Kapitel 25
Und noch einmal, er war schön. Er war Michel, ganz ausgewachsen, mit Josephs Enthaltsamkeit und Anmut und Tayehs durch keinerlei Skrupel angekränkeltem Absolutheitsanspruch. Er war alles, was sie sich vorgestellt hatte, als sie ihn sich als jemand ausgemalt hatte, auf den sie sich freute. Er war breitschultrig, hatte feingemeißelte Züge und den Seltenheitswert eines kostbaren Gegenstandes, den man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Er hätte kein Restaurant betreten können, ohne dass die Unterhaltung ringsum verstummt wäre, oder es verlassen, ohne dass man in seinem Kielwasser nicht erleichtert aufgeatmet hätte. Er war ein Mann, der es eigentlich gewöhnt war, im Freien zu leben, jetzt aber dazu verdammt, sich in kleinen Räumen zu verstecken, und hatte daher die Blässe dunkler Verliese.
Er hatte die Vorhänge vorgezogen und die Nachttischlampe angeknipst. Es war kein Stuhl für sie da, und er benutzte das Bett als Werkbank. Die Kissen hatte er auf den Boden neben den Karton geworfen, hatte sich Charlie auf die freie Stelle setzen lassen, während er arbeitete und die ganze Zeit über redete, teils mit sich selbst und teils mit ihr. Seine Stimme kannte nur den Angriff: ein Zustoßen und Vorwärtsdrängen von Gedanken und Worten.
»Minkel soll ein netter Mensch sein. Vielleicht ist er das. Als ich über ihn las, habe ich mir auch gesagt - dieser alte Bursche, dieser Minkel, vielleicht hat der den Mumm, der dazugehört, diese Dinge zu sagen. Vielleicht würde ich ihn achten. Ich kann meinen Gegner achten. Kann ihn ehren. Damit habe ich keinerlei Probleme.« Nachdem er die Zwiebeln in eine Ecke geworfen hatte, fischte er mit der linken Hand eine Reihe kleiner Päckchen aus dem Karton, wickelte sie nacheinander aus, während er sie mit der rechten festhielt. Verzweifelt war Charlie bemüht, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, und versucht, sich die einzelnen Dinge einzuprägen, gab es dann jedoch auf: zwei neue Taschenlampenbatterien in einer Doppelpackung aus dem Supermarkt, ein Zünder von der Art, wie sie sie während der Ausbildung im Fort benutzt hatte und bei dem rote Drähte aus dem angewürgten Ende hervorschauten. Federmesser. Zange. Schraubenzieher. Lötkolben. Eine Rolle dünner roter Draht, Heftklammern, Kupferfaden, Isolierband, Taschenlampenbirne, ein Sortiment Holzdübel. Und ein rechteckiges Brett aus weichem Holz, das als Sockel für das Ganze dienen sollte. Khalil nahm den Lötkolben, ging damit zum Waschtisch und steckte den Stecker in die Steckdose dort; plötzlich roch es nach versengtem Staub.
»Denken denn die Zionisten an all die netten Leute, wenn sie ihre Bomben auf uns abwerfen? Ich glaube nicht. Wenn sie unsere Dörfer mit Napalmbomben belegen und unsere Frauen töten? Das bezweifle ich sehr. Ich glaube nicht, dass der terroristische israelische Pilot, wenn er da oben sitzt, sich sagt: ›Diese armen Zivilisten, diese unschuldigen Opfer.‹ « So redet er auch, wenn er allein ist, dachte sie. Und er ist viel allein. Er redet, um seinen Glauben lebendig zu erhalten und sein Gewissen zu beruhigen. »Ich habe viele Menschen getötet, die ich ohne Zweifel achten würde«, sagte er, wieder zurück am Bett. »Die Zionisten haben viel mehr umgebracht. Ich töte nur aus Liebe. Ich töte für Palästina und für seine Kinder. Versuch, auch so zu denken«, riet er ihr mit großem Ernst und unterbrach sich, als er sie anschaute. »Du bist nervös?«
»Ja.«
»Das ist natürlich. Auch ich bin nervös. Bist du im Theater auch nervös?« »Ja.«
»Es ist dasselbe. Terror ist Theater. Wir regen an, wir jagen Angst ein, wir erwecken Abscheu, Zorn, Liebe. Wir erleuchten. Das Theater auch. Der Guerillakämpfer ist der große Schauspieler der Welt.« »Das hat Michel mir auch geschrieben. In seinen Briefen.« »Aber er hatte es von mir. Es war meine Idee.«
Das nächste Päckchen war in Ölpapier eingewickelt. Er machte es mit Respekt auf. Drei Halbpfund-Stäbe von russischem Plastik.
Stolz legte er sie an den ihnen gebührenden Platz in die Mitte der Daunendecke.
»Die Zionisten töten aus Angst und aus Hass«, verkündete er. »Wir Palästinenser hingegen aus Liebe und um der Gerechtigkeit willen. Vergiss den Unterschied nicht. Er ist wichtig.« Wieder sein Blick, rasch und herrisch. »Wirst du dich daran erinnern, wenn du Angst hast? Wirst du dir sagen: ›um der Gerechtigkeit willen‹? Wenn du das tust, hast du keine Angst mehr.«
»Und um Michels willen«, sagte sie.
Er war nicht ganz zufrieden. »Und um seinetwillen natürlich auch«, räumte er ein und schüttelte aus einer braunen Tüte zwei Wäscheklammern auf das Bett, hielt sie dann in den Lichtschein der Nachttischlampe, um ihre einfachen Mechanismen miteinander zu vergleichen. Nun, da sie ihn so von nahem betrachten konnte, bemerkte sie ein Stück runzliger weißer Haut, dort wo Backe und Ohrläppchen miteinander verschmolzen und wieder abgekühlt zu sein schienen.
»Warum hast du die Hände vors Gesicht geschlagen, bitte?« erkundigte sich Khalil aus Neugier, nachdem er die bessere der beiden Wäscheklammern ausgewählt hatte.
»Ich war einen Moment müde«, sagte sie.
