Kapitel 15
Das Motel hieß Romanze und lag nicht weit von der Autobahn zwischen Kiefern auf einem Hügel. Gebaut hatte man es vor zwölf Monaten für Liebespaare, die eine Vorliebe für Mittelalter haben - mit zementverkleideten Kreuzgängen, Plastikmusketen und farbiger Neonbeleuchtung; Kurtz bewohnte das letzte Häuschen der Reihe, das ein bleiverglastes Fenster mit Jalousie hatte, von dem aus man die nach Westen führende Fahrbahn überblicken konnte. Es war zwei Uhr morgens, eine Zeit, die er besonders gern hatte. Er hatte geduscht und sich rasiert, sich auf der raffinierten Kaffeemaschine einen Kaffee gemacht und Coca-Cola aus dem teakholzverkleideten Kühlschrank getrunken, und die restliche Zeit überhatte er das getan, was er auch jetzt tat: er saß bei ausgeknipsten Lampen und ein Fernglas neben sich, hemdsärmelig an dem kleinen Schreibtisch und beobachtete, wie die Scheinwerfer auf ihrem Weg nach München durch die Baumstämme huschten. Der Verkehr war um diese Zeit sehr dünn, durchschnittlich nur fünf Fahrzeuge in der Minute; im Regen neigten sie dazu, im Pulk zu fahren. Es war ein langer Tag und eine lange Nacht gewesen, sofern man Nächte überhaupt zählte; Kurtz glaubte jedoch, dass Schlaffheit das Gehirn benebelte. Fünf Stunden Schlaf waren genug für jeden anderen Menschen, für ihn jedoch zuviel. Dennoch war es ein langer Tag gewesen, und richtig begonnen hatte er eigentlich erst, nachdem Charlie die Stadt verlassen hatte. Da waren die Wohnungen im Olympischen Dorf, die geräumt werden mussten, und diese Operation hatte Kurtz persönlich überwacht, denn er wusste, dass es seine Männer besonders anspornte, wenn sie daran erinnert wurden, wie entschlossen er sich um das kleinste Detail kümmerte. Da hatten die Briefe in Yanukas Wohnung geschmuggelt werden müssen; auch dafür hatte Kurtz gesorgt. Von dem Beobachtungsposten auf der anderen Straßenseite aus hatte er verfolgen können, wie die Beobachter sich Zugang verschafft hatten, und war geblieben, um ihnen nach ihrer Rückkehr zu schmeicheln und zu versichern, dass das lange Ausharren auf ihrem Posten bald belohnt werden würde. »Was passiert denn jetzt mit ihm?« hatte Lenny verdrossen gefragt. »Marty, der Junge hat doch eine Zukunft. Vergessen Sie das nicht.« Bei seiner Antwort hatte Kurtz einen orakelhaften Ton angeschlagen: »Lenny, der Junge hat eine Zukunft, bloß nicht bei uns.« Shimon Litvak saß hinter Kurtz auf dem Rand des Doppelbetts. Er hatte seinen tropfenden Regenmantel ausgezogen und ihn einfach fallen lassen, wo er stand. Er sah wütend aus und so, als fühlte er sich hintergangen. Von seinem eigenen Lichtkreis umgeben, saß Becker abseits von beiden auf einem zierlichen Schlafzimmerstuhl, ganz ähnlich wie in der Villa in Athen. Dasselbe Für-sich-Sein, aber zugleich die spannungsgeladene, hellwache Atmosphäre vor dem Einsatz teilend.
»Das Mädchen weiß nichts«, berichtete Litvak ungehalten in Richtung auf Kurtz’ unbewegten Rücken. »Sie ist eine blöde Gans.« Seine Stimme hatte sich ein wenig erhoben und bebte merklich. »Sie ist Holländerin und heißt Larsen. Sie meint, Yanuka hätte sie aufgerissen, als sie in einer Wohngemeinschaft in Frankfurt gelebt habe, aber sie ist sich nicht so ganz sicher. Dazu hat sie zu viele Männer gehabt und vergisst es. Yanuka hat sie ein paar Mal mitgenommen und hat ihr schlecht und recht das Schießen mit seiner Knarre beigebracht und sie zur Erholung und zum Zeitvertreib an seinen großen Bruder ausgeliehen. Daran wenigstens erinnert sie sich. Selbst für Khalils Liebesleben haben sie immer wieder verschiedene Quartiere benutzt - niemals im selben Zimmer zweimal. Sie fand das besonders stimmungsvoll. Zwischendurch hat sie Wagen für sie gefahren, ein paar Bomben für sie gelegt, ein paar Pässe für sie geklaut. Rein aus Freundschaft. Weil sie Anarchistin ist. Weil sie eine blöde Gans ist.«
»Also ein Pipi-Mädchen«, sagte Kurtz nachdenklich, weniger für Litvak bestimmt als für sein eigenes Spiegelbild im Fenster. »Godesberg gibt sie zu, Zürich nicht ganz. Hätten wir Zeit genug, würde sie auch Zürich ganz zugeben. Antwerpen jedoch nicht.«
»Und Leiden?« fragte Kurtz. Jetzt hatte auch Kurtz einen Kloß im Hals, so dass es sich von dort, wo Becker saß, angehört haben könnte, als ob die beiden Männer an den gleichen harmlosen Halsschmerzen litten, an einer Überreizung der Stimmbänder. »Leiden streitet sie rundweg ab«, erwiderte Litvak. »Nein, nein und nochmals nein. Und nochmals. Um die Zeit hat sie mit ihren Eltern Ferien gemacht. Auf Sylt. Wo ist Sylt?«
»Eine Insel vor der Küste Norddeutschlands«, sagte Becker, doch Litvak funkelte ihn an, als argwöhne er, es sei etwas Beleidigendes. »So was von Begriffsstutzigkeit!« beschwerte sich Litvak, diesmal wieder an Kurtz gewandt. »Gegen Mittag fing sie an zu singen, doch drei Stunden später stritt sie alles wieder ab. ›Nein, das habe ich nie gesagt. Sie lügen.‹ Wir finden die Stelle auf dem Tonband, spielen sie ihr vor, doch sie behauptet, es sei eine Fälschung, und fängt an, uns anzuspucken. Sie ist eine sture Holländerin, und begriffsstutziger geht’s nicht mehr.«
»Verstehe«, sagte Kurtz.
Aber Litvak wollte mehr Verständnis. »Tun wir ihr weh, wird sie wütend und macht ganz auf stur. Hören wir damit auf, geben wir ihr ihre ganze Kraft wieder, wird sie womöglich noch verbockter und fängt an, uns zu beschimpfen.«
Kurtz machte eine halbe Drehung nach hinten, so dass er -hätte er jemand angesehen - geradewegs Becker angeblickt haben würde. »Sie schachert«, fuhr Litvak immer noch im Ton schriller Klage fort. »Wir sind Juden, folglich schachert sie. ›Ich sage Ihnen dies, und Sie lassen mich am Leben, yes ? Ich sage Ihnen das, und Sie lassen mich laufen, yes?‹ « Unvermittelt ging er Becker an, »Und wie hätte’s der große Held angestellt?« wollte er wissen. »Hätte ich sie vielleicht becircen sollen? Dafür sorgen, dass sie sich in mich verknallt?«
Kurtz warf einen Blick auf die Uhr und darüber hinaus. »Was auch immer sie wissen mag, es gehört bereits der Geschichte an und ist passé«, meinte er. »Wichtig ist nur, was wir mit ihr machen. Und wann.« Aber er sprach wie jemand, der die endgültige Antwort selbst geben musste. »Wie fügt es sich in die Fiktion ein, Gadi?« wandte er sich an Becker.
