Kapitel 22

Charlie war nicht die einzige, die die Zeit und ihr Leben an sich vorüberziehen sah. Von dem Augenblick an, da sie die entscheidende Linie überschritten hatte, waren Litvak, Kurtz und Becker - also Charlies frühere Familie - auf die eine oder andere Art gezwungen gewesen, ihre Ungeduld zu zügeln und sich dem ihnen fremden Tempo und der Sprunghaftigkeit ihrer Gegner anzupassen.

»Nichts«, predigte Kurtz mit Vorliebe seinen Untergebenen -und gewiss auch sich selbst, »nichts ist im Krieg schwerer, als sich heroisch zurückzuhalten.«

Kurtz zügelte sich wie nie zuvor in seiner Laufbahn. Allein die Tatsache, dass er seine unscheinbare Armee aus den britischen Breiten abzog, sah - zumindest in den Augen der Fußsoldaten - mehr nach einer Niederlage als nach den Siegen aus, die sie bisher errungen, aber kaum gefeiert hatten. Innerhalb weniger Stunden nach Charlies Abflug wurde das Haus in Hampstead der Diaspora zurückgegeben, der Funkwagen demontiert und die elektronische Ausrüstung -irgendwie in Ungnade gefallen - als Diplomatengepäck nach Tel Aviv zurückgeschafft. Der Lieferwagen selbst wurde, nachdem die falschen Nummernschilder abgeschraubt und die Motorennummern abgefeilt worden waren, zu einem weiteren Autowrack irgendwo neben der Straße zwischen dem Bodmin-Moor und der Zivilisation. Kurtz blieb nicht für dieses Leichenbegängnis in England. Er kehrte schnurstracks in die Disraeli Street zurück, kettete sich widerstrebend an den von ihm gehassten Schreibtisch an und wurde zu eben jenem Koordinator, dessen Aufgaben er Alexis gegenüber so lächerlich gemacht hatte. Jerusalem genoss den linden Zauber einiger winterlicher Sonnentage, und als er von einem geheimen Bürogebäude zum anderen eilte, Angriffe abwehrte und um Unterstützung bettelte, spiegelten sich die goldenen Steine der befestigten Stadt in der schimmernden Bläue des Himmels. Ausnahmsweise empfand Kurtz nur wenig Trost bei diesem Anblick. Seine Kriegsmaschine, so sagte er später, sei zu einem Pferdewagen geworden, bei dem die Pferde in verschiedene Richtungen zogen. Draußen war er - allen Bemühungen Gavrons, das zu unterbinden, zum Trotz - sein eigener Herr; zu Hause, wo jeder zweitklassige Politiker und drittrangige Soldat sich für ein Geheimdienstgenie hielt, hatte er mehr Kritiker als Eliah und mehr Feinde als die Samariter. Sein erster Kampf ging um den Fortbestand von Charlies Existenz und damit vielleicht auch seiner eigenen - eine Art Pflichtübung, die begann, kaum dass Kurtz Gavrons Büro betreten hatte. Gavron, die Krähe, stand bereits und hatte die Arme erhoben, als ginge er für die Keilerei in Stellung. Sein struppiges Haar war zerzauster denn je.

»Nun, gut amüsiert?« quäkte er. »Sich den Bauch mit gutem Essen vollgeschlagen? Wie ich sehe, haben Sie da draußen ganz schön zugenommen.«

Ein Wort gab das andere, und beide legten los; ihr Geschrei hallte durchs ganze Haus, und sie beschimpften sich und hämmerten mit der geballten Faust auf den Tisch wie bei einem die Atmosphäre reinigenden Ehestreit. Kurtz habe doch Fortschritte versprochen - was denn damit sei? wollte die Krähe wissen. Wo denn die große Abrechnung bleibe, von der er geredet habe? Und was habe er da über Alexis gehört, wo er Marty doch ausdrücklich angewiesen habe, nicht mit diesem Mann weiterzumachen? »Wundert es Sie, dass ich da meinen Glauben verliere - so viel Einsatz und Geld, so viele Befehle, um die Sie sich einen Dreck geschert haben, und so magere Ergebnisse?« Zur Strafe verpflichtete Gavron ihn, an einer Sitzung seines Lenkungsausschusses teilzunehmen, in dem inzwischen von nichts anderem als vom letzten Mittel die Rede war. Kurtz musste sich den Mund fusselig reden, nur um sie zu einer Modifizierung ihrer Pläne zu bewegen.

