»Ich bin Rachel«, hatte die Brünette ihr während eines kurzen Waffenstillstands atemlos anvertraut. »Und das hier ist Rose. Rachel - Rose, kapiert? Wir sind die beiden Rs.«

Rachel war die Hübsche. Sie hatte den Tonfall der Nordengländer und fröhliche Augen; und Rachels Rückseite hatte Yanuka an der Grenze anhalten lassen. Rose war groß und drahtig, hatte krusseliges helles Haar und die gute körperliche Verfassung einer Leistungssportlerin, doch wenn sie die Hände aufmachte, saßen ihre Handflächen wie Äxte auf den dünnen Gelenken.

»Es passiert dir nichts, nur keine Angst«, versicherte Rose ihr mit einem spröden Akzent, der auf Südafrika hindeutete. Von der Toilette brachten sie sie in ein Schlafzimmer im Erdgeschoß und gaben ihr Kamm und Bürste und ein Glas Schlankheitstee ohne Milch, und sie saß auf dem Bett, trank und fluchte in rasendem Zorn, während sie versuchte, wieder richtig zu atmen. »›MITTELLOSE SCHAUSPIELERIN ENTFÜHRT‹ «, brummte sie. »Womit soll man mich freikaufen, girls? Mit meinem überzogenen Bankkonto?« Doch sie lächelten sie nur um so liebevoller an, standen mit hängenden Armen links und rechts neben ihr herum und warteten darauf, sie die große Treppe hinaufzubringen. Als sie den ersten Treppenabsatz erreicht hatten, ging sie wieder auf sie los, diesmal mit der geballten Faust, einem weit ausholenden wütenden Schwung des ganzen Arms, nur um zu erleben, dass sie sanft aufs Kreuz gelegt wurde und zum Treppenhaus-Oberlicht aus farbigem Glas hinaufschaute, in dem das Mondlicht sich wie in einem Prisma brach, so dass ein Mosaik aus blassen Gold- und Rosatönen entstand. »Ich wollte euch nur die Nase einschlagen«, erklärte sie Rachel, doch Rachel sah sie verständnislos strahlend an.

Das Haus war alt und roch nach Katze und ihrer Scheiß-Mutter. Es war mit schlechten griechischen Möbeln im Empire-Stil vollgestopft und mit verblassten Samtportieren und Messingleuchtern zugehängt. Aber auch wenn es so sauber gewesen wäre wie ein Schweizer Krankenhaus oder voller Pfützen wie ein Schiffsdeck, es wäre nur ein anderer Wahnsinn gewesen - weder besser noch schlechter. Auf dem zweiten Treppenabsatz erinnerte ein Blumenständer sie noch einmal an ihre Mutter; sie sah sich als kleines Kind in einer Spielhose aus Cord neben ihr im Wintergarten sitzen, der mit Schuppentannen überladen war, und Erbsen palen. Trotzdem konnte sie sich ums Verrecken nicht daran erinnern, zu der Zeit oder später ein Haus mit einem Wintergarten gehabt zu haben, es sei denn, es war das erste, das sie überhaupt gehabt hatten, in Branksome bei Bournemouth, als Charlie drei Jahre alt gewesen war. Sie kamen zu einer Doppeltür. Rachel stieß sie auf und trat beiseite: ein höhlenartiges Zimmer im Oberstock wurde für sie geöffnet, in dessen Mitte zwei Gestalten an einem Tisch saßen, die eine groß und breitschultrig, die andere gebeugt und sehr dünn, beide in verschwommene Braun- und Grautöne gekleidet und aus dieser Entfernung Phantome. Auf dem Tisch sah sie ein Durcheinander von Papieren, die durch einen von der Mitte der Zimmerdecke darauf gerichteten Strahler eine unverhältnismäßig große Bedeutung bekamen und schon aus einiger Entfernung wie ihre Zeitungsausschnitte aussahen. Rose und Rachel waren hinter ihr zurückgeblieben, so als seien sie unwürdig. Rachel versetzte ihr einen kleinen Schubs in den Rücken und sagte: »Geh nur weiter!«, und so überraschte Charlie sich dabei, wie sie die letzten sechs Meter allein zurücklegte und sich wie eine hässliche Spielzeugmaus vorkam, die man aufgezogen hatte und die jetzt von allein weiterlief. Du musst jetzt einen Anfall kriegen, sagte sie sich. Halt den Bauch mit beiden Händen, tu so, als ob du ‘ne Blinddarmentzündung hättest. Schrei! Ihr Eintreten war für die beiden Männer wie das Stichwort, gleichzeitig aufzuspringen. Der Schmächtige blieb am Tisch stehen, doch der Große kam selbstbewusst auf sie zu, die rechte Hand hielt er ihr wie eine Krebsschere entgegengestreckt, packte die ihre und schüttelte sie, ehe sie ihn daran hindern konnte.

»Charlie, wie wir uns freuen, Sie endlich heil in unserer Mitte zu haben!« trompetete Kurtz einen kurzen Wortschwall, als beglückwünschte er sie und als hätte sie Feuer und Hochwasser riskiert, um zu ihnen zu gelangen. »Charlie, mein Name« - er hatte ihre Hand immer noch kraftvoll umfasst, und die Berührung ihrer beider Haut war von einer ganz anderen Intimität, als sie erwartet hatte - »mein Name ist Marty, ich hab’ leider keinen besseren, nachdem Gott mich gemacht hatte, lagen noch ein paar Reste herum, daraufhin hat Er es sich überlegt und auch noch Mike hier gemacht. Ich darf also vorstellen: Mike. Mr. Richthoven da drüben, um nochmals die fremde Flagge zu benutzen, unter der er gesegelt ist - Joseph, wie Sie ihn nennen - nun, Sie haben ihn ja ohnehin selbst getauft, nicht wahr?«

Er musste das Zimmer betreten haben, ohne dass sie es bemerkt hatte. Als sie sich umsah, war er gerade dabei, auf einem etwas abseits von allen anderen aufgestellten Klapptisch ein paar Papiere zu ordnen. Dieser Tisch war noch mit einer Extra-Leselampe ausgestattet, deren kerzenschimmerähnlicher Schein jetzt, wo er sich darüber beugte, auf seine Züge fiel.

»Jetzt könnte ich ihn Scheißkerl taufen«, sagte sie. Sie dachte daran, auf ihn loszugehen wie vorhin auf Rachel, drei schnelle Schritte und eine Ohrfeige, bevor sie von ihnen daran gehindert würde, doch sie wusste, dass sie es nie schaffen würde, und so gab sie sich damit zufrieden, ihn statt dessen mit einem Schwall von Flüchen zu überhäufen, den Joseph mit einem Ausdruck über sichergehen ließ, als erinnerte er sich ganz dunkel an etwas. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt einen leichten braunen Pullover; das seidene Bandleader-Hemd und die kronenkorkengroßen goldenen Manschettenknöpfe waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

»Ich kann dir nur raten, abzuwarten und dir erst dann ein Urteil zu bilden, wenn du dir angehört hast, was diese beiden Männer dir zu sagen haben«, sagte er, ohne den Kopf zu heben und sie anzublicken, während er weiterhin mit dem Ordnen seiner Papiere beschäftigt war. »Du bist hier in guter Gesellschaft. In besserer, als du es gewohnt bist, würde ich sagen. Du hast viel zu lernen, und - wenn du Glück hast - viel zu tun. Spar dir also deine Energie auf«, riet er ihr in einem Ton, als führte er sich selbst wie abwesend eine Aktennotiz zu Gemüte. Und fuhr fort, sich mit seinen Unterlagen zu beschäftigen.

Er macht sich nichts aus mir, dachte sie bitter. Er hat seine Bürde abgesetzt, und diese Bürde war ich. Die beiden Männer am Tisch standen immer noch und warteten offenbar darauf, dass sie sich setzte, was an sich schon ein Wahnsinn war. Wahnsinn, sich einem Mädchen gegenüber höflich zu verhalten, das man gerade eben entführt hatte, Wahnsinn, sie darüber belehren zu wollen, was gut ist, Wahnsinn, sich zu Verhandlungen mit seinen Entführern hinzusetzen, nachdem man eine schöne Tasse Tee getrunken und sich ein wenig zurechtgemacht hatte. Trotzdem setzte sie sich. Kurtz und Litvak ebenfalls. »Wer hat die Karten?« platzte sie witzig heraus und wischte sich mit den Knöcheln eine verlorene Träne ab. Sie sah eine abgenutzte braune Aktentasche zwischen den beiden auf dem Boden stehen, die jedoch nicht weit genug offen stand, um hineinblicken zu können. Ja, bei den Papieren auf dem Tisch handelte es sich in der Tat um ihre Zeitungsausschnitte, und obwohl Mike sie bereits in einen Hefter wegpackte, hatte sie keinerlei Schwierigkeit, sie als Ausschnitte über sich und ihre Karriere zu erkennen.