»Ganz vorzüglich«, sagte Becker. Er ließ sie einen Moment warten. »Rossino hat sich ihrer in Wien ein paar Tage lang bedient, hat sie in den Süden gefahren, beim Mercedes abgesetzt. Stimmt alles. Sie fuhr den Wagen nach München, traf dort mit Yanuka zusammen. Stimmt zwar nicht, aber sie sind die beiden einzigen, die das wissen.«
Gierig nahm Litvak die Geschichte auf: »Getroffen haben sie sich in Ottobrunn. Das ist ein kleiner Ort, südöstlich von München. Von dort aus fuhren sie irgendwohin und vögelten. Wen kümmert’s schon, wo? Nicht alles muss bei einer Rekonstruktion haargenau passen. Vielleicht im Auto. Ihr macht es immer Spaß, sagt sie. Aber am meisten Spaß macht es ihr mit Kämpfern, wie sie sie nennt. Vielleicht haben sie sich irgendwo ein Zimmer genommen, und der Vermieter hat schon zuviel Schiss, um sich nur zu melden. Solche Lücken sind normal. So was erwartet man auf der gegnerischen Seite.«
»Und heute Nacht?« sagte Kurtz mit einem Blick aufs Fenster. »Jetzt?«
Litvak hatte es nicht gern, so genau befragt zu werden. »Jetzt sind sie im Auto auf dem Weg in die Stadt. Um dort eine Nummer zu schieben. Was hochgehen zu lassen und den Rest des Sprengstoffs in Sicherheit zu bringen. Wer wird das je wissen? Warum überhaupt so viel erklären?«
»Also, wo ist sie in diesem Augenblick?« fragte Kurtz. vergegenwärtigte sich die Einzelheiten und überlegte weiter. »In Wirklichkeit?«
»Im Lieferwagen«, sagte Litvak. »Und wo ist der Lieferwagen?«
»Der steht neben dem Mercedes. Auf dem Rastplatz. Ein Wort von Ihnen, und wir verlegen sie.«
»Und Yanuka?«
»Auch im Lieferwagen. Ihre letzte gemeinsame Nacht. Wie verabredet, haben wir beide ruhig gestellt.«
Kurtz hob das Fernglas wieder hoch, verharrte aber auf halbem Weg zwischen dem Tisch und seinen Augen, um es wieder zurückzutun. Dann legte er die Hände zusammen und blickte stirnrunzelnd darauf nieder. »Nenne mir eine andere Methode, sag mir, wie man es anders machen kann«, drängte er; durch die Kopfhaltung deutete er an, dass er Becker meinte. »Wir fliegen sie nach Hause, stecken sie irgendwie in die Wüste Negev, schließen sie ein. Ja und? Was ist aus ihr geworden? werden sie fragen. Von dem Augenblick an, da sie verschwindet, werden sie das Schlimmste annehmen. Sie werden annehmen, sie habe sich abgesetzt. Dass Alexis sie hat. Dass die Zionisten sie haben. Wie sie es auch drehen und wenden, sie werden annehmen, dass ihre Operation in Gefahr ist. Folglich werden sie sich fraglos sagen: ›Das Team auflösen, alle nach Hause schicken.‹ « Er fasste es noch einmal zusammen: »Sie müssen den Beweis haben, dass keiner sie hat, außer Gott und Yanuka. Sie müssen einfach wissen, dass sie genauso tot ist wie Yanuka. Bist du anderer Ansicht, Gadi? Oder entnehme ich deinem Gesichtsausdruck, dass du etwas Besseres weißt?«
Kurtz wartete nur, doch Litvaks Blick, der auf Becker geheftet war, blieb feindselig und vorwurfsvoll. Vielleicht verdächtigte er ihn, seine Hände in einem Augenblick in Unschuld zu waschen, da er ihn brauchte, um die Schuld zu teilen.
»Nein«, sagte Becker nach einer Ewigkeit. Aber sein Gesicht zeigte, wie Kurtz bemerkte, die Härte bewusster, willensgesteuerter Treue.
Unvermittelt setzte Litvak ihm zu - mit einer so angespannten und verkrampften Stimme, dass seine Worte Becker geradezu anzuspringen schienen. »Nein?« wieder holte er. »Wieso ›Nein‹? Das Unternehmen abblasen? Was heißt ›Nein‹?«
»Nein bedeutet: Wir haben keine Alternative«, sagte Becker und ließ sich Zeit. »Wenn wir die Holländerin verschonen, werden sie Charlie nie akzeptieren. Bleibt sie am Leben, ist Miss Larsen genauso gefährlich wie Yanuka. Wenn wir weitermachen, dann damit.«
»Wenn«, wiederholte Litvak voller Verachtung wie ein Echo.
Kurtz stellte mit einer weiteren Frage die Ordnung wieder her. »Kennt sie denn überhaupt keine nützlichen Namen?« wandte er sich an Litvak, und das klang so, als ob er die Antwort ›doch‹ hören wollte, »nichts, dem wir nachgehen sollten? Keinen Grund, sie zurückzuhalten?«
Litvak zuckte die Achseln, eine Geste, die alles und nichts offen ließ. »Sie weiß etwas von einer großen Norddeutschen, die Edda heißt. Sie hat sie nur einmal getroffen. Hinter Edda gibt es noch ein
Mädchen: eine Stimme aus Paris, übers Telefon. Hinter dieser Stimme ist Khalil, aber Khalil verteilt nicht gerade Visitenkarten. So was Begriffsstutziges gibt’s nicht noch mal!« wiederholte er. »Sie voll zu pumpen, braucht man so viel Stoff, dass man selbst schon ganz stoned wird, wenn man bloß über ihr steht.«
»Sie führt uns also nicht weiter«, sagte Kurtz.
Litvak knöpfte sich bereits den schwarzen Regenmantel zu. »Sie führt uns ganz bestimmt nicht weiter«, stimmte er mit einem trüben Grinsen zu. Dennoch ging er nicht zur Tür. Erwartete immer noch den ausdrücklichen Befehl.
Kurtz hatte noch eine letzte Frage: »Wie alt ist sie?«
»Sie wird nächste Woche einundzwanzig. Ist das ein Grund?« Langsam, bewusst erhob sich auch Kurtz, und er trat Litvak über den Raum hinweg, der mit geschnitzten Jagdhütten-Möbeln und schmiedeeisernen Beschlägen vollgestopft war, förmlich entgegen. »Frag jeden einzeln, Shimon«, befahl er. »Frag, ob er oder sie aussteigen will. Erklärungen werden nicht erwartet, und keiner, der einen Rückzieher macht, braucht zu befürchten, dass ihm das angekreidet wird. Es wird unter allen Beteiligten frei abgestimmt.«
»Ich hab’ sie schon gefragt«, sagte Litvak.
»Dann frag sie noch mal.« Kurtz hob die linke Hand und warf einen Blick auf die Uhr. »Ruf mich in genau einer Stunde an. Nicht früher. Und unternimm nichts, ehe du nicht mit mir gesprochen hast.«
Damit meinte Kurtz: Wenn der Verkehr am dünnsten ist. Wenn ich meine Dispositionen getroffen habe. Litvak ging. Becker blieb. Kurtz’ erster Anruf galt seiner Frau, Elli. Er meldete ein R-Gespräch an, da er es mit den Spesen peinlich genau nahm. »Bleib nur sitzen, Gadi, bitte«, sagte er ruhig, als Becker aufstand, um hinauszugehen; Kurtz brüstete sich damit, ein sehr offenes Leben zu führen. Folglich hörte Becker sich zehn Minuten lang solche drängenden Alltäglichkeiten an, wie Elli mit ihrem Bibel-Arbeitskreis vorankam oder das mit den Einkäufen machte, solange ihr kein Auto zur Verfügung stand. Er brauchte sich nicht groß zu fragen, warum Kurtz ausgerechnet diesen Augenblick gewählt hatte, um über derlei Dinge zu diskutieren. Er hatte früher genau das gleiche getan. Kurtz wollte sich Rückhalt von daheim holen, ehe er losschlug. Er wollte die Stimme Israels live hören. »Elli geht es wirklich gut«, versicherte Kurtz Becker begeistert, nachdem er aufgelegt hatte. »Sie lässt grüßen und bestellen: Gadi, mach, dass du wieder nach Hause kommst. Neulich hat sie Frankie getroffen. Frankie geht’s auch gut. Du fehlst ihr zwar, aber sonst geht es ihr gut.«
Sein zweiter Anruf galt Alexis, und zuerst hätte Becker - hätte er Kurtz nicht besser gekannt - meinen können, dass dieses Telefonat zu einer Reihe von liebenswerten Anrufen bei guten Freunden gehörte. Kurtz hörte sich an, was sein Agent Neues von der Familie zu berichten hatte; erkundigte sich nach dem kommenden Baby - ja, Mutter und Kind erfreuten sich bester Gesundheit. Doch kaum waren diese Präliminarien vorbei, da straffte sich Kurtz und kam ohne Umschweife und hart auf das zu sprechen, worum es ging, denn in den letzten Gesprächen mit Alexis hatte er ein deutliches Nachlassen in der Bereitschaft des Doktors verspürt.
»Paul, es sieht so aus, als ob es jetzt jeden Moment zu jenem Unfall kommen könnte, von dem wir neulich gesprochen haben; weder Sie noch ich können daran noch etwas ändern. Nehmen Sie also Bleistift und Papier zur Hand.« Dann wechselte er die Tonart und gab in flottem Deutsch seine Anweisungen durch: »Die ersten vierundzwanzig Stunden, nachdem Ihnen offiziell Meldung zugegangen ist, beschränken Sie sich in Ihren Untersuchungen strikt auf die einschlägigen Studentenkreise in Frankfurt und München. Sie lassen durchblicken, dass es sich bei den Hauptverdächtigen um die Anhänger einer linken Aktivistengruppe handelt, die bekanntermaßen mit einer Zelle in Paris in Verbindung stehen. Haben Sie das?« Er hielt inne und gab Alexis Zeit, sich das Entsprechende zu notieren.
»Am Tag zwei gehen Sie am frühen Nachmittag auf die Münchener Hauptpost und holen sich dort einen postlagernd an Sie persönlich gerichteten Brief ab«, fuhr Kurtz fort, nachdem ihm das offenbar zu erkennen gegeben worden war. »Aus diesem Brief erfahren Sie die Identität Ihrer ersten Schuldigen, einer Holländerin, und auch bestimmte Hintergrundinformationen darüber, was sie mit früheren Vorfällen zu tun hatte.«
Kurtz’ Befehle gingen im Diktiertempo weiter und wurden mit viel Nachdruck vorgebracht: keinerlei Nachforschungen in der Münchener Innenstadt vor Tag vierzehn; die Ergebnisse sämtlicher gerichtsmedizinischen Untersuchungen sollten zuerst ausschließlich an Alexis gehen und nicht zur Verteilung freigegeben werden, ehe Kurtz sein Einverständnis gegeben habe; das gleiche gelte für öffentliche Vergleiche mit anderen Zwischenfällen. Als er hörte, wie sein Agent ärgerlich wurde, hielt Kurtz den Hörer ein wenig vom Ohr weg, so dass Becker es gleichfalls hören konnte. »Aber, Marty, hören Sie zu - mein Freund - ich muss Sie etwas fragen, wirklich…«
»Fragen Sie.«
»Womit haben wir es hier denn zu tun? Ein Unfall ist schließlich kein Kaffeekränzchen, Marty. Wir leben in einer zivilisierten Demokratie, verstehen Sie, was ich meine?«
Und wenn - Kurtz enthielt sich jedenfalls jeden Kommentars. »Hören Sie, eines muss ich verlangen. Marty, ich verlange es, ich bestehe darauf. Kein Schaden, kein Menschenleben. Das ist eine Bedingung. Wir sind Freunde. Begreifen Sie?«
Kurtz begriff sehr wohl, wie seine knappe Antwort bewies. »Paul, deutsches Eigentum wird bestimmt nicht beschädigt werden. Ein paar Kratzer vielleicht, aber kein echter Schaden.« »Und Menschenleben? Um Gottes willen, Marty, wir sind doch hier nicht primitiv!« rief Alexis, in dem neuerlich Panik aufflackerte.
Kurtz’ Stimme bekam plötzlich etwas überwältigend Ruhiges. »Das Blut Unschuldiger wird nicht vergossen werden, Paul. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Und kein deutscher Staatsbürger wird auch nur eine Schramme abbekommen.«
»Darauf kann ich mich verlassen?«
»Es wird Ihnen gar nichts anderes übrig bleiben«, sagte Kurtz und legte auf, ohne zu hinterlassen, unter welcher Nummer man ihn erreichen könnte.
Unter normalen Umständen hätte Kurtz nicht so unbekümmert das Telefon gebraucht, doch da die Verantwortung fürs Anzapfen jetzt bei Alexis lag, hatte er das Gefühl, das Risiko auf sich nehmen zu können.
Litvak rief zehn Minuten später an. Los, sagte Kurtz; grünes Licht; ans Werk.
Sie warteten, Kurtz am Fenster, Becker, wieder auf seinem Stuhl, blickte an ihm vorbei auf den unruhigen Nachthimmel. Kurtz packte den Mittelhebel, schob ihn beiseite und machte die beiden Fensterflügel so weit wie möglich auf, so dass der Lärm von der Autobahn hereindrang.
»Warum überflüssige Risiken eingehen?« brummte er, als hätte er sich bei einer Nachlässigkeit ertappt.
Becker fing an, nach Soldatenart zu zählen: soundso lange, um die beiden richtig hinzusetzen. Soundso lange für eine letzte Überprüfung. Soundso lange, um abzuhauen. Soundso lange, bis aus beiden Richtungen eine Verkehrslücke gemeldet wurde. Soundso lange, um noch einmal darüber nachzudenken, wie viel ein Menschenleben wert ist, selbst für die, die völlig aus den menschlichen Bindungen ausgebrochen sind, und für die, bei denen das nicht der Fall ist. Es war wie üblich die lauteste Detonation, die je jemand gehört hatte. Lauter als Bad Godesberg, lauter als Hiroshima, lauter als alle Schlachten, in denen er mitgekämpft hatte. Becker, der noch immer auf seinem Stuhl saß und an Kurtz’ Silhouette vorbeiblickte, sah einen riesigen orangefarbenen Feuerball aus dem Boden emporschießen, dann verschwinden und die späten Sterne und das frühe Tageslicht mitnehmen. Ihm folgte sofort eine Woge von öligem schwarzen Rauch, der schnell den durch die sich ausdehnenden Gase entstandenen Raum erfüllte. Er sah Trümmer durch die Luft fliegen und einen Regen von schwarzen Bruchteilen nach hinten wegspritzen: ein Reifen, ein Brocken Asphalt, menschliche Gliedmaßen - wer wollte das jemals wissen? Er sah, wie der Vorhang liebevoll Kurtz’ nackten Arm streifte und spürte den warmen Hauch eines Föhns. Er vernahm das insektenhafte Summen von harten Gegenständen, die sich vibrierend aneinander reiben, und längst ehe es sich gelegt hatte, die ersten Schreie der Empörung, das Gehechel von Hunden sowie das Schlurfen ängstlicher Füße, als die Leute sich in Pantoffeln in dem überdachten Gang versammelten, der die einzelnen Häuschen miteinander verband, und er hörte die sinnlosen Sätze, die die Leute im Film auf untergehenden Schiffen zueinander sagen: »Mutter! Wo ist Mutter! Ich hab’ meinen Schmuck verloren.« Er hörte, wie eine völlig aufgelöste Frau sich nicht davon abbringen ließ, dass die Russen kämen, während eine nicht weniger verängstigte Stimme ihr versicherte, es sei nur ein Tankwagen, der in die Luft gehe. Jemand sagte, es müsse sich um was Militärisches handeln - die Sachen, die sie nachts transportieren, sind eine Schande! Neben dem Bett stand ein Radio. Während Kurtz am Fenster stehen blieb, stellte Becker einen lokalen Unterhaltungssender für Nachtschwärmer an und ließ das Radio laufen, für den Fall, dass sie eine Meldung durchgaben. Unter Sirenengeheul sauste ein Polizeiwagen die Autobahn entlang, das Blaulicht blitzte. Dann nichts, dann ein Feuerwehrauto, dem ein Krankenwagen folgte. Die Musik wurde unterbrochen, es kam zur ersten Meldung. Unerklärliche Explosion westlich von München, Ursache unbekannt - keine weiteren Einzelheiten. Die Autobahn sei in beiden Richtungen gesperrt; den Autofahrern werde geraten, auf Umgehungsstraßen auszuweichen. Becker stellte das Radio ab und knipste das Licht an. Kurtz machte das Fenster zu und zog den Vorhang vor, dann setzte er sich aufs Bett und zog die Schuhe aus, ohne die Schnürsenkel aufzumachen.
»Äh - übrigens - Gadi, vor ein paar Tagen habe ich von unseren Leuten in der Botschaft in Bonn gehört«, sagte Kurtz, als ob irgend etwas plötzlich die Erinnerung daran auffrischte. »Ich hatte sie gebeten, ein paar Erkundigungen über diese Polen anzustellen, mit denen du in Berlin zusammenarbeitest. Mal festzustellen, wie ihre Finanzlage ist.« Becker sagte nichts.
»Die Nachrichten waren anscheinend nicht so besonders ermutigend. Sieht so aus, als ob wir ein bisschen mehr Geld oder ein paar Polen mehr für dich finden müssten.«
Da er immer noch keine Antwort erhielt, hob Kurtz langsam den Kopf und sah, wie Becker ihn von der Tür her anstarrte; irgend etwas in der Haltung des größeren Mannes zeigte bemerkenswert deutlich, wie wütend er war.
»Möchten Sie mir etwas sagen. Mr. Becker? Möchten Sie mir eine Standpauke halten, die Sie in eine angenehme seelische Verfassung versetzt?«
Das war offenbar nicht der Fall. Becker machte leise die Tür hinter sich zu und war fort.
Kurtz musste noch ein letztes Telefongespräch führen: mit Gavron, und zwar über die Direktleitung zu ihm nach Hause. Er griff nach dem Hörer, zögerte und zog die Hand dann wieder zurück. Soll die kleine Krähe doch warten, dachte er, als der Zorn wieder in ihm aufwallte. Und rief ihn dann trotzdem an. Begann ganz sanft, alles fest in der Hand, nichts Unvernünftiges. So, wie sie immer anfingen. Sprachen englisch. Benutzten die Decknamen, auf die sie sich für diese Woche geeinigt hatten: »Nathan, hier ist Harry. Wie geht’s? Und deiner Frau? Danke, du sie auch von mir. Nathan, zwei kleine Bösewichter aus unserer Bekanntschaft haben sich plötzlich ganz schrecklich erkältet. Das wird bestimmt die Leute freuen, die von Zeit zu Zeit beruhigt werden müssen.« Während er Gavrons krächzender, unverbindlicher Antwort lauschte, spürte Kurtz, wie er anfing zu zittern. Trotzdem gelang es ihm, seine Stimme fest im Zaum zu halten. »Nathan, ich glaube, jetzt kommt dein großer Augenblick. Man ist es mir schuldig, dass du gewisse Druckmittel zurückhältst und die Sache reifen lässt. Da sind Versprechen gemacht und gehalten worden, ein gewisses Maß an Vertrauen ist jetzt gerechtfertigt, und ein kleines bisschen Geduld.« Unter all den Männern und Frauen, die er kannte, war Gavron der einzige Mensch, der ihn so weit reizte, dass er Dinge sagte, die er hinterher bereute. Noch hatte er sich in der Hand. »Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden, Nathan. Ich brauche Luft, hörst du? Luft -ein bisschen Freiheit - einen gewissen Bewegungsfreiraum.« Sein Zorn wallte auf. »Halt also diese Verrückten in Schach, ja? Geh doch hin und verschaff mir zur Abwechslung mal etwas Unterstützung!«
Die Leitung war tot. Ob daran die Explosion schuld war oder Misha Gavron, sollte Kurtz nie erfahren, denn er machte nicht den Versuch, noch einmal anzurufen.