»Dann wach auf. Du musst hellwach sein für deinen Auftrag. Und für die Revolution. Du kennst diesen Bombentyp? Hat Tayeh ihn dir erklärt?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat Bubi es getan.«
»Dann pass auf.« Er setzte sich neben sie aufs Bett, nahm das Holzbrett zur Hand und zog mit einem Kugelschreiber rasch ein paar Linien darauf, um den Schaltkreis darzustellen. »Was wir hier herstellen, ist eine Bombe für alle Gelegenheiten. Sie funktioniert als Zeitbombe - hier -, aber auch als mechanische Bombe beim Öffnen - hier. Sich nie auf was verlassen. Das ist unsere Philosophie.« Er reichte ihr eine Wäscheklammer und zwei Reißzwecken und sah zu, wie sie die Zwecken in die beiden Teile des Schnappendes drückte. »Ich bin kein Antisemit, weißt du das?«
»Ja.«
Sie gab ihm die Wäscheklammer zurück; er trug sie zum Waschbecken und machte sich daran, Drähte an die Köpfe der beiden Reißzwecken zu löten.
»Woher weißt du das?« wollte er wissen. Er war verwirrt.
»Tayeh hat mir das gleiche gesagt, und Michel auch.« Und ungefähr noch zweihundert andere Menschen, dachte sie.
»Der Antisemitismus ist genau genommen nichts weiter als eine christliche Erfindung.« Er kam wieder zum Bett zurück, brachte jedoch diesmal Minkels offene Aktentasche mit. »Ihr Europäer, ihr seid gegen alle Welt: anti-jüdisch, anti-arabisch, anti-schwarz. Wir haben viele Freunde in Deutschland. Aber nicht, weil sie Palästina liebten. Nur, weil sie die Juden hassen. Diese Helga - magst du die?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Sie ist sehr dekadent, glaube ich. Magst du Tiere?«
»Ja.«
Er setzte sich neben sie, die Aktentasche auf dem Bett neben sich. »Hat Michel Tiere gemocht?«
Entscheide dich. Du darfst nie zögern, hatte Joseph gesagt. Besser inkonsequent als unsicher.
»Wir haben nie darüber gesprochen.« »Nicht einmal über Pferde?« Und dich nie, nie verbessern! »Nein.«
Khalil hatte ein zusammengelegtes Taschentuch aus der Tasche hervorgeholt und aus der Mitte des Taschentuchs eine billige Taschenuhr, von der Glas und Stundenzeiger entfernt worden waren. Er legte sie neben den Sprengstoff, nahm dann den roten Draht und wickelte ihn von der Rolle ab. Das Brett hatte sie auf dem Schoß. Er nahm es ihr ab, ergriff dann ihre Hand und legte sie so hin, dass sie die Heftklammern festhielt, während er sie mit leichten Schlägen auf den von ihm vorgezeichneten Linien ins Holz trieb. Wieder am Waschbecken, lötete er den Draht an der Batterie an, und sie schnitt Isolierband in der passenden Länge für ihn zurecht.
»Siehst du«, sagte er stolz, nachdem er die Uhr befestigt hatte. Er war sehr nah bei ihr. Sie spürte seine Nähe wie Hitze. Er beugte sich vornüber wie ein Straßenpflasterer, ging vollkommen in seiner Arbeit auf.
»War mein Bruder bei dir fromm?« fragte er, nahm die Glühbirne und drehte das von der Isolierschicht befreite Drahtende um das Gewinde.
»Er war Atheist.«
»Manchmal war er Atheist, manchmal war er fromm. Und ein andermal war er ein dummer kleiner Junge, der nichts als Frauen, Autos und dummes Zeug im Kopf hatte. Tayeh sagt, du bist im Lager keusch gewesen. Keine Kubaner, keine Deutschen, überhaupt keine Männer.«
»Ich wollte Michel. Weiter wollte ich nichts. Michel«, sagte sie, zu emphatisch für ihr Ohr. Doch als sie zu ihm hinüberblickte, konnte sie nicht umhin, sich zu fragen, ob ihre brüderliche Liebe wirklich so unwandelbar gewesen war, wie Michel behauptet hatte, denn sein Gesicht hatte sich zweifelnd verzogen.
»Tayeh ist ein großer Mann«, sagte er, vielleicht um damit anzudeuten, dass Michel das nicht gewesen sei. Die Glühbirne blinkte auf. »Der Stromkreis funktioniert«, verkündete er und nahm die drei Sprengstäbe zur Hand. »Tayeh und ich - wir sind zusammen gestorben. Hat Tayeh dir davon erzählt?« fragte er, als er die Stäbe mit Charlies Hilfe fest mit Isolierband umwickelte.
»Nein.« »Die Syrer hatten uns erwischt - schneid hier ab! Erst haben sie uns geschlagen. Das ist normal. Steh bitte auf!« Er hatte eine alte braune Wolldecke aus dem Karton hervorgeholt, die sie über der Brust spannen musste, während er sie geschickt in Streifen schnitt. Ihre Gesichter waren einander über der Wolldecke sehr nahe. Sie roch die warme Süße seines arabischen Körpers.
»Beim Auspeitschen steigerten sie sich in immer größere Wut hinein und beschlossen, uns säm tliche Knochen zu brechen. Erst die Finger, dann die Arme, die Beine. Und dann, mit den Gewehrkolben, die Rippen.«
Die durch die Wolldecke gesteckte Messerspitze war nur ein paar Zentimeter von ihrem Körper entfernt. Er schnitt rasch und sauber, als ob die Wolldecke etwas wäre, was er gejagt und erlegt hätte. »Als sie mit uns fertig sind, lassen sie uns in der Wüste liegen. Ich bin froh. Jedenfalls sterben wir in der Wüste. Aber wir sterben nicht. Eine Patrouille unserer Kommandos findet uns. Drei Monate liegen Khalil und Tayeh nebeneinander im Lazarett. Schneemänner. In Gips. Wir führen manch gutes Gespräch miteinander, wir werden gute Freunde, wir lesen einige gute Bücher zusammen.«
Nachdem er die Streifen schön zu militärischen Stapeln aufeinander geschichtet hatte, wandte Khalil sich jetzt Minkels billiger schwarzer Aktenmappe zu, die - wie ihr zum ersten Mal auffiel - von der Rückseite her geöffnet worden war, und zwar an den Scharnieren; die Schlösser vorn waren immer noch fest geschlossen. Nacheinander legte er die zusammengelegten Streifen in die Tasche, bis er eine weiche Unterlage für die Bombe geschaffen hatte.