»Aber was hast du denn laufen, Marty?« wollten seine Freunde mit eindringlich gedämpfter Stimme auf den Korridoren wissen. »Gib uns doch zumindest einen Hinweis, damit wir wissen, warum wir dir helfen.«

Sein Schweigen verletzte sie, und wenn sie gingen und er allein dastand, kam er sich noch mehr wie ein schäbiger Beschwichtiger vor.

Es gab noch andere Fronten, an denen gekämpft werden musste. Um Charlies Vorrücken im Feindesland zu überwachen, war er gezwungen, mit dem Hut in der Hand zu jener Regierungsstelle zu gehen, deren Hauptaufgabe es war, Untergrund-Kurierlinien und Lauschposten an der Nordostküste zu unterhalten. Der Leiter, ein Sephardim aus Aleppo, hasste jeden, aber Kurtz ganz besonders. Wer weiß, wohin ihn eine solche Observierung bringe, wandte er ein. Wo er denn mit seinen eigenen Unternehmungen bleibe? Und drei von Litvaks Observanten draußen Unterstützung zu gewähren, bloß um dem Mädchen in der neuen Umgebung das Gefühl von Gemütlichkeit zu geben - nun, bei ihnen werde niemand so mit Samthandschuhen angefasst. Es sei einfach nicht zu machen. Es kostete Kurtz Blutopfer und alle möglichen Zugeständnisse unter der Hand, um jenes Maß an Zusammenarbeit zu erreichen, das er brauchte. Aus diesen und ähnlichen Abmachungen hielt Misha Gavron sich wohlweislich heraus; er vertraute darauf, dass die Kräfte des Marktes eine natürliche Lösung fanden. Wenn Kurtz fest genug an etwas glaube, sagte er seinen Leuten insgeheim, werde er auch damit durchkommen; ihn ein bisschen an die Kandare zu nehmen und ab und zu auch mal die Peitsche kosten zu lassen, schade einem solchen Mann nicht, sagte Gavron. Da Kurtz Jerusalem ungern auch nur für eine Nacht verließ, während all diese Dinge eingefädelt wurden, übertrug er es Litvak, den Pendelverkehr mit Europa aufrechtzuerhalten und als sein Abgesandter das Observierungsteam zu stärken und umzubilden, vor allem aber auf jede nur denkbare Weise auf das vorzubereiten, wovon alle inbrünstig hofften, dass es die Schlussphase sein würde. Die unbeschwerten Münchener Tage, wo ein paar Leute in Doppelschicht ausgereicht hatten, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, waren endgültig vorüber. Um das himmlische Trio von Mesterbein, Helga und Rossino rund um die Uhr im Auge zu behalten, hatten ganze Trupps von Außenarbeitern rekrutiert werden müssen - die alle Deutsch sprechen mussten, das bei vielen mangels Übung schon recht eingerostet war. Litvaks Misstrauen gegenüber nichtisraelischen Juden machte das alles nur noch schwieriger, aber er wollte auch nicht nachgeben: sie seien zu zimperlich, wenn es galt, hart zuzupacken; in ihrer Loyalität zu gespalten. Auf Kurtz’ Befehl flog Litvak sogar nach Frankfurt zu einem heimlichen Treffen mit Alexis am Flughafen, teils um seine Hilfe bei den Observierungsarbeiten zu bekommen, teils auch - wie Kurtz es ausdrückte -, um festzustellen, wie viel »Rückgrat«, eine besonders rare Eigenschaft, er habe. Auf jeden Fall war die Erneuerung ihrer Bekanntschaft eine Katastrophe, denn die beiden Männer konnten sich auf den ersten Blick nicht ausstehen, ja, schlimmer noch: Litvaks Meinung bestätigte nur eine früher von Gavrons Psychiatern gemachte Vorhersage: dass man Alexis nicht einmal eine gebrauchte Bus-Fahrkarte anvertrauen könne.