»Und ihr habt die Richtige, da seid ihr ganz sicher, oder?« sagte sie entschlossen und wandte sich dabei an Litvak in der irrtümlichen Annahme, da er so spindeldürr sei, müsse er auch leichter zu beeindrucken sein. Im Grunde war es ihr jedoch gleichgültig, an wen sie sich wandte, solange es ihr nur gelang, sich über Wasser zu halten. »Nur, wenn ihr hinter den drei maskierten Männern her seid, die die Bank auf der Fifty-second Street überfallen haben - die sind in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Ich bin nur zufällig die unschuldige Zeugin, die gerade eine Frühgeburt hatte.«

»Charlie, es besteht nicht der allergeringste Zweifel, dass wir die richtige haben«, rief Kurtz entzückt und hob beide dicken Arme gleichzeitig vom Tisch. Er sah zu Litvak hinüber, dann durchs Zimmer auf Joseph, ein wohlwollender, gleichwohl hartberechnender Blick, und gleich darauf legte er los und sprach mit jener animalischen Kraft, mit der er im Laufe seiner ungewöhnlichen Karriere Quilley und Alexis und unzählige andere unwahrscheinliche Mitarbeiter überwältigt hatte; sprach mit demselben volltönenden europäisch-amerikanischen Akzent und denselben hackenden Bewegungen des Unterarms.

Aber Charlie war Schauspielerin, und ihr beruflicher Instinkt war nie sicherer gewesen. Weder Kurtz’ Redeschwall noch ihre eigene Verblüffung über die Tatsache, dass man ihr Gewalt angetan hatte, hatten ihr vielfaseriges Wahrnehmungsvermögen in Bezug auf das, was im Raum vorging, einzuschläfern vermocht. Wir stehen auf der Bühne, dachte sie; Schauspieler und Zuschauer. Als die jungen Wachen sich im Halbdunkel am Rand verteilten, hörte sie förmlich, wie die Zuspätkommenden sich auf der anderen Seite des Vorhangs auf Zehenspitzen tastend auf ihre Plätze stahlen. Das Bühnenbild erinnerte sie jetzt, als sie es prüfend betrachtete, an das Schlafzimmer eines abgesetzten Tyrannen; ihre Häscher an die Freiheitskämpfer, die ihn verjagt hatten. Hinter Kurtz, der ihr mit seiner breiten, väterlichen Stirn gegenübersaß, erkannte sie auf dem abbröckelnden Putz den schattenhaft-hellen Abriss vom Kopfende eines verschwundenen kaiserlichen Bettes. Hinter dem ausgemergelten Litvak hing - strategisch zur Lust längst verblichener Liebespaare aufgehängt - ein Spiegel mit verschnörkeltem Goldrahmen. Die nackten Dielenbretter sorgten für ein hohl klingendes bühnengerechtes Echo; das von oben kommende Licht brachte das Eingefallene im Gesicht der beiden Männer sowie das Abgerissene ihrer Partisanenuniform zur Geltung. Charlie konnte diesen Vergleich mangels Erfahrung zwar nicht anstellen, doch statt des glänzenden Madison Avenue-Anzugs trug Kurtz jetzt eine formlose Militär-Buschjacke mit dunklen Schweißflecken unter den Achseln und einer Reihe von metallisch schimmernden Kugelschreibern in der zuknöpfbaren Brusttasche, wohingegen Litvak, der Partei-Intellektuelle, ein kurzärmeliges Khaki-Hemd anhatte, aus dem seine weißen Arme wie entrindete Stecken hervorschauten. Trotzdem brauchte sie die beiden Männer bloß genau anzusehen, um zu erkennen, dass sie etwas mit Joseph gemein hatten: Sie sind in denselben Dingen gedrillt, dachte sie; sie sind von denselben Ideen beseelt, sie handeln gleich. Kurtz’ Uhr lag vor ihm auf dem Tisch. Sie erinnerte sie an Josephs Feldflasche. Zwei französische Fenster mit Fensterläden davor gingen nach vorn hinaus. Von zwei anderen aus konnte man überblicken, was hinten vor sich ging. Die Doppeltüren zu den Fensterflügeln waren geschlossen, und wenn sie jemals daran gedacht hatte, dort rauszustürzen, so wusste sie jetzt, dass das hoffnungslos war; denn wenn die Wachen sich auch unbekümmert wie in einem Werkstatt-Theater gaben, hatte sie in ihnen - mit Grund - bereits die Wachsamkeit von Profis erkannt. Hinter den Wachen, in den äußersten Ecken der Bühne, glommen wie langsam brennende Zündschnüre vier Stangen Elektro-Insektenfrei und verströmten einen moschusartigen Geruch. Und hinter ihr Josephs kleine Leselampe - trotz allem oder vielleicht gerade deswegen das einzige behagliche Licht.

All dies hatte sie in sich aufgenommen, fast noch ehe Kurtz’ volltönende Stimme anfing, den Raum mit seinen gewundenen, zwingenden Sätzen zu füllen. Wenn Charlie nicht schon vorher geahnt hatte, dass ihr eine lange Nacht bevorstand, so verriet ihr das jetzt seine unerbittlich skandierende Stimme.

»Charlie, zunächst geht es uns einmal darum, uns darzustellen und vorzustellen, und wenn auch keiner von uns hier viel von Entschuldigungen hält, möchten wir doch sagen, dass es uns leid tut. Es gibt Dinge, die müssen eben gemacht werden. Wir haben das nicht zum ersten Mal gemacht, so ist es nun mal. Tut uns also leid, und jetzt nochmals: willkommen. Hi

Nachdem er lange genug innegehalten hatte, um ihr Gelegenheit zu geben, eine neuerliche Salve von Verwünschungen abzufeuern, lächelte er breit und fuhr fort.

»Charlie, ich bezweifle nicht, dass Sie viele Fragen haben, die Sie uns stellen möchten, und Sie können sicher sein, zu gegebener Zeit werden wir sie Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen beantworten. Aber zunächst einmal lassen Sie uns Ihnen einiges Grundsätzliche sagen. Sie fragen, wer wir sind.« Diesmal machte er keineswegs eine Pause, denn ihm war wesentlich weniger daran gelegen zu beobachten, wie seine Worte auf sie wirkten, als daran, sie einzusetzen, um sein Vorgehen und sie auf freundliche Weise in den Griff zu bekommen. »Charlie, in allererster Linie sind wir anständige Leute, wie Joseph ja schon gesagt hat, gute Leute. Und zwar in dem Sinn, dass Sie uns, wie gute und anständige Menschen überall auf der Welt, mit Recht als nicht sektiererisch, als ungebunden bezeichnen können, und genauso wie Sie selbst sind wir tief besorgt über all das, was in der Welt in die falsche Richtung läuft. Wenn ich noch hinzufüge, dass wir israelische Staatsbürger sind, gehe ich davon aus, dass Sie deshalb nicht gleich Schaum vor den Mund bekommen, kotzen oder aus dem Fenster springen, es sei denn natürlich, Sie wären der Überzeugung, Israel sollte ins Meer gefegt, mit Napalm vernichtet oder in Geschenkverpackung der einen oder anderen äußerst wählerischen Araber-Organisation überreicht werden, die sich geschworen hat, uns auszulöschen.« Kurtz, der spürte, wie sie insgeheim zusammenzuckte, hakte sofort nach. »Ist das Ihre Überzeugung, Charlie?« wollte er wissen und senkte die Stimme. »Vielleicht ist es so. Warum sagen Sie uns nicht einfach, wie Sie dazu stehen? Möchten Sie auf der Stelle aufstehen? Nach Hause gehen? Ich glaube, Sie haben noch Ihr Flugticket. Wir geben Ihnen Geld. Interessiert Sie dieses Angebot?«

Eisige Stille senkte sich über Charlies Verhalten und verbarg, wie durcheinander und aufgewühlt sie innerlich war. Dass Joseph Jude war, daran hatte sie seit ihrem fehlgeschlagenen Verhör am Strand nicht gezweifelt. Aber Israel, das war eine verschwommene, abstrakte Vorstellung für sie, die sowohl ihren Beschützerinstinkt als auch ihre Feindseligkeit weckte. Sie war nie auch nur für eine Sekunde auf die Idee gekommen, dass es vor ihr aufstehen und ihr in Fleisch und Blut entgegentreten könnte.

»Was wird hier denn eigentlich gespielt?« fragte sie und schenkte Kurtz’ Angebot, die Verhandlungen abzubrechen, ehe sie richtig begonnen hatten, keinerlei Beachtung. »Sind wir hier auf einem Kriegszug? Auf einer Strafexpedition? Wollen Sie mich mit Elektroschocks behandeln? Was, zum Teufel, geht hier denn eigentlich vor?«

»Je einen Israeli kennengelernt?« fragte Kurtz.

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Haben Sie grundsätzlich irgendwelche rassischen Vorurteile Juden gegenüber? Was gegen Juden als Juden - punktum? Riechen wir für Ihre Begriffe schlecht, oder haben wir keine Tischmanieren? Sagen Sie es uns. Wir haben Verständnis für so was.« »Seien Sie doch nicht albern.« Mit ihrer Stimme war was nicht in Ordnung - oder lag es an ihrem Ohr?

»Haben Sie das Gefühl, hier unter Feinden zu sein?«

»Himmelherrgott, wie kommen Sie darauf? Ich mein’, jeder, der mich entführt, ist für mich ein Freund fürs Leben«, schlug sie zurück und erntete damit zu ihrer Überraschung einen Ausbruch spontanen Gelächters, in das sie alle einstimmen zu können glaubten. Das heißt, alle, bis auf Joseph, der zu sehr damit beschäftigt war, die Unterlagen vor sich auf dem Tisch zu lesen, wie sie an dem Rascheln hörte, mit dem er umblätterte.

Kurtz setzte ihr noch ein bisschen mehr zu. »Also beruhigen Sie uns ein bisschen«, forderte er sie auf und sah sie immer noch gütig strahlend an. »Lassen Sie uns vergessen, dass Sie in gewissem Sinne hier eine Gefangene sind. Darf Israel überleben, oder müssen wir hier alle unsere sieben Sachen packen, zurück in unsere Herkunftsländer und wieder von vorn anfangen? Vielleicht wäre es Ihnen lieber, wir nähmen uns ein Stück von Zentral-Afrika? Oder gingen nach Uruguay. Nicht nach Ägypten, vielen Dank; das haben wir schon mal versucht und hatten keinen Erfolg damit. Oder sollen wir uns wieder auf die Ghettos Europas und Asiens verteilen und auf das nächste Pogrom warten? Was meinen Sie, Charlie?«

»Ich möchte bloß, dass Sie die verdammten armen Araber in Ruhe lassen«, parierte sie abermals. »Schön. Und wie genau sollen wir das tun?«

»Hört auf, ihre Flüchtlingslager zu bombardieren. Sie von ihrem Land zu vertreiben, ihre Dörfer niederzuwalzen und sie zu foltern.«

»Haben Sie sich jemals eine Karte des Nahen Ostens angesehen?«

»Selbstverständlich habe ich das.«

»Und als Sie sich die Karte ansahen, haben Sie da jemals den Wunsch verspürt, dass die Araber uns in Ruhe lassen sollten?« sagte Kurtz so gefährlich fröhlich wie zuvor. Zu ihrer Verwirrung und Angst kam jetzt auch noch schlichte Verlegenheit, wie Kurtz wohl beabsichtigt hatte. So mit der nackten Wirklichkeit konfrontiert, kamen ihr ihre Antworten patzig vor, als säße sie wieder in der Schule. Sie kam sich vor wie eine Törin, die den Weisen predigt.

»Ich will doch bloß, dass Frieden herrscht«, sagte sie einfältig, obwohl das genau genommen stimmte. Sie habe, wenn es gestattet sei, die redliche Vorstellung von einem Palästina, das wie durch Zauberhand jenen zurückgegeben werden solle, die daraus vertrieben worden waren, um mächtigeren europäischen Statthaltern Platz zu machen.

»Wenn Sie das so sehen, warum sehen Sie sich dann die Karte nicht noch mal an und fragen sich, was Israel will«, riet Kurtz ihr zufrieden und hielt inne, als wolle er eine Schweigeminute zum Gedenken an jene einlegen, die heute abend nicht in unserer Mitte sein können. Dieses Schweigen wurde immer ungewöhnlicher, je länger es andauerte, denn es war Charlie selbst, die half, es zu wahren. Charlie, die vor Minuten noch Zeter und Mordio geschrieen und Gott und die Welt angerufen hatte, hatte plötzlich nichts mehr hinzuzufügen. So war es denn auch Kurtz und nicht Charlie, der schließlich den Zauber mit etwas brach, das sich wie eine vorbereitete Presseerklärung anhörte.

»Charlie, wir sind nicht hier, um auf Ihren politischen Einstellungen herumzuhacken. Sie werden es uns zu diesem frühen Zeitpunkt zwar nicht abnehmen - wie sollten Sie auch! -, aber ihre politischen Einstellungen gefallen uns. In jeder Beziehung. Mit allen guten Absichten und auch mit allen Widersprüchen. Wir respektieren sie, und wir brauchen sie; wir lachen durchaus nicht darüber, und ich hoffe aufrichtig, wir kommen zu gegebener Zeit dazu, offen und mit Gewinn darüber zu diskutieren. Was wir ansprechen wollen, das ist die natürliche Menschlichkeit in Ihnen - das ist alles. Wir wollen Ihr gutes, besorgtes menschliches Herz ansprechen. Ihre Gefühle. Ihren Gerechtigkeitssinn. Wir haben nicht vor, irgend etwas von Ihnen zu erwarten, was sich nicht mit Ihren starken und anständigen ethischen Anliegen vereinbaren lässt. Ihre streitbaren politischen Ansichten - die Namen, die Sie Ihren Überzeugungen geben - nun, die möchten wir im Moment mal hintanstellen. Aber

Ihre Überzeugungen als solche - je verwirrter sie sind, je irrationaler und je frustrierter-, Charlie, die achten wir vorbehaltlos. Unter dieser Voraussetzung werden Sie doch wohl noch ein bisschen bei uns bleiben und sich anhören, was wir Ihnen zu sagen haben.«

Und abermals verbarg Charlie ihre Antwort unter einer neuen Attacke: »Wenn Joseph Israeli ist«, wollte sie wissen, »wieso, zum Teufel, kommt er dann dazu, in einem großen arabischen Schlitten durch die Gegend zu kutschieren?«

Kurtz’ Gesicht zersprang in jenes tiefeingekerbte, runzlige Lächeln, das Quilley auf so dramatische Weise sein Alter verraten hatte. »Den haben wir geklaut, Charlie«, erwiderte er frohgemut, und diesem Eingeständnis folgte augenblicklich eine zweite Runde Gelächter der jungen Leute, in das Charlie halb einzustimmen versucht war. »Und als nächstes, Charlie, möchten Sie natürlich wissen«, sagte er - und gab damit nebenher zu verstehen, dass er das Palästinenserproblem zumindest vorläufig sicher zurückgestellt sehen wollte, wie er eben schon gesagt hatte -, »was Sie hier in unserer Mitte tun und warum man Sie auf eine solche umständliche und wenig gentlemanhafte Weise hierhergeschleppt hat. Ich will es Ihnen sagen. Der Grund, warum wir das getan haben, Charlie, ist, dass wir Ihnen eine Stelle anbieten möchten. Eine Stelle als Schauspielerin

Das traf sie völlig unvorbereitet, und sein mildes Lächeln verriet, dass er sich darüber im klaren war. Er hatte ganz langsam und mit Bedacht gesprochen, gleichsam als gebe er im Fernsehen die Lottozahlen bekannt: »Die größte Rolle, die Sie bisher in Ihrem Leben gespielt haben, die schwierigste, zweifellos die gefährlichste und zweifellos auch die wichtigste Rolle. Damit meine ich nicht das Geld. Geld können Sie haben, so viel Sie wollen, kein Problem, sagen Sie nur, was Ihnen vorschwebt.« Ein kräftiger Unterarm fegte alle finanziellen Überlegungen beiseite. »Die Rolle, für die wir Sie vorgesehen haben, ist eine Kombination all Ihre Talente, Charlie, sowohl der rein menschlichen als auch der schauspielerischen. Ihre Schlagfertigkeit. Ihr ausgezeichnetes Gedächtnis. Ihre Intelligenz. Ihr Mut. Aber auch jene ganz besondere menschliche Qualität, von der ich bereits gesprochen habe. Ihre Herzensgüte. Wir haben Sie ausgewählt, Charlie. Wir haben Sie für eine Rolle vorgesehen. Dabei haben wir uns auf einem weiten Feld umgesehen, unter vielen Kandidaten aus vielen Ländern. Aber unsere Wahl ist auf Sie gefallen, und das ist der Grund, warum Sie hier sind. Unter Ihren Fans. Jeder hier im Raum hat Sie bei Ihrer Arbeit gesehen, jeder bewundert Sie. Damit klar ist, in was für einer Atmosphäre Sie hier sitzen. Von unserer Seite aus besteht keinerlei Feindseligkeit. Nur Zuneigung, Bewunderung und Hoffnung. Hören Sie uns bis zu Ende an. Wir möchten Sie haben. Wir brauchen Sie. Und draußen sind Menschen, die Sie womöglich noch mehr brauchen als wir.« Seine Stimme hatte ein Gefühl der Leere hinterlassen. Sie kannte Schauspieler - nur wenige freilich -, deren Stimme genau dies fertig brachte. Sie war da, durch ihre unerbittliche Güte wurde sie zur Sucht, und wenn sie aufhörte, so wie jetzt, ließ sie einen wie gestrandet zurück. Erst bekommt Al seine große Rolle, dachte sie instinktiv voll Stolz, und jetzt ich. Wie irrsinnig ihre Situation war, war ihr durchaus klar, trotzdem schaffte sie nur, sich ein aufgeregtes Grinsen zu verkneifen, das ihre Wangen zucken ließ und versuchte, hervorzubrechen.

»So also nehmen Sie Ihre Rollenbesetzungen vor, ja?« sagte sie und bemühte sich wieder um einen skeptischen Ton. »Ihnen erst eins über die Rübe geben und sie dann in Handschellen abführen? So machen Sie das wohl immer, was?«

»Charlie, wir würden niemals behaupten, dass es sich um Theater im üblichen Sinn handelt«, ging Kurtz unbeirrt darauf ein und überließ erneut ihr die Initiative.

»Eine Rolle worin dann zumindest?« sagte sie und kämpfte immer noch gegen das Grinsen an. »Nennen Sie’s Theater.« Ihr fiel ein, was Joseph gesagt hatte, als er plötzlich so ganz ernst geworden war und abgehackt vom Theater des Wirklichen gesprochen hatte. »Es geht also um ein Stück«, meinte sie. »Warum sagen Sie das denn nicht klipp und klar.«

»In gewissem Sinn ist es ein Stück«, pflichtete Kurtz ihr bei. »Und von wem stammt es?«

»Die Handlung bestimmen wir, Joseph schreibt den Dialog. Unter tatkräftiger Mithilfe von Ihnen.«

»Und wer sind die Zuschauer?« Mit einer Geste wies sie auf die Schatten. »Diese reizenden Vögel hier?«

Der feierliche Ernst bei Kurtz kam genauso überraschend und ehrfurchtsheischend wie die Güte. Seine Arbeiterhände fanden einander auf dem Tisch, sein Kopf neigte sich darüber, und nicht einmal der entschlossenste Skeptiker hätte abgestritten, dass das etwas sehr Überzeugendes hatte. »Charlie, da draußen gibt’s Leute, die niemals das Vergnügen haben werden, das Stück aufgeführt zu sehen, ja, die nicht einmal wissen, dass es überhaupt gespielt wird, aber die Ihnen trotzdem ihr Leben lang dankbar sein werden. Unschuldige Menschen. Genau die, die Ihnen immer am Herzen gelegen haben, für die Sie versucht haben einzutreten, für die Sie auf die Straße gegangen sind und denen Sie haben helfen wollen. Bei allem, was von jetzt an geschieht, müssen Sie sich das immer vor Augen halten, sonst werden Sie uns verlieren und zweifellos auch sich selbst verlieren, das ist gar keine Frage.«

Sie versuchte, den Blick von ihm abzuwenden. Seine Beredsamkeit war zu groß, das war zuviel; sollte er sie doch an jemand anders ausprobieren.

»Wer, verdammt noch mal, sind Sie, um sagen zu können, wer unschuldig ist?« hielt sie ihm wieder entgegen und wappnete sich gegen die Flut seiner Überredungskünste. »Sie meinen, weil wir Israelis sind, Charlie?«

»Ich meine Sie«, erwiderte sie und umschiffte die gefährliche Klippe.

»Ich würde Ihre Frage lieber ein bisschen umdrehen und sagen, dass unserer Ansicht nach jemand schon sehr viel Schuld auf sich geladen haben muss, ehe er es verdient zu sterben.«

»Wie zum Beispiel? Wer verdient zu sterben? Die armen Schweine, die ihr auf der Westbank umlegt? Oder die ihr im Libanon bombardiert?« Wie um alles auf der Welt waren sie nur dazu gekommen, vom Tod zu reden? fragte sie sich, noch während sie die verrückte Frage stellte. Hatte sie damit angefangen? Oder er? Egal. Er war schon dabei, seine Antwort abzuwägen.

»Nur diejenigen, die mit allem brechen, was Menschen verbindet«, erklärte Kurtz, unbeirrt mit Nachdruck. «Die verdienen den Tod.« Eigensinnig rannte sie weiter gegen ihn an. »Gibt es solche Juden?«

»Juden - selbstverständlich. Und natürlich auch Israelis, nur gehören wir nicht dazu, und Gott sei Dank sind es auch nicht sie, mit denen wir uns heute herumschlagen müssen.« Er besaß die Autorität, so zu reden. Er gab die Antworten, nach denen Kinder verlangen. Er besaß den Hintergrund, und alle im Raum wussten das, Charlie eingeschlossen: dass er nämlich ein Mann war, der nur von Dingen redete, die er selbst erfahren hatte. Wenn er Fragen stellte, wusste man, dass er selbst verhört worden war. Wenn er Befehle erteilte, wusste man, dass er den Befehlen anderer gehorcht hatte. Wenn er vom Tod sprach, war klar, dass ihm der Tod oft begegnet war, dass er ihn gestreift hatte und ihm jederzeit wieder begegnen konnte. Und wenn er ihr wie jetzt eine Warnung zukommen ließ, hatte er offensichtlich eine Ahnung, wovon er sprach: »Verwechseln Sie unser Stück nicht mit Unterhaltung, Charlie«, sagte er ernst zu ihr. »Es geht hier nicht um irgendeinen verwunschenen Wald. Wenn die Lichter auf der Bühne ausgehen, herrscht auf der Straße draußen dunkle Nacht. Wenn die Schauspieler lachen, werden sie glücklich sein, und wenn sie weinen, dann haben sie aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich einen schmerzlichen Verlust erlitten, der ihnen das Herz bricht. Und wenn sie verwundet werden - und das wird geschehen, Charlie -, werden sie bestimmt nicht in der Lage sein, sobald der Vorhang gefallen ist, aufzuspringen und zum letzten Bus nach Hause zu laufen. Hier wird nicht zimperlich vor den scheußlicheren Szenen weggelaufen oder krankgefeiert. Dieses Stück besteht nur aus Höhepunkten, die den ganzen Einsatz erfordern. Wenn Ihnen das gefällt, wenn Sie meinen, damit fertig zu werden - und davon sind wir überzeugt -, dann hören Sie uns bis zu Ende an. Sonst machen wir mit dem Vorsprechen lieber gleich Schluss.« An dieser Stelle mischte sich Shimon Litvak heiser in seiner gedehnt europäischbostonischen Sprechweise ein, und das war wie ein von weit her kommendes, kaum wahrnehmbares Signal in einer transatlantischen Radiosendung. »Charlie ist in ihrem Leben noch vor nichts davongelaufen, Marty«, wandte er im Ton eines Jüngers ein, der seinem Herrn und Meister nachdrücklich etwas versichern will. »Das glauben wir nicht nur, das wissen wir. Das geht aus all ihren Unterlagen hervor.«

Halb hätten sie es geschafft, berichtete Kurtz später Misha Gavron, während einer der seltenen Feuerpausen in ihrer Beziehung, über diesen Punkt des Vorgehens: eine Frau, die einwilligt zuzuhören, ist eine Frau, die einwilligt, sagte er, und Gavron, die Krähe, senkte den Kopf und sträubte die schwarzen Nackenhaare über dem Kragen, als er fast lächelte.

Halb, vielleicht - und dennoch, angesichts der Zeit, die noch vor ihnen lag, hatten sie kaum einen Anfang gemacht. Zwar duldete Kurtz keine Weitschweifigkeit, doch wollte er die Sache auch nicht überstürzen. Er legte größten Wert auf bedächtiges Vorgehen, darauf, ihre Frustration zu schüren, dass sie in ihrer Ungeduld vorpreschte und ihnen vorausgaloppierte wie ein Leithengst. Keiner verstand besser als Kurtz, was es in einer schwerfällig dahintrottenden Welt bedeutete, ein quecksilbriges Wesen zu haben oder Charlies Rastlosigkeit auszunutzen. Nur wenige Minuten nach ihrem Eintreffen - sie war noch völlig verängstigt gewesen - war sie ihm schon ans Herz gewachsen: ein Vater für Josephs Geliebte. Nach wenigen weiteren Minuten hatte er ihr die Lösung für all die durcheinander geratenen Bestandteile des bisherigen Lebens geboten. Er hatte an die Schauspielerin in ihr appelliert, an die Märtyrerin und die Abenteuerin; er hatte der Tochter geschmeichelt und die Kandidatin angestachelt. Er hatte ihr frühzeitig einen flüchtigen Blick auf die neue Familie geboten, der sie sich vielleicht anschloss, und hatte gewusst, dass sie wie die meisten Rebellen im tiefsten Inneren nur nach etwas Ausschau hielt, dem sie sich besser anpassen konnte. Vor allem aber hatte er sie dadurch, dass er ihr all dies zuteil werden ließ, reich gemacht: und das war, wie schon Charlie selbst jedem gepredigt hatte, der es hören wollte, der Anfang von Unterwürfigkeit.

»Also, Charlie, was wir vorschlagen«, sagte Kurtz mit langsamerer und freundlicherer Stimme, »was wir vorschlagen, ist ein open-end-Vorsprechen, bei dem wir Sie bitten, uns sehr freimütig und aufrichtig eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten, auch wenn Sie, was den Zweck dieser Fragen betrifft, vorläufig leider noch im dunkeln tappen müssen.«

Er hielt inne, doch sie sagte nichts; mittlerweile hatte ihr Schweigen etwas von taktischer Unterwerfung.

»Wir bitten Sie, alles ganz wertfrei zu sehen, niemals zu versuchen, auf unsere Seite des Netzes herüberzukommen, niemals den Versuch zu unternehmen, uns in irgendeiner Weise zu gefallen oder entgegenzukommen. Viele Dinge, die Sie in Ihrem Leben als negativ betrachten, würden wir sicherlich anders sehen. Versuchen Sie nicht, uns das Denken abzunehmen.« Der kurz hinabschnellende Unterarm bekräftigte diese freundschaftliche Warnung. »Frage. Was geschieht - jetzt oder später -, was geschieht, falls einer von uns abspringen möchte? Charlie, lassen Sie mich versuchen, Ihnen diese Frage zu beantworten.«

»Tun Sie das, Marty«, riet sie ihm, pflanzte die Ellbogen auf den Tisch, barg das Kinn in den Händen und sah ihn lächelnd mit einem Ausdruck an, der benommene Ungläubigkeit ausdrücken sollte.

»Danke, Charlie. Also hören Sie bitte genau zu. Je nachdem, in genau welchem Augenblick Sie oder wir aussteigen möchten, und je nachdem, wie viel Sie zu diesem Zeitpunkt wissen und wie wir Sie einschätzen, werden wir eine von zwei Möglichkeiten wählen. Möglichkeit Nummer eins: Wir nehmen Ihnen ein feierliches Versprechen ab, geben Ihnen Geld und schicken Sie zurück nach England. Händeschütteln, gegenseitiges Vertrauen, gute Freunde und eine gewisse Wachsamkeit unsererseits, um sicherzugehen, dass Sie Ihre Abmachung einhalten. Können Sie mir folgen?« Sie senkte den Blick auf den Tisch, teils, um seinem durchdringenden Blick zu entgehen, und teils, um sich ihre wachsende Erregung nicht anmerken zu lassen. Dann war noch etwas, womit Kurtz rechnete und was die meisten Geheimdienstprofis nur allzu rasch vergessen: dass für die Außenstehenden die Geheimdienstwelt als solche schon einen gewissen Reiz besitzt. Sie dreht sich nur um ihre Achse und kann schon so die schwach Verankerten in ihre Mitte ziehen.

»Möglichkeit Nummer zwei: dabei geht’s schon ein bisschen härter zu, ist aber noch nicht schrecklich. Wir stellen Sie unter Quarantäne. Wir mögen Sie, aber wir fürchten, wir haben einen Punkt erreicht, wo Sie unserem Vorhaben schaden könnten, wo die Rolle, die wir Ihnen anbieten, nun, sagen wir, nicht ohne Risiko jemand anders angeboten werden kann, solange Sie frei rumlaufen und darüber plaudern könnten.«

Ohne ihn anzusehen, wusste sie, dass er sein warmherziges Lächeln aufgesetzt hatte; er wollte ihr begreiflich machen, dass solch eine Schwäche auf Seiten Charlies nur menschlich wäre.

»Was wir in dem Fall tun könnten, Charlie«, fuhr er fort, »wäre, irgendwo ein hübsches Haus zu mieten - sagen wir, irgendwo an einem Strand, irgendwo, wo’s hübsch ist - kein Problem. Wir sorgen für Gesellschaft, junge Leute, ähnlich wie die hier. Nette Leute, aber fähige. Wir zimmern irgendeinen Grund für Ihre Abwesenheit zurecht, höchstwahrscheinlich was, das gerade in ist und zu Ihrem Ruf, flatterhaft zu sein, passt, etwa einen mystischen Orient-Aufenthalt.«

Seine dicken Finger hatten auf dem Tisch vor ihm seine alte Armbanduhr gefunden. Ohne sie anzublicken, hob Kurtz sie auf und legte sie zwanzig Zentimeter näher zu sich wieder hin. Da sie selbst das Bedürfnis hatte, mit den Händen etwas zu tun, ergriff Charlie einen Kugelschreiber und tat so, als kritzele sie auf dem Block herum, der vor ihr lag.

»Wenn Sie dann aus der Quarantäne entlassen werden, lassen wir Sie nicht etwa im Stich - ganz und gar nicht. Wir sehen zu, dass Sie wieder klarkommen, wir geben Ihnen einen Haufen Geld, wir bleiben in Kontakt mit Ihnen, sehen zu, dass Sie nicht in irgendeiner Weise unvorsichtig sind, und sobald es sicher ist, helfen wir Ihnen auch, Ihre Karriere und Ihre Freundschaften wieder aufzunehmen. Das ist das Schlimmste, was passieren kann, Charlie, und ich sage Ihnen das nur, weil sie irgendwie auf die verrückte Idee kommen könnten, wenn Sie uns einen Korb gäben - jetzt oder später -, wachten Sie irgendwo tot im Fluss und mit Betonschuhen an den Füßen wieder auf. So was machen wir nicht. Schon gar nicht mit Freunden.«

Sie kritzelte immer noch herum, zog einen Kreis zu und setzte säuberlich schräg einen Pfeil darauf, um ihn männlich zu machen. Sie haue ein paar populärwissenschaftliche Bücher über Psychologie durchgeschmökert, in denen dieses Symbol verwendet worden war. Plötzlich, wie jemand, der sich ärgert, dass er unterbrochen wird, redete Joseph; doch so streng seine Stimme auch klang, sie übte eine erregende und erwärmende Wirkung auf sie aus.

»Charlie, es ist einfach nicht genug für dich, die schmollende Zeugin zu spielen. Deine eigene gefährliche Zukunft wird hier diskutiert. Hast du etwa vor, einfach dazusitzen und zuzulassen, dass sie für dich über diese Zukunft entscheiden, ohne dich zu Rate zu ziehen? Du musst dich schon engagieren, kapiert? Komm schon, komm!«

Sie zog noch einen Kreis. Noch ein Mann. Sie hatte alles gehört, was Kurtz gesagt hatte, und auch die versteckten Andeutungen darin mitbekommen. Sie hätte ihm gleichsam im playback Wort für Wort alles wiederholen können, genauso wie für Joseph auf der Akropolis. Nie in ihrem Leben war sie wacher und scharfsichtiger gewesen, und doch sagte ihr jeder verschlagene Instinkt in ihr, sich nichts anmerken zu lassen und Zurückhaltung zu üben. »Und welche Laufzeit soll das Stück haben, Marty?« fragte sie mit farbloser Stimme, als ob Joseph überhaupt nichts gesagt hätte. Kurtz formulierte ihre Frage neu: »Nun, ich meine, Sie meinen doch in Wirklichkeit, was mit Ihnen geschieht, wenn die Spielzeit abgelaufen ist, hab’ ich recht?«

Sie war großartig. Diese Widerborstigkeit! Sie warf den Kugelschreiber hin und hieb mit der Handfläche auf den Tisch. »Nein, das tu’ ich nicht, verdammt noch mal! Ich meine, wie lange läuft die ganze Sache, und was ist mit meiner Herbsttournee von Wie es euch gefällt

Kurtz ließ sich keinerlei Triumph darüber anmerken, wie gelegen ihm ihr Einwand kam. »Charlie«, sagte er ernst, »Ihre Tournee mit Wie es euch gefällt wird davon überhaupt nicht betroffen. Selbstverständlich erwarten wir von Ihnen, dass Sie Ihr Engagement wahrnehmen - vorausgesetzt, das mit dem Zuschuss geht klar. Was die Laufzeit betrifft, so könnte Ihre Teilnahme an unserem Projekt sechs Wochen betragen, aber auch zwei Jahre, obwohl wir das wahrlich nicht hoffen. Im Moment möchten wir von Ihnen aber hören, ob Sie uns überhaupt vorsprechen wollen oder ob es Ihnen lieber ist, jedem hier gute Nacht zu sagen und nach Hause zu einem sichereren, weniger glanzvollen Leben zurückzukehren. Wie sieht’s aus?«

Was er ihr da suggerierte, war ein falscher Höhepunkt. Er wollte ihr ebensosehr das Gefühl von Eroberung wie von Unterwerfung einflößen. Das Gefühl, sich ihre Bewacher selbst ausgesucht zu haben.

Sie hatte eine Baumwolljacke an, und einer der Blechknöpfe hing nur noch an einem Faden; heute morgen, als sie die Jacke anzog, hatte sie sich vorgenommen, den Knopf während der Überfahrt auf dem Schiff anzunähen, das jedoch dann in ihrer Aufregung, Joseph wieder zu sehen, prompt vergessen. Jetzt nahm sie den Knopf zwischen zwei Finger und prüfte, wie fest der Faden war. Sie stand mitten auf der Bühne. Sie spürte, wie aller Augen auf sie gerichtet waren, vom Tisch her, aus den Schatten, hinter ihr. Sie spürte, wie sich ihre Körper vor Spannung reckten, auch Josephs, hörte den straffen, knackenden Laut, den Zuschauer machen, wenn man sie gepackt hat. Sie spürte, was sie wollten und ihre eigene Macht: wird sie, wird sie nicht?

»Jose?« fragte sie, ohne den Kopf zu wenden.

»Ja, Charlie?«

Noch immer wandte sie sich nicht nach ihm um, wusste aber ganz genau, dass er auf seiner im Lichtkegel der Leselampe daliegenden Insel noch gespannter auf ihre Antwort wartete als alle anderen.

»Das ist sie, oder? Unsere große romantische Rundreise durch Griechenland? Delphi, alle zweitbesten Orte?«

»Unsere Fahrt Richtung Norden wird in keiner Weise beeinträchtigt werden«, erwiderte Joseph und parodierte damit leicht Kurtz’ Ausdrucksweise.

»Nicht einmal verschoben?«

»Ich würde sogar meinen, sie steht unmittelbar bevor.« Der Faden riss, der Knopf lag auf ihrer Handfläche. Sie warf ihn auf den Tisch, verfolgte, wie er kreiselte und dann zur Ruhe kam. Kopf oder Wappen, dachte sie und wirbelte ihn umher. Sollten sie doch noch ein bisschen länger schwitzen. Sie stieß etwas Luft aus, als wollte sie sich ihre Stirnlocke aus der Stirn blasen.

»Nun ja, dann bleib’ ich eben fürs Vorsprechen erst einmal da, ja?« sagte sie zu Kurtz, ohne irgend etwas anderes anzusehen als den Knopf. »Ich hab’ nichts zu verlieren«, fügte sie hinzu, wünschte jedoch sogleich, sie hätte es nicht gesagt. Bisweilen tat sie für einen guten Abgang des Guten zuviel, und hinterher ärgerte sie das dann. »Nicht, dass ich nicht ohnehin schon verloren hätte«, sagte sie. Vorhang, dachte sie; Applaus, bitte, Joseph, und dann warten wir auf die Kritiken von morgen. Es kamen jedoch keine, und so griff sie wieder nach ihrem Kugelschreiber und zeichnete zur Abwechslung mal eine ›Frau‹ während Kurtz, vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, seine Uhr an eine andere, bessere Stelle legte. Folglich konnte das Verhör nun mit Charlies freundlicher Zustimmung im Ernst beginnen. Langsamkeit ist eines, Konzentration etwas anderes. Kurtz erlahmte auch nicht für eine Sekunde; er gestattete weder sich noch Charlie so etwas wie eine Atempause, als er ihr seinen Willen aufzwang, ihr schmeichelte und sie einlullte und wachrüttelte und sich selbst kraft seines dynamischen Einsatzes in ihrer sich entwickelnden Bühnen-Partnerschaft an sie band. Nur Gott und ein paar Leute in Jerusalem, hieß es innerhalb seiner Behörde, wüssten, wo Kurtz sein Repertoire herhatte - seine hypnotische Intensität, seine schleppende amerikanisierte Prosa, sein Fingerspitzengefühl und seine Winkeladvokatentricks. Sein zerschnittenes Gesicht, das mal Beifall zollte, sich mal betreten-ungläubig zeigte und mal die Ermutigung ausstrahlte, die sie brauchte - dieses Gesicht wurde nach und nach zu einem ganzen Publikum, so dass ihre ganze Darstellung nur noch darauf abzielte, von ihm die verzweifelt begehrte Zustimmung zu erringen und von niemand sonst. Sogar Joseph war vergessen, beiseite gelegt für ein anderes Leben.

Die ersten Fragen, die Kurtz stellte, waren mit Vorbedacht zusammenhanglos und harmlos. Es war, dachte Charlie, als ob er im Geiste ein leeres Antragsformular für die Ausstellung eines Passes vor sich hätte und Charlie, ohne dass sie sie sehen konnte, die Kästchen dann ausfüllte. Vollständiger Name Ihrer Mutter, Charlie. Geburtstag und -ort Ihres Vaters, falls Sie’s wissen, Charlie. Beruf des Großvaters; nein, Charlie, väterlicherseits. Folgte aus unerfindlichen Gründen die Frage nach der letzten bekannten Adresse einer Tante mütterlicherseits, wiederum gefolgt von der Frage nach irgendeinem geheimnisvollen Detail im Werdegang ihres Vaters. Keine einzige von diesen Fragen zu Anfang hatte auch nur das geringste mit ihr zu tun, und das wollte Kurtz auch gar nicht. Charlie war wie das verbotene Thema, dem er geflissentlich aus dem Wege ging. Der Zweck dieses ganzen einleitenden fröhlichen Trommelfeuers bestand nicht darin, irgendwelche Information aus ihr herauszuholen, sondern darin, die instinktive Gehorsamkeit, jene ›Ja, Herr Lehrer, nein, Herr Lehrer‹ -Haltung der Schule in ihr zu wecken, von der abhing, was sich später zwischen ihnen abspielen würde; und Charlie ihrerseits, bei der zunehmend die Schauspielerin angesprochen wurde, spielte, gehorchte und reagierte immer willfähriger. Hatte sie das nicht für Regisseure und Produzenten hundertmal getan - den Stoff harmloser Konversation benutzt, um ihnen ein Beispiel für die ganze Bandbreite ihres Könnens zu geben? Um so mehr Grund, das jetzt unter Kurtz’ hypnotischer Ermutigung auch zu tun.

»Heidi?« wiederholte Kurtz echogleich. »Heidi? Das ist aber ein verdammt komischer Name für eine ältere englische Schwester, finden Sie nicht auch?«

»Nein, für Heidi nicht«, erwiderte sie strahlend und konnte einen spontanen Lacher von den jungen Zuhörern auf der anderen Seite der Beleuchtung für sich verbuchen. Heidi, weil ihre Eltern ihre Hochzeitsreise in die Schweiz gemacht hätten, wie sie erklärte - wo Heidi empfangen worden sei. »Inmitten von Edelweiß«, fügte sie aufseufzend hinzu. »In der Missionars-Stellung.«

»Aber warum denn Charmian?« fragte Marty, nachdem sich das Gelächter gelegt hatte.

Charlie hob die Stimme, um die sämige Sprechweise ihrer Scheiß-Mutter wiederzugeben: »Auf den Namen Charmian verfielen wir in der Absicht, einer reichen entfernten Verwandten dieses Namens zu schmeicheln.«

»Und hat es sich bezahlt gemacht?« fragte Kurtz und neigte den Kopf, um etwas mitzubekommen, was Litvak versuchte ihm zuzuflüstern.

»Bis jetzt noch nicht«, erklärte Charlie ausgelassen, aber immer noch im köstlichen Tonfall ihrer Mutter. »Vater hat das Zeitliche gesegnet, wissen Sie, aber Cousine Charmian muss ihm leider noch nachfolgen.«

Nur über diese und viele ähnliche harmlose Umwege näherten sie sich schrittweise dem Thema Charlie selbst.

»Waage«, murmelte Kurtz voller Genugtuung, als er ihr Geburtsdatum hinschrieb. Gewissenhaft, aber ohne sich lange damit aufzuhalten, trieb er sie durch ihre frühe Kindheit - Pensionate, Häuser, Namen früherer Freunde und Ponys -, und Charlie antwortete ihm auf ihre Weise, ausführlich, manchmal humorvoll und immer bereitwillig, wobei ihr glänzendes Gedächtnis von der steten Glut seiner Aufmerksamkeit und ihrem wachsenden Bedürfnis, mit ihm zurechtzukommen, erhellt wurde. Von den Schulen und von der Kindheit war es ein natürlicher Schritt - bei dem Kurtz freilich größte Zurückhaltung zeigte - zur schmerzlichen Geschichte vom Ruin ihres Vaters, die Charlie mit stillen, aber um so rührenderen Einzelheiten vor ihnen ausbreitete, von dem schrecklichen Augenblick an, da ihr die Nachricht brutal beigebracht worden war, bis zum Trauma des Prozesses, der Verurteilung und der Einkerkerung. Ab und zu, das stimmte, geriet sie ein wenig ins Stocken; es kam auch vor, dass ihr Blick sich prüfend auf ihre Hände senkte, die so hübsch und ausdrucksvoll in dem von oben herabfallenden Licht spielten; dann kam ihr wohl eine tapfere, leicht selbstironische Bemerkung über die Lippen, die alles fortblies.

»Es wäre für uns ja alles nicht so schlimm gewesen, wenn wir zur Arbeiterklasse gehört hätten«, sagte sie einmal mit einem klugen und hoffnungslosen Lächeln. »Dann bekommt man eben seine Entlassung, man ist überflüssig, die Kräfte des Kapitals stellen sich einem in den Weg - so ist das Leben nun mal, das ist die Wirklichkeit, man weiß, woran man ist. Aber wir gehörten nun mal nicht zur Arbeiterklasse. Wir waren wir. Immer auf der Seite der Gewinner. Und plötzlich standen wir dann auf der Seite der Verlierer.« »Schlimm«, sagte Kurtz ernst und schüttelte den mächtigen Kopf. Er ging noch einmal zurück und bohrte nach den soliden Fakten: Zeit und Ort, an dem der Prozess stattgefunden hat, Charlie; die genaue Länge der Haftstrafe, Charlie; die Namen der Rechtsanwälte, falls sie sich an die erinnere. Das tat sie zwar nicht, doch wo immer sie konnte, gab sie ihm Auskunft, und Litvak notierte ihre Antworten ordnungsgemäß, so dass Kurtz seine ganze wohlwollende Aufmerksamkeit ihr zuwenden konnte. Alles Lachen hatte sich mittlerweile vollständig gelegt. Es war, als ob der Ton ausgefallen wäre, bis auf ihren und Martys. Kein Knarren, kein Husten, nirgendwoher ein unfreundliches Füßescharren. Noch nie in ihrem ganzen Leben, so kam es Charlie vor, hatte sie ein so aufmerksames und aufgeschlossenes Publikum gehabt. Sie haben Verständnis, dachte sie. Sie wissen, was es heißt, ein Nomadenleben zu führen; auf die eigenen Mittel zurückgeworfen zu sein, wenn die Karten gegen einen sind. Einmal gingen auf einen leisen Befehl von Joseph hin die Lichter aus, und sie warteten gemeinsam und lautlos wie bei einem Fliegerangriff in der undurchdringlichen Dunkelheit. Charlie genauso wie die anderen, bis Joseph Entwarnung gab und Kurtz seine geduldigen Fragen wiederaufnahm. Hatte Joseph wirklich etwas gehört, oder war das ihre Art, ihr zu verstehen zu geben, dass sie dazugehörte? Die Wirkung auf Charlie war in jedem Fall dieselbe; während dieser wenigen spannungsgeladenen Augenblicke war sie ihre Mitverschworene, die nicht daran dachte, sich in Sicherheit zu bringen.

Bei anderer Gelegenheit, als sie vorübergehend den Blick von Kurtz losriss, sah sie die jungen Leute auf ihrem Posten dösen: Raoul aus Schweden, den strohblonden Kopf auf die Brust gesunken und die Sohle eines dicken Laufschuhs flach gegen die Wand gedrückt; Rose aus Südafrika, gegen die Doppeltür gelehnt, die Sprinterinnenbeine von sich gestreckt und die langen Arme vor der Brust verschränkt; und Rachel, das Mädchen aus dem Norden Englands, das Gesicht von den fittichgleichen Strähnen ihrer schwarzen Haare eingerahmt, die Augen halb geschlossen, gleichwohl mit ihrem sanften sinnlichen, in Erinnerungen schwelgenden Lächeln. Doch der geringste von außen kommende Laut machte sie augenblicklich hellwach.

»Unter welcher Überschrift ließe sich das Ganze nun zusammenfassen, Charlie?« fragte Kurtz freundlich. »Ich meine, die ganze erste Zeit Ihres Lebens bis zu dem, was wir den Sündenfall nennen könnten...«

»Das Zeitalter der Unschuld, Marty?« schlug sie, von dem Wunsch zu helfen beseelt, vor. »Genau. Ihr Zeitalter der Unschuld. Wie würden Sie es charakterisieren?«

»Es war die Hölle.«

»Möchten Sie ein paar Gründe nennen, warum?« »Ich hab’s in den Vororten verbracht, im Establishment - reicht das nicht?«

»Nein, das reicht nicht.«

»Ach, Marty - Sie sind so...« Ihre erschlaffende Stimme. Der Ton inniger Verzweiflung. Kraftlose Gesten der Hände. Wie sollte sie das jemals erklären? »Für Sie ist das nichts Schlimmes, Sie sind Jude, begreifen Sie? Sie haben diese phantastischen Traditionen, die Sicherheit. Selbst wenn Sie verfolgt werden, wissen Sie noch, wer Sie sind und warum alles so ist.«

Kurtz musste das bekümmert einräumen.

»Aber für uns - die Kinder aus den reichen englischen Vororten - kann man das vergessen. Wir hatten keine Traditionen, keinen Glauben, kein Selbstbewusstsein, gar nichts.«

»Aber Sie haben uns doch gesagt, Ihre Mutter sei katholisch gewesen.«

»Weihnachten und Ostern. Die reine Heuchelei. Wir leben schließlich in der nachchristlichen Zeit, Marty. Hat Ihnen das noch nie jemand gesagt? Wenn der Glaube schwindet, hinterlässt er ein Vakuum. In dem leben wir.«

Während sie dies sagte, bemerkte sie, dass Litvak seine glühenden Augen auf sie gerichtet hatte, und bekam eine erste Ahnung von seinem rabbinischen Zorn.

»Gingen Sie nicht zur Beichte?« fragte Kurtz.

»Das können Sie sich abschminken. Mum hatte nichts zu beichten. Dann besteht ja gerade ihre ganze Schwierigkeit. Kein Spaß, keine Sünde, gar nichts. Nichts weiter als Apathie und Angst. Angst vorm Leben, Angst vorm Tod, Angst vor den Nachbarn - Angst. Irgendwo draußen gab es Menschen, die echt lebten. Bloß wir nicht. Nicht in Rickmansworth. Nichts zu machen. Ich meine, Himmel - für Kinder -, ich meine Kastrationsgerede

»Und Sie - keine Angst?«

»Nur davor, so zu sein wie Mum.«

»Und was ist mit der Vorstellung, die wir alle haben - vom alten England, das von seiner traditionellen Lebensweise durchdrungen ist?«

»Das können Sie vergessen.«

Kurtz lächelte und schüttelte sein weises Haupt, als wollte er sagen, man lernt doch immer noch was dazu.

»Und da haben Sie, sobald Sie die Möglichkeit dazu hatten, Ihr Elternhaus verlassen und Zuflucht auf der Bühne und in der radikalen Politik gesucht«, fasste er zufrieden noch einmal alles zusammen. »Sie wurden zu einer politischen Exilantin auf der Bühne. Das habe ich irgendwo gelesen, in einem Interview, das Sie gegeben haben. Hat mir gefallen. Machen Sie jetzt von da aus weiter.«

Sie war wieder dabei, ihren Block vollzukritzeln - noch mehr Psychosymbole. »Ach, es gab aber auch schon davor Möglichkeiten auszubrechen«, sagte sie.

»Wie zum Beispiel?«

»Nun, Sex, wissen Sie«, sagte Charlie unbekümmert. »Ich meine, wir haben das Thema Sex als wesentliche Grundlage der Revolte überhaupt noch nicht berührt, oder? Und Drogen.«

»Wir haben das Thema Revolte noch nicht berührt«, sagte Kurtz.

»Nun, lassen Sie sich das von mir gesagt sein, Marty…«

Und das Sonderbare geschah: vielleicht der Beweis dafür, wie ein vollkommenes Publikum das Beste aus einer Schauspielerin herauszuholen und sie auf spontane, unerwartete Weise womöglich noch zu steigern vermag. Sie war im Begriff gewesen, ihnen ihre Standardnummer für die Nicht-Emanzipierten vorzuspielen. Dass die Entdeckung des eigenen Ichs ein wesentliches Vorspiel war, um sich mit der radikalen Bewegung zu identifizieren. Dass, wenn die Geschichte der neuen Revolution geschrieben werde, es sich herausstellen würde, dass ihre eigentlichen Wurzeln in den Wohnzimmern der Mittelschicht lägen, wo die repressive Toleranz ihre natürliche Heimat habe. Doch dann hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung für Kurtz - oder war es für Joseph? - laut ihre vielen frühen Liebhaber sowie all die dummen Gründe aufzählen, die sie sich ausgedacht hatte, um mit ihnen ins Bett zu gehen. »Mir ist das unfasslich, Marty«, betonte sie und öffnete abermals entwaffnend die Hände. Ob sie das mit den Händen übertrieb? Sie fürchtete, das könnte durchaus sein, und so legte sie sie in den Schoß. »Selbst heute noch. Ich wollte sie gar nicht, ich mochte sie gar nicht, ich ließ sie einfach.« Die Männer, die sie sich aus Überdruss genommen hatte, egal was, nur um die schale Luft von Rickmansworth in Bewegung zu bringen, Marty. Aus Neugier. Männer, um sich ihre eigene Macht zu beweisen, Männer, um sich an anderen Männern - oder Frauen - zu rächen, an ihrer Schwester, an ihrer Scheiß-Mutter. Männer nur aus Höflichkeit, weil sie sich einfach nicht mehr gegen ihre Hartnäckigkeit habe wehren können, Marty. Die Rollen-Besetzungs-Couchen -Himmel, Marty, Sie haben ja keine Ahnung! Männer, um die Spannung abzubauen, Männer, um Spannung aufzubauen. Männer, um etwas von ihnen zu lernen - ihre politischen Aufkleber, dazu da, um ihr im Bett zu erklären, was aus Büchern herauszuholen sie nie schaffte. Die Fünf-Minuten-Lüste, die ihr in den Händen zerbrachen wie Töpferwaren und sie einsamer zurückließen denn je. Pleiten, Pleiten, jeder einzelne von ihnen, Marty - zumindest wollte sie ihn das glauben machen. »Aber sie haben mich frei gemacht, verstehen Sie das nicht? Ich habe meinen Körper auf meine Weise eingesetzt. Selbst wenn es nicht die richtige Weise war. Das war nun mal meine Show

Kurtz nickte weise, und Litvak neben ihm ließ den Kugelschreiber übers Papier huschen. Doch insgeheim stellte sie sich vor, wie Joseph hinter ihr saß. Sah ihn vor sich, wie er von seinen Blättern aufblickte, den kräftigen Zeigefinger an die Wange legte und das ganz persönlich für ihn bestimmte Geschenk ihrer erstaunlichen Offenheit entgegennahm. Fang mich auf, gab sie ihm zu verstehen; gib mir, was die anderen mir nie haben geben können. Dann verfiel sie in Schweigen, und ihr fröstelte dabei. Warum hatte sie das getan? Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie diese Rolle gespielt, nicht einmal für sich selbst. Die Zeitlosigkeit der nächtlichen Stunde verfehlte ihre Wirkung auf sie nicht. Die Beleuchtung, das Zimmer oben, das Gefühl, auf Reisen zu sein, im Zug mit Fremden zu sprechen. Sie wollte schlafen. Sie hatte genug getan. Entweder sie gaben ihr die Rolle, oder aber sie schickten sie nach Hause, oder beides.

Doch Kurtz tat nichts dergleichen. Noch nicht. Vielmehr kündete er eine kurze Pause an, nahm seine Uhr, schnallte sie sich mit dem khakifarbenen Armband ans Handgelenk. Dann schlurfte er aus dem Raum und nahm Litvak mit. Sie wartete auf die Schritte hinter sich, wenn auch Joseph den Raum verließ, doch es kamen keine. Und immer noch nicht. Sie wollte den Kopf drehen, wagte es jedoch nicht. Rose brachte ihr ein Glas gesüßten Tee, ohne Milch. Rachel hatte ein paar mit Zucker bestreute Kekse wie englische Butterplätzchen. Charlie nahm einen.

»Das hast du großartig gemacht«, gestand sie ihr atemlos. »Wie du ihnen das mit England unter die Nase gerieben hast. Ich hab’ einfach dagesessen, und es ist mir runtergegangen wie Öl, stimmt’s nicht, Rose?«

»Das kann man wohl sagen«, sagte Rose.

»Ich habe nur gesagt, wie mir zumute ist«, erklärte Charlie.

»Möchtest du mal aufs Klo, meine Liebe?« fragte Rachel.

»Nein, danke. Das tu’ ich nie zwischen zwei Akten.«

»Na schön«, sagte Rachel und zwinkerte verständnisvoll.

Charlie trank einen Schluck Tee und legte dabei einen Ellbogen auf die Lehne ihres Stuhls, um unauffällig einen Blick über die Schulter werfen zu können. Joseph war verschwunden und hatte seine Papiere mitgenommen. Der Raum, in den sie sich zurückgezogen hatte, war nicht so groß, wie das Zimmer, das sie verlassen hatten, aber genauso kahl. Ein paar Feldbetten und ein Fernschreiber bildeten die ganze Einrichtung; durch eine Doppeltür ging es ins Badezimmer. Becker und Litvak setzten sich einander gegenüber auf die Betten und vertieften sich in ihre Unterlagen; den Fernschreiber bediente ein sich betont gerade haltender junger Mann namens David. Gelegentlich ratterte der Apparat los und stieß wieder ein Blatt aus, das David ernst auf einen neben sich liegenden Stapel ablegte. Sonst war nichts weiter zu hören als das Rauschen von Wasser aus dem Bad, wo Kurtz sich mit nacktem Oberkörper am Waschbecken mit Wasser bespritzte wie ein Sportler zwischen zwei Wettkämpfen.

»Sie ist wirklich ein nettes Mädchen«, rief Kurtz, als Litvak umblätterte und am Rande etwas mit einem Filzstift anstrich. »Sie ist alles, was wir uns erhofft hatten. Intelligent, einfallsreich und unterbeschäftigt.«

»Sie lügt wie gedruckt«, sagte Litvak, der immer noch las. Dass seine Bemerkung nicht für Kurtz bestimmt war, merkte man an der Art, wie er den Körper vorstreckte, und der Überheblichkeit, mit der er das sagte.

»Wer will sich denn beschweren?« wollte Kurtz wissen und klatschte sich noch mehr Wasser ins Gesicht. »Heute lügt sie für sich, und morgen lügt sie für uns. Wir brauchen doch nicht plötzlich einen Engel.«

Plötzlich gab der Fernschreiber ein ganz anderes Geratter von sich. Becker und Litvak warfen beide hellwach einen Blick darauf, doch Kurtz schien nichts gehört zu haben. Vielleicht hatte er Wasser in den Ohren.

»Für eine Frau sind Lügen ein Schutz. Sie schützt die Wahrheit, damit schützt sie ihre Keuschheit. Für eine Frau stellen Lügen so etwas wie einen Tugendbeweis dar«, verkündete Kurtz und wusch sich immer noch.

David, der vorm Telefon saß, hielt Achtung gebietend die Hand in die Höhe. »Die Botschaft in Athen, Marty«, sagte er. »Sie wollen eine Meldung aus Jerusalem durchgeben.« Kurtz zögerte. »Sag ihnen, sie sollen loslegen«, erklärte er dann widerstrebend.

»Nur für Sie allein bestimmt«, sagte David, erhob sich und ging durch das Zimmer.

Der Fernschreiber ruckte. Kurtz warf sich sein Handtuch um den Hals und nahm auf Davids Stuhl Platz; er legte eine Diskette ein und beobachtete, wie der Klartext erschien. Der Fernschreiber hörte auf zu tickern. Kurtz las die Meldung, riss das Blatt dann von der Rolle und las sie nochmals. Dann stieß er ein zorniges Lachen aus. »Eine Botschaft von allerhöchster Stelle«, verkündete er bitter. »Die große Krähe sagt, wir sollen uns als Amerikaner ausgeben. Ist das nicht lieb? ›Sie dürfen ihr gegenüber in keiner Weise zugeben, dass Sie israelische Bürger sind, die in offiziellem oder fast offiziellem Auftrag handeln.‹ Ich könnte die Leute in Jerusalem küssen! Wie konstruktiv, wie hilfreich! Und genau zum richtigen Zeitpunkt! Misha Gavron, wie er leibt und lebt - unnachahmlich! Nie in meinem Leben habe ich für jemand gearbeitet, auf den man sich so felsenfest verlassen konnte. Kabele zurück: ›Ja, wiederhole: nein‹ «, herrschte er den verdatterten jungen David an und reichte ihm das abgerissene Blatt. Dann kehrten die drei Männer gemeinsam auf die Bühne zurück.


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