»Weißt du, was Tayeh eines Abends zu mir gesagt hat?« fragte er dabei. »›Khalil‹ , sagte er, ›wie lange wollen wir noch die netten Jungs spielen? Kein Mensch hilft uns, kein Mensch dankt uns. Wir halten große Reden, wir schicken gute Redner in die Vereinten Nationen, und wenn wir noch fünfzig Jahre warten, vielleicht wird dann unseren Enkelkindern - falls sie so lange leben - ein kleines bisschen Gerechtigkeit zuteil.‹ « Er unterbrach sich und zeigte ihr mit den Fingern seiner heilen Hand, wie viel. »›Inzwischen bringen uns unsere arabischen Brüder um, die Zionisten, die Falangisten, und diejenigen, die am Leben bleiben, gehen in die Diaspora. Wie die Armenier. Wie die Juden selbst.‹ « Jetzt wurde er listig. »›Aber wenn wir ein paar Bomben herstellen - ein paar Menschen umbringen -, wenn wir auch nur für zwei Minuten in der Geschichte der Menschheit eine Schlächterei veranstalten…‹ « Ohne den Satz zu beenden, nahm er die Bombe und legte sie feierlich und mit großer Präzision in die Mappe.
»Eigentlich brauche ich eine Brille«, erklärte er lächelnd und schüttelte dann den Kopf wie ein alter Mann. »Aber wo sollte ich mir eine holen - ein Mann wie ich?«
»Wenn du gefoltert worden bist wie Tayeh, warum humpelst du dann nicht wie Tayeh?« erkundigte sie sich, und ihre Stimme wurde plötzlich laut vor Nervosität.
Vorsichtig drehte er die Glühbirne aus dem Draht heraus und ließ die angeschnittenen Enden für den Zünder frei. »Der Grund, warum ich nicht hinke, liegt darin, dass ich zu Gott um Kraft gebetet habe. Gott hat sie mir gegeben, damit ich gegen den echten Feind kämpfe und nicht gegen meine arabischen Brüder.«
Er reichte ihr den Zünder und sah beifällig zu, wie sie ihn an den Stromkreis anschloss. Als sie fertig war, nahm er den übrig gebliebenen Draht, wickelte ihn sich mit kräftiger, fast unbewusster Bewegung wie Wolle um die toten Finger seiner rechten Hand, bis ein kleiner Strang entstand.
Er nahm ihn dann und wand das Ende zweimal wie einen Gürtel um die Mitte.
»Weißt du, was Michel mir vor seinem Tod geschrieben hat? In seinem letzten Brief?«
»Nein, Khalil, das weiß ich nicht«, erwiderte sie und sah zu, wie er die Drahtdocke in die Tasche warf.
»Bitte?«
»Nein. Ich habe nein gesagt. Ich weiß es nicht.« »Den er nur wenige Stunden vor seinem Tod abgeschickt hat? ›Ich liebe sie. Sie ist nicht wie die anderen. Gewiss, als ich sie kennenlernte, hatte sie das erstarrte Gewissen einer Europäerin - hier, zieh mal die Uhr auf, bitte - ›außerdem war sie eine Hure. Doch jetzt ist sie in ihrer Seele eine Araberin, und eines Tages werde ich sie unserem Volk und dir vorführen.‹ «
Blieb noch die mechanische Zündung, und um sie herzustellen, mussten sie noch inniger zusammenarbeiten, denn er verlangte von ihr, dass sie ein Ende Stahldraht durch das Material der Klappe führte, dann hielt er selbst die Klappe so niedrig wie möglich, während ihre kleinen Hände den Draht bis zum Dübel in der Wäscheklammer führten. Äußerst behutsam trug er den ganzen Mechanismus nochmals zum Waschbecken hinüber, drehte ihr den Rücken zu und machte die Scharniernadeln mit einem Tropfen Lötmasse auf jeder Seite wieder fest. Sie hatten die Linie überschritten, hinter der es kein Zurück mehr gibt.
»Weißt du, was ich Tayeh eines Tages gesagt habe?«
»Nein.«
»›Tayeh, mein Freund, wir Palästinenser sind ein sehr träges Volk im Exil. Warum haben wir keine Palästinenser im Pentagon? Im State Department? Warum steht die New York Times noch nicht unter unserer Leitung, die Wall Street, der CIA? Warum drehen wir keine Hollywoodfilme über unseren großen Kampf und lassen uns zum Bürgermeister von New York wählen oder zum Obersten Bundesrichter der USA? Was ist denn los mit uns, Tayeh? Warum haben wir keinen Unternehmungsgeist. Es reicht nicht, dass unsere Leute Ärzte, Naturwissenschaftler, Lehrer werden. Warum übernehmen wir nicht auch noch die Leitung von Amerika? Ist das der Grund, warum wir Bomben und Maschinenpistolen gebrauchen müssen?‹ «
Er stand unmittelbar vor ihr und hielt die Aktenmappe in der Hand wie ein guter Pendler auf dem Weg zur Arbeit.
»Weißt du, was wir tun sollten?« Sie wußte es nicht. »Marschieren. Und zwar wir alle. Ehe sie uns für immer vernichten.« Er reichte ihr den Unterarm und zog sie hoch. »Aus den Vereinigten Staaten, aus Australien, Paris, Jordanien, Saudi-Arabien, dem Libanon - von überallher in der Welt, wo es Palästinenser gibt. Wir nehmen Schiffe bis an die Grenzen. Flugzeuge. Millionen von uns. Wie eine große Flut, die kein Me nsch mehr zur Umkehr zwingen kann.« Er reichte ihr die Aktenmappe, sammelte dann seine Werkzeuge ein und packte sie in den Pappkarton. »Und dann marschieren wir alle zusammen in unserer Heimat ein, verlangen unsere Häuser und Höfe und Dörfer zurück, und wenn wir ihre Städte und Kibbuzim und Siedlungen dem Erdboden gleichmachen müssen, um sie wiederzufinden. Es würde nicht funktionieren. Und weißt du, warum nicht? Sie würden nie kommen.« Er hockte sich auf die Knie und suchte den fadenscheinigen Teppich nach verräterischen Spuren ab. »Unsere Reichen könnten keine Abstriche an ihren sozio-ökonomischen Verhältnissen und an ihrem Lebensstil ertragen«, erklärte er und unterstrich ironisch das Soziologen-Kauderwelsch. »Unsere Kaufleute würden ihre Banken, Läden und Büros nicht verlassen. Unsere Ärzte würden ihre eleganten Kliniken nicht aufgeben und die Rechtsanwälte ihre korrupten Praxen genausowenig wie unsere Akademiker ihre behaglichen Universitäten.« Er stand vor ihr, und sein Lächeln war ein Triumph über all seine Schmerzen. »Also machen die Reichen das Geld und überlassen den Armen das Kämpfen. Wann wäre es je anders gewesen?«
Sie stieg vor ihm die Treppe hinunter. Abgang Nutte, das Köfferchen mit Tricks und Hilfsmitteln in der Hand. Der Coca-Cola-Wagen stand noch im Vorhof, doch er ging an ihm vorüber, als hätte er ihn noch nie im Leben gesehen, und kletterte in den Ford eines Bauern, einen Diesel, der bis unters Dach mit Strohballen beladen war. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. Wieder Berge. Fichten, die auf einer Seite mit frischem nassen Schnee beladen waren, Anweisungen à la Joseph: Verstehst du? Ja, Khalil, ich verstehe. Dann wiederhol mir das! Sie tat es. Es ist für den Frieden, vergiss das nicht. Tu’ ich, Khalil, tu’ ich: für den Frieden, für Michel, für Palästina; für Joseph und für Khalil; für Marty, für die Revolution und für Israel; und für das Theater des Wirklichen. Er hielt neben einer Scheune und schaltete die Scheinwerfer aus. Er blickte auf die Uhr. Weiter unten an der Straße leuchtete zweimal eine Taschenlampe auf. Er langte an ihr vorbei und stieß die Tür auf.
»Er heißt Franz. Sag ihm, du bist Margaret. Viel Glück!«
Der Abend war feucht und still. Die Straßenlaternen der Altstadt hingen wie eingesperrte weiße Monde in ihren Eisenfassungen. Sie hatte sich von Franz an der Ecke absetzen lassen, denn sie wollte vor ihrem Auftritt die paar Schritte über die Brücke zu Fuß zurücklegen. Sie wollte das pausbäckig-gerötete Aussehen von jemand haben, der von draußen hereinkommt, sie wollte die Frische der Kälte auf dem Gesicht und den Hass im Hinterkopf. Sie befand sich in einer Gasse zwischen niedrigen Bauzäunen, die sich um sie schlossen wie ein armseliger Tunnel. Sie kam an einer Kunstgalerie vorüber, die voll war von Selbstporträts eines blonden, nicht sehr sympathischen jungen Mannes mit Brille, dann an einer zweiten Kunstgalerie daneben, in denen idealisierte Landschaften gezeigt wurden, die der junge Mann nie betreten würde. Wandschmierereien schrieen sie an, doch sie konnte kein Wort verstehen, bis sie plötzlich las: »Fuck America!« Danke für die Übersetzung, dachte sie. Dann war sie wieder im Freien, stieg die mit Sand bestreuten Betonstufen empor, doch sie waren vom Schnee immer noch sehr glatt. Sie kam oben an und sah die Glastüren der Universitätsbibliothek zu ihrer Linken. Im Studentencafe brannte immer noch Licht. Rachel und ein Junge saßen gespannt am Fenster. Sie passierte den ersten marmornen Totempfahl, sie ging über die Fußgängerbrücke hoch über dem Fahrdamm, um die andere Straßenseite zu erreichen. Schon ragte das Vorlesungsgebäude vor ihr auf; Scheinwerfer verwandelten den erdbeerfarbenen Sandstein in flammendes Karmesinrot. Autos fuhren vor; die ersten Zuhörer trafen ein, stiegen die vier Stufen zum Vordereingang empor, blieben stehen, um Hände zu schütteln und sich gegenseitig zu versichern, wie unvergleichlich prominent man doch sei. Ein paar Sicherheitsbeamte untersuchten mechanisch Damenhandtaschen. Sie ging weiter. Die Wahrheit wird euch frei machen. Sie passierte den zweiten Totempfahl und ging auf die nach unten führende Treppe zu. Die Aktenmappe baumelte an ihrer rechten Hand, und sie spürte, wie sie ihre Schenkel streifte. Eine heulende Polizeisirene bewirkte, dass sich ihre Schultermuskeln vor Schreck verkrampften; trotzdem ging sie weiter. Zwei Polizeimotorräder mit blitzendem Blaulicht fuhren vor einem schimmernden schwarzen Mercedes mit Stander her. Für gewöhnlich wandte sie, wenn große Wagen vorüberfuhren, das Gesicht ab, um den darin Sitzenden nicht die Genugtuung zu geben, dass man sie ansehe, doch heute abend war das etwas anderes. Heute abend konnte sie den Kopf hoch tragen; sie hatte die Antwort ja in der Hand. Sie starrte sie daher an und wurde belohnt durch den Anblick eines geröteten, übergewichtigen Mannes in schwarzem Anzug und silberner Krawatte; und einer missmutig dreinblickenden Gattin mit dreifachem Kinn und Nerzplaid. Für große Lügen brauchen wir selbstverständlich ein großes Publikum , fiel ihr ein. Eine Kamera blitzte, das hochgestellte Paar stieg - von mindestens drei Vorübergehenden bewundert - zu den Glastüren hinauf. Bald, ihr Schweine, dachte sie, bald!
Unten an der Treppe wendest du dich nach rechts. Das tat sie und ging weiter, bis sie die Ecke erreichte. Paß auf, dass du nicht in den Fluss fällst, hatte Helga gesagt und war sich dabei besonders witzig vorgekommen. Khalils Bomben sind nicht wasserdicht, Charlie, und du auch nicht. Sie bog nach links ab und ging seitlich an dem Gebäude entlang, über einen Bürgersteig mit Kopfsteinpflaster, auf dem kein Schnee liegen geblieben war. Der Fußweg verbreiterte sich, wurde zu einem Hof, und in der Mitte dieses Hofes, neben einer Gruppe von Blumenkübeln aus Beton, stand ein Mannschaftswagen der Polizei. Davor standen zwei uniformierte Beamte und taten voreinander groß, hoben die Reitstiefel und lachten, um jeden finster anzublicken, der es wagte, sie dabei zu beobachten. Sie war keine fünfzehn Meter von der Seitentür entfernt und begann die Ruhe zu spüren, auf die sie wartete - jenes Gefühl fast von Erleichterung, das sie überkam, sobald sie die Bühne betrat und ihre anderen Identitäten in der Garderobe zurückließ. Sie war Imogen aus Südafrika, ein Mädchen, das an Mut mitbrachte, was ihr an Anmut fehlte, und sich beeilte, einem großen Freiheitshelden beizustehen. Sie war peinlich berührt -Scheiße, es war ihr zum Sterben peinlich -, aber entweder sie tat jetzt das Richtige, oder sie verpatzte es. Sie hatte den Seiteneingang erreicht. Er war verschlossen. Sie drückte die Klinke herunter, doch nichts bewegte sich. Verdutztes Zittern. Sie legte die Handfläche gegen die Füllung und drückte, doch die Tür gab nicht nach. Sie trat zurück und starrte die Tür an, dann sah sie sich hilfesuchend um. Inzwischen hatten die beiden Polizisten aufgehört, miteinander zu schön zu tun und fassten sie argwöhnisch ins Auge, doch keiner von ihnen machte einen Schritt.
Vorhang auf! Los!
»Bitte, entschuldigen Sie«, rief sie ihnen zu. »Sprechen Sie Englisch?«
Sie bewegten sich immer noch nicht. Wenn jemand ein Stück gehen musste, dann sollte sie’s doch tun. Sie war schließlich nur ein Bürger, und dazu noch eine Frau.
»I said do you speak English? Englisch - sprechen Sie? Irgend jemand muss dies dem Professor geben. Sofort. Würden Sie bitte mal herkommen?«
Beide machten finstere Gesichter, doch nur einer kam zu ihr herüber. Langsam, auf seine Würde bedacht.
»Toilette nicht hier«, raunzte er sie an und wies mit einer Kopfbewegung die Straße hinauf, die sie gerade heruntergekommen war. »Ich will ja gar nicht zur Toilette. Ich möchte, dass Sie jemand finden, der diese Aktentasche Professor Minkel übergibt. Minkel«, wiederholte sie und hielt die Aktentasche in die Höhe.
Der Polizist war jung und machte sich nichts aus Jugend. Er nahm ihr die Aktentasche nicht ab, sondern ließ sie sie halten, während er am Schloss herumdrückte und sich überzeugte, dass es wirklich verschlossen war.
Junge, Junge, dachte sie. Da hast du grad eben Selbstmord begangen und funkelst mich trotzdem noch an. »Öffnen!« befahl er.
»Das kann ich nicht. Sie ist verschlossen.« Sie gab ihrer Stimme einen verzweifelten Klang. »Sie gehört dem Professor, verstehen Sie denn nicht? Soviel ich weiß, hat er die Unterlagen für seinen Vortrag darin. Die braucht er für heute abend.« Sie wandte sich von ihm ab und hämmerte laut gegen die Tür. »Professor Minkel? Ich bin’s, Imogen Baastrup von der Witwatersrand-Universität. O Gott.«
Der zweite Polizist war zu ihnen getreten. Er war älter und hatte dunkle Wangen. Charlie appellierte an seine größere Weisheit. »Well, do you speak English?« sagte sie, doch im selben Augenblick ging die Tür ein paar Zentimeter auf, und ein ziegenbockähnliches Männergesicht blickte sie höchst misstrauisch an. Er sagte etwas auf deutsch zu dem ihm näher stehenden Polizisten, und Charlie hörte das Wort Amerikanerin in seiner Antwort.
»Nein, ich bin keine Amerikanerin«, erwiderte sie, jetzt beinahe den Tränen nahe. »Ich bin Imogen Baastrup aus Südafrika und bringe Professor Minkel seine Aktentasche. Er hat sie verloren. Würden Sie bitte so freundlich sein und sie ihm sofort bringen? Ich bin überzeugt, er ist verzweifelt auf sie angewiesen. Please!«
Die Tür ging weit genug auf, um auch noch den Rest von ihm zu zeigen: ein korpulenter, bürgermeisterlich aussehender Mann von sechzig oder mehr Jahren in einem schwarzen Anzug. Er war sehr blass, und für Charlies heimliches Auge hatte auch er Angst.
»Sir, do you speak English, please? Do you?«
Er sprach nicht nur Englisch, er hatte sogar Eide darin geschworen. Denn er sagte: »I do«, so feierlich, dass er sich für den Rest seines Lebens deshalb nichts würde vormachen können. »Würden Sie dies dann Professor Minkel mit den besten Empfehlungen von Imogen Baastrup übergeben und ihm sagen, es täte ihr leid, aber das Hotel habe die Sachen blöderweise vertauscht, und dass ich mich sehr darauf freute, ihn heute abend zu hören…« Sie hielt die Aktenmappe hin, doch der bürgermeisterliche Mensch weigerte sich, sie anzunehmen. Er sah den Polizisten hinter ihr an und schien irgendeine undeutliche Zusicherung von ihm zu empfangen; er blickte wieder auf die Aktentasche, dann auf Charlie.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, sagte er wie ein Butler auf der Bühne, der seine zehn Pfund pro Abend verdient, und trat beiseite, um sie einzulassen.
Sie erschrak. Das stand nicht im Text. Weder in Khalils noch in Helgas, noch in sonst jemandes. Was passierte, wenn Minkel die Tasche vor ihren Augen aufschloss?
»Oh, das geht nicht. Ich muss zu meinem Platz im Auditorium. Ich habe noch keine Eintrittskarte. Bitte!«
Doch der bürgermeisterliche Mann hatte auch seine Befehle und seine Ängste, denn als sie die Aktenmappe auf ihn zuschob, zuckte er davor zurück, als wäre es das höllische Feuer. Die Tür ging zu, sie standen auf einem Korridor mit isolierten Röhren an der Decke. Sie erinnerten sie kurz an die Röhren an der Decke im Olympischen Dorf. Ihr widerstrebender Begleiter ging vor ihr her. Sie roch Öl und hörte das gedämpfte Wummern eines Brenners; sie spürte eine Hitzewelle im Gesicht und dachte daran, ohnmächtig zu werden oder sich zu übergeben. Der Griff der Aktentasche schwitzte Blut aus, sie fühlte, wie ihr der warme Schleim zwischen den Fingern hindurchrann. Sie erreichten eine Tür, auf der stand Vorstand. Der bürgermeisterliche Mann klopfte an und rief: »Oberhauser! Schnell!« Und während er das tat, warf sie einen verzweifelten Blick hinter sich und sah zwei blonde Jungen in Lederjacken auf dem Korridor hinter ihr. Sie trugen Maschinenpistolen. Himmelherrgott, was ist das? Die Tür ging auf, Oberhauser trat als erster ein und rasch zur Seite, als wollte er nichts mit ihr zu tun haben. Sie stand zwischen den Filmkulissen für Das Ende einer Reise, und die Hinterbühne war mit Sandsäcken geschützt; große Ballen Füllmaterial schützten die Decke und wurden von Maschendraht festgehalten. Sandsackwälle bildeten von der Tür an einen Zickzackgang. In der Bühnenmitte stand ein niedriger Tisch und darauf ein Tablett mit Getränken. Daneben, auf einem niedrigen Sessel, saß Minkel wie eine Wachsfigur und starrte sie direkt an. Ihm gegenüber seine Frau und neben ihm eine pummelige Deutsche mit Pelzstola - wohl die Frau von Oberhauser, wie Charlie annahm.
So viel zu den Hauptpersonen; in den Kulissen drängte sich zwischen den Sandsäcken in zwei deutlich getrennte Gruppen aufgeteilt der Rest der Einheit; ihre Sprecher standen Schulter an Schulter in der Mitte. Die Heimmannschaft wurde von Kurtz angeführt; zu seiner Linken stand ein geiler Mann mittleren Alters mit schwachem Gesicht - wie Charlie Alexis rasch und verächtlich einschätzte. Neben Alexis standen seine Häscher, die ihr die feindseligen Gesichter zugewandt hatten. Ihnen gegenüber einige Angehörige der Familie, die sie bereits kannte, dazu Fremde, und ihre dunklen jüdischen Gesichter im Gegensatz zu ihren deutschen Gegenstücken war einer jener Eindrücke, die ihr als dramatische Situation in Erinnerung bleiben sollten, solange sie lebte. Kurtz, der Zirkusdirektor, hatte den Finger an die Lippen gelegt und die linke Hand erhoben, um einen Blick auf die Uhr zu werfen.
Sie wollte schon sagen: »Wo ist er?«, doch dann, mit einem Aufwallen von Freude und Zorn, sah sie ihn wie immer abseits von den anderen stehen, der sorgenbeladene einsame Regisseur bei der Premiere. Lebhaft kam er auf sie zu, stellte sich ein wenig seitlich von ihr hin und ließ ihr einen Weg zu Minkel frei. »Sag ihm deinen Text, Charlie«, wies er sie ruhig an. »Sag, was du sagen würdest, und tu so, als ob alle, die nicht am Tisch sitzen, nicht da wären« - und alles, was sie brauchte, war das Klack der Klappe vor ihrem Gesicht.
Seine Hand kam ihrer nahe, sie spürte, wie die Härchen ihre Haut berührten. Sie wollte sagen: »Ich liebe dich - wie geht es dir?« doch es galt, einen anderen Text zu sprechen, und so holte sie tief Atem und sagte ihn stattdessen auf, denn das war schließlich die Basis ihrer Beziehung. »Herr Professor, es ist etwas Furchtbares passiert«, begann sie, und ihre Worte überstürzten sich fast. »Die dummen Leute im Hotel haben Ihre Aktenmappe mit meinem Gepäck in mein Zimmer hinaufgeschafft. Sie haben wohl gesehen, wie ich mit Ihnen sprach, nehme ich an, und da war mein Gepäck, und da war Ihr Gepäck, und irgendwie hat dieser dumme Junge wohl gedacht, es sei meine Aktentasche…« Sie wandte sich Joseph zu , um ihm zu verstehen zu geben, dass sie jetzt nicht weiterwisse. »Gib dem Professor die Aktenmappe«, befahl er. Minkel stand auf. Er sah hölzern aus und schien in Gedanken ganz woanders, wie jemand, der eine lange Haftstrafe verkündet bekommt. Frau Minkel bemühte sich betont zu lächeln. Charlies Knie waren wie gelähmt, doch da sie Josephs Hand am Ellbogen spürte, schaffte sie es, vorzuwanken, ihm die Tasche hinzuhalten und noch ein paar Verse zu sagen.
»Nur hab’ ich sie erst vor einer halben Stunde entdeckt. Sie hatten sie nämlich in meinen Schrank gestellt, und meine Kleider hingen alle darüber. Aber als ich sie dann sah und die Karte daran las, bin ich fast wahnsinnig geworden…«
Minkel hätte die Tasche auch entgegengenommen, doch gerade als sie sie ihm übergab, zauberten andere Hände sie in einen großen schwarzen Kasten hinein, der auf der Erde stand und aus dem sich dicke Kabel schlängelten. Plötzlich schienen sie alle Angst vor ihr zu haben und kauerten sich hinter die Sandsäcke. Josephs starke Arme zogen sie hinter ihnen her, seine Hand drückte ihr Gesicht nach unten, bis sie auf ihre eigene Taille blickte. Doch vorher sah sie noch einen Tiefseetaucher in einem schweren Bombenanzug auf die Kiste zuwatscheln. Er trug einen Helm mit einer Sichtscheibe aus dickem Panzerglas und darunter eine Mundmaske wie ein Chirurg, damit das Glas von innen nicht beschlug. Ein gedämpfter Befehl gebot Ruhe; Joseph hatte sie an sich gezogen und erdrückte sie fast mit seinem Körper. Ein weiterer Befehl signalisierte allgemeines Aufatmen; Köpfe tauchten wieder auf, doch er hielt sie immer noch nach unten gedrückt. Sie hörte das Geräusch von Schritten, die sich in ordentlicher Eile entfernten, und als er sie endlich freigab, sah sie, wie Litvak mit etwas vorwärts stürmte, das offensichtlich seine eigene Bombe war, eine sehr viel eindeutigere Angelegenheit als die von Khalil, mit heraushängenden Drähten, die noch nicht angeschlossen waren. Mit Entschiedenheit führte Joseph sie inzwischen wieder zurück in die Mitte des Raums.
»Fahr mit deinen Erklärungen fort«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du warst gerade dabei zu beschreiben, wie du den Anhänger gelesen hast. Von da aus weiter. Was hast du getan?« Tief Luft holen. Weiter im Text.
»Als ich dann an der Rezeption nachfragte, sagte man mir, Sie wären für den Abend ausgegangen, Sie hielten diesen Vortrag in der Universität, und da bin ich einfach in ein Taxi gesprungen - ich meine, ich weiß nicht, ob Sie mir verzeihen können. Hören Sie, ich muss los. Viel Glück, Herr Professor. Und viel Erfolg bei Ihrem Vortrag.«
Auf ein Nicken von Kurtz hin hatte Minkel einen Schlüsselbund aus der Tasche geholt und tat so, als wählte er einen ganz bestimmten Schlüssel aus, dabei hatte er gar keine Aktenmappe, mit der er hätte spielen können. Doch Charlie war unter Josephs drängender Leitung bereits auf dem Weg zur Tür; halb ging sie, halb trug er sie mit dem Arm, den er ihr um die Hüfte gelegt hatte. Ich tu’s nicht, Jose, ich kann es nicht. Ich hab’ all meinen Mut verbraucht, so wie du es gesagt hast. Lass mich jetzt nicht gehen, Jose, bitte nicht. Hinter ihr hörte sie gedämpfte Befehle und das Geräusch hastiger Schritte, als alle den Rückzug anzutreten schienen.
»Zwei Minuten«, rief Kurtz warnend hinter ihnen her. Sie waren wieder draußen auf dem Korridor bei den beiden blonden Jungen mit den Maschinenpistolen.
»Wo bist du mit ihm zusammengetroffen?« fragte Joseph mit leiser, eiliger Stimme.
»In einem Hotel Eden. Eine Art Puff am Rande der Stadt. Neben einer Drogerie. Er hat einen roten Coca-Cola-Wagen. FR Strich BT was weiß ich, fünf. Und einen Ford-Caravan. Nur, die Nummer hab’ ich nicht mitgekriegt.«
»Mach deine Tasche auf.« Sie tat es. Schnell, so wie er sprach. Er nahm ihren kleinen Radiowecker heraus und vertauschte ihn gegen einen genauso aussehenden, den er aus seiner Tasche holte.
»Es ist nicht derselbe Trick wie bei dem anderen«, warnte er sie rasch. »Er empfängt nur auf einem Sender. Er gibt auch noch die Zeit an, nur wecken kann er nicht. Dafür hat er einen Sender, der uns verrät, wo du bist.« »Wann?« fragte sie verständnislos.
»Was sollst du nach Khalils Befehlen jetzt machen?« »Ich soll die Straße runtergehen, immer weiter - Jose, wann kommst du? - um Himmels willen!«
Sein Gesicht zeigte einen verhärmten und verzweifelten Ernst, doch keine Zugeständnisse.
»Hör zu, Charlie. Hörst du zu?«
»Ja, Jose, ich höre.«
»Wenn du auf den Lautstärkeregler an deinem Radiowecker drückst - nicht drehen, sondern drücken -, wissen wir, dass er schläft. Verstehst du?«
»Er wird aber nicht einfach so schlafen.«
»Was soll das heißen? Wieso weißt du, wie er schläft?«
»Er ist wie du, nicht so wie die anderen, er ist Tag und Nacht wach. Er ist... Jose, ich kann nicht zurück. Bitte, zwing mich nicht.« Flehentlich sah sie ihm ins Gesicht, wartete immer noch darauf, dass er nachgab, doch sein Gesicht hatte sich ihr völlig verschlossen.
»Er will, dass ich mit ihm schlafe, Himmelherrgott! Er will eine Hochzeitsnacht, Jose! Rührt sich da bei dir nichts? Er fängt dort mit mir an, wo Michel aufgehört hat. Er hat ihn nicht gemocht. Er will mit ihm abrechnen. Muss ich immer noch gehen?« Sie klammerte sich so ungestüm an ihn, dass er Schwierigkeiten hatte, ihren Griff zu lösen. Den Kopf gesenkt und gegen seine Brust gedrückt, stand sie da, wollte, dass er sie wieder beschützte. Statt dessen schob er ihr die Hände unter die Arme und richtete sie auf; wieder sah sie sein Gesicht, völlig verschlossen, das ihr sagte, Liebe sei nichts für sie beide. Weder für sie noch für ihn und schon gar nicht für Khalil. Er brachte sie auf den Weg, sie schüttelte ihn ab und ging allein. Er machte noch einen Schritt hinter ihr her, blieb dann jedoch stehen. Sie blickte zurück und hasste ihn; sie machte die Augen zu und wieder auf und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Ich bin tot.
Sie trat hinaus auf die Straße, reckte sich und marschierte flott wie ein Soldat und genauso blind eine schmale Straße hinunter, an einem schäbigen Nachtklub vorüber, der beleuchtete Bilder von Mädchen um die Dreißig mit wenig beeindruckenden Brüsten zur Schau stellte. Das sollte ich tun, dachte sie. Sie erreichte eine Hauptstraße, erinnerte sich an das, was sie als Fußgängerin gelernt hatte, blickte nach links und sah einen mittelalterlichen Torturm und geschmackvoll darauf einen Schriftzug für McDonald’s Hamburger. Die Ampel wurde für sie grün, sie ging weiter und sah hohe schwarze Berge, die das Ende der Straße versperrten, und dahinter einen blassen, wolkenverhangenen Himmel, an dem es unruhig zuckte. Sie blickte sich um und sah, dass der Münsterturm ihr folgte.
Sie bog nach rechts ab und ging so langsam wie nie zuvor in ihrem Leben eine dicht belaubte Straße mit herrschaftlichen Villen hinunter. Jetzt zählte sie für sich selbst. Zahlen. Jetzt sagte sie Verse auf. Jose geht in die Stadt. Jetzt dachte sie wieder daran, was im Vorlesungsgebäude geschehen war, doch ohne Kurtz, ohne Joseph und ohne die mörderischen Techniker von zwei unversöhnlichen Parteien. Vor ihr schob Rossino schweigend sein Motorrad aus einer Toreinfahrt heraus. Sie ging auf ihn zu, er reichte ihr einen Helm und eine Lederjacke, und als sie anfing, sich anzuziehen, bewog sie irgend etwas, sich umzudrehen und in die Richtung zurückzublicken, aus der sie kam. Sie sah ein träges orangefarbenes Aufglühen über die feuchten Pflastersteine auf sich zukommen wie den Strahl der untergehenden Sonne und stellte fest, wie lange der Eindruck davon im Auge blieb, nachdem es schon längst verschwunden war. Dann endlich hörte sie den Laut, den sie völlig benommen erwartet hatte: einen fernen, zugleich vertrauten dumpfen Ton, als ob tief in ihr etwas gerissen wäre, das nicht mehr zusammenzunähen war; das genaue und bleibende Ende der Liebe. Hm, Joseph, ja. Leb wohl!
Genau im selben Augenblick sprang Rossinos Maschine an und zerriss mit ihrem röhrenden, triumphierenden Gelächter die feuchte Nacht. Ich auch, dachte sie. Das ist der komischste Tag in meinem ganzen Leben.
Rossino fuhr langsam, hielt sich an kleine Straßen und folgte einer sorgsam ausgeklügelten Route.
Du fährst, ich folge. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich Italienerin werde.
Ein warmer Sprühregen hatte den größten Teil des Schnees wegschmelzen lassen, doch er fuhr vorsichtig mit Rücksicht auf die schlechte Beschaffenheit der Straße und auf seine wichtige Beifahrerin. Er schrie ihr etwas Freudiges zu und schien sich großartig zu amüsieren, doch sie war nicht daran interessiert, seine gute Laune zu teilen. Sie fuhren durch ein großes Tor hindurch, und sie rief: »Ist es hier?« Dabei hatte sie keine Ahnung, und es war ihr auch egal, was sie mit ›hier‹ gemeint haben könnte, aber das Tor führte zu einer ungeräumten Straße über Berge und Täler eines Privatwaldes, und sie durchquerten diese allein unter einem hüpfenden Mond, der doch sonst Josephs Privateigentum gewesen war. Sie blickte in die Tiefe und sah ein schlafendes Dorf, das in ein weißes Tuch gehüllt war; sie roch griechische Fichten und spürte, wie der Wind ihr die Tränen aus dem Gesicht blies. Sie hielt Rossinos zitternden, ihr fremden Körper an sich gedrückt und sagte zu ihm: Bediene dich, es ist nichts übrig geblieben.
Sie fuhren einen letzten Hügel hinunter, kamen zu einem anderen Tor hinaus und gelangten auf eine Straße, an der links und rechts nackte Lärchen wie die Bäume bei Familienferien in Frankreich standen. Wieder ging es bergauf, und als sie die Kuppe erreicht hatten, stellte Rossino den Motor ab und wollte einen Fußpfad hinunter, der in den Wald führte. Er machte eine Satteltasche auf und zog ein Bündel Kleider und eine Handtasche hervor und warf ihr alles zu. Er hielt eine Taschenlampe, in deren Lichtstrahl er sie beobachtete, während sie sich umzog, und einen Augenblick lang stand sie halbnackt vor ihm.
Wenn du mich willst, dann nimm mich: ich bin nicht gebunden und bin zu haben.
Sie war ohne Liebe und für sich ohne Wert. Sie war wieder dort, wo sie angefangen hatte, und die ganze Scheißwelt konnte sie vögeln. Sie schüttete ihre Siebensachen von einer Tasche in die andere, Puderdose, Tampons, ein paar Münzen, ihr Päckchen Marlboros. Und ihren billigen Radiowecker für die Proben - drück auf den Lautstärkeregler, Charlie, hörst du! Rossino nahm ihren alten Paß und gab ihr einen neuen, doch sie machte sich nicht einmal die Mühe herauszufinden, was für eine Staatsangehörigkeit sie jetzt hatte.
Bürgerin von Nirgendwo, geboren gestern.
Er sammelte ihre alten Kleider ein und stopfte sie zusammen mit ihrer alten Schultertasche und der Brille in die Satteltasche. Warte hier, aber blick auf die Straße, sagte er. Er wird zweimal mit einem roten Licht blinken. Er war kaum fünf Minuten fort, da sah sie es durch die Bäume blinken. Hurra, endlich ein Freund.