Kapitel 26
Khalil nahm ihren Arm und trug sie fast zu dem blitzenden neuen Wagen, denn sie weinte und zitterte so sehr am ganzen Körper, dass sie kaum laufen konnte. Nach der bescheidenen Kleidung eines Lastwagenfahrers schien er sich als unerschütterlicher deutscher Manager verkleidet zu haben: weicher schwarzer Mantel, Hemd und Krawatte, gepflegt zurückgekämmtes schwarzes Haar. Er machte ihren Wagenschlag auf, zog den Mantel aus und legte ihn fürsorglich um sie, als wäre sie ein krankes Tier. Sie hatte keine Ahnung, wie sie seiner Meinung nach sein sollte, doch ihr Zustand schien ihn nicht so sehr zu schockieren, sondern ihm eher Respekt abzuverlangen. Der Motor lief bereits. Er drehte die Heizung voll auf.
»Michel wäre stolz auf dich«, sagte er freundlich und betrachtete sie einen Moment im Innenlicht. Sie wollte etwas sagen, brach aber wieder in Weinen aus. Er reichte ihr ein Taschentuch; sie hielt es in beiden Händen, drehte es sich um die Finger, und die Tränen rannen und rannen. Sie fuhren den bewaldeten Hang hinunter. »Was ist geschehen?« fragte sie im Flüsterton. »Du hast einen großen Sieg für uns errungen. Minkel starb beim Öffnen der Aktentasche. Wie es heißt, sollen andere Freunde des Zionismus schwer verwundet sein. Sie zählen noch.« Er sagte es mit wilder Genugtuung. »Sie sprechen von einer Ungeheuerlichkeit. Von Schock. Kaltblütigem Mord. Sie sollten sich eines Tages mal Rashidiyeh ansehen. Ich lade die ganze Universität ein. Sie sollten in den Bunkern hocken und beim Rauskommen mit dem Maschinengewehr niedergemäht werden. Man sollte ihnen die Knochen im Leib zerbrechen und sie zusehen lassen, wie ihre Kinder gefoltert werden. Morgen wird die ganze Welt lesen, dass die Palästinenser nicht die armen Schwarzen von Zion werden.«
Die Heizung war stark, aber immer noch nicht stark genug. Sie zog seinen Mantel enger um sich. Die Revers waren aus Samt, und sie roch, wie neu er war.
»Möchtest du mir erzählen, wie es gegangen ist?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Die Sitze waren kuschelig und weich, der Motor summte leise. Sie lauschte auf das Geräusch anderer Autos, hörte jedoch nichts. Sie blickte in den Spiegel. Nichts hinter ihnen, nichts vor ihnen. Wann denn endlich wieder? Sie fing Khalils dunklen Blick auf, er starrte sie an.
»Keine Angst. Wir kümmern uns um dich. Das verspreche ich. Ich bin froh, dass du traurig bist. Andere, die haben gelacht und triumphiert, nachdem sie getötet hatten. Haben sich betrunken und sich die Kleider zerrissen wie die Tiere. All das habe ich erlebt. Aber du - du weinst. Das ist sehr gut.« Das Haus lag an einem See, und der See in einem steil abfallenden Tal. Khalil fuhr zweimal vorüber, ehe er in die Einfahrt einbog, und seine Augen, die die Straße absuchten, waren wie Josephs Augen: dunkel, wachsam, alles sehend. Es war ein moderner Bungalow, der zweite Wohnsitz eines reichen Mannes: weißgeschlämmte Mauern, maurische Fenster und ein sanft geneigtes Dach - rot dort, wo der Schnee heruntergerutscht war. Die Garage war ans Wohnhaus angebaut. Er fuhr hinein, und die Türen schlossen sich. Er stellte den Motor ab und zog eine automatische Pistole mit langem Lauf aus der Jackentasche. Khalil, der einhändige Schütze. Sie blieb im Auto, starrte auf die Rodelschlitten und das Feuerholz, das an der Rückwand aufgestapelt war. Er machte ihr den Wagenschlag auf. »Geh hinter mir her. Drei Meter Abstand, nicht näher.« Eine Stahltür führte auf einen Gang. Sie wartete, folgte ihm dann. Die Wohnzimmerlampen waren schon an, Holzscheite brannten auf dem Kaminrost. Ein mit Ponyfell bespanntes Sofa. Die Einrichtung rustikal, doch elegant. Ein Tisch mit dicker Holzplatte, für zwei gedeckt. In einem Eiskübel auf schmiedeeisernem Ständer eine Flasche Wodka.
»Bleib hier«, sagte er.
Die Handtasche mit beiden Händen gepackt, stand sie in der Mitte des Raums, während er von Zimmer zu Zimmer ging, und zwar so leise, dass das einzige, was sie hörte, das Offnen und Schließen von Schränken war. Sie begann wieder heftig zu zittern. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, legte die Pistole weg, kniete sich vorm Kamin hin und machte sich daran, die Scheite so aufzubauen, dass das Feuer hell loderte. Um die Raubtiere fernzuhalten, dachte sie, als sie ihm zusah. Und die Schafe zu schützen. Das Feuer prasselte, und sie setzte sich auf das Sofa davor. Er drehte den Fernseher an: Es gab einen alten Schwarzweißfilm vom Wirtshaus auf dem Berg. Den Ton drehte er nicht an. Er stellte sich vor sie.
»Möchtest du einen Wodka?« fragte er höflich. »Ich trinke nicht, aber du sollst dir keinen Zwang antun.«
Sie wollte einen haben, und so schenkte er ihr ein, viel zuviel. »Möchtest du rauchen?«
Er reichte ihr ein ledernes Etui und zündete ihr die Zigarette an. Es wurde heller im Zimmer; flugs wanderte ihr Blick zum Fernseher und starrte geradewegs in die aufgeregten, äußerst ausdrucksvollen Züge des wieselhaften kleinen Deutschen, den sie vor noch nicht einer Stunde an Martys Seite gesehen hatte. Er war neben einem Polizeiwagen postiert. Hinter ihm konnte sie ein Stück Trottoir und den Seiteneingang des Vorlesungsgebäudes sehen, beides war mit fluoreszierendem Band abgesperrt. Mannschaftswagen der Polizei, Feuerwehrautos und Krankenwagen fuhren geschäftig in den abgesperrten Bereich hinein und wieder heraus. Terror ist Theater, dachte sie. Der Hintergrund änderte sich, eine grüne Zeltplane, die aufgespannt war, um das Wetter abzuhalten, während die Suche weiterging. Khalil drehte den Ton auf, und sie hörte das Heulen der Krankenwagen hinter der glatten, schönmodulierten Stimme von Alexis.
»Was sagt er?« fragte sie.
»Er leitet die Untersuchung. Warte. Ich sage es dir gleich!«
Alexis verschwand, statt dessen eine Studioaufnahme des völlig unversehrten Oberhausers.
»Das ist der Trottel, der mir die Tür aufgemacht hat«, sagte sie. Khalil hob die Hand und gebot ihr damit Schweigen. Sie hörte zu und begriff mit einer unbeteiligten Neugier, dass er eine Personenbeschreibung von ihr abgab. Sie bekam das Wort Südafrika mit, verstand etwas von braunem Haar; sah, wie er die Hand hob, um ihre Brille zu beschreiben; die Kamera schwenkte zu einem zitternden Finger, der auf eine ähnliche Brille zeigte wie die, die Tayeh ihr gegeben hatte.
Nach Oberhauser kam der erste Eindruck eines Zeichners von der Verdächtigen, die so aussah wie kein Mensch auf Erden, höchstens wie die alte Reklame für ein flüssiges Abführmittel, die vor zehn Jahren groß auf Bahnhöfen plakatiert worden war. Danach kam einer der beiden Polizeibeamten, die mit ihr gesprochen hatten; auch er gab verschämt seine Beschreibung der Täterin ab. Khalil schaltete den Apparat ab, drehte sich um und stand wieder vor ihr.
»Du erlaubst?« fragte er scheu. Sie nahm ihre Handtasche und legte sie auf die andere Seite, damit er sich hinsetzen konnte. Summte es? Oder piepste es? War es ein Mikrophon? Was zum Teufel machte es?
Khalil sprach sehr deutlich - der erfahrene Praktiker, der seine Diagnose stellt.
»Du bist ein bisschen in Gefahr«, sagte er. »Mr. Oberhauser erinnert sich an dich, seine Frau auch, und die Polizisten und ein paar Leute im Hotel. Deine Größe, deine Figur, dein Englisch, dein schauspielerisches Talent. Außerdem war da leider eine Engländerin, die einen Teil deiner Unterhaltung mit Minkel mit angehört hat und meinte, du seiest keineswegs Südafrikanerin, sondern Engländerin. Deine Personenbeschreibung ist nach London gegangen, und wir wissen, dass die Engländer dich bereits seit längerem in Verdacht haben. Die ganze Gegend hier ist in höchster Alarmbereitschaft: Straßensperren, Stichproben, alle treten sich gegenseitig auf die Füße. Aber mach dir keine Sorgen.« Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Ich werde dich mit meinem Leben beschützen. Heute nacht sind wir sicher. Morgen werden wir dich nach Berlin schmuggeln und nach Hause schicken.«
»Nach Hause«, sagte sie.
»Du bist eine von uns. Du bist unsere Schwester. Fatmeh sagt, du bist unsere Schwester. Du hast kein Zuhause, aber du gehörst zu einer großen Familie. Wir können dir eine neue Identität verschaffen, oder du gehst zu Fatmeh und bleibst bei ihr, solange du willst. Obwohl du nie wieder kämpfst, werden wir uns um dich kümmern. Wegen Michel. Wegen dem, was du für uns getan hast.«
Seine Redlichkeit war erschreckend. Ihre Hand ruhte noch in der seinen, seine Berührung war kraftvoll und beruhigend. Seine Augen leuchteten vor Besitzerstolz auf. Sie stand auf, nahm ihre Tasche und verließ das Zimmer. Ein Doppelbett, der Heizofen voll aufgedreht, egal, was es kostet. Ein Bücherbord mit Bestsellern von Nirgendwo: Ich bin okay, du bist okay. Freude am Sex. Das Bad lag dahinter: fichtenholzgetäfelt, Sauna nebenan. Sie nahm den Radiowecker heraus und betrachtete ihn, und es war ihr alter, bis auf den letzten Kratzer: höchstens ein bisschen schwerer, gewichtiger in der Hand. Warte, bis er schläft. Bis ich schlafe. Sie sah sich an. So schlecht hatte der Zeichner sie gar nicht mal getroffen. Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. Erst schrubbte sie sich Hände und Nägel, dann - einer Regung des Augenblicks nachgebend - zog sie sich ganz aus und duschte lange, wie um sich der Wärme des Vertrauens noch ein wenig länger zu entziehen. Sie sprühte sich mit Körperlotion ein, bediente sich aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken. Ihre Augen interessierten sie; sie erinnerten sie an Fatima, die Schwedin im Ausbildungslager - sie hatten beide dieselbe zornige innere Leere derer, die gelernt hatten, auf die Risiken des Mitleids zu verzichten. Genau der gleiche Selbsthass. Als sie zurückkehrte, war er dabei, das Essen aufzutragen. Kalter Braten, Käse, eine Flasche Wein. Kerzen waren bereits angezündet. Im besten europäischen Stil zog er den Stuhl für sie zurück. Sie nahm Platz; er setzte sich ihr gegenüber und fing sofort an zu essen - mit derselben natürlichen Hingabe, mit der er alles tat. Er hatte getötet, und jetzt aß er; was könnte richtiger sein? Meine verrückteste Mahlzeit, dachte sie. Die schlimmste und verrückteste, die ich je erlebt habe. Wenn jetzt ein Geiger an unseren Tisch käme, würde ich ihn bitten, Moon River zu spielen.
»Bedauerst du immer noch, was du getan hast?« erkundigte er sich interessiert; genauso wie er hätte fragen können: »Sind deine Kopfschmerzen vorbei?«
»Sie sind Schweine«, sagte sie und meinte es. »Erbarmungslos, mörderisch…« Wieder fing sie an zu weinen, doch diesmal fing sie sich rechtzeitig. Messer und Gabel in ihrer Hand klirrten so sehr, dass sie beide hinlegen musste. Sie hörte ein Auto vorbeifahren, oder war es ein Flugzeug? Meine Handtasche, dachte sie völlig durcheinander - wo habe ich sie liegenlassen? Im Badezimmer, weit weg von seinen neugierigen Fingern. Sie nahm die Gabel wieder in die Hand und sah Khalils schönes, ungezähmtes Gesicht, das sie über das flackernde Kerzenlicht hinweg genauso eindringlich ansah, wie Joseph es auf der Hügelkuppe bei Delphi getan hatte. »Vielleicht gibst du dir zuviel Mühe, sie zu hassen«, meinte er, um ihr zu helfen.
Es war das schaurigste Stück, in dem sie je mitgespielt hatte, und die schlimmste Essenseinladung. Der Drang in ihr, die Spannung zu zerstören, war genauso groß wie der Drang, sich selbst zu zerstören. Sie stand auf und hörte, wie Messer und Gabel klirrend zu Boden fielen. Sie konnte ihn durch die Tränen ihrer Verzweiflung hindurch gerade noch sehen. Sie fing an, ihr Kleid aufzuknöpfen, aber ihre Hände waren so durcheinander, dass es ihr nicht gelang, sie dazu zu bringen, für sie zu arbeiten. Sie ging um den Tisch herum zu ihm, und er war schon dabei, aufzustehen, als sie ihn hochzog. Seine Arme umschlangen sie; er küsste sie, dann hob er sie hoch und trug sie wie seinen verwundeten Kameraden ins Schlafzimmer. Er legte sie aufs Bett, und plötzlich - mochte der Himmel wissen, aufgrund welcher verzweifelten Chemie ihres Geistes und ihres Körpers - war sie es, die ihn nahm. Sie war über ihm und zog ihn aus; zog ihn in sich hinein, als wäre er der letzte Mann auf Erden, am letzten Tag dieser Erde; um ihrer eigenen und um seiner Zerstörung willen. Sie verschlang ihn, saugte und stopfte ihn hinein in die schreiende Leere ihrer Schuld und ihrer Einsamkeit. Sie weinte, sie schrie ihn an, füllte ihren Verrätermund mit ihm, drehte ihn um und löschte sich und die Erinnerung an Joseph unter dem wütenden Gewicht seines Körpers aus. Sie spürte, wie er sich ergoss, hielt ihn aber trotzig noch lange, nachdem seine Bewegung aufgehört hatte, in sich fest, umklammerte ihn mit den Armen, während sie sich vor dem heraufziehenden Sturm verbarg.
Er schlief nicht, döste aber bereits. Sein Kopf mit dem zerzausten Haar ruhte an ihrer Schulter, den heilen Arm hatte er ihr achtlos über die Brust geworfen. »Ein Glückspilz ist er gewesen, dieser Salim«, murmelte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Ein Mädchen wie dich, dafür lohnt es sich schon zu sterben.«
»Wer sagt denn, dass er für mich gestorben ist?«
»Tayeh meint, das sei möglich.«
»Salim ist für die Revolution gestorben. Die Zionisten haben sein Auto in die Luft gejagt.«
»Er hat sich selbst in die Luft gesprengt. Wir haben viele deutsche Polizeiberichte über diesen Unfall gelesen. Ich habe ihm gesagt, er solle nie Bomben machen, aber er hat mir nicht gehorcht. Dazu hatte er kein Talent. Er war von Natur aus kein Kämpfer.«
»Was ist das für ein Geräusch?« fragte sie und entzog sich ihm. Es war ein Prasseln, wie knisterndes Papier, eine Abfolge von Geräuschen, dann nichts. Sie dachte an ein Auto, das mit abgestelltem Motor leise über Kies rollt. »Jemand fischt auf dem See«, sagte Khalil. »Mitten in der Nacht?«
»Hast du noch nie nachts geangelt?« Er lachte verschlafen. »Bist du noch nie mit einem kleinen Boot und einer Lampe auf einen See hinausgefahren und hast Fische mit der Hand gefangen?«
»Wach auf! Rede mit mir!«
»Lieber schlafen.«
»Ich kann nicht. Ich habe Angst.«
Er fing an, ihr von einer nächtlichen Mission zu erzählen, die er vor langer Zeit nach Galiläa hinein unternommen hatte, er und noch zwei andere. Wie sie mit einem Ruderboot über den See gefahren waren und es so schön war, dass sie überhaupt nicht mehr daran dachten, was sie eigentlich vorgehabt und statt dessen gefischt hatten. Sie unterbrach ihn.
»Das war kein Boot.« Sie ließ sich nicht davon abbringen. »Das war ein Auto. Ich hab’s eben wieder gehört. Horch!«
»Ein Boot«, sagte er schläfrig.
Der Mond hatte eine Lücke zwischen den Vorhängen gefunden und schickte seine Strahlen hindurch. Sie stand auf, trat ans Fenster, und ohne die Vorhänge zu berühren, starrte sie hinaus. Ringsum Fichtenwälder, der Mondstrahl auf dem See war wie eine weiße Treppe, die in die Mitte der Welt hinunterreichte. Von einem Boot war nichts zu sehen, nirgends ein Licht, um Fische anzulocken. Sie kehrte zurück ins Bett, und sein rechter Arm umfasste sie und zog sie an sich, doch als er ihr Widerstreben spürte, zog er sich sanft von ihr zurück und drehte sich träge auf den Rücken.
»Erzähl mir was«, sagte sie noch einmal. »Khalil. Wach auf!« Sie schüttelte ihn heftig, küsste ihn dann auf die Lippen. »Wach auf«, wiederholte sie.
Folglich raffte er sich für sie auf, denn er war ein gütiger Mann und hatte sie zu seiner Schwester gemacht.
»Weißt du, was so merkwürdig an deinen Briefen an Michel war?« fragte er. »Das mit der Pistole. ›Von jetzt an werde ich träumen, wie dein Kopf auf meinem Kissen liegt und die Pistole darunter‹ - Liebesgeflüster. Wunderschönes Liebesgeflüster.«
»Und was ist merkwürdig daran? Sag’s mir!«
»Genau darüber habe ich auch einmal mit ihm gesprochen. Genau darüber. ›Hör zu, Salim‹ , hab’ ich zu ihm gesagt. ›Nur Cowboys schlafen mit der Pistole unter dem Kopfkissen. Wenn du vielleicht auch alles andere vergisst, was ich dir beibringe -dies solltest du dir merken. Wenn du im Bett bist, behalte die Pistole immer an der Seite neben dir, wo du sie besser verbergen kannst und wo deine Hand ist. Lerne, so zu schlafen. Selbst wenn du mit einer Frau zusammen bist.‹ Er sagte, er werde sich das merken. Immer hat er mir etwas versprochen. Und dann vergessen. Oder eine neue Frau gefunden. Oder ein neues Auto.«
»Also gegen die Regeln verstoßen, oder?« sagte sie, ergriff seine behandschuhte Hand und betrachtete sie im Halbdunkel, zwickte einen leblosen Finger nach dem anderen. Sie waren alle ausgestopft, bis auf den kleinen Finger und den Daumen.
»Wie kam es dazu?« wollte sie wissen. »Waren es Mäuse? Wie kam es dazu, Khalil? Wach auf!« Es dauerte lange, ehe er antwortete. »Eines Tage, in Beirut, war ich wie Salim ein bisschen dumm. Ich sitze im Büro, die Post kommt, ich hab’s eilig, ich erwarte ein bestimmtes Paket, ich mach’s auf. Das war ein Fehler.«
»Ja, und? Was ist passiert? Du hast es aufgemacht, und das Ding explodierte. War es so? Explodierte, und die Finger waren futsch. Ist das bei deinem Gesicht auch so gewesen?«
»Als ich im Krankenhaus wieder zu mir kam, war Salim da. Weißt du was? Er hat sich darüber gefreut, dass ich so dumm gewesen war. ›Ehe du das nächste Mal ein Paket aufmachst, zeig es mir, oder guck dir erst den Poststempel an‹ , sagte er. ›Wenn es aus Tel Aviv kommt, schick’s besser zurück an den Absender‹.«
»Warum bastelst du denn deine Bomben selbst? Wo du doch nur eine Hand hast?«
Die Antwort lag in seinem Schweigen. In der dämmerigen Stille seines Gesichts, wie er es ihr mit offenem, alles andere als lächelndem Kämpferblick zugewandt hatte. Die Antwort lag in allem, was sie seit jener Nacht gesehen, da sie sich dem Theater der Wirklichkeit verschrieben hatte. Für Palästina, lautete sie. Für Israel, für Gott. Für mein heiliges Schicksal. Um den Hunden anzutun, was sie mir zuvor angetan haben. Um das Unrecht wiedergutzumachen. Mit Unrecht. Bis alle Gerechten in tausend Stücke zerrissen sind und es der Gerechtigkeit freisteht, sich aus den Trümmern zu erheben und durch die menschenleeren Straßen zu gehen. Plötzlich verlangte er nach ihr und erwartete, dass sie sich ihm nicht länger widersetzte.
»Liebling«, flüsterte sie. »Khalil. Oh, Himmel. Oh, Liebling. Bitte!«
Und was Huren sonst so sagen.
Es wurde bereits Tag, doch sie wollte ihn nicht schlafen lassen. Im bleichen Frühlicht erfasste sie eine wache Benommenheit. Küsse und Liebkosungen - sie setzte jedes ihr bekannte Mittel ein, damit er sich nicht von ihr abwandte und seine Leidenschaft weiterbrannte. Du bist mein Bester, flüsterte sie ihm zu; dabei vergebe ich nie erste Preise. Mein stärkster, mein mutigster, mein klügster Liebhaber aller Zeiten. Ach, Khalil, Khalil, Himmel, ach, bitte! Besser als Salim? fragte er. Geduldiger als Salim, zärtlicher und dankbarer. Besser als Joseph, der mich dir auf silbernem Teller geschickt hat.
»Was ist denn?« sagte sie, als er sich plötzlich von ihr losmachte. »Hab’ ich dir weh getan?«
Statt einer Antwort streckte er die heile Hand aus und drückte ihr mit gebieterischer Geste leicht die Lippen zusammen. Dann richtete er sich vorsichtig auf dem Ellbogen auf. Sie lauschte zusammen mit ihm. Das Rauschen eines Wasservogels, der vom See auffliegt. Das Geschrei von Gänsen. Das Krähen eines stolzen Hahns, das Geläut einer Glocke. Die Entfernung verkürzt durch das unter einer Schneedecke liegende Land. Sie spürte, wie die Matratze neben ihr sich hob.
»Keine Kühe«, sagte er leise vom Fenster her. Immer noch nackt, aber die Pistole am Halfter über der Schulter, stand er seitlich neben dem Fenster. Und für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie in der übergroßen Anspannung Josephs Spiegelbild zu sehen, der ihm - vom elektrischen Feuer rot angestrahlt und nur durch den dünnen Vorhang von ihm getrennt - gegenüberstand.
»Was siehst du?« flüsterte sie endlich, unfähig, die Spannung noch länger zu ertragen.
»Keine Kühe. Und keine Fischer. Und keine Fahrräder. Ich sehe viel zuwenig.«
Seine Stimme war straff vor Tatendrang. Seine Sachen lagen neben dem Bett, wo sie sie in ihrer Raserei hingeworfen hatte. Er streifte die dunkle Hose und das weiße Hemd über und schnallte sich die Pistole unter die Achsel.
»Keine Autos, keine Lichter, die vorüberhuschen«, sagte er gelassen. »Kein einziger Arbeiter auf dem Weg zur Arbeit. Und keine Kühe.«
»Die sind zum Melken.« Er schüttelte den Kopf. »Zum Melken gehen sie erst in zwei Stunden.«
»Es liegt am Schnee. Sie halten sie im Stall.«
Etwas an ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen; dass er plötzlich hellwach war, schärfte sein Bewusstsein ihr gegenüber. »Warum entschuldigst du sie?«
»Tu’ ich doch gar nicht. Ich versuch’ dich nur….«
»Warum suchst du nach Entschuldigungen für das Fehlen jeglichen Lebens um dieses Haus herum?«
»Um deine Angst zu beschwichtigen. Um dich zu beruhigen.« Ein Gedanke wurde immer mächtiger in ihm - ein schrecklicher Gedanke. Er konnte ihn in ihrem Gesicht lesen, und in ihrer Nacktheit; und sie spürte ihrerseits, wie sein Argwohn lebendig wurde.
»Warum willst du meine Angst beschwichtigen? Warum hast du um mich mehr Angst als um dich?« »Hab’ ich ja gar nicht.«
»Hinter dir sind sie doch her. Warum kannst du mich so lieben? Warum redest du davon, meine Angst zu beschwichtigen? Warum denkst du nicht an deine eigene Sicherheit? Was hast du auf dem Gewissen?«
»Nichts. Es hat mir keinen Spaß gemacht, Minkel zu töten. Ich will raus aus der ganzen Sache. Khalil?«
»Hat Tayeh doch recht? Ist mein Bruder deinetwegen gestorben? Antworte mir, bitte!« Er ließ nicht locker, blieb aber ganz, ganz ruhig. »Ich will eine Antwort.«
Ihr ganzer Körper flehte um Gnade. Die Hitze in ihrem Gesicht war schrecklich. Sie würde für alle Ewigkeit brennen.
»Khalil - komm wieder ins Bett«, flüsterte sie. »Lieb mich! Komm zurück!«
Warum blieb er so gelassen, wenn sie das ganze Haus umstellt hatten? Wie brachte er es fertig, sie so anzustarren, während sich die Schlinge um ihn jede Sekunde enger zusammenzog? »Wie spät ist es?« fragte er und starrte sie immer noch an.
»Charlie?«
»Fünf. Halb sechs. Was spielt das für eine Rolle?«
»Wo ist deine Uhr? Dein kleiner Radiowecker? Ich muss wissen, wie spät es ist, bitte!«
»Ich weiß nicht. Im Badezimmer.«
»Bleib, wo du bist, bitte. Sonst töte ich dich vielleicht. Wir werden sehen.«
Er holte ihn und reichte ihn ihr auf dem Bett. »Mach ihn bitte für mich auf«, sagte er und sah zu, als sie sich mit dem Verschluss abmühte.
»Also wie spät ist es, bitte, Charlie?« fragte er wieder mit einer schrecklichen Unbeschwertheit. »Bitte, sag mir, wie spät es nach deiner Uhr genau ist.«
»Zehn vor sechs. Später, als ich dachte.«
Er entriss ihr den Wecker und sah selbst auf das Zifferblatt. Digital, vierundzwanzig Stunden. Er drehte das Radio an, das plärrende Musik von sich gab, ehe er es wieder abstellte. Er hielt es ans Ohr und wog es dann nachdenklich in der Hand. »Seit du mich gestern abend verlassen hast, hattest du nicht viel Zeit für dich, denke ich. Stimmt das? Eigentlich überhaupt keine.«
»Keine.«
»Wie hast du dann neue Batterien für das Radio kaufen können?«
»Hab’ ich ja gar nicht.«
»Und wieso funktioniert es dann?«
»Das brauchte ich gar nicht - sie waren ja noch nicht alle - es geht jahrelang mit einem Satz - es gibt heute besonders langlebige...« Ihr fiel nichts mehr ein. Aus und vorbei, für alle Zeiten, jetzt und immerdar; denn inzwischen war ihr der Augenblick oben auf dem Berg wieder eingefallen, als er neben dem Coca-Cola-Wagen gestanden hatte, um sie zu durchsuchen; und der Augenblick, da er die Batterien in die Tasche steckte, ehe er den Wecker wieder in ihre Tasche zurückgetan und diese hinten in den Wagen geworfen hatte.
Er hatte alles Interesse an ihr verloren. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Radiowecker. »Bring mir bitte das kleine hübsche Radio neben dem Bett, Charlie, bitte. Lass uns ein kleines Experiment machen. Ein interessantes technisches Experiment, das mit einem Hochfrequenzsender zu tun hat.«
Sie flüsterte: »Kann ich was anziehen?« Sie zog ihr Kleid über und brachte ihm das Radio vom Nachttisch, ein modernes Gerät in schwarzem Kunststoff mit einem Lautsprecher, der wie die Wählscheibe eines Telefons aussah. Khalil stellte Wecker und Radio nebeneinander, drehte das Radio an und ging die einzelnen Kanäle durch, bis es plötzlich einen klagenden Schmerzenslaut von sich gab, wie eine Luftschutzsirene heulte. Dann nahm er den Wecker, schob die an Scharnieren hängende Klappe der Batteriekammer mit dem Daumen zurück, schüttelte die Batterien auf den Boden, wie er es gestern abend wohl gemacht haben musste. Der Heulton verstummte augenblicklich. Wie ein Kind, das ein erfolgreiches Experiment durchgeführt hat, hob Khalil den Kopf und gab vor zu lächeln. Sie bemühte sich, ihn nicht anzusehen, brachte es jedoch nicht fertig.
»Für wen arbeitest du, Charlie? Für die Deutschen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Für die Zionisten?«
Er nahm ihr Schweigen für ein Ja.
»Bist du Jüdin?«
»Nein.«
»Glaubst du an Israel? Was bist du?«
»Nichts«, sagte sie.
»Bist du Christin? Siehst du in ihnen die Begründer eurer großen Religion?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Ist es des Geldes wegen? Haben sie dich bestochen? Dich erpresst?« Sie wollte schreien. Sie ballte die Fäuste und füllte die Lungen, doch das Chaos erstickte sie, und sie schluchzte statt dessen. »Um Leben zu retten. Um beteiligt zu sein. Um etwas zu sein. Ich habe ihn geliebt.«
»Hast du meinen Bruder verraten?«
Der Krampf in ihrer Kehle löste sich, ihre Stimme hatte nun etwas unendlich Eintöniges. »Ich habe ihn nie gekannt. Habe nie im Leben ein Wort mit ihm gesprochen. Sie haben ihn mir gezeigt, ehe sie ihn umbrachten, alles andere ist reine Erfindung. Unsere Liebesgeschichte, meine Bekehrung - alles. Nicht einmal die Briefe habe ich geschrieben - das haben sie getan. Und den Brief an dich auch. Den über mich. Ich habe mich in den Mann verliebt, der sich um mich gekümmert hat. Das ist alles.«
Langsam, ohne Aggression, streckte er die linke Hand aus und berührte ihre Wange, offenbar, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich war. Dann betrachtete er seine Fingerspitzen, sah wieder sie an und verglich irgendwie beides miteinander.
»Und du bist Engländerin, gehörst zu demselben Volk, das mein Land weggegeben hat«, erklärte er ruhig, als könnte er das, was er mit eigenen Augen sah, nicht recht fassen.
Er hob den Kopf, und während er das tat, sah sie, wie sein Gesicht sich missbilligend abwandte und dann unter der Wucht dessen, womit auch immer Joseph geschossen hatte, aufloderte. Charlie hatte er beigebracht stehenzubleiben, wenn sie den Abzug durchgedrückt hatte, Joseph jedoch tat das nicht. Er traute seinen Kugeln nicht, dass sie ihre Aufgabe erfüllten, sondern rannte hinter ihnen her, versuchte, sie ins Ziel zu treiben. Wie ein gewöhnlicher Eindringling schoss er durch die Tür, doch statt anzuhalten, stürzte er vorwärts und feuerte. Und drückte mit weit ausgestrecktem Arm ab, als gälte es, die Entfernung noch mehr zu verringern. Sie sah Khalils Gesicht bersten, sah, wie er sich um sich selbst drehte, die Arme zur Wand ausstreckte, als wollte er sie um Hilfe anflehen. Infolgedessen trafen ihn die Kugeln im Rücken und ruinierten sein weißes Hemd. Seine Hände - eine aus Leder, die andere echt -drückten sich flach an die Wand, und sein zerfetzter Körper rutschte herunter, bis er sich duckte wie ein Rugby-Spieler und verzweifelt versuchte, sie zu durchbrechen. Doch da war Joseph bereits nahe genug, um die Füße unter ihm wegzustoßen und seine letzte Reise zu Boden zu beschleunigen. Hinter Joseph kam Litvak, den sie als Mike kannte und von dem sie, wie ihr in diesem Moment aufging, immer angenommen hatte, dass er ein ungesundes Wesen habe. Als Joseph zurücktrat, kniete Mike sich hin und schoss Khalil eine letzte wohlgezielte Kugel in den Hinterkopf, was völlig unnötig gewesen sein musste. Nach Mike kam etwa die Hälfte aller Scharfrichter der Welt in schwarzer Froschmann-Ausrüstung, und ihnen folgten Marty und das deutsche Wiesel und zweitausend Bahrenträger und Krankenwagenfahrer und Ärzte und Frauen ohne jedes Lächeln, die sie hielten, sie von Erbrochenem befreiten, sie auf den Korridor hinausführten und in Gottes frische Luft, obwohl der klebrige warme Blutgeruch ihr Nase und Rachen verstopfte. Ein Krankenwagen fuhr rückwärts auf den Eingang zu. Flaschen mit Blut befanden sich darin, und die Wolldecken waren gleichfalls rot, so dass sie sich zuerst weigerte einzusteigen. Sie musste sich sogar sehr gewehrt und regelrecht um sich geschlagen haben, denn eine der Frauen, die sie festhielten, ließ unversehens los und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Sie war plötzlich taub, so dass sie ihr eigenes Schreien nur undeutlich hören konnte, doch hauptsächlich ging es ihr darum, sich das Kleid vom Leib zu reißen, einerseits, weil sie eine Hure war, andererseits, weil so viel von Khalils Blut daran klebte. Doch das Kleid war ihr noch weniger vertraut als gestern abend, und so war ihr unerfindlich, ob es Knöpfe oder einen Reißverschluss hatte; so beschloss sie, sich überhaupt nicht darum zu kümmern. Dann tauchten links und rechts von ihr Rachel und Rose auf, und jede packte einen Arm, genauso, wie sie es in der Villa in Athen gemacht hatten, als sie zum ersten Mal für ihr Engagement im Theater des Wirklichen vorgesprochen hatte. Aus Erfahrung wußte sie, dass jeder weitere Widerstand nutzlos war. Sie führten sie die Stufen zum Krankenwagen hinauf und setzten sich mit ihr, jede auf einer Seite, auf eins der Betten. Sie blickte hinunter und sah all die dummen Gesichter, die sie anstarrten - die harten kleinen Jungen mit den finsteren Heldengesichtern, Marty und Mike, Dimitri und Raoul und ein paar andere Freunde, von denen ihr einige noch nicht vorgestellt worden waren. Dann teilte sich die Menge, und Joseph erschien, hatte rücksichtsvoll die Pistole abgelegt, mit der er Khalil erschossen hatte, unglücklicherweise jedoch immer noch viel Blut an seinen Jeans und Laufschuhen, wie sie bemerkte. Er trat an die Treppe heran, sah zu ihr hinauf, und zuerst war es so, als ob sie in ihr eigenes Gesicht starrte, denn sie erkannte in ihm genau dieselben Dinge, die sie an sich so hasste. So kam es zu einem Rollentausch, bei dem sie seine Rolle als Killer und Zuhälter übernahm und er vermutlich die ihre als Lockvogel, Hure und Verräterin.
Bis plötzlich, als sie ihn weiter gebannt anstarrte, ein verbliebener Funke von Empörung ihr jene Identität zurückgab, die er ihr gestohlen hatte. Sie stand auf, und weder Rose noch Rachel waren schnell genug, sie daran zu hindern; gewaltig holte sie Atem und schleuderte ihm ein »Geh!« entgegen -zumindest für sie hörte es sich so an. Vielleicht war es auch ein »Nein!« Es war wirklich nicht wichtig.