Kapitel 9

Doch so sehr Charlie auch das Gegenteil hätte annehmen können, sie war an diesem Abend nicht der einzige Mittelpunkt von Kurtz’ Universum; auch nicht von Josephs und schon gar nicht von Michels. Schon eine ganze Zeitlang bevor Charlie und ihr vermeintlicher Liebhaber der Athener Villa endgültig ade gesagt hatten - während sie, in der Fiktion, einander in den Armen liegend ihre Raserei ausschliefen -, saßen Kurtz und Litvak keusch in verschiedenen Reihen einer nach München fliegenden Lufthansamaschine und reisten unter dem Schutz verschiedener Länder: für Kurtz war das Frankreich und für Litvak Kanada. Nach der Landung begab sich Kurtz augenblicklich ins Olympische Dorf, wo die sogenannten argentinischen Fotografen ihn sehnlichst erwarteten, und Litvak in das Hotel Bayerischer Hof, wo er von einem ihm nur unter dem Namen Jacob bekannten Sprengstoff-Experten begrüßt wurde, einem stöhnenden, in höheren Regionen schwebenden Burschen in fleckiger Wildlederjacke, der in einem selbstschließenden Plastikaktenordner einen Stapel Messblätter in großem Maßstab bei sich trug. Als Landvermesser getarnt hatte Jacob die letzten drei Tage damit verbracht, entlang der Autobahn München-Salzburg umfangreiche Messungen vorzunehmen. Sein Auftrag war, die mögliche Wirkung einer sehr großen Sprengladung abzuschätzen, wenn sie in den frühen Morgenstunden eines Wochentages am Straßenrand explodierte - und das bei den unterschiedlichsten Witterungs- und Verkehrsverhältnissen. Die beiden Männer besprachen in der Hotelhalle bei mehreren Kännchen von ausgezeichnetem Kaffee Jacobs behutsame Vorschläge und fuhren dann zum nicht geringen Ärger der Schnellerfahrenden in einem Leihwagen langsam die gesamte hundert Kilometer lange Strecke ab und hielten fast überall, wo sie durften, und ein paar Mal auch dort, wo sie nicht durften.

Von Salzburg aus reiste Litvak allein nach Wien weiter, wo eine neue Einsatzgruppe mit neuen Fahrzeugen und neuen Gesichtern ihn erwartete. In einem abhörsicheren Besprechungszimmer der israelischen Botschaft wies Litvak sie in ihre Aufgabe ein, und nachdem er noch andere, weniger wichtige Angelegenheiten erledigt hatte, wozu auch die Lektüre der letzten Bulletins aus München gehörte, führte er sie in einer ziemlich schäbigen Wagenkolonne als Touristen in ein bestimmtes Gebiet nahe der jugoslawischen Grenze, wo sie mit der Unbekümmertheit von Sommerausflüglern sämtliche Parkplätze, Bahnhöfe und malerischen Marktplätze abklapperten, ehe sie sich in der Umgebung von Villach über verschiedene kleine Pensionen verteilten. Nachdem er sein Netz so ausgelegt hatte, eilte er zurück nach München, um dort eingehend über die wichtige Präparierung des Köders nachzudenken.

Die Vernehmung Yanukas ging bereits in den vierten Tag, als Kurtz eintraf, um die Zügel in die Hand zu nehmen, und war bis dahin mit entnervender Reibungslosigkeit vonstatten gegangen. »Ihr habt allerhöchstens sechs Tage Zeit für ihn«, hatte Kurtz seinen beiden Verhörspezialisten in Jerusalem eingeschärft. »Nach sechs Tagen werden eure Irrtümer nicht mehr zu korrigieren sein - und seine auch nicht.«

Es war eine Aufgabe ganz nach Kurtz’ Geschmack. Hätte er an drei Orten zugleich sein können statt nur an zweien, er hätte sie sich selbst vorbehalten, doch das ging nun einmal nicht, und so wählte er zwei schwergewichtige Spezialisten der sanften Tour, die berühmt waren für ihre verhaltene schauspielerische Begabung sowie für die Art bekümmerten Wohlwollens, das sie gemeinsam ausstrahlten. Sie waren weder miteinander verwandt, noch waren sie - soweit man wusste - ein Liebespaar, doch sie arbeiteten schon seit so langer Zeit zusammen, dass ihre vertrauenerweckenden Züge einem das Gefühl gaben, einer Doppelwirkung ausgesetzt zu sein, und als Kurtz sie zum ersten Mal in das Haus in der Disraeli Street bestellt hatte, lagen ihre vier Hände wie die Pfoten von zwei großen Hunden auf der Tischkante. Zuerst war er barsch mit ihnen umgesprungen, denn er beneidete sie und war ohnehin geneigt, jedes Delegieren als eine Schlappe anzusehen. Um was es ging, hatte er ihnen nur in den dürrsten Worten umrissen, ihnen dann jedoch den Auftrag gegeben, sich mit Yanukas Akte vertraut zu machen und sich nicht eher wieder bei ihm zu melden, als bis sie sie durch und durch kannten. Als sie für seinen Geschmack zu schnell wiedergekommen waren, hatte er sie selbst wie bei einem Verhör in die Mangel genommen und sie bissig nach Yanukas Kindheit, seinem Lebensstil, seinen Verhaltensweisen und überhaupt allem ausgequetscht, womit er meinte, sie in die Bredouille bringen zu können. Aber sie hatten alle Antworten auswendig gekonnt, und so hatte er widerstrebend seinen aus Miss Bach, dem Schriftsteller Leon und dem alten Schwill bestehenden ›Bildungs-Kreis‹ zusammengerufen; diese drei hatten in den vergangenen Wochen ihre ausgefallenen Talente zusammengetan und sich zu einer wunderbar aufeinander abgestimmten und Hand in Hand arbeitenden Einsatzgruppe entwickelt. Die Instruktionen, die Kurtz ihnen bei dieser Gelegenheit erteilte, stellten einen klassischen Fall von Unklarheit dar. »Miss Bach hier hat die Aufsicht. Sie hält sämtliche Fäden in der Hand«, hatte er begonnen, als er die drei mit den beiden Neuen bekannt machte. Trotz fünfunddreißigjähnger Übung war sein Hebräisch immer noch grauenhaft. »Miss Bach prüft das Rohmaterial, das ihr zugeleitet wird. Sie verfasst die Bulletins, die an die Außenstellen gehen. Sie liefert Leon hier seine Richtlinien, überprüft, was er aufsetzt, und stellt sicher, dass seine Texte in den Gesamtplan für die Korrespondenz hineinpassen.« Wenn die beiden Verhörspezialisten zuvor ein kleines bisschen gewusst hatten, so wussten sie jetzt womöglich noch weniger. Aber sie machten den Mund nicht auf. »Sobald Miss Bach sich mit einem Schriftsatz einverstanden erklärt hat, bespricht sie ihn gemeinsam mit Leon und Mr. Schwili.« Es war hundert Jahre her, dass jemand Schwili ›Mister‹ genannt hatte. »Bei dieser Besprechung einigen sie sich auf Tinten, Schreibgerät sowie auf den emotionalen und physischen Zustand des Schreibers im Rahmen der Fiktion. Ist er oder sie niedergeschlagen? Ist er oder sie wütend? In jedem einzelnen Fall hat das Team den gesamten fiktiven Rahmen in allen seinen Aspekten auf seine Stichhaltigkeit hin abzuklopfen.« Obwohl ihr neuer Boss entschlossen schien, das, was er zu sagen hatte, nur anzudeuten, statt es klar zu sagen, hatten die Verhörspezialisten nach und nach angefangen, die Umrisse des Plans zu erkennen, an dessen Verwirklichung sie nun beteiligt sein sollten. »Vielleicht hat Miss Bach in ihren Unterlagen eine originale Handschriftprobe - Brief, Postkarte oder Tagebuch -, die als Vorlage dienen kann. Möglich aber auch, dass das nicht der Fall ist.« Kurtz’ rechter Unterarm hatte ihnen mit abgehackten Bewegungen beide Möglichkeiten über den Tisch zugeschlagen. »Erst wenn dieses ganze Verfahren eingehalten worden ist, und erst dann, macht Mr. Schwili sich an die Fälschung. Er macht das wunderschön. Mr. Schwili ist nämlich nicht einfach ein Fälscher - er ist ein Künstler«, hatte er ihnen eingebleut - sie täten gut daran, das nicht zu vergessen. »Sobald er mit seinem Werk fertig ist, reicht Mr. Schwili es zurück an Miss Bach, und zwar zur erneuten Überprüfung, Anbringung von Fingerabdrücken, Weiterleitung oder Verwahrung. Fragen?«

Die beiden Spezialisten hatten ihr sanftmütiges Lächeln aufgesetzt und ihm versichert, sie hätten keine.

»Fangt hinten an«, knurrte Kurtz hinter ihnen her, als sie hinausmarschierten. »Zum Anfang könnt ihr immer noch zurückkehren, wenn noch Zeit ist.«

Andere Besprechungen hatten stattgefunden, um mit dem wesentlich vertrackteren Problem fertig zu werden, Yanuka in so kurzer Zeit zu bewegen, bei ihren Plänen mitzumachen. Abermals wurden Misha Gavrons geliebte Psychologen zusammengerufen, hochmütig angehört und wieder hinausgeschickt. Einem Vortrag über Halluzinogene und bewusstseinszerstörende Drogen erging es schon besser; in aller Eile wurden andere Verhörspezialisten gesucht, die damit Erfolg gehabt hatten. So bekam die Langzeit-Planung wie immer eine Atmosphäre von Improvisation in letzter Minute, wie Kurtz und alle anderen sie so liebten. Nachdem man sich über ihren Auftrag geeinigt hatte, schickte Kurtz die Verhörspezialisten frühzeitig nach München voraus, damit sie ihre Beleuchtungs- und Geräuscheffekte einbauen und ausprobieren und mit der Wachmannschaft die Rollen proben konnten, die diese zu spielen hatten. Sie kamen an und sahen mit ihren eingebeulten Blechkoffern und schlotternden Satchmo-Anzügen wie eine Zwei-Mann-Kapelle aus. Schwilis Komitee folgte ein paar Tage später und richtete sich unauffällig in der unteren Wohnung ein. Sie gaben sich als professionelle Briefmarkenhändler aus, die zu der großen Briefmarken-Auktion in die Stadt gekommen waren. Die Nachbarn fanden daran nichts Verdächtiges. Juden, sagten sie zueinander - aber wen kümmert das schon heutzutage? Die Beziehung zu den Juden war schon vor längerer Zeit ›normalisiert‹ worden. Und selbstverständlich waren sie Händler, was denn sonst?

Gesellschaft leisteten ihnen, abgesehen von Miss Bachs tragbarem Kleincomputer-Terminal, Bandgeräte, Kopfhörer, Kisten mit Konserven und ein schmächtiger Junge, ›Samuel, der Pianist‹ genannt, um den kleinen Fernschreiber zu bedienen, der an Kurtz’ eigenen Befehlsstand angeschlossen war. Samuel trug in einer Spezialtasche seiner kapokgefütterten Steppweste einen sehr großen Colt-Revolver; wenn er am Fernschreiber saß, hörten sie, wie die Waffe gegen das Gestell schlug, doch legte er sie nie ab. Er war ein genauso stilles Wasser wie David aus der Villa in Athen; ihrem Verhalten nach hätte man meinen können, sie seien Zwillingsbrüder.

Die Aufteilung der Räume fiel in Miss Bachs Verantwortungsbereich. Leon wies ihr der Ruhe wegen das Kinderzimmer zu. An dessen Wänden ästen samtäugige Rehe riesige Gänseblümchen. Samuel bekam die Küche wegen ihres natürlichen Zugangs zum Hinterhof, wo er seine Antenne aufzog, an der er Babysöckchen aufhängte. Als Schwili jedoch zum ersten Mal das für ihn reservierte Schlafzimmer zu sehen bekam, stieß er einen spontanen Klagelaut aus.

»Meine Beleuchtung! Lieber Gott, sieh dir meine Beleuchtung an! Bei einer solchen Beleuchtung könnte man ja nicht mal einen Brief an die eigene Großmutter fälschen!«

Mit Leons Hilfe, der in seinem nervösen Schöpferdrang vor diesem unerwarteten Ansturm fast in die Knie ging, erfasste Miss Bach das Problem sofort: Schwili brauchte mehr Tageslicht für seine Arbeit, aber - nach der langen Kerkerhaft -auch für seine Seele. Im Handumdrehen hatte sie nach oben telefoniert, die Argentinier kamen, Möbel wurden unter ihren Anweisungen wie Bauklötze hin und her geschoben, und Schwilis Arbeitstisch am großen Wohnzimmerfenster wieder aufgestellt, von wo aus er einen Blick auf grüne Blätter und blauen Himmel hatte. Miss Bach persönlich hängte noch extradicke Netzgardinen auf, damit er sich auch ganz ungestört fühlen konnte, und befahl Leon, eine Verlängerungsschnur für seine hypermoderne italienische Lampe zurechtzumachen. Dann ließen sie ihn auf ein stummes Kopfnicken von Miss Bach hin leise allein, doch Leon beobachtete ihn heimlich von der Tür aus. Im schwindenden Tageslicht dasitzend, legte Schwili seine kostbaren Tinten und Federn und verschiedenen Arten von Briefpapier zurecht, als hätte er morgen sein großes Examen. Dann nahm er die Manschettenknöpfe ab und rieb sich bedächtig die Hände, um sie zu wärmen; dabei war es selbst für einen alten Gefangenen warm genug. Dann nahm er den Hut ab. Dann zog er hintereinander an jedem Finger und lockerte unter einer Salve von kleinen schmatzenden Lauten die Gelenke. Dann schickte er sich an zu warten, so wie er sein ganzes Erwachsenenleben hindurch immer gewartet hatte. Der Star, für dessen Empfang sie alles vorbereitet hatten, wurde pünktlich am selben Abend von Zypern kommend nach München eingeflogen. Keine blitzenden Kameras feierten seine Ankunft, denn schließlich handelte es ja sich um einen Kranken auf einer Tragbahre, um den sich ein Krankenpfleger und ein Privatarzt kümmerten. Der Arzt war echt, sein Pass allerdings nicht; und was Yanuka betrifft, so handelte es sich um einen britischen Geschäftsmann aus Nicosia, der in aller Eile nach Mü nchen gebracht wurde, wo er sich einer Operation am offenen Herzen unterziehen sollte. Das ging aus einem ganzen Stapel eindrucksvoller medizinischer Unterlagen hervor, die jedoch die deutschen Flughafenbeamten kaum interessierten. Ein unbehaglicher Blick auf das leblose Gesicht des Patienten sagte ihnen alles, was sie wissen mussten. Ein Krankenwagen fuhr Patienten, Arzt und Krankenpfleger in Richtung Krankenhaus rechts der Isar, bog dann jedoch ab und rollte, als sei das Schlimmste eingetroffen, in den bedeckten Hof eines freundlichen Beerdigungsunternehmers. Im Olympischen Dorf konnte man später sehen, wie die beiden argentinischen Fotografen und ihre Freunde einen Wäschekorb aus Weidengeflecht mit der Aufschrift: ›Vorsicht - Glas!‹ von dem ziemlich verbeulten Kleinbus zum Lastenaufzug schleppten; kein Zweifel, sagten die Nachbarn; jetzt fügen sie ihrer ohnehin schon übertrieben großen Ausrüstung noch eine weitere Extravaganz hinzu. Witzelnd erging man sich in Mutmaßungen darüber, ob die Briefmarkenhändler unten sich wohl über ihren Musikgeschmack beschweren würden: Juden mäkelten schließlich an allem herum. Oben packten sie inzwischen ihre Beute aus und stellten mit Hilfe des Arztes fest, dass unterwegs nichts kaputtgegangen war. Minuten später hatten sie ihn sorgfältig auf den Boden der gepolsterten Mönchszelle gelegt, wo er vermutlich binnen einer halben Stunde zu sich kommen würde, wenn auch nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die lichtundurchlässige Kapuze, die sie ihm über den Kopf gezogen hätten, den Prozess des Aufwachens verzögerte. Bald danach verabschiedete sich der Arzt. Er war ein gewissenhafter Mann und hatte sich - um Yanukas Zukunft besorgt - von Kurtz die Zusicherung geholt, dass er seine ärztlichen Prinzipien nicht verletzen müsse.

Und in der Tat, es waren noch keine vierzig Minuten vergangen, da sah man, wie Yanuka an seinen Ketten riss, erst mit den Handgelenken, dann mit den Knien und schließlich mit allen vieren zusammen wie eine Schmetterlingspuppe, die versucht, ihre Hülle zu sprengen, bis er offensichtlich erkannte, dass man ihn mit dem Gesicht nach unten verschnürt hatte; denn er hielt inne, schien eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und ließ dann versuchsweise ein Stöhnen vernehmen. Doch dann brach ohne jede weitere Vorwarnung die Hölle los, als Yanuka einen angstvollen, schluchzenden Schrei nach dem anderen ausstieß, zuckte, sich aufbäumte und sich ganz allgemein mit einer Kraft hin und her warf, die sie doppelt dankbar für seine Ketten machte. Nachdem sie sich diese Vorführung eine Zeitlang angesehen hatten, zogen die Verhörspezialisten sich zurück und überließen den Wachen das Feld, bis der Sturm sich von selbst legte. Wahrscheinlich hatte man Yanuka den Kopf mit haarsträubenden Geschichten über die Brutalität der israelischen Methoden vollgestopft. Vermutlich wollte er in seiner abgrundtiefen Verwirrung sogar, dass sie ihrem Ruf Ehre machten und alle Schrecken für ihn wahr würden. Doch die Wächter weigerten sich, ihm diesen Gefallen zu tun. Sie hatten Auftrag, die mürrischen Kerkermeister zu spielen, Distanz zu wahren und ihm keine Verletzungen zuzufügen; daran hielten sie sich buchstabengetreu, auch wenn es ihnen schwer fiel - besonders Oded, ihrem Benjamin. Seit dem Augenblick von Yanukas schmachvoller Ankunft hatten Odeds junge Augen sich vor Hass verdunkelt. Jeder Tag, der verging, ließ ihn kranker und grauer aussehen, und am sechsten hatten seine Schultern sich allein von der Spannung, Yanuka lebendig unter ihrem Dach zu haben, versteift.

Schließlich schien Yanuka wieder in Schlaf zu versinken, und die beiden Verhörspezialisten kamen zu dem Schluss, dass es jetzt an der Zeit sei anzufangen; folglich spielten sie Bänder mit den Geräuschen von morgendlichem Verkehr ab, knipsten viel helles Licht an, brachten ihm - dabei war es noch nicht einmal Mitternacht - gemeinsam Frühstück und befahlen den Wärtern laut, ihn loszubinden und ihn wie ein menschliches Wesen essen zu lassen und nicht wie einen Hund. Sie selbst nahmen ihm dann fürsorglich die Kapuze ab, denn sie wollten, dass er als erstes ihre freundlichen, nichtjüdischen Gesichter sah, die ihn väterlich-besorgt anblickten. »Dass ihr ihm diese Dinge nie wieder anlegt«, sagte einer von ihnen ruhig auf Englisch zu den Wärtern und warf Kapuze und Ketten unter wütendem Ächzen symbolisch in eine Ecke. Die Wächter zogen sich zurück -besonders Oded übertrieben widerwillig -, und Yanuka ließ sich dazu herbei, etwas Kaffee zu trinken, während seine beiden neuen Freunde ihm zuschauten. Sie wussten, dass er einen furchtbaren Durst hatte, denn ehe der Arzt gegangen war, hatten sie ihn gebeten, diesen Durst hervorzurufen; infolgedessen musste ihm der Kaffee wunderbar schmecken, was immer sonst sie noch hineingemischt haben mochten. Sie wussten auch, dass sein Bewusstsein sich in einem Zustand traumartiger Zersplitterung befand und damit in bestimmten wichtigen Bereichen wehrlos war - zum Beispiel dann, wenn ihm Mitleid entgegengebracht wurde. Nachdem sie ihm ein paar Mal solche Besuche abgestattet hatten - von denen einige nur wenige Minuten auseinander gelegen hatten -, kamen die Verhörspezialisten zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, den Sprung zu wagen und sich vorzustellen. Im großen und ganzen handelte es sich dabei um den ältesten Trick im Gewerbe; allerdings enthielt er originelle Variationen. Sie seien Rot-Kreuz-Beobachter, erklärten sie ihm auf Englisch. Sie seien Schweizer Staatsbürger, wohnten jedoch hier im Gefängnis. In welchem Gefängnis und wo, dürften sie ihm nicht verraten;

allerdings gaben sie eindeutige Hinweise, dass es sich um Israel handelte. Sie zeigten eindrucksvolle Gefängnis-Pässe in Plastikhüllen mit Daumenabdrücken darauf vor, mit eingenieteten Passfotos und aufgedruckten Roten Kreuzen in Wellenlinie, wie auf Banknoten, um Fälschungen zu erschweren. Sie erklärten, ihre Aufgabe sei es, dafür zu sorgen, dass die Israelis die in der Genfer Konvention festgelegten Regeln für Kriegsgefangene einhielten - obwohl das, wie sie sagten, weiß Gott nicht so einfach sei -, und, soweit die Gefängnisvorschriften das zuließen, für Yanuka die Verbindung zur Außenwelt herzustellen. Sie setzten Himmel und Hölle in Bewegung, um ihn aus der Einzelhaft freizubekommen und in den Araber-Block zu überstellen, sagten sie, doch hätten sie erfahren, ein ›strenges Verhör‹ könne jeden Tag beginnen, und dass die Israelis ihn bis dahin in Isolationshaft lassen würden, ob ihnen das nun gefalle oder nicht. Manchmal, so erklärten sie, ließen die Israelis sich einfach von ihrer Besessenheit hinreißen und würden überhaupt nicht mehr an ihr Image denken. Das Wort › Verhör‹ stießen sie voller Abscheu hervor, als ob sie wünschten, sie hätten ein anderes Wort dafür. In diesem Augenblick kam, wie vorgesehen, Oded zurück und tat so, als beschäftigte er sich mit den sanitären Einrichtungen. Die Verhörspezialisten hörten sofort auf zu sprechen, bis er wieder draußen war.

Als nächstes holten sie ein großes, gedrucktes Formular hervor und halfen Yanuka, es eigenhändig auszufüllen: hier der Name, alter Junge, Adresse, Geburtsdatum, die nächsten Angehörigen, ja, so sei es richtig, Beruf - nun ja, wohl Student, oder? -, Ausbildung, Religionszugehörigkeit, tut uns leid, aber das sind nun mal die Vorschriften. Yanuka leistete, trotz anfänglichen Widerstrebens, genau Folge, und dieses erste Anzeichen von Kooperationsbereitschaft wurde unten vom ›Bildungs-Kreis‹ mit stiller Genugtuung zur Kenntnis genommen - selbst wenn seine Handschrift wegen der Drogen recht kindlich ausfiel.

Als sie sich verabschiedeten, reichten die Experten Yanuka eine gedruckte Broschüre, in der auf Englisch seine Rechte dargelegt wurden, und schoben ihm augenzwinkernd und mit einem aufmunternden Klaps auf den Rücken einige Riegel Schweizer Schokolade zu. Und redeten ihn mit seinem Vornamen, Salim, an. Vom Zimmer nebenan beobachteten sie ihn danach eine Stunde lang mit Hilfe von Infrarotlicht, während er völlig im Dunkeln lag, weinte und den Kopf hin und her warf. Dann ließen sie es heller werden, platzten fröhlich bei ihm hinein und riefen: »Guck mal, was wir für dich haben; komm schon, wach auf, Salim, es ist Morgen.« Es war ein Brief, namentlich an ihn adressiert. Poststempel Beirut, c/o Rotes Kreuz und mit dem Vermerk ›Vom Zensor der Haftanstalt geöffnet‹ gestempelt. Von seiner geliebten Schwester Fatmeh, die ihm das vergoldete Amulett geschenkt hatte, das er um den Hals trug. Miss Bach hatte den Brief verfasst, gefälscht hatte ihn Schwili, und Leons chamäleonhafte Begabung hatte ihm den echten Schwung von Fatmehs kritischer Zuneigung verliehen. Als Vorbilder dienten ihnen die Briefe, die Yanuka von ihr erhalten hatte, solange sie ihn beschattet hatten. Fatmeh sandte ihm liebste Grüße und hoffte, Salim werde Mut beweisen, wenn seine Zeit komme - wobei sie unter ›Zeit‹ das gefürchtete Verhör zu verstehen schien. Sie habe beschlossen, ihrem Freund den Laufpass und ihren Bürojob aufzugeben und ihre Arbeit bei der Fürsorge in Sidon wieder aufzunehmen, da sie es nicht länger ertrage, so weit von der Grenze ihres geliebten Palästinas entfernt zu sein, während Yanuka so verzweifelt in der Klemme sitze. Sie bewundere ihn; das werde sie immer tun; Leon schwor es. Bis ans Grab und darüber hinaus werde Fatmeh ihren tapferen, heldenhaften Bruder lieben; dafür hatte Leon gesorgt. Yanuka nahm den Brief scheinbar gleichgültig entgegen, doch nachdem sie ihn wieder allein gelassen hatten, sank er in eine fromme Haltung nieder, reckte den Kopf hoch und edel zur Seite wie ein Märtyrer in Erwartung des Schwertes und drückte Fatmehs Worte an die Wange.

»Ich verlange Papier«, erklärte er den Wächtern großspurig, als sie nach einer Stunde wiederkamen, um seine Zelle auszufegen. Es war, als ob er nicht gesprochen hätte. Oded gähnte sogar. »Ich verlange Papier! Ich verlange die Vertreter des Roten Kreuzes! Ich verlange, einen Brief an meine Schwester Fatmeh zu schreiben, wie mir das nach der Genfer Konvention zusteht. Jawohl!« Auch diese Worte wurden unten günstig aufgenommen, bewiesen sie doch, dass das erste Angebot des ›Bildungs-Kreises‹ von Yanuka angenommen worden war. Sie sandten sofort eine Sondermeldung nach Athen. Die Wächter schlichen kleinlaut davon, angeblich um sich Anweisungen zu holen, und kamen bald darauf mit einem kleinen Stoß Rot-Kreuz-Papier zurück. Außerdem händigten sie Yanuka einen gedruckten ›Ratschlag für Häftlinge‹ aus, in dem es hieß, nur englisch geschriebene Briefe würden weitergeleitet, vorausgesetzt, sie enthielten keine versteckten Nachrichten. Aber nichts zum Schreiben. Yanuka verlangte einen Kugelschreiber, bettelte darum, schrie sie an und weinte, das alles mit verlangsamten Bewegungen, doch die Gefängniswärter erklärten laut und deutlich, von Bleistift oder Kugelschreiber stehe nichts in der Genfer Konvention. Eine halbe Stunde später besuchten ihn aufgeregt und voll gerechter Empörung die beiden Verhörspezialisten und drückten ihm ihren eigenen Federhalter mit der Aufschrift ›Für Menschlichkeit‹ in die Hand.

So ging die Scharade Szene um Szene mehrere Stunden lang weiter, und Yanuka in seinem geschwächten Zustand wehrte sich vergeblich dagegen, die ihm freundschaftlich entgegengestreckte Hand zurückzuweisen. Seine schriftliche Antwort an Fatmeh war ein klassisches Dokument: ein dreiseitiger geschwätziger Brief voller Ratschläge, Selbstmitleid und kühnen ›Sich-in-die-Brust-Werfens‹ , der Schwili eine erste ›saubere‹ Vorlage von Yanukas Handschrift im Zustand starker seelischer Anspannung lieferte und Leon eine ausgezeichnete Kostprobe seines englischen Stils bot. »Meine geliebte Schwester, in einer Woche steht mir die schwerste Bewährungsprobe meines Lebens bevor; Dein starker Geist wird mich begleiten«, schrieb er. Auch diese Neuigkeit war Gegenstand einer Sondermeldung: »Schickt mir alles«, hatte Kurtz Miss Bach aufgetragen. »Kein Schweigen. Wenn nichts passiert, signalisieren Sie, dass nichts geschieht.« Und schärfer zu Leon: »Sorg dafür, dass sie mir mindestens alle zwei Stunden Nachricht gibt. Am besten stündlich.«

Yanukas Brief an Fatmeh war der erste von mehreren Briefen. Manchmal kreuzten ihre Briefe sich; manchmal beantwortete Fatmeh seine Fragen fast umgehend, nachdem er sie zu Papier gebracht hatte; und stellte ihrerseits Fragen.

Fangt am Ende an, hatte Kurtz ihnen gesagt. Das Ende bestand in diesem Falle aus pausenlosem, anscheinend belanglosem Gerede. Denn die beiden Experten plauderten stundenlang und mit nicht nachlassender Freundlichkeit mit Yanuka, bestärkten ihn, wie er gemeint haben muss, mit ihrer schwerfälligen schweizerischen Treuherzigkeit und bauten seinen Widerstand für den Tag auf, da die israelischen Schergen ihn zur Untersuchung schleppen würden. Zuerst wollten sie seine Meinung zu fast allem, worüber er sich zu unterhalten bereit war, hören, schmeichelten ihm mit ihrer respektvollen Neugier und ihrem Einfühlungsvermögen. Politik, so gestanden sie schüchtern, sei eigentlich nie ihr Feld gewesen; sie hätten immer dazu geneigt, den Menschen über die Ideen zu stellen. Einer von ihnen zitierte aus Gedichten von Robert Burns, der - wie sich herausstellte - zufällig auch ein Lieblingsdichter von Yanuka war. Manchmal hatte es fast den Anschein, als forderten sie ihn auf, sie zu seiner Denkweise zu bekehren, so aufgeschlossen zeigten sie sich seinen Argumenten gegenüber. Sie fragten ihn nach seinem Verhältnis zur westlichen Welt aus, nachdem er mehr als ein Jahr dort gelebt hatte, zuerst ganz allgemein, dann Land um Land, und lauschten hingerissen seinen nicht gerade originellen Verallgemeinerungen: der Eigennutz der Franzosen, die Habgier der Deutschen, die Dekadenz der Italiener. Und England? wollten sie ohne jedes Arg wissen. Oh, England sei am schlimmsten von allen! erwiderte er mit Nachdruck. England sei heruntergekommen, bankrott und richtungslos; England sei der verlängerte Arm des amerikanischen Imperialismus; England sei rundum schlecht, und das schlimmste Verbrechen der Engländer sei es, sein Land den Zionisten ausgeliefert zu haben. Er verlor sich wieder in einer langatmigen Hasstirade auf Israel, und sie ließen ihn gewähren. Sie wollten in diesem frühen Stadium auch nicht den leisesten Argwohn in ihm wecken, dass seine Reisen in England sie ganz besonders interessierten. Statt dessen fragten sie ihn nach seiner Kindheit aus - seinen Eltern, seinem Elternhaus in Palästina -, und mit schweigender Genugtuung nahmen sie zur Kenntnis, dass er seinen älteren Bruder nie auch nur mit einem einzigen Wort erwähnte; dass auch jetzt der große Bruder nicht das geringste mit Yanukas Leben zu tun hatte. Obwohl so viel für sie sprach, war Yanuka, das bemerkten sie wohl, bis jetzt nur bereit, nur von Dingen zu reden, die er als ungefährlich für die Sache der Palästinenser betrachtete.

Voll unerschütterlichen Mitgefühls hörten sie sich seine Geschichten über zionistische Greueltaten an und seine Erinnerungen an die Zeit, als er für die siegesgewohnte Fußballmannschaft seines Flüchtlingslagers in Sidon im Tor gestanden hatte. »Erzählen Sie von Ihrem besten Spiel«, drängten sie ihn. »Erzählen Sie von dem entscheidendsten Ball, den Sie je gehalten haben. Erzählen Sie uns von dem Pokal, den Sie gewonnen haben, und wer dabei war, als der große Abu Ammar persönlich ihn Ihnen in die Hand drückte!« Stockend und schüchtern tat Yanuka ihnen den Gefallen. Unten lief das Tonbandgerät, und Miss Bach speicherte ein Goldkorn nach dem anderen in ihrem Computer und unterbrach diese Arbeit nur, um Samuel dem Pianisten Zwischenberichte für Jerusalem und sein Gegenstück, David, in Athen zur Weiterleitung herüberzureichen. Leon schwebte derweil in seinem ganz privaten Himmel. Die Augen halb geschlossen, tauchte er in Yanukas eigenwilliges Englisch ein: in die Art, wie er sich impulsiv verhaspelte; wie er das, was er sagte, immer wieder poetisch ausschmückte; in seinen Tonfall und seinen Wortschatz, wie er unversehens das Thema wechselte, manchmal praktisch mitten im Satz. Ihm gegenüber auf der anderen Seite des Ganges saß Schwili und schrieb und murmelte vor sich hin und frohlockte. Manchmal jedoch, bemerkte Leon, hörte er unvermittelt auf und versank in Verzweiflung. Wenige Sekunden darauf sah Leon ihn dann auf leisen Füßen durchs Zimmer gehen, dessen Ausmaße mit dem Mitgefühl des ehemaligen Gefängnisinsassen für den glücklosen jungen Mann oben abschreiten. Um über das Tagebuch reden zu können, hatten sie sich einen anderen, allerdings auch wesentlich gewagteren Bluff ausgedacht. Zunächst einmal hatten sie diese Frage bis zum wirklichen dritten Tag hinausgeschoben; bis dahin hatten sie ihn allein durch ihre Methode der harmlosen Unterhaltung so bloßgelegt, wie es nur ging. Und selbst danach holten sie noch eigens Kurtz’ Einverständnis ein, ehe sie loslegten, so nervös machte es sie, die Eierschale von Yanukas Vertrauen zu ihnen ausgerechnet in einem Augenblick anzuknacken, da ihnen keine Zeit blieb, irgendwelche Methoden anzuwenden. Die Gefängniswärter hatten das Tagebuch einen Tag nach Yanukas Entführung gefunden. Zu dritt waren sie in seine Wohnung gegangen und hatten dabei kanarienvogelgelbe Overalls angehabt mit Plaketten, die sie als Mitarbeiter einer Münchener Reinigungsfirma auswiesen. Ein Hausschlüssel sowie ein fast echter Brief mit Instruktionen von Yanukas Hauswirt gab ihnen alle Autorität, die sie brauchten. Sie holten Staubsauger, Schrubber und eine Trittleiter aus ihrem kanarienvogelgelben Kastenwagen. Dann schlössen sie die Tür, zogen die Vorhänge zu und fielen acht volle Stunden über die Wohnung her wie die Heuschrecken, bis nichts mehr übrig zu sein schien, das sie nicht genauestens untersucht, fotografiert und an den richtigen Platz zurückgestellt, nachdem sie es aus einem Staubsaugerbeutel wieder eingestäubt hatten. Und zu ihren Funden, hinter einem Bücherregal an einer Stelle eingezwängt, die vom Telefon aus bequem zu erreichen war, gehörte dieser in braunes Leder gebundene kleine Taschenkalender, ein Werbegeschenk der Middle East Airlines, an das Yanuka auf irgendeine Weise gekommen sein musste. Sie wussten, dass er ein Tagebuch führte, und sie hatten es unter seinen Habseligkeiten vermisst, als sie ihn geschnappt hatten. Jetzt hatten sie es zu ihrer Freude gefunden. Manche Eintragungen waren auf Arabisch, einige auf Französisch und noch andere auf Englisch gemacht worden. Einige waren überhaupt nicht zu entziffern, in keiner Sprache, andere in einem nicht allzu privaten Wort-Code abgefasst. Die meisten Notizen bezogen sich auf bevorstehende Verabredungen, doch ein paar waren auch erst nachträglich hinzugefügt worden: »J. getroffen, P. anrufen.« Neben dem Tagebuch fiel ihnen noch eine andere Beute in die Hände, nach der sie Ausschau gehalten hatten: ein dicker fester Umschlag mit einem Stapel Quittungen, die Yanuka für den Tag aufhob, wenn er über seine Unternehmungen würde abrechnen müssen. Den Anweisungen entsprechend ließ das Team auch diesen Umschlag mitgehen.

Doch wie die entscheidenden Einträge im Notizbuch deuten? Wie sie ohne Yanukas Hilfe entziffern? Wie also sich Yanukas Mithilfe versichern?

Sie überlegten, ob sie nicht die Dosis der verabreichten Drogen vergrößern sollten, verwarfen das jedoch, da sie fürchteten, das könnte ihn restlos durcheinander bringen. Auf Gewalt zurückzugreifen hätte geheißen, den ganzen sauer errungenen guten Willen wieder zunichte zu machen. Außerdem waren sie Profis, und allein der Gedanke daran machte sie unglücklich. Sie zogen es vor, weiter auf dem aufzubauen, was sie bereits hergestellt hatten - auf Angst, Abhängigkeit und der Drohung des immer noch unmittelbar bevorstehenden Verhörs durch die Israelis. Folglich brachten sie ihm zunächst noch einen Brandbrief von Fatmeh, einen von Leons kürzesten und besten Briefen: »Ich habe gehört, dass Deine Stunde sehr nahe ist. Ich flehe Dich an, hab Mut!« Sie drehten das Licht an, damit er den Brief lesen konnte, dann knipsten sie es wieder aus und spielten ihm gedämpfte Schreie vor, das Geräusch, wie in der Ferne eine Zellentür ins Schloss fiel und eine zusammengebrochene Gestalt in Ketten über einen Steinflur geschleift wurde. Noch später spielten sie ihm noch die Dudelsack-Trauermusik einer palästinensischen Militärkapelle vor, und vielleicht meinte er, er sei schon tot. Zumindest lag er wie tot da. Sie schickten die Wächter zu ihm, die ihm die Kleider vom Leib rissen und ihm die Hände mit Ketten auf dem Rücken fesselten und Fußeisen anlegten. Und verließen ihn wieder. Wie für immer. Sie hörten, wie er »Oh, nein!« murmelte, wieder und wieder.

Sie zogen Samuel dem Pianisten einen weißen Kittel an, drückten ihm ein Stethoskop in die Hand und ließen ihn ziemlich unbeteiligt Yanukas Herztöne abhorchen. All das im Dunkeln, aber vielleicht nahm er den weißen Kittel doch wahr, als dieser um ihn herumstrich. Und wieder ließen sie ihn allein. Im Infrarot-Licht sahen sie ihn schwitzen und erschauern; einmal schien er zu überlegen, ob er sich nicht umbringen solle, indem er mit dem Kopf gegen die Mauer rannte, die einzige Bewegung, die er in seinem angeketteten Zustand einigermaßen hätte zuwege bringen können. Aber die Wand war dick mit Kapok gepolstert; selbst wenn er ein ganzes Jahr lang dagegen gerammt wäre, es hätte ihm nicht viel genützt. Sie spielten ihm noch mehr Schreie vor - dann herrschte tiefstes Schweigen. Sie feuerten im Dunkeln einen Pistolenschuss ab. Er kam so unvermittelt und laut, dass Yanuka sich aufbäumte. Dann fing er an zu schreien, allerdings ziemlich leise, als ob er es nicht lauter schaffte. Das war der Augenblick, da sie beschlossen, ans Werk zu gehen.

Als erster marschierten die Wächter zielstrebig in seine Zelle, packten ihn jeder an einem Arm und stellten ihn auf die Beine. Sie hatten sich sehr leicht gekleidet, als ob sie erwarteten, sich körperlich sehr anstrengen zu müssen. Als sie den zitternden Körper bis an die Zellentür geschleift hatten, tauchten Yanukas zwei Schweizer Retter auf und versperrten ihnen den Weg, ihre freundlichen Gesichter waren ein Bild der Empörung und Besorgtheit. Zwischen den Wächtern und den Schweizern entspann sich ein in die Länge gezogener, leidenschaftlicher Streit - und zwar auf hebräisch, so dass Yanuka ihm nur teilweise folgen konnte, doch klang das Ganze nach einem letzten Appell. Yanukas Verhör müsse noch vom Kommandanten gebilligt werden, erklärten die beiden Schweizer: laut Verfügung 6, Absatz 9 der Genfer Konvention sei strikt darauf zu achten, dass härtere Belastung der Gefangenen ohne direkte Billigung des Kommandanten und ohne Anwesenheit eines Arztes nicht gestattet seien. Aber den Wachen war die Konvention keineswegs egal und das sagten sie auch. Sie hätten sich die Konvention eingetrichtert, bis sie ihnen zu den Ohren herausgekommen sei, erklärten sie und zeigten dabei auf die Ohren. Ums Haar wäre es zu einem Handgemenge gekommen. Nur schweizerische Nachsicht verhinderte es. Statt dessen einigten sie sich, dass sie alle vier zum Kommandanten gehen würden, und zwar auf der Stelle, damit der sofort entscheide. Also stürmten alle vier fort, so dass Yanuka wieder im Dunkeln lag, und bald konnte man sehen, wie er sich an der Wand zusammenkauerte und betete, obwohl er beim besten Willen nicht wissen konnte, wo Osten war.

Beim nächsten mal kehrten die beiden Schweizer ohne die Wächter zurück, machten jedoch sehr ernste Gesichter und brachten Yanukas Notizbuch mit, als ob sich dadurch, mochte es auch noch so klein sein, alles änderte. Außerdem hatten sie zwei Reservepässe dabei, einen französischen und einen zypriotischen, die unter den Dielenbrettern seiner Wohnung gefunden worden waren - und den libanesischen Pass, mit dem er gereist war, als man ihn entführt hatte.

Dann erklärten sie ihm ihr Problem. Umständlich. Und auf eine Art, die nichts Gutes zu verheißen schien. So hatte er sie bisher noch nie erlebt. Nicht drohend, aber warnend. Auf Ersuchen der Israelis hätten die westdeutschen Behörden seine Münchener Wohnung durchsucht, sagten sie. Dabei seien ihnen dieses Notizbuch, die Pässe und eine Reihe anderer Dinge in die Hände gefallen, die Aufschluss darüber gäben, wo er sich im Lauf der letzten Monate aufgehalten hätte. Dem wollten die Israelis jetzt ›mit allem Nachdruck‹ auf den Grund gehen. Bei ihren Vorhaltungen dem Kommandanten gegenüber hätten sie, die Schweizer, darauf hingewiesen, dass das weder legal noch notwendig sei. Solle doch das Rote Kreuz dem Gefangenen die Dokumente vorlegen, hatten die Israelis vorgeschlagen, und sich erklären lassen, was die Eintragungen zu bedeuten hätten. Solle das Rote Kreuz ihn doch in geziemender Form auffordern, zunächst einmal eine Erklärung abzugeben, statt ihm eine solche mit Gewalt abzupressen -wenn der Kommandant wünsche, auch eine vom Gefangenen handschriftlich verfasste, wo er sich in den letzten sechs Monaten überall aufgehalten habe, mit Datums- und Ortsangabe, wen er getroffen und bei wem er gewohnt und mit welchen Papieren er gereist sei. Wo die militärische Ehre Schweigen erfordere, sagten sie, möge der Gefangene das an den betreffenden Stellen ehrlich vermerken. Wo das jedoch nicht der Fall sei - nun, zumindest sei damit Zeit gewonnen, während sie weiterhin Protest einlegten.

An dieser Stelle nun wagten sie es, Yanuka - oder Salim, wie sie ihn jetzt nannten - von sich aus, sozusagen privat, einen guten Rat zu geben. Vor allem, seien Sie genau, beschworen sie ihn, als sie einen Klapptisch für ihn aufstellten, ihm eine Wolldecke gaben und die Hände von den Fesseln befreiten. Verraten Sie ihnen nichts, was Sie geheim halten möchten, aber achten Sie darauf, dass das, was Sie ihnen sagen, absolut der Wahrheit entspricht. Vergessen Sie nicht, dass wir auf unseren guten Ruf bedacht sein müssen. Denken Sie an die, die nach Ihnen kommen und denen ein gleiches Schicksal blühen kann. Tun Sie Ihr Bestes - nicht um unseretwillen, sondern um ihretwillen. Die Art, wie sie ihm das sagten, schien anzudeuten, dass Yanuka bereits auf bestem Wege war, ein Märtyrer zu werden. Wieso eigentlich, schien keine Rolle zu spielen; die einzige Wahrheit, die er bis dahin kannte, war der Schrecken in der eigenen Seele. Es war knapp, aber das hatten sie ja von Anfang an gewusst. Und es kam auch der Augenblick - ein ziemlich langer sogar -, da sie fürchteten, er sei für sie verloren. Das war der Augenblick, als Yanuka ihnen beiden nacheinander tief und durchdringend in die Augen sah und die Schleier der Verblendung abzuschütteln und seine Peiniger klar ins Auge zu fassen schien. Doch Klarheit war niemals die Grundlage ihrer Beziehung gewesen und war es auch jetzt nicht. Als Yanuka den hingereichten Federhalter ergriff, lasen sie in seinen Augen die flehentliche Bitte, sie möchten ihm doch auch weiterhin etwas vormachen.

An dem Tag, der auf diese Dramen folgte - um die Mittagszeit nach normalen Maßstäben -, kam Kurtz dann direkt aus Athen, um Schwilis Kunstwerke zu begutachten und um seine Zustimmung zu geben, dass Tagebuch, Pässe und Quittungen - unter Anbringung gewisser sinnreicher Verschönerungen -wieder dorthin zurückgelegt würden, wohin sie von Rechts wegen gehörten. Kurtz persönlich übernahm auch die Aufgabe, bis zum Anfang zurückzugehen. Doch zunächst einmal hatte er es sich in der unteren Wohnung bequem gemacht und rief alle bis auf die Wächter nacheinander zu sich, um sich von ihnen über die bisher gemachten Fortschritte Bericht erstatten zu lassen, jeder auf seine Weise und so rasch oder so gemächlich, wie er wollte. In weißen Baumwollhandschuhen und trotz der Befragung Charlies, die die ganze Nacht gedauert hatte, offensichtlich nicht müde, betrachtete er die Ausstellungsstücke, hörte zustimmend Bandaufnahmen von entscheidenden Augenblicken ab und beobachtete voller Bewunderung, wie Miss Bachs Tischcomputer Yanukas Leben in der jüngsten Vergangenheit Tag für Tag in grünen Buchstaben auf dem Bildschirm erscheinen ließ: Daten, Flugnummern, Ankunftszeiten, Hotels. Dann sah er wieder hin, als der Bildschirm frei wurde und Miss Bach das fiktive Geschehen über das wirkliche stülpte: »Schreibt Charlie vom City Hotel in Zürich aus, Brief aufgegeben bei der Ankunft um achtzehn Uhr zwanzig auf dem Flughafen de Gaulle…trifft sich mit Charlie im Excelsior Hotel, Heathrow…ruft Charlie vom Münchener Hauptbahnhof aus an…« Und zu jeder Einfügung die entsprechenden Begleitumstände: welche Quittungen und Notizbucheintragungen sich auf welches Zusammentreffen bezogen, wo absichtlich Lücken und Unklarheiten eingebaut worden waren, weil in einer späteren Rekonstruktion nichts zu mühelos oder zu klar erscheinen sollte.

Nachdem Kurtz all dies geschafft hatte - es war inzwischen Abend geworden -, zog er die Handschuhe aus und eine schlichte israelische Heeres-Uniform an mit den Rangabzeichen eines Obersten und ein paar schmutzigen Ordensbändern für Verdienste im Feld über der linken Brusttasche und degradierte sich allmählich äußerlich, bis er zum Inbegriff eines lange nicht beförderten Offiziers geworden war, den man in die Gefängnisverwaltung abgeschoben hatte. Dann stieg er nach oben und trat lebhaft auf Zehenspitzen an das Beobachtungsfenster, von wo aus er Yanuka eine Zeitlang sehr eingehend betrachtete. Dann schickte er Oded und seine Kameraden mit dem Befehl nach unten, man solle ihn und Yanuka vollkommen allein lassen. Mit nichtssagender Bürokratenstimme stellte er Yanuka auf arabisch ein paar einfache, belanglose Fragen, erkundigte sich nach winzigen Einzelheiten: wo er einen bestimmten Zünder herhabe oder einen besonderen Sprengstoff oder ein Auto; oder wo genau etwa Yanuka und das Mädchen sich getroffen hätten, ehe sie die Godesberger Bombe abgegeben hätten. Kurtz’ genaue, so beiläufig preisgegebene Detailkenntnisse entsetzten Yanuka, der ihn als Reaktion darauf anschrie und befahl, aus Sicherheitsgründen den Mund zu halten. Kurtz konnte sich keinen Vers darauf machen. »Aber warum sollte ich den Mund halten?« verwahrte er sich mit der glasigen Begriffsstutzigkeit, die Menschen befällt, die - entweder als Wachpersonal oder als Häftlinge - zu lange im Gefängnis gewesen sind. »Wenn dein großer Bruder nicht den Mund hält, was für Geheimnisse gibt es denn dann noch, die ich bewahren sollte?« Er stellte diese Frage keineswegs so, als wollte er damit etwas enthüllen, sondern als sei dies die logische Folge von etwas allgemein Bekanntem. Während Yanuka ihn noch mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, erzählte Kurtz ihm ein paar Dinge über ihn, die eigentlich nur sein großer Bruder hätte wissen können. Das war keine Zauberei. Nachdem sie wochenlang Yanukas tägliches Leben durchforstet, seine Telefongespräche abgehört und seine Post überwacht hatten - ganz zu schweigen von seinem Dossier in Jerusalem, das vor zwei Jahren angelegt worden war -, war es kein Wunder, wenn Kurtz und sein Team, genau wie Yanuka selbst, mit solchen Einzelheiten vertraut waren wie sichere Adressen, über die er seine Briefe leitete, das sinnreiche Einbahn-System, über das ihm Befehle zugestellt wurden, und der Punkt, an dem Yanuka wie sie selbst auch von der eigenen Befehlsstruktur abgeschnitten wurde. Was Kurtz von seinen Vorgängern unterschied, war die offensichtliche Gleichgültigkeit, mit der er auf diese Dinge anspielte - und seine Gleichgültigkeit gegenüber Yanukas Reaktion. »Wo ist er?« schrie Yanuka. »Was habt ihr mit ihm gemacht? Mein Bruder redet nicht! Er würde niemals reden! Wie habt ihr ihn in die Hand bekommen?«

Die Entscheidung fiel von einem Augenblick auf den anderen. Unten, wo sie sich um den Lautsprecher versammelt hatten, legte sich eine Art ehrfürchtigen Staunens über den gesamten Raum, als sie hörten, wie Kurtz binnen drei Stunden nach seiner Ankunft den letzten Rest von Yanukas Gegenwehr beiseite fegte. Als Gefängniskommandant habe ich nur mit Verwaltungsaufgaben zu tun, erklärte er. Dein Bruder liegt in einer Krankenzelle unten, er ist ein bisschen mitgenommen; selbstverständlich hofft man, dass er überlebt, aber es wird immerhin ein paar Monate dauern, ehe er wieder laufen kann. Wenn du mir die folgenden Fragen beantwortet hast, stelle ich einen Befehl aus, dass du zusammen mit ihm untergebracht wirst und ihn gesund pflegst. Weigerst du dich, bleibst du, wo du bist. Dann - um jedem falschen Verdacht auf Schikane zu begegnen - zeigte Kurtz Yanuka das Polaroid-Farbfoto, das sie zusammengebastelt hatten und das das kaum erkennbare Gesicht von Yanukas Bruder zeigte, wie er aus einer blutbefleckten Gefängnisdecke herausschaute, als die beiden Wächter ihn von einem Verhör fortschafften.

Freilich, Kurtz’ Genie ruhte nie. Als Yanuka wirklich anfing zu reden, bekam Kurtz sofort ein weiches Herz und war voller Verständnis für die Leidenschaft des jungen Mannes; plötzlich musste der alte Kerkermeister alles hören, was der große Kämpfer je zu seinem Lehrling gesagt hatte. Als Kurtz endlich wieder nach unten kam, hatte das Team folglich von Yanuka so ziemlich alles erfahren, was es zu erfahren gab - was praktisch auf überhaupt nichts hinauslief, wie Kurtz ihnen sogleich klarmachte, wenn es darum ging, festzustellen, wo sich der große Bruder nun eigentlich aufhielt. Ganz am Rande kam auch noch einmal die sprichwörtliche Weisheit des alten Aushorchers auf den Tisch: dass nämlich physische Gewalt dem Ethos und dem Geist ihres Berufes widerspreche. Das betonte Kurtz mit ganz besonderem Nachdruck Oded gegenüber, schärfte es ihnen aber auch ganz allgemein noch einmal ein. Wenn man schon Gewalt anwenden musste, manchmal bliebe einem nichts anderes übrig, dann muss man darauf achten, sie gegen den Geist zu richten und nicht gegen den Körper, sagte er. Kurtz glaubte, es gebe überall etwas zu lernen, wenn bloß die Jungen die Augen aufmachen wollten.

Denselben Gedanken entwickelte er auch noch einmal Gavron gegenüber, allerdings mit weniger Erfolg.

Doch selbst jetzt wollte oder konnte Kurtz noch keine Ruhe geben. In aller Herrgottsfrühe des nächsten Tages, als die Angelegenheit Yanuka bis auf die letzte Schlussforderung erledigt war, war Kurtz schon wieder im Stadtzentrum und tröstete das Überwachungsteam, dessen Stimmung nach Yanukas Verschwinden auf einen Tiefpunkt gesunken war. Was denn aus ihm geworden sei? wollte der alte Lenny verzweifelt wissen -- wo der Junge doch eine solche Zukunft habe und auf so vielen Gebieten so vielversprechend sei! Nachdem er auch hier sein barmherziges Werk vollbracht hatte, wandte Kurtz sich nach Norden, um sich nochmals mit Dr. Alexis zu treffen - völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass der vorgebliche Wankelmut des guten Doktors Misha Gavron veranlasst hatte, ihn zur persona non grata zu erklären.

»Ich werde ihm sagen, ich bin Amerikaner«, versprach Kurtz Litvak mit einem breiten Grinsen, als er an Gavrons albernes Telegramm dachte, das er ihm in die Athener Villa geschickt hatte. Seine Stimmung war vorsichtig optimistisch. Wir kommen voran, erklärte er Litvak; und Misha schlägt mich nur, wenn ich festsitze.


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