»Die Entscheidung ist gefallen«, verkündete Alexis Litvak, noch ehe sie überhaupt Platz genommen hatten; und verkündete das in einem erbosten, halb geflüsterten, halb zusammenhanglosen Monolog, bei dem er immer wieder ins Falsett umschlug. »Und ich revidiere eine Entscheidung nie; dafür bin ich bekannt. Gleich nach unserer Besprechung gehe ich zu meinem Minister und rede mir alles von der Seele. Für einen Ehrenmann gibt es keine Alternative.« Alexis, so stellte sich rasch heraus, war nicht nur anderen Sinnes geworden, sondern hatte auch politisch eine Kehrtwendung gemacht. »Nichts gegen die Juden - als Deutscher hat man schließlich ein Gewissen -, aber nach bestimmten Erfahrungen, die ich in der letzten Zeit gemacht habe - ein gewisser Bombenanschlag -gewisse Maßnahmen, zu denen man gezwungen, ja, geradezu erpresst wurde-, geht einem auch auf, warum die Juden im Laufe der Geschichte immer wieder Verfolgungen ausgesetzt waren. Verzeihen Sie mir.«

Litvak sah ihn finster-beherrscht an und verzieh ihm gar nichts. »Ihr Freund Schulmann - ein fähiger Mann, beeindruckend - und auch überzeugend -, Ihr Freund kennt keine Mäßigung. Er hat auf deutschem Boden ohne jede Ermächtigung von unserer Seite Gewalttaten verübt und ist von einer Maßlosigkeit, wie sie zu lange uns Deutschen zugeschrieben wurde.« Litvak hatte die Nase gestrichen voll. Krank und bleich aussehend,

hatte er die Augen abgewandt, vielleicht, um das Funkeln darin zu verbergen. »Warum rufen Sie ihn nicht an und sagen ihm das selbst?« hatte er vorgeschlagen. Und Alexis hatte es getan. Vom Fernsprechamt am Flugplatz, unter einer besonderen Nummer, die Kurtz ihm gegeben hatte, während Litvak neben ihm stand und sich die Mithörmuschel ans Ohr hielt.

»Tja, dann tun Sie das, Paul«, riet Kurtz ihm von ganzem Herzen, nachdem Alexis fertig war. Dann veränderte sich seine Stimme: »Und wenn Sie schon mit Ihrem Minister sprechen, Paul, vergessen Sie nicht, ihm auch von Ihrem Schweizer Bankkonto zu erzählen. Denn wenn Sie das nicht tun, könnte Ihre beispielhafte Aufrichtigkeit mich dazu bringen, hinzufliegen und ihn persönlich darüber zu informieren.«

Anschließend gab Kurtz seiner Telefonzentrale die Anweisung, die nächsten achtundvierzig Stunden keine Anrufe von Alexis zu ihm durchzustellen. Aber Kurtz nahm nichts übel. Jedenfalls Agenten nicht. Nachdem die Abkühlungsperiode vorüber war, nahm er sich einen Tag frei und pilgerte selbst nach Frankfurt, wo er feststellte, dass der gute Doktor sich recht gut erholt hatte. Die Anspielung auf das Schweizer Bankkonto, auch wenn Alexis sie bekümmert ›unsportlich‹ nannte, hatte ihn wieder nüchtern gemacht. Doch was am meisten zu seiner Besserung beigetragen hatte, war der freudige Umstand, dass er sich im Mittelteil eines viel gelesenen deutschen Boulevardblattes abgebildet gefunden hatte - entschlossen, engagiert und stets mit dem untergründigen Alexis’schen Witz -, was ihn davon überzeugte, dass er wirklich der war, als den sie ihn hinstellten. Kurtz tat nichts, um ihm diese glückliche Lebenslüge zu zerstören, und als Preis dafür brachte er seinen überarbeiteten Analytikern einen quälend-interessanten Anhaltspunkt mit, den Alexis ihnen in seinem Groll vorenthalten hatte: die Fotokopie einer an Astrid Berger, einem ihrer vielen Tarnnamen, adressierten Ansichtskarte. Handschrift unbekannt, Poststempel: Paris, 17. Arrondissement. Auf Befehl von Köln von der deutschen Post abgefangen. Der Text, der in Englisch geschrieben war, lautete folgendermaßen: »Der arme Onkel Frei wird nächsten Monat wie geplant operiert. Das passt insofern gut, als Du Vs Haus benutzen kannst. Wir sehen uns dort. Herzlichst, K.«

Drei Tage später ging eine zweite Postkarte in derselben Handschrift, die an eine weitere sichere Adresse der Berger gerichtet war, in dasselbe Schleppnetz; diesmal war der Poststempel Stockholm. Alexis, der wieder voll und ganz mitarbeitete, ließ sie per Sonderkurier zu Kurtz fliegen. Der Text war kurz: »Blinddarmoperation Frei am 24., 18 Uhr, Zimmer 251.« Und die Unterschrift lautete »M«, was für die Analytiker bedeutete, dass ihnen ein Glied in der Kommunikationskette fehlte: zumindest war das das Muster gewesen, nach dem Michel von Zeit zu Zeit seine Befehle erhalten hatte. Doch die Postkarte mit der Unterschrift »L« wurde trotz aller Anstrengungen niemals gefunden. Dafür geriet zweien von Litvaks Mädchen ein Brief in die Hände, den das Wild - in diesem Falle die Berger - persönlich einsteckte und der an niemand Geringeren adressiert war als Anton Mesterbein in Genf. Sie machten ihre Sache sehr elegant. Die Berger war nach Hamburg gefahren und übernachtete bei einem ihrer vielen Liebhaber in einer Oberschicht-Wohngemeinschaft in Blankenese. Als sie ihr eines Tages auf dem Weg in die Stadt folgten, sahen sie, wie sie verstohlen einen Brief einwarf. Sobald sie weg war, steckten sie selbst einen Brief ein, einen großen gelben Umschlag, der für einen solchen Fall bereitgehalten, fix und fertig adressiert und frankiert war und auf den anderen Brief zu liegen kam. Dann bezog die hübschere von den beiden vor dem Briefkasten Posten. Als der Postbeamte kam, um ihn zu leeren, erzählte sie ihm eine rührselige Geschichte über Liebe und Wut und machte so freimütige Versprechen, dass er schafsköpfig grinsend daneben stand, als sie ihren Brief aus den vielen anderen herausfischte, ehe er ihr ganzes Leben zerstörte. Nur, dass es nicht ihr, sondern Astrid Bergers Brief war, der genau unter dem großen gelben Umschlag lag. Nachdem sie den Brief über Dampf geöffnet und fotografiert hatten, steckten sie ihn so rechtzeitig wieder in denselben Briefkasten, dass er mit der nächsten Leerung abging. Der Preis war ein achtseitiger Erguss von Schulmädchenleidenschaft. Sie musste high gewesen sein, als sie ihn geschrieben hatte, wenn vielleicht auch nur von ihrem eigenen Adrenalin. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, pries Mesterbeins sexuelle Fähigkeiten. Sie ließ sich auf wilde ideologische Exkurse ein, in denen sie willkürlich El Salvador mit dem westdeutschen Verteidigungsetat in Verbindung brachte und die Wahlen in Spanien mit einem Skandal, zu dem es kürzlich in Südafrika gekommen war. Die Schreiberin regte sich über die zionistischen Bombenangriffe auf und sprach von der israelischen ›Endlösung‹ für die Palästinenser. Der Brief war voller Lebenslust und zeigte, dass die Schreiberin praktisch alles überall falsch sah; und von der vernünftigen Annahme ausgehend, dass Mesterbeins Post von den Behörden gelesen wurde, wies sie tugendhaft darauf hin, dass es nötig sei, sich stets »im Rahmen der Gesetze« zu bewegen. Allerdings hatte der Brief ein Postskript, eine Zeile, wie ein Einfall zum Abschied hingekritzelt, dick unterstrichen und mit Ausrufungszeichen versehen. Ein prahlerisches, provozierendes Wortspiel, nur ihnen beiden verständlich, das jedoch möglicherweise wie andere Abschiedsworte den Zweck des ganzen bisherigen Diskurses enthielt. Und es war in französisch: Attention! on va épater lesBourgeois! Beim Anblick dieser Worte erstarrten die Analytiker. Warum bourgeois mit großem B? Wozu die Unterstreichung? Hatte Helga eine so schlechte Schulbildung, dass sie die deutsche Großschreibung auf französische Substantive übertrug? Diese Vorstellung war lachhaft. Und wozu war der Apostroph so sorgfältig darüber gesetzt, nach links verschoben? Während die Entschlüsseler und Analytiker Blut schwitzten, um den Code zu brechen, Computer ruckten und knackten und unmögliche Umstellungen ausspuckten, war es niemand anderer als die unkomplizierte Rachel mit ihrer nordenglischen Geradlinigkeit, die auf die auf der Hand liegende Lösung zusegelte. Rachel löste in ihrer Freizeit gern Kreuzworträtsel und träumte davon, einmal ein Auto zu gewinnen. »Onkel Frei« sei die eine Hälfte, erklärte sie schlicht, und »Bourgeois« die andere. Die freibourgeois seien die Freiburger, die durch eine »Operation« geschockt werden sollten, die am 24. um sechs Uhr abends stattfinden solle. Zimmer 251? »Tja, da muss man sich erkundigen, oder?« erklärte sie den betretenen Experten. Ja, pflichteten diese bei. Das müsse man wohl. Die Computer wurden ausgeschaltet; dennoch hielt sich ein, zwei Tage hindurch eine gewisse Skepsis. Die Mutmaßung sei absurd. Zu leicht. Offen gestanden kindisch. Aber, wie sie schon erfahren hatten, scheuten Helga und ihre Leute sozusagen aus Prinzip jede systematische Form der Kommunikation. Genossen sollten gleichsam von einem revolutionärem Herzen zum anderen sprechen, und das in gewundenen Anspielungen, die über das Begriffsvermögen von Bullen hinausgingen. Überprüfen, sagten sie.

Es gab mindestens ein halbes Dutzend Freiburgs, doch zunächst dachten sie an die kleine Stadt Freiburg in Mesterbeins heimatlicher Schweiz. Dort wurde Deutsch wie Französisch gesprochen, und die Bourgeoisie dort ist - sogar unter den Schweizern selbst - berühmt für ihre Unbeweglichkeit. Kurtz schickte unverzüglich zwei sehr vorsichtig vorgehende Kundschafter mit dem Auftrag hin, jedes nur denkbare Ziel eines anti-jüdischen Anschlags herauszubekommen und besonders ein Auge auf Firmen zu werfen, die Verträge mit dem israelischen Verteidigungsministerium hatten; nach bestem Vermögen, soweit das ohne Hilfe von offizieller Seite ging, sämtliche Zimmer mit der Nummer 251 zu überprüfen - sowohl in Krankenhäusern und Hotels als auch in Bürohäusern; außerdem die Namen sämtlicher Patienten, die am Vierundzwanzigsten dieses Monats für eine Blinddarmoperation vorgesehen waren; oder für Operationen welcher Art auch immer, die an diesem Tag um 18 Uhr stattfinden sollten.

Von der Jewish Agency in Jerusalem erhielt Kurtz eine Liste aller prominenten jüdischen Bürger dieser Stadt samt Angaben über ihre Gemeinde- und Verbandszugehörigkeit. Gab es ein jüdisches Krankenhaus in Freiburg? Falls nicht, gab es dann ein Krankenhaus, das sich um die Bedürfnisse orthodoxer Juden kümmerte? Und so weiter.

Kurtz argumentierte gegen seine eigenen Überzeugungen, und das taten sie eigentlich alle. Zielen dieser Art fehlte ganz und gar die dramatische Wirkung, die ihre Vorläufer so besonders ausgezeichnet hatte; dabei würde niemand épater werden; niemand konnte einen Sinn darin erkennen.

Bis eines Nachmittags, mitten in all dieser Geschäftigkeit -fast als ob ihre an einer Stelle eingesetzte Energie die Wahrheit an einer anderen Stelle ans Licht gezwungen hätte - Rossino, der mordlüsterne Italiener, von Wien nach Basel flog und sich dort ein Leihmotorrad nahm. Nachdem er die Grenze nach Deutschland überschritten hatte, Fuhr er vierzig Minuten zu der alten Münsterstadt Freiburg im Breisgau, einst Hauptstadt des kurzlebigen Landes Baden. Nach einem ausgiebigen Mittagessen dort sprach er im Rektorat der Universität vor und informierte sich höflich über eine Reihe von Vorträgen zu geisteswissenschaftlichen Themen, die in beschränktem Rahmen auch einem allgemeinen Publikum offen standen. Und weniger offenkundig auf dem Lageplan der Universität, wo Hörsaal 251 lag.

Endlich ein Lichtblick nach so viel Nebel! Rachel hatte recht gehabt; Kurtz hatte recht gehabt; Gott war gerecht und Misha Gavron auch. Die Kräfte des Marktes hatten zu einer natürlichen Lösung geführt.

Nur Gadi Becker nahm nicht an der allgemein gehobenen Stimmung teil.

Wo war er?

Es gab Zeiten, da die anderen das besser zu wissen schienen als er selbst. Eines Tages ging er in dem Haus in der Disraeli Street auf und ab und richtete seinen unsteten Blick immer wieder auf die Dechiffriermaschinen, die - für seinen Geschmack viel zu selten - berichteten, wo seine Agentin -Charlie - gesichtet worden war. Am selben Abend - oder genauer gesagt in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages - drückte er auf die Klingel von Kurtz’ Haustür, weckte Elli und die Hunde damit auf und verlangte die Zusicherung, dass keine Schläge gegen Tayeh oder sonst wen geführt würden, solange Charlie nicht verlegt worden sei. Er habe da so Gerüchte gehört, sagte er. »Misha Gavron ist nicht gerade für seine Geduld bekannt«, sagte er trocken.

Kam jemand von draußen zurück - zum Beispiel der junge Mann, der unter dem Namen Dimitri bekannt war, oder sein Gefährte Raoul, der per Schlauchboot rausgeschleust wurde -, bestand Becker darauf, bei der Einsatzbesprechung hinterher dabei zu sein und den Betreffenden mit Fragen nach ihrer Verfassung zu überschütten.

Nachdem er das ein paar Tage mitgemacht hatte, konnte Kurtz seinen Anblick nicht mehr ertragen - »lässt mich nicht los, wie mein eigenes schlechtes Gewissen« - und drohte offen, ihm das Haus zu verbieten, bis er sich einer weiseren Einsicht beugte. »Ein Agentenführer ohne seinen Agenten ist wie ein Dirigent ohne Orchester«, erklärte er Elli gegenüber tiefsinnig und hatte dabei Mühe, seinen eigenen Zorn zu schlucken. »Es ist richtiger, ihn aufzumuntern und ihm zu helfen, die Zeit rumzukriegen.«

Heimlich und nur mit Ellis geheimem Einverständnis rief Kurtz Frankie an, erzählte ihr, ihr ehemaliger Mann sei in der Stadt, und gab ihr seine Telefonnummer; denn Kurtz ging mit Churchillscher Großmut davon aus, dass jeder eine so glückliche Ehe führen solle wie er selber.

Frankie rief denn auch an, Becker lauschte eine Weile ihrer Stimme - falls er es überhaupt war, der ans Telefon gegangen war - und legte den Hörer behutsam auf die Gabel, ohne zu antworten, was sie wütend machte.

Gleichwohl hatte Kurtz’ List eine gewisse Wirkung, denn am nächsten Tag machte sich Becker zu einer Fahrt auf, die später als eine Art Reise auf der Suche nach sich selbst angesehen wurde, bei der er die Grundvoraussetzungen seines Lebens betrachtete. Er nahm sich einen Leihwagen und fuhr zuerst nach Tel Aviv. Dort wickelte er zunächst eine pessimistisch stimmende Angelegenheit mit seiner Bank ab und stattete dann dem alten Friedhof einen Besuch ab, auf dem sein Vater begraben lag. Er legte Blumen aufs Grab, machte sorgfältig mit einer geliehenen Schaufel ringsum sauber und sagte laut Kaddisch, obwohl weder er noch sein Vater jemals viel Zeit für die Religion gehabt hatten. Von Tel Aviv aus fuhr er dann in südöstlicher Richtung nach Hebron oder - wie Michel es genannt hätte - El Khalil. Dort ging er zur Abraham-Moschee, die seit dem Sechsundsiebzigerkrieg voller Unbehagen auch als Synagoge dient. Er unterhielt sich mit den wieder eingezogenen Soldaten, die mit ihren verknitterten Buschhüten und bis zur Taille offen stehenden Hemden lässig vor dem Eingang Wache standen und auf den Festungsmauern patrouillierten.

Becker, erzählten sie einander, nachdem er wieder gegangen war - nur, dass sie seinen hebräischen Namen benutzten - der legendäre Gadi persönlich - der Mann, der die Schlacht um den Golan hinter den syrischen Linien gekämpft hat - was, zum Teufel, machte er denn hier in diesem arabischen Höllenloch und sah dazu auch noch so aus, als ob es ihm nicht wohl in seiner Haut sei? Unter ihren bewundernden Blicken und ohne sich offensichtlich im geringsten von der explosiven Stille und den finster-drohenden Blicken der Besetzten beirren zu lassen, schlenderte er über den uralten gedeckten Markt. Und manchmal, obwohl offensichtlich mit etwas ganz anderem beschäftigt, blieb er stehen, sprach einen Ladenbesitzer auf arabisch an, erkundigte sich nach einem besonderen Gewürz oder nach dem Preis für ein Paar Schuhe, während kleine Jungen sich um ihn scharten, ihm zuhörten und es einmal sogar wagten, seine Hand zu berühren. Auf dem Weg zurück zu seinem Wagen nickte er den Soldaten zum Abschied zu und fuhr in die schmalen Straßen hinein, die sich zwischen den fruchtbaren roten, terrassenförmig angelegten Weinbergen hindurchschlängelten, bis er allmählich die auf der Ostseite des Berges gelegenen Dörfer mit den würfelförmigen Häusern und den Fernsehantennen auf dem Dach, die wie kleine Eiffeltürme aussahen, erreichte. Die höher gelegenen Hänge waren schneebedeckt; dunkle Wolkenbänke verliehen der Erde ein erbarmungsloses und unversöhnliches Glühen. Auf der anderen Seite des Tals stand - wie der Abgesandte eines eroberungssüchtigen Planeten - eine riesige neue israelische Siedlung.

Und in einem der Dörfer stieg Becker aus und schnappte ein wenig Luft. Hier hatte Michels Familie bis ‘67 gelebt, bis sein Vater es ratsam gefunden hatte zu fliehen.

»Ja, hat er denn seinem eigenen Grab auch einen Besuch abgestattet?« wollte Kurtz missmutig wissen, als ihm all dies berichtet wurde. »Erst das seines Vaters, und dann sein eigenes - oder?« Einen Moment lang herrschte Verwirrung, ehe sie alle in Lachen ausbrachen, als sie sich an die moslemische Überlieferung erinnerten, nach der auch Joseph, der Sohn Isaaks, in Hebron begraben sein soll, was - wie jeder Jude weiß - nicht stimmt. Von Hebron aus, so scheint es, fuhr Becker dann in nördlicher Richtung nach Galiläa hinein, bis nach Bei She’an, einer arabischen Stadt, die die Juden neu besiedelt haben, nachdem sie sie nach dem Krieg ‘48 verlassen vorgefunden hatten. Hier hielt er sich lange genug auf, um das römische Amphitheater zu bewundern, und fuhr

dann gemächlich weiter nach Tiberias, das sich rasch zu einem modernen Urlaubsort im Norden entwickelt, mit riesigen neuen Hotels im amerikanischen Stil am Strand, einem Lido, vielen Kränen und einem ausgezeichneten China-Restaurant. Sein Interesse schien jedoch nur gering zu sein, denn er hielt nicht an, sondern fuhr nur langsam durch die Straßen und spähte aus dem Fenster zu den Wolkenkratzern hinüber, als zählte er sie. Er tauchte dann als nächstes oben im Norden, in Metulla, wieder auf, unmittelbar an der libanesischen Grenze. Ein gepflügter Streifen mit einigen Stacheldrahtverhauen hintereinander bildete die Grenze, die in besseren Tagen ›Guter Zaun‹ genannt worden war. Auf der einen Seite standen israelische Bürger auf einer Beobachtungsplattform und spähten mit bestürztem Gesicht durch den Stacheldraht hinüber in wildzerklüftetes Land. Auf der anderen Seite fuhr die Libanesische Christliche Miliz mit allen möglichen Transporten hin und her, während sie von den Israelis Nachschub für die endlose Blutfehde gegen die palästinensischen Usurpatoren entgegennahm. Damals war Metulla auch der natürliche Endpunkt der nach Beirut hinaufführenden Kurierwege, und Gavrons Amt unterhielt dort ein diskretes Büro, um seinen Agenten beim Transit behilflich zu sein. Der große Becker meldete sich am frühen Abend, blätterte das Hauptbuch des Büros durch, stellte aufs Geratewohl ein paar Fragen über den Standort der UNO-Truppen und ging wieder. Und zwar mit bekümmertem Gesicht, wie der Leiter des Büros sagte. Vielleicht krank. Krank in den Augen, krankes Aussehen. »Was, zum Teufel, hat er gesucht?« wollte Kurtz von dem Leiter wissen, als er es hörte. Doch der Leiter der Dienststelle war ein nüchterner, durch die ständige Geheimniskrämerei stumpf gewordener Mann, der keine weiterführenden Theorien zu bieten hatte. Bekümmert, wiederholte er. So wie Agenten manchmal aussehen, wenn sie lange gehetzt worden sind.

Und Becker fuhr noch immer weiter, bis er eine gewundene, von Panzerketten aufgerissene Bergstraße erreichte und darauf bis hinauf zu jenem Kibbuz weiterfuhr, dem - falls überhaupt irgendeinem Ort auf Erden - sein Herz gehörte: ein Adlerhorst, der auf drei Seiten hoch über dem Libanon aufragte. Der Ort war zuerst 1948 eine jüdische Siedlung geworden, als er als militärischer Stützpunkt errichtet worden war, um die einzige, von Osten nach Westen führende Straße südlich des Litani- Flusses zu kontrollieren. 1952 ließen sich hier die ersