Kapitel 12

Die Hügelkuppe roch nach Thymian und war für Joseph ein besonderer Ort. Er hatte ihn auf der Karte ausgesucht und Charlie mit einem Ausdruck von höchster Bedeutsamkeit hingeführt, erst mit dem Auto und jetzt zu Fuß, wobei er absichtlich vorbei an Reihen von strohgeflochtenen Bienenkörben, durch Zypressenlichtungen und über steinige, von gelben Blumen übersäte Felder hinaufgestiegen war. Die Sonne hatte den höchsten Stand noch nicht erreicht. Landeinwärts erstreckte sich ein brauner Bergzug hinter dem anderen. Im Osten erkannte sie die Silberflächen der Ägäis, bis sie im Dunst in den Himmel übergingen. Es duftete nach Harz und Honig, und man hörte das Gebimmel von Ziegenglocken. Eine frische Brise ließ die eine Seite ihres Gesichts brennen und drückte ihr das leichte Kleid an den Körper. Sie hielt seinen Arm, doch Joseph, der tief in Gedanken versunken war, schien das gar nicht zu bemerken. Einmal glaubte sie, Dimitri auf einer Pforte hocken zu sehen, doch als sie rief, wies er sie streng zurecht, ihn nicht zu grüßen. Ein andermal hätte sie schwören mögen, dass sich die Silhouette von Rose hoch über dem Horizont abhob, doch als sie wieder hinsah, konnte sie nichts entdecken.

Ihr Tag hatte bis dahin eine eigene Choreographie gehabt, und sie hatte sich von ihm mit seiner üblichen Ruhelosigkeit hindurchführen lassen. Rachel hatte über ihr gestanden, als sie früh aufgewacht war, und ihr gesagt, sie möge doch bitte das andere Blaue anziehen, Liebling, das mit den langen Ärmeln. Sie hatte schnell geduscht und war splitternackt ins Zimmer zurückgekehrt, aber Rachel war nicht mehr zu sehen gewesen, statt dessen hatte Joseph vor einem Frühstückstablett für zwei gehockt und die griechischen Nachrichten in dem kleinen Radio gehört - für alle Welt ihr Gefährte der Nacht. Sie war ins Bad zurückgeschossen, um die Tür herum hatte er ihr das Kleid gereicht, rasch und nahezu wortlos hatten sie gefrühstückt. In der Halle hatte er bar bezahlt und die Rechnung weggesteckt. Als sie ihr Gepäck zum Mercedes hinausgetragen hatten, hatte keine drei Schritte von der hinteren Stoßstange entfernt Raoul, der Hippie-Junge, auf dem Boden gelegen und am Motor eines völlig überladenen Motorrads herumgefummelt, während Rose, die Hüfte hoch, im Gras gelegen und ein Brötchen gemampft hatte. Wie lange sie wohl schon da gewesen sein und warum sie den Wagen bewacht haben mochten? Joseph war die zwei Kilometer zur Straße und zu den Grabungsstätten zurückgefahren, hatte den Wagen wieder geparkt und sie -längst bevor andere Sterbliche sich anstellten und schwitzten -durch ein Seitentor hineingeschleust und nochmals mit einem Rundgang durch den Mittelpunkt des Universums beglückt. Er hatte ihr den Tempel des Apoll, die mit Preisliedern bedeckte dorische Mauer sowie den Stein gezeigt, der den Nabel der Welt darstellte. Er hatte ihr die Schatzkammer und die Wettkampfbahn gezeigt und ihr erzählt, wie viele Kriege geführt worden waren, um das Orakel in Besitz zu bekommen. Nur hatte sein Verhalten diesmal nichts Schwereloses wie auf der Akropolis. Sie sah ihn im Geiste förmlich mit einer Liste in der Hand, von der er ein Thema nach dem anderen abhakte, während er sie durch die Grabungsstätte hetzte.

Auf dem Rückweg zum Wagen reichte er ihr die Autoschlüssel.

»Ich?« sagte sie.

»Warum nicht? Ich dachte, schnittige Wagen wären deine Schwäche.«

Über leere, gewundene Straßen ging es nordwärts, und zuerst machte er kaum etwas anderes, als ihre Fahrtechnik abzuschätzen, ganz als müsse sie eine zweite Fahrprüfung ablegen, doch ließ sie sich von ihm nicht nervös machen und er sich offensichtlich auch nicht von ihr, denn bald breitete er die Karte auf den Knien aus und beachtete sie überhaupt nicht mehr. Der Mercedes fuhr sich wie ein Traum, die Straße ging von Asphalt in Schotter über. Bei jeder scharfen Kehre schoss eine Staubwolke hoch und trieb, vom frischen Sonnenlicht erhellt, hinaus in die überwältigende Landschaft. Plötzlich faltete er die Karte zusammen und steckte sie wieder in die Seitentasche neben sich. »So, Charlie, bist du bereit?« fragte er sie brüsk, als hätte sie ihn die ganze Zeit über warten lassen. Und nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf.

Zuerst waren sie immer noch in Nottingham, ihre Raserei auf dem Höhepunkt. Sie hätten zwei Nächte und einen Tag im Motel verbracht, sagte er; das gehe aus den Eintragungen hervor.

»Wenn man die Angestellten ausquetscht, werden sie sich an ein Liebespaar erinnern, auf das unsere Beschreibung zutrifft. Unser Schlafzimmer lag am westlichen Ende des Gebäudekomplexes und ging auf einen eigenen kleinen Garten hinaus. Wenn es soweit ist, wird man dich hinbringen, dann kannst du dir selbst ein Bild davon machen.«

Die meiste Zeit hätten sie im Bett verbracht, sagte er, über Politik geredet, sich gegenseitig ihr Leben erzählt, sich geliebt. Die einzigen Unterbrechungen seien ein paar Spritztouren in die ländliche Umgebung von Nottingham gewesen, doch habe das Verlangen nacheinander sie rasch wieder gepackt, und sie seien ins Motel zurückgeeilt.

»Warum haben wir denn nicht einfach im Auto eine Nummer geschoben?« erkundigte sie sich in dem Bemühen, ihn aus seiner düsteren Stimmung herauszuholen. »Ich hab’s gern spontan.«

»Deine Neigungen in allen Ehren, doch leider ist Michel in diesen Dingen ein bisschen schüchtern und zieht die Ungestörtheit des Schlafzimmers vor.«

Sie versuchte es noch einmal. »Und wie ist er überhaupt im Bett?«

Auch darauf hatte er eine Antwort: »Nach unseren bestinformierten Berichten ein bisschen phantasielos, aber seine Begeisterung ist grenzenlos, und seine Manneskraft beeindruckend.«

»Danke«, sagte sie ernst.

Montag in aller Frühe, fuhr er fort, sei Michel nach London zurückgekehrt, doch Charlie, die erst am Nachmittag Probe hatte, sei mit gebrochenem Herzen im Motel zurückgeblieben. Munter beschrieb er ihren Kummer.

»Der Tag ist dunkel, wie bei einer Beerdigung. Der Regen fällt immer noch. Vergiss das Wetter nicht. Zuerst bist du so in Tränen aufgelöst, dass du nicht mal aufstehen kannst. Du liegst im Bett, das noch ganz warm von seinem Körper ist. Du weinst dir die Augen aus. Er hat dir gesagt, er werde versuchen, nächste Woche nach York zu kommen, doch du bist überzeugt, dass du ihn nie im Leben wieder siehst. Was machst du also?« Er gab ihr gar keine Chance zu antworten. »Du hockst dich vor den Spiegel an den schmalen Frisiertisch und starrst die Male an, die seine Hände auf deinem Körper hinterlassen haben, und deine eigenen Tränen, die immer noch fließen. Du ziehst eine Schublade auf. Nimmst die Schreibmappe des Motels heraus, einen Reklamekugelschreiber. Und schreibst ihm einen Brief, so, wie du da sitzt. Beschreibst dich, deine geheimsten Gedanken. Fünf Seiten lang. Den ersten von vielen, vielen Briefen, die du ihm schickst. Würdest du das tun? In deiner Verzweiflung? Du bist schließlich eine impulsive Briefschreiberin.«

»Wenn ich seine Adresse hätte, würde ich das tun.«

»Er hat dir eine Adresse in Paris gegeben.« Jetzt nannte er seinerseits sie ihr. Die Adresse eines Tabakladens in Montparnasse. »An Michel, bitte nachsenden - kein Nachname nötig, wurde dir auch nicht genannt.«

»Am Abend schreibst du ihm noch mal aus dem Elend des Astral Commercial and Private Hotel. Und sobald du morgens aufwachst, noch mal. Auf allem möglichen Briefpapier. Während der Proben, in den Pausen, zu den unmöglichsten Zeiten; von nun an schreibst du ihm leidenschaftliche, unüberlegte, rückhaltlos offene Briefe.« Er warf einen Blick auf sie. »Würdest du das tun?« fragte er noch einmal. »Du würdest ihm wirklich solche Briefe schreiben?«

Wie viel Bestätigung braucht ein Mann eigentlich? fragte sie sich. Doch er war bereits einen Schritt weiter. Denn, Freude über Freude - trotz ihrer pessimistischen Voraussagen -, Michel kam nicht nur nach York, sondern auch nach Bristol und - noch besser - nach London, wo er eine ganze wundervolle Nacht in Charlies Camdener Wohnung verbrachte: Raserei die ganze Zeit über. Und dort, sagte Joseph - so dankbar, als habe er jetzt endlich eine komplizierte mathematische Prämisse geschafft -»in deinem eigenen Bett, in deiner eigenen Wohnung, zwischen Beteuerungen ewiger Liebe, haben wir dann diese Ferien in Griechenland geplant, die wir hier und jetzt genießen.« Langes Schweigen, während sie fuhr und nachdachte. Wir sind also endlich hier. Von Nottingham nach Griechenland, in einer Stunde Autofahrt!

»Um mich nach Mykonos mit Michel zu treffen?« sagte sie skeptisch.

»Warum nicht?«

»Mykonos mit Al und der Clique, auf die Fähre, Treffen mit Michel in dem Athener Restaurant, und los geht’s?« »Richtig.«

»Ohne Al«, erklärte sie schließlich. »Wenn ich dich gehabt hätte, hätte ich Al nicht mit nach Mykonos genommen. Ich hätte ihm vorher den Laufpass gegeben. Er war ja von der Firma gar nicht eingeladen worden, sondern hat sich nur angehängt. Nein, zwei auf einmal - das hätte ich nie gemacht.«

Diesen Einwand fegte er einfach beiseite. »Solche Art von Treue verlangt Michel nicht; er ist selbst nicht bereit, sie zu geben, und er bekommt sie auch nicht. Er ist Soldat, ein Feind unserer Gesellschaft, er muss jeden Augenblick damit rechnen, verhaftet zu werden. Kann sein, dass eine Woche vergeht, bevor du ihn wiedersiehst, vielleicht aber auch sechs Monate. Glaubst du, er erwartet von dir, dass du plötzlich wie eine Nonne lebst? Rumsitzt und dich nach ihm verzehrst, ab und zu einen Koller kriegst und deinen Freundinnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit dein Geheimnis anvertraust? Unsinn! Wenn er es dir sagte, würdest du mit einer ganzen Armee von Männern schlafen.« Sie kamen an einer Kapelle am Straßenrand vorüber. »Fahr mal langsamer«, befahl er und studierte wieder die Karte.

Fahr langsamer. Halt hier an. Marsch! Er hatte den Schritt beschleunigt. Ihr Pfad führte sie zu einer Ansammlung von verfallenen Hütten und daran vorüber zu einem aufgegebenen Steinbruch, der wie ein Vulkankrater in die Kuppe des Hügels gehackt worden war. Am Fuß der Bruchstelle stand ein alter Benzinkanister. Ohne ein Wort zu sagen, füllte Joseph ihn mit kleinen Steinen, und Charlie, die nicht wusste, was sie davon halten sollte, sah ihm dabei zu. Er zog den roten Blazer aus, legte ihn zusammen und dann sorgfältig auf den Boden. Die Pistole trug er an der Hüfte in einer Lederschlaufe, die an seinem Gürtel befestigt war; der Lauf zeigte leicht nach vorn, in einer Linie, die unter seiner rechten Achselhöhle hindurchführte. Über der linken Schulter trug er noch ein zweites Halfter, doch das war leer. Er packte sie beim Handgelenk, zog sie zu Boden, damit sie sich - wie die Araber - im Schneidersitz neben ihn setzte.

»Also - Nottingham haben wir hinter uns und auch York und Bristol und London. Heute ist heute, der dritte Tag unserer griechischen Hochzeitsreise: Wir befinden uns hier, wo wir sind. In unserem Hotel in Delphi haben wir uns die ganze Nacht hindurch geliebt, sind früh aufgestanden, und Michel hat dir wieder einmal einen denkwürdigen Einblick in die Wiege unserer Kultur geboten. Du hast am Steuer gesessen, und mir hat sich bestätigt, was ich schon von dir gehört hatte: dass du gern Auto fährst, und für eine Frau fährst du gut. Jetzt habe ich dich hier hergebracht, auf diesen Hügel - warum, weißt du nicht. Wie du bemerkt hast, bin ich ziemlich in mich gekehrt. Ich brüte vor mich hin, möglich, dass ich mich mit einem folgenreichen Entschluss herumschlage. Deine Versuche, in mich zu dringen, ärgern mich nur. Was ist bloß los? fragst du dich. Geht es mit unserer Liebe weiter? Oder hast du etwas getan, was mir nicht gefällt? Und wenn es weitergeht - wie? Ich setze dich hierhin - neben mich - so -, und ich ziehe die Pistole.« Fasziniert sah sie, wie er sie geschickt aus der Schlaufe herausgleiten ließ und sie zur natürlichen Verlängerung seiner Hand machte. »Ich werde dich in die Geschichte dieser Pistole einführen, das ist ein großes und einmaliges Privileg, und zum ersten Mal« - er verlangsamte seinen Redefluss, um die Bedeutung dessen, was er sagte, zu unterstreichen - »meinen großen Bruder erwähnen, dessen Existenz allein schon ein militärisches Geheimnis ist, in das nur ganz wenige Getreue eingeweiht werden. Ich tue das, weil ich dich liebe und weil…« Er zögerte.

Und weil Michel gern in Geheimnisse einweiht, dachte sie; doch nichts auf der Welt hätte sie dazu gebracht, ihm das Vergnügen zu verderben.

»Weil ich heute vorhabe, den ersten Schritt zu machen, um dich als Mitkämpferin in unsere Geheimarmee aufzunehmen. Wie oft hast du nicht - in deinen vielen Briefen, während wir uns liebten - um

eine Chance gebeten, deine Loyalität durch eine Tat zu beweisen? Heute machen wir den ersten Schritt in diese Richtung.« Wieder war sie sich bewusst, wie er anscheinend mühelos in die arabische Mentalität schlüpfen konnte. Genauso wie gestern abend in der Taverne, wo sie manchmal kaum gewusst hatte, welche seiner miteinander im Widerspruch liegenden Seelen aus ihm sprach, lauschte sie jetzt hingerissen, wie er sich auf seine Weise die blumige arabische Erzählweise zu eigen machte.

»Während meines ganzen unsteten Nomadenlebens als Opfer der zionistischen Usurpatoren leuchtete mein ältester Bruder wie ein Stern vor mir. In Jordanien, in unserem ersten Lager, wo die Schule eine Blechhütte war, in der es von Flöhen wimmelte. In Syrien, wohin wir flohen, nachdem die jordanischen Truppen uns mit Panzern vertrieben hatten. Im Libanon, wo die Zionisten uns von See her beschossen und aus der Luft mit Bomben belegten, und die Schiiten ihnen dabei behilflich waren. Trotzdem - bei allen Entbehrungen, die ich erleiden musste, vergaß ich niemals den großen Helden in der Ferne, meinen Bruder, dessen Heldentaten, von denen meine geliebte Schwester Fatmeh mir flüsternd erzählte, ich mehr als allem anderen auf der Welt nacheifern möchte.« Er fragte sie nicht mehr, ob sie ihm zuhöre. »Ich bekomme ihn selten zu sehen, und wenn, dann nur unter größter Geheimhaltung. Mal in Damaskus. Mal in Amman. Ein knapper Befehl - komm! Dann weiche ich ihm eine ganze Nacht nicht von der Seite, sauge seine Worte in mich auf, den Edelmut seines Herzens, den klaren Geist des geborenen Befehlshabers, seine Tapferkeit. Eines Nachts beordert er mich nach Beirut. Er ist gerade von einer Mission heimgekehrt, die große Unerschrockenheit erforderte, von der ich aber nichts weiter erfahren darf, als dass es sich um einen totalen Sieg über die Faschisten handelte. Ich soll ihn begleiten, um einen großen politischen Redner anzuhören, einen Libyer, einen Mann von wunderbarer Beredsamkeit und Überzeugungskraft. Die schönste Ansprache, die ich je in meinem Leben gehört habe. Bis auf den heutigen Tag kann ich dir daraus zitieren. Alle unterdrückten Völker der Erde hätten diesen großen Libyer hören sollen.« Die Pistole lag flach auf seiner Hand. Jetzt hielt er sie ihr hin, wollte, dass sie die Hand danach ausstreckte.

»Mit vor Aufregung klopfenden Herzen verlassen wir den geheimen Versammlungsort und kehren in der Beiruter Morgendämmerung nach Hause zurück. Arm in Arm, wie es die Araber tun. Mir stehen die Tränen in den Augen. Einer Eingebung des Augenblicks nachgebend, bleibt mein Bruder stehen und schließt mich in die Arme, während wir dort auf dem Bürgersteig stehen. Ich spüre nun, wie er sein kluges Gesicht an das meine presst. Er zieht diese Pistole aus der Tasche und drückt sie mir in die Hand. So.« Charlie bei der Hand packend, legte er die Pistole hinein, hielt jedoch seine Hand auf der ihren und richtete den Lauf auf die Wand des Steinbruchs. »›Ein Geschenk‹ , sagte er. ›Um damit zu rächen. Um unser Volk zu befreien. Ein Geschenk eines Kämpfers an einen anderen. Mit dieser Pistole habe ich auf das Grab meines Vaters meinen Eid geschworen‹. Mir verschlägt es die Sprache.« Seine kühle Hand lag immer noch auf der ihren, hielt die Pistole darin fest, und sie spürte, wie ihre eigene Hand in der seinen zitterte wie ein Wesen, das mit ihr nichts zu tun hatte. »Charlie, diese Pistole ist mir heilig. Ich sage dir das, weil ich meinen Bruder liebe, weil ich meinen Vater geliebt habe und weil ich dich liebe. Gleich werde ich dir zeigen, wie man damit schießt, aber vorher erwarte ich von dir, dass du sie küsst.« Sie starrte erst ihn, dann die Pistole an. Doch die Erregung in seinen Zügen ließ kein Zaudern zu. Er umfasste mit der anderen Hand ihren Arm und zog sie auf die Füße.

»Wir sind ein Liebespaar, vergiss das nicht! Wir sind Genossen, Diener der Revolution. Wir leben in der engsten Gemeinschaft von Geist und Körper. Ich bin ein leidenschaftlicher Araber, und ich liebe Worte und Gesten. Küss die Pistole!«

»Jose, das kann ich nicht.«

Sie hatte ihn mit Joseph angesprochen, und er antwortete als Joseph.

»Denkst du etwa, es handelt sich um eine englische Tee-Party, Charlie? Denkst du etwa, weil Michel ein hübscher Bursche ist, ist das alles nur Spiel? Wo sollte er gelernt haben, Spiele zu spielen, wenn die Pistole das einzige war, was ihn zum Mann machte?« fragte er völlig logisch. Sie schüttelte den Kopf, starrte immer noch die Waffe an. Doch ihr Widerstreben erzürnte ihn nicht. »Hör zu, Charlie. Gestern Abend, als wir uns liebten, hast du mich gefragt: ›Michel, wo ist das Schlachtfeld?‹ Weißt du, was ich getan habe? Ich habe dir die Hand aufs Herz gelegt und zu dir gesagt: ›Wir kämpfen einen jehad, und das Schlachtfeld ist hier.‹ Du bist meine Jüngerin. Dein Sendungsbewusstsein ist nie so leidenschaftlich gewesen. Weißt du, was das ist - ein jehad

Sie schüttelte den Kopf.

»Ein jehad ist das, wonach du Ausschau gehalten hast, bis du mich kennen lerntest. Ein jehad ist ein heiliger Krieg. Du stehst im Begriff, deinen ersten Schuss in unserem jehad abzufeuern. Küss die Pistole!«

Sie zögerte, dann drückte sie die Lippen auf das blaue Metall des Laufs.

»So«, sagte er und löste sich von ihr. »Von nun an ist diese Pistole ein Teil von uns beiden. Diese Pistole ist unsere Ehre und unsere Flagge. Glaubst du das?« Ja, Jose, ich glaube es. Ja, Michel, ich glaube es. Zwinge mich nie wieder, das zu tun. Unwillkürlich fuhr sie sich mit dem Handgelenk über die Lippen, als wäre Blut darauf. Sie hasste sich, und sie hasste ihn - und kam sich ein bisschen verrückt vor.

»Typ Walther PPK«, erklärte Joseph, als seine Worte sie wieder erreichten. »Nicht schwer, aber vergiss nie: Jede Handfeuerwaffe ist ein Kompromiss zwischen drei wünschenswerten Eigenschaften: dass man sie verbergen, bei sich tragen und gut damit schießen kann. Auf diese Weise redet Michel mit dir über Pistolen - genauso, wie sein Bruder mit ihm darüber gesprochen hat.«

Hinter ihr stehend, drehte er sie an den Hüften so herum, bis sie - die Füße gespreizt - das Ziel direkt vor sich hatte. Dann umschloss er ihre Hand mit der seinen, verschränkte seine Finger mit ihren und hielt ihren Arm ausgestreckt, dass der Lauf nach unten genau zwischen ihre Füße gerichtet war.

»Den linken Arm nicht verkrampfen. So.« Er lockerte ihn für sie. »Beide Augen offen, hebst du die Pistole langsam in die Höhe, bis sie in gerader Linie auf das Ziel gerichtet ist. Den Arm mit der Pistole hältst du gestreckt. So. Wenn ich sage: Feuer, zweimal abdrücken, den Arm wieder senken, warten.«

Gehorsam senkte sie die Pistole, bis sie wieder auf den Boden gerichtet war. Er gab den Befehl, sie hob den Arm - steif ausgestreckt, so wie er es ihr gesagt hatte; sie drückte den Abzug durch, doch es geschah nichts.

»Jetzt«, sagte er und entsicherte.

Sie wiederholte das Ganze, drückte wieder den Abzug durch, und die Pistole in ihrer Hand ruckte in die Höhe, als wäre sie selbst von einer Kugel getroffen worden. Sie schoss ein zweites Mal, und ihr Herz wurde von der gleichen gefährlichen Erregung erfüllt, die sie gefühlt hatte, als sie das erste Mal mit einem Pferd gesprungen oder nackt im Meer geschwommen war. Sie senkte die Pistole, Joseph gab wieder den Befehl zum Feuern, sie hob sie viel schneller als beim ersten Mal, schoss zweimal rasch nacheinander und dann noch dreimal auf gut Glück. Dann wiederholte sie die Bewegung, ohne dass er den Befehl dazu gegeben hätte, schoss aufs Geratewohl, und das immer stärker werdende Peitschen der Schüsse erfüllte die Luft rings um sie her, die Querschläger sausten wimmernd hinaus ins Tal und übers Meer. Sie schoss, bis das Magazin leer war, dann stand sie - die Pistole an der Seite - mit klopfendem Herzen da und atmete den Duft von Thymian und Schießpulver ein.

»Wie war ich?« fragte sie und wandte sich zu ihm um. »Sieh selbst nach.«

Sie ließ ihn stehen, lief zu dem Benzinkanister. Und starrte diesen ungläubig an, weil er keine Einschüsse hatte. »Aber was ist denn schiefgelaufen?« rief sie empört.

»Du hast vorbeigeschossen«, erwiderte Joseph und nahm ihr die Pistole ab.

»Es waren Platzpatronen!«

»Durchaus nicht.«

»Ich habe aber doch alles so gemacht, wie du es mir gesagt hattest.«

»Zunächst einmal solltest du nicht mit einer Hand schießen. Für ein Mädchen, das nur hundert Pfund wiegt und Handgelenke wie Spargel hat, ist das lächerlich.«

»Warum hast du mir denn dann gesagt, dass man so schießt?«

Er ging schon wieder auf den Wagen zu, führte sie am Arm. »Wenn Michel es dir beibringt, musst du auch schießen wie Michels Schülerin. Er hat keine Ahnung vom zweihändigen Schießen. Er hat sich nach dem Vorbild seines Bruders gerichtet. Willst du etwa, dass dir made in Israel groß ins Gesicht geschrieben steht?« »Warum tut er es denn nicht?« Sie war erbost und packte ihn am Arm. »Warum hat er denn keine Ahnung, wie man richtig schießt? Warum hat es ihm keiner beigebracht?«

»Habe ich dir doch gesagt. Sein Bruder hat es ihm beigebracht.« »Warum hat der es ihm dann nicht richtig beigebracht?« Ihr war wirklich an einer Antwort gelegen. Sie fühlte sich gedemütigt und schien drauf und dran, eine Szene zu machen. Er schien das zu erkennen, denn er lächelte und gab dann auf seine Weise nach. »›Es ist Gottes Wille, dass Khalil nur mit einer Hand schießt‹ «, sagte er.

»Wieso?«

Mit einem Kopfschütteln tat er die Frage ab. Sie kehrten zum Mercedes zurück. »Ist Khalil der Name seines Bruders?« »Ja.»

»Du hast doch aber gesagt, das sei der arabische Name für Hebron.«

Er war erfreut, aber auch merkwürdig abwesend. »Es ist beides.« Er ließ den Motor an. »Khalil für unsere Stadt. Khalil für meinen Bruder. Khalil, der ›Freund Gottes‹ und des hebräischen Propheten Abraham, der vom Islam verehrt wird und in unserer alten Moschee begraben liegt.«

»Also Khalil«, sagte sie.

»Khalil«, pflichtete er kurz angebunden bei. »Präg ihn dir ein. Und auch die Umstände, unter denen er dir das anvertraut hat. Weil er dich liebt. Weil er seinen Bruder liebt. Weil du die Pistole seines Bruders geküsst hast und damit von seinem Blute bist.« Sie fuhren den Hügel hinunter. Joseph saß am Steuer. Sie wusste nicht mehr, wer sie war, falls sie das jemals gewusst hatte. Der Knall ihrer eigenen Schüsse hallte noch in ihren Ohren wider. Sie hatte noch den Geschmack des Pistolenlaufs auf den Lippen, und als er ihr den Olymp zeigte, sah sie nichts weiter als schwarze und weiße Regenwolken, die aussahen wie ein Atompilz. Joseph war genauso befangen wie sie, doch sein Ziel lag wieder vor ihnen, und er trieb beim Fahren unerbittlich seine Geschichte voran und fügte ein Detail ans andere. Wieder Khalil. Die Zeit, die sie zusammen gewesen waren, ehe er in den Kampf gezogen war. Nottingham, ihre große Seelenbegegnung. Seine Schwester Fatmeh und seine große Liebe zu ihr. Und seine anderen Brüder, die tot waren. Sie kamen auf die Küstenstraße. Der Verkehr donnerte dahin, viel zu schnell; auf den verdreckten Stränden standen hier und da eingefallene Hütten, die Fabrikschlote sahen wie Gefängnisse aus, die auf sie warteten. Sie versuchte, seinetwegen wach zu bleiben, doch zuletzt schaffte sie es nicht mehr. Sie legte den Kopf an seine Schulter und entfloh eine Zeitlang.

Das Hotel in Saloniki war ein Klotz aus der Zeit um die Jahrhundertwende mit angestrahlten Kuppeln und einer gewissen Weitläufigkeit. Ihre Suite lag im obersten Stock, hatte einen Alkoven für Kinder und ein sechs Meter langes Badezimmer sowie verschrammte Möbel aus den zwanziger Jahren wie daheim. Sie hatte das Licht angeknipst, doch er befahl ihr, es wieder auszumachen. Er hatte Essen heraufkommen lassen, doch keiner von ihnen hatte es angerührt. Mit dem Rücken zu ihr, stand er am Erkerfenster und schaute hinunter auf den grünen Platz und den mondbeschienenen Hafen dahinter. Charlie saß auf dem Bett. Fetzen griechischer Musik von der Straße erfüllten den Raum.

»Also, Charlie.«

»Also, Charlie«, wiederholte sie echogleich und wartete auf die Erklärung, die er ihr schuldig war.

»Du hast gelobt, an meinem Kampf teilzunehmen. Aber was für ein Kampf ist das? Wie wird er ausgetragen? Wo? Ich habe von unserer Sache erzählt, habe von Unternehmungen geredet: Wir glauben, also handeln wir. Ich habe dir gesagt, dass Terror Theater ist und dass die Welt manchmal an den Ohren hochgezogen werden muss, ehe sie auf die Gerechtigkeit hört.« Sie rutschte unruhig hin und her.

»In meinen Briefen und in unseren langen Diskussionen habe ich dir wiederholt versprochen, dich bis zum Einsatz zu bringen. Aber dann habe ich immer wieder Ausflüchte gemacht, habe es hinausgeschoben. Bis heute abend. Vielleicht traue ich dir nicht. Oder vielleicht liebe ich dich inzwischen so sehr, dass ich dich nicht an der vordersten Front sehen möchte. Du weißt nicht, was es von diesen Dingen wirklich ist, aber manchmal hat meine Heimlichtuerei dich verletzt. Wie aus deinen Briefen hervorgeht.« Die Briefe, dachte sie wieder; immer die Briefe. »Ja, wie wirst du nun tatsächlich mein kleiner Soldat? Das ist es, worüber wir heute Nacht reden werden. Hier. In dem Bett, auf dem du sitzt. Am letzten Abend unserer Hochzeitsreise durch Griechenland. Vielleicht ist es überhaupt die letzte Nacht, die wir jemals zusammen verbringen werden, denn du kannst nie sicher sein, mich wieder zu sehen.«

Er wandte sich ihr zu, doch nichts überstürzte sich. Es war, als hätte er seinem Körper vorsichtig die gleichen Einschränkungen auferlegt, die auch seine Stimme beherrschten. »Du weinst viel«, sagte er. »Ich glaube, heute Nacht wirst du auch weinen… Während du mich in den Armen hältst. Während du mir ewige Treue schwörst. Ja? Du weinst, und während du weinst, sage ich zu dir: ›Es ist soweit.‹ Morgen werden wir unsere Chance haben. Morgen früh wirst du den Schwur erfüllen, den du mir auf die Pistole des großen Khalil abgelegt hast. Ich befehle dir - bitte dich« - bedächtig, fast majestätisch, kehrte er ans Fenster zurück -, »den Mercedes über die jugoslawische Grenze und nach Norden, nach Österreich zu fahren, wo er übernommen werden wird. Allein. Wirst du das tun? Was sagst du dazu?«

Oberflächlich empfand sie nichts weiter als das Bedürfnis, es ihm in seiner offenbaren Gefühllosigkeit gleichzutun. Keine Angst, kein Gefühl für Gefahr, keine Überraschung: Sie schloss sie mit einem Knall alle aus. Der Augenblick ist gekommen, dachte sie. Charlie, du bist dran. Ein Auto überführen. Ab geht’s. Die Zähne fest aufeinander gebissen, sah sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, an, so, wie sie Menschen ansah, wenn sie log. »Nun - was erwiderst du ihm?« erkundigte er sich und hänselte sie gutmütig ein wenig. »Allein«, erinnerte er sie. »Eine ziemlich weite Strecke, weißt du. Über tausendfünfhundert Kilometer durch Jugoslawien - keine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass es ein erster Auftrag ist. Was sagst du dazu?«

»Was ist drin?« fragte sie. Ob mit Absicht oder nicht, vermochte sie nicht zu sagen, aber er verstand sie auf jeden Fall falsch: »Geld. Dein Debüt auf der Bühne der Wirklichkeit. Alles, was Marty dir versprochen hat.« Was er dabei dachte, war ihr genauso unerfindlich wie vielleicht auch ihm selbst. Sein Ton war abgehackt und ablehnend.

»Ich habe gemeint, was in dem Auto ist.«

Die Drei-Minuten-Warnung, ehe seine Stimme etwas Herumkommandierendes bekam. »Was spielt es für eine Rolle, was in dem Auto ist? Vielleicht eine militärische Botschaft. Papiere. Glaubst du etwa, du könntest gleich an deinem ersten Tag sämtliche Geheimnisse unserer großen Bewegung erfahren?« Pause, doch sie sagte nichts. »Wirst du den Wagen fahren oder nicht? Das ist alles, worauf es ankommt.«

Es ging ihr nicht um Michels Antwort. Es ging ihr um seine. »Charlie, als Neurekrutierte steht es dir nicht zu , Befehle in Frage zu stellen. Natürlich, wenn du schockiert bist -« - Wer war er? Sie spürte, wie seine Maske fiel, wusste jedoch nicht, welche Maske es war. »Falls dir plötzlich Bedenken kommen -innerhalb der Fiktion -, dass dieser Mann dich manipuliert hat -dass all seine Verehrung für dich, seine Glut, seine Beteuerungen ewiger Liebe…« Doch wieder schien er den festen Boden unter den Füßen zu verlieren. Entsprach es nun ihrem Wunschdenken, oder durfte sie annehmen, dass im Halbdunkel unbemerkt irgendein Gefühl in ihm hochgekommen war, das er sich lieber vom Leib gehalten hätte? »Ich meine nur, dass, wenn« - seine Stimme gewann ihre Festigkeit zurück - »wenn dir in diesem Stadium irgendwie die Schuppen von den Augen fallen sollten oder dir der Mut vergeht, dann musst du selbstverständlich nein sagen.«

»Ich habe dich etwas gefragt. Warum fährst du ihn nicht selbst, du, Michel?«

Rasch drehte er sich wieder zum Fenster, und es kam Charlie so vor, als ob er eine ganze Menge in sich selbst zum Schweigen bringen musste, ehe er ihr antwortete. »Michel sagt dir dies und nicht mehr«, begann er und zwang sich zur Geduld. »Was immer in dem Auto ist« - er konnte es von hier oben sehen, auf dem Platz, wo es von einem Volkswagenbus bewacht abgestellt war -, »es ist überaus wichtig für unseren großen Kampf, aber auch sehr gefährlich. Wen auch immer man irgendwo auf dieser anderthalbtausend Kilometer langen Strecke erwischt, wie er diesen Wagen fährt - ob das Auto nun subversive Literatur oder irgendwelches andere Material enthält, Botschaften etwa -, mit diesem Auto gefasst zu werden, wäre für den Betreffenden außerordentlich belastend. Keinerlei Einflüsse - diplomatischer Druck, gute Anwälte - könnten den Betreffenden davor bewahren, in Teufels Küche zu kommen. Wenn du dabei an deine eigene Haut denkst, musst du das bedenken.« Und mit einer Stimme, die so ganz anders klang als die Michels, setzte er noch hinzu: »Es geht schließlich um dein Leben. Du bist keine von uns.«

Doch sein Zurückschrecken, sein momentanes Zögern, mochte es noch so unmerklich sein, gab ihr eine Sicherheit, wie sie sie in seiner Gesellschaft bisher noch nicht erlebt hatte. »Ich habe gefragt, warum er ihn nicht selbst fährt. Ich warte immer noch auf seine Antwort.«

Und wieder riss er sich zusammen, zu deutlich. »Charlie! Ich bin ein palästinensischer Aktivist. Ich bin als Kämpfer für die Sache bekannt. Ich reise mit falschen Papieren, was jeden Augenblick auffliegen kann. Du hingegen - eine attraktive junge Engländerin, die gut aussieht -, völlig unbelastet, schlagfertig, charmant - für dich besteht selbstverständlich keinerlei Gefahr. Das reicht doch wohl jetzt!«

»Gerade hast du aber gesagt, es bestehe doch Gefahr.«

»Unsinn. Michel versichert dir, dass keine besteht. Für ihn selbst, vielleicht. Aber für dich - keine. ›Tu’s für mich‹ sage ich. ›Tu’s und sei stolz darauf. Tu’s für unsere Liebe und für die Revolution. Tu’s für alles, was wir einander geschworen haben. Tu’s für meinen großen Bruder. Bedeuten deine Schwüre nichts? Hast du denn bloß heuchlerische westliche Lippenbekenntnisse abgelegt, als du dich zur Revolution bekanntest?‹ « Wieder hielt er inne. »Tu es, denn wenn du es nicht tust, wird dein Leben nur noch leerer sein, als es war, ehe ich dich am Strand auflas.« »Du meinst, im Theater«, stellte sie richtig.

Er kümmerte sich kaum noch um sie. Er hatte ihr den Rücken weiter zugekehrt und stand da, den Blick immer noch auf den Mercedes gerichtet. Er war wieder Joseph, der Joseph mit den knappen Vokalen, den überlegten Sätzen und der Mission, die unschuldiges Leben retten sollte.

»Da wärest du also. Dies hier ist dein Rubikon. Weißt du, was das ist? Der Rubikon? Steig jetzt aus - geh nach Hause -nimm ein bisschen Geld und vergiss die Revolution, Palästina, Michel, alles.«

»Oder?«

»Überführe das Auto. Dein erster Beitrag für die große Sache. Allein. Fünfzehnhundert Kilometer. Was von beiden soll’s denn sein?«

»Wo wirst du sein?«

Wieder vermochte sie gegen seine Ruhe nichts auszurichten, und wieder nahm er Zuflucht bei Michel. »Im Geiste ganz nah bei dir; aber helfen kann ich dir nicht. Niemand kann dir helfen. Du wirst ganz auf dich allein gestellt sein, wirst im Interesse von Leuten, die die Welt eine Bande von Terroristen nennt, eine kriminelle Handlung begehen.« Er hob von neuem an, doch diesmal war er Joseph. »Ein paar von den jungen Leuten werden eine Eskorte für dich bilden, aber wenn es schief geht, können sie nichts weiter machen, als Marty und mir das zu melden. Jugoslawien ist kein großer Freund Israels.«

Charlie ließ nicht locker. Alle ihre Überlebensinstinkte drängten sie dazu. Sie sah, dass er sich wieder umgedreht hatte, um sie anzublicken, und sie begegnete seinem dunklen Starren, wohl wissend, dass ihr eigenes Gesicht sichtbar, während es das seine nicht war. Wen bekämpfst du? dachte sie. Dich oder mich? Warum bist du in beiden Lagern der Feind?

»Wir haben die Szene noch nicht zu Ende gespielt«, erinnerte sie ihn. »Ich frage dich - euch beide -, was in dem Wagen ist? Du willst, dass ich ihn fahre - wer immer das will -wie viele von euch auch damit zu tun haben -, ich muss wissen, was drin ist. Jetzt.« Sie dachte, sie müsse warten. Sie erwartete eine erneute Drei-Minuten-Warnung, während er in Gedanken blitzschnell noch einmal alle Optionen durchging, ehe er seine bewusst dürr gehaltenen Antworten veröffentlichte. Sie sollte sich irren. »Sprengstoff«, erwiderte er so unbeteiligt, wie es ihm möglich war. »Zweihundert Pfund russischer Plastiksprengstoff, in Halbpfund-Stäbe aufgeteilt. Guter neuer Stoff, ordentlich gepflegt, kann extreme Hitze und Kälte aushaken und ist bei allen Temperaturen einigermaßen schmiegsam.«

»Na schön, freut mich, dass er ordentlich gepflegt ist«, erklärte Charlie fröhlich und kämpfte dagegen an, dass die Flut umsprang. »Wo ist er versteckt?«

»Im Volant, in den Verstrebungen, in der Deckenverkleidung und den Sitzen. Da es sich um ein älteres Modell handelt, hat es vorteilhafterweise Kastensegmente und Träger.« »Wozu soll er eingesetzt werden?«

»Für unseren Kampf.«

»Aber warum muss er dann ganz bis nach Griechenland runter, statt sich das Zeug in Mitteleuropa zu beschaffen?«

»Mein Bruder hat gewisse Geheimhaltungsvorschriften und verlangt von mir, dass ich sie gewissenhaft einhalte. Der Kreis derer, denen er vertraut, ist ziemlich klein, und er möchte ihn nicht erweitern. Im Grunde traut er weder Arabern noch Europäern. Was wir allein tun, können nur wir allein verraten.«

»Und welche Form genau würdest du sagen, nimmt unser Kampf in diesem ganz bestimmten Punkt an?« fragte Charlie mit derselben munteren, geradezu übertrieben entspannt klingenden Stimme. Auch diesmal zögerte er nicht. »Juden in der Diaspora zu töten. Da sie unser Volk aus Palästina in alle Himmelsrichtungen vertrieben haben, so bestrafen wir sie in ihrer Diaspora und bringen unsere Qual den Ohren und Augen der Welt zur Kenntnis. - Und gleichzeitig wecken wir damit das schlafende Bewusstsein des Proletariats«, fügte er, als nicht so überzeugenden Nachgedanken, hinzu.

»Nun, das scheint mir nur gerecht.«

»Danke.« »Und du und Marty - ihr habt euch also gedacht, dass es nett wäre, wenn ich ihnen den Gefallen täte, das Auto nach Österreich hinaufzubringen.« Sie holte ein wenig Luft, erhob sich und trat ganz bewusst ans Fenster. »Würdest du mich bitte in den Arm nehmen, Joseph? Nicht, weil ich leichtfertig wäre. Es ist nur, dass ich mich dort eben einen Augenblick lang ein bisschen verlassen gefühlt habe.«

Ein Arm legte sich ihr um die Schulter, und sie zitterte heftig darin. Sie schmiegte sich an ihn und drehte sich zum ihm hin, umschlang ihn, drückte ihn an sich und spürte zu ihrer Freude, wie die Starre aus ihm wich und er ihren Druck erwiderte. Ihr Denken arbeitete überall zugleich, wie ein Auge, das auf ein weites und unerwartetes Panorama hinausblickte. Doch am klarsten - jenseits der unmittelbaren Gefahr der Fahrt - begann sie endlich die größere Reise, die vor ihr lag, zu sehen und entlang der Strecke die gesichtslosen Genossen der anderen Armee, der sich anzuschließen sie im Begriff stand. Schickt er mich, oder hält er mich zurück? fragte sie sich. Er weiß es nicht. Er wacht auf und geht gleichzeitig schlafen. Seine Arme, mit denen er sie immer noch umfasst hielt, gaben ihr neuen Mut. Bis jetzt hatte sie im Bann seiner entschlossenen Keuschheit die dunkle Vorstellung gehabt, ihr Körper, der schon viele Liebhaber gekannt hatte, sei seiner nicht würdig. Jetzt war dieser Selbstekel aus Gründen, die sie noch herausfinden musste, von ihr gewichen.

»Überzeug mich weiter«, sagte sie und hielt ihn immer noch umfasst. »Tu deine Pflicht.«

»Ist es denn nicht genug, dass Michel dich schickt, dich jedoch gleichzeitig nicht gehen lassen möchte?«

Sie antwortete nicht.

»Soll ich dir Shelley zitieren - ›die ungestüme Herrlichkeit des Terrors‹? Muss ich dich an unsere vielen Versprechen erinnern, die wir uns gegeben haben? - dass wir bereit sind, zu töten, weil wir bereit sind, zu sterben?«

»Ich glaube, Worte richten nichts mehr aus. Ich glaube, ich habe alle Worte gehört, die ich schlucken kann.« Sie hatte ihr Gesicht an seiner Brust verborgen. »Du hast versprochen, in meiner Nähe zu bleiben«, erinnerte sie ihn und spürte, wie seine Umarmung nachließ, während seine Stimme hart wurde.

»Ich werde in Osterreich auf dich warten«, sagte er in einem Ton, der mehr dazu angetan war, zurückzustoßen, als zu überreden. »Das ist das Versprechen, das Michel dir gegeben hat. Ich gebe es dir auch.«

Sie trat einen halben Schritt zurück und hielt sein Gesicht zwischen den Händen, so wie sie es auf der Akropolis gehalten hatte, und betrachtete es kritisch im Schein der Lampen unten auf dem Platz. Dabei hatte sie das Gefühl, es habe sich vor ihr verschlossen wie eine Tür, die sie weder herein- noch herauslassen wollte. Ernüchtert und erregt zugleich, kehrte sie zum Bett zurück und setzte sich wieder hin. Auch ihre Stimme hatte eine neue Zuversicht, die sie beeindruckte. Ihr Blick ruhte auf dem Armband, das sie im Halbdunkel nachdenklich hin und her drehte.

»Wie möchtest du es denn? fragte sie. »Du, Joseph? Soll Charlie bleiben und den Auftrag übernehmen, oder soll Charlie das Geld einstecken und machen, dass sie fortkommt? Wie sieht denn dein persönliches Szenarium aus?«

»Du kennst die Gefahren. Entscheide dich.«

»Du auch, sogar besser als ich. Du hast sie von Anfang an gekannt.«

»Du hast sämtliche Argumente gehört - sowohl von Marty als auch von mir.«

Sie nestelte die Schließe des Armbands auf und ließ es sich in die Hand gleiten. »Wir retten das Leben Unschuldiger. Das heißt, vorausgesetzt, ich liefere den Sprengstoff ab. Selbstverständlich gibt es auch jene - Einfaltspinsel -, die meinen, man könnte mehr Leben retten, wenn man den Sprengstoff nicht abliefert. Doch die, nehmen ich an, irren sich wohl.«

»Auf lange Sicht, und vorausgesetzt, alles geht gut, irren sie sich.« Wieder hatte er ihr den Rücken zugewandt - allem Anschein nach, um das Bild zu betrachten, das sich seinen Augen vom Fenster aus bot.

»Wenn du als Michel zu mir redest, ist es einfach«, fuhr sie verständig fort und befestigte das Armband am anderen Handgelenk. »Du hast mich vollkommen umgeworfen; ich habe die Pistole geküsst und kann nun gar nicht schnell genug auf die Barrikaden. Wenn wir das nicht glauben, sind all deine Bemühungen der letzten Tage fehlgeschlagen. Was aber nicht der Fall ist. So hast du mir meine Rolle gegeben, und so hast du mich gekriegt. Auseinandersetzung vorbei. Ich mach’s.«

Sie sah, wie er leicht zustimmend nickte. »Und wenn du als Joseph zu mir sprichst - was macht das für einen Unterschied? Hätte ich abgelehnt, hätte ich dich nie wieder gesehen. Da wäre ich mit meinem goldenen Händeschütteln wieder im Nirgendwo.« Zu ihrer Überraschung bemerkte sie, dass er das Interesse an ihr verloren hatte. Er hob die Schultern, stieß einen langen Seufzer aus; sein Gesicht blieb dem Fenster zugewandt, den Blick hatte er auf den Horizont gerichtet. Er fing wieder an zu sprechen, und zuerst dachte sie, er weiche wieder dem Stoß aus, den sie mit ihren Worten auf ihn gerichtet hatte. Doch als sie weiter zuhörte, ging ihr auf, dass er ihr erklärte, warum - soweit es ihn betraf - sie beide nie eine echte Wahl gehabt hätten.

»Michel hätte diese Stadt meiner Meinung nach gefallen. Bis zur Besetzung durch die Deutschen haben da drüben auf dem Berg sechzigtausend Juden ziemlich glücklich gelebt. Postbeamte, Händler, Bankiers. Sephardim. Sie sind aus Spanien über den Balkan hierhergekommen. Als die Deutschen abzogen, waren keine mehr da. Diejenigen, die nicht ausgerottet wurden, haben sich nach Israel durchgeschlagen.«

Sie lag im Bett. Joseph stand immer noch am Fenster und beobachtete, wie das Licht auf den Straßen erlosch. Sie überlegte, ob er wohl zu ihr käme, wusste jedoch, dass er es nicht tun würde. Sie hörte ein Knarren, als er sich auf den Diwan legte, sein Körper parallel zu ihrem, und zwischen ihnen erstreckte sich nur Jugoslawien. Sie begehrte ihn mehr, als sie je einen Mann begehrt hatte. Ihre Angst vor morgen vergrößerte ihr Verlangen nur noch. »Hast du eigentlich Geschwister, Jose?« fragte sie.

»Einen Bruder.«

»Und was macht der?«

»Er ist im 67er-Krieg gefallen.«

»In dem Krieg, der Michel über den Jordan trieb«, sagte sie. Sie hätte nie erwartet, dass er ihr eine ehrliche Antwort geben würde, doch sie wusste, dass er die Wahrheit gesagt hatte. »Hast du in dem Krieg auch mitgekämpft?«

»Das will ich meinen.«

»Und in dem Krieg davor? Dem, an dessen Datum ich mich nicht erinnere?

»Sechsundfünfzig.«

»Ja?«

»Ja.«

»Und in dem danach? ‘73.«

»Anzunehmen.«

»Wofür hast du gekämpft?«

Wieder warten.

»‘56, weil ich ein Held sein wollte, ‘67 für den Frieden. Und 73« -es schien ihm schwer zu fallen, sich zu erinnern - »für Israel«, sagte er.

»Und jetzt? Wofür kämpfst du diesmal?«

Weil es da ist, dachte sie. Um Leben zu retten. Weil sie mich dazu aufgefordert haben. Damit die Bewohner meines Dorfes den dabke tanzen und damit sie auch die Berichte der Reisenden hören können.

»Jose?« »Ja, Charlie?«

»Woher hast du eigentlich diese tiefen, runden Narben?« Seine langen Pausen hatten im Dunkeln etwas Erregendes wie ein Lagerfeuer bekommen. »Die Brandmale, würde ich sagen. Die habe ich bekommen, als ich in einem Panzer saß. Und die Löcher von den Kugeln, als ich da raus wollte.«

»Wie alt warst du damals?«

»Zwanzig. Einundzwanzig.«

Mit acht habe ich mich der Ashbal angeschlossen, dachte sie. Mit fünfzehn...

»Und wer war dein Vater?« fragte sie, entschlossen, am Ball zu bleiben. »Er war ein Pionier. Ein früher Siedler.« »Woher?« »Aus Polen.« »Wann?«

»In den zwanziger Jahren. Mit der dritten aliyah, falls du weißt, was das bedeutet.«

Sie wusste es nicht, doch für den Augenblick spielte das keine Rolle.

»Was hat er gemacht?«

»War Bauarbeiter. Hat mit seinen Händen gearbeitet. Eine Sanddüne in eine Stadt verwandelt. Sie Tel Aviv genannt. Ein Sozialist - einer von den praktischen. Hat nicht viel an Gott gedacht. Nie getrunken. Nie etwas besessen, das mehr als ein paar Dollar wert gewesen wäre.«

»Wärest du das auch gern gewesen?« fragte sie. Darauf antwortet er nie, dachte sie. Er schläft ja schon. Sei nicht unverschämt.

»Ich habe die Berufung zu was Höherem gewählt«, erwiderte er trocken.

Oder sie hat dich gewählt, dachte sie, denn so nennt man Berufung, wenn man in die Gefangenschaft hineingeboren wurde. Und irgendwie schlief sie dann plötzlich sehr schnell ein. Aber Gadi Becker, der kampferprobte Krieger, lag geduldig wach, starrte ins Dunkel und lauschte den unregelmäßigen Atemzügen seiner jungen Rekrutin. Warum hatte er so mit ihr gesprochen? Warum hatte er sich ausgerechnet in dem Augenblick erklärt, da er sie mit ihrem ersten Auftrag ausschickte? Manchmal traute er sich selbst nicht mehr. Es spannte die Muskeln, nur um festzustellen, dass die Bänder der Disziplin sich nicht mehr so strafften wie früher. Er würde einen geraden Kurs einschlagen, nur um zurückzuschauen und sich zu wundern, bis zu welchem Grade er sich geirrt hatte. Wovon träume ich, dachte er, vom Kampf oder vom Frieden? Er war für beides zu alt, zu alt, um weiterzumachen, und zu alt, um aufzuhören. Zu alt, um sich aufzugeben, und doch unfähig, sich vorzuenthalten. Zu alt, um den Geruch des Todes nicht zu erkennen, ehe er tötete.

Wieder lauschte er auf ihren Atem, der jetzt den ruhigeren Rhythmus des Schlafs angenommen hatte. Er hielt das Handgelenk im Dunkeln vor sich, wie Kurtz es tat, und blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Dann zog er so leise, dass sie selbst dann, wenn sie hellwach gewesen wäre, kaum etwas gehört hätte, den roten Blazer über und stahl sich aus dem Raum.

Der Nachtportier war ein heller Kopf und brauchte den wohlgekleideten Herrn, der sich ihm näherte, bloß zu sehen, um zu wissen, dass ein großes Trinkgeld zu erwarten war. »Haben Sie Telegrammformulare?« fragte Becker in gebieterischem Ton.

Der Nachtportier bückte sich unter den Tresen. Becker schrieb. Große, sorgfältige Buchstaben, mit schwarzer Tinte. Die Adresse hatte er im Kopf - zu Händen eines Anwalts in Genf; Kurtz hatte sie ihm von München aus durchgegeben, nachdem er sich bei Yanuka vorsichtshalber noch einmal vergewissert hatte, dass sie noch galt. Den Text hatte Becker gleichfalls im Kopf. Er begann: »Raten Sie Ihrem Klienten freundlicherweise« und bezog sich auf die Fälligkeit von Verbindlichkeiten in Übereinstimmung mit unserem Standardvertrag. Das Telegramm war fünfundvierzig Worte lang, und nachdem er sie noch einmal durchgelesen hatte, fügte er die steife, selbstbewusste Unterschrift hinzu, die Schwili ihm mit Geduld beigebracht hatte. Dann reichte er das Formular über den Tresen und gab dem Portier fünfhundert Drachmen, die er für sich behalten sollte.

»Ich möchte, dass Sie es zweimal abschicken, haben Sie verstanden? Dieselbe Nachricht, zweimal. Einmal jetzt per Telefon, und dann morgen früh noch einmal vom Postamt aus. Überlassen Sie es nicht irgendeinem Jungen, sondern tun Sie es selbst. Anschließend schicken Sie mir dann eine Kopie zur Bestätigung auf mein Zimmer.« Der Nachtportier erklärte sich bereit, alles genauso zu tun, wie es der Herr angeordnet hätte. Er hatte von arabischen Trinkgeldern gehört, davon geträumt. Heute endlich, aus heiterem Himmel, hatte er eines bekommen. Er hätte dem Herrn mit Freuden noch viele andere Dienste erwiesen, doch ach, der Herr ging auf seine Vorschläge nicht ein. Verloren sah der Portier seiner Beute nach, wie sie auf die Straße trat und dann den Weg in Richtung Hafen einschlug. Der Lieferwagen der Funker stand auf dem Parkplatz. Es wurde für den großen Gadi Becker Zeit, Bericht zu erstatten und sich zu vergewissern, dass alles klar war für den großen Stapellauf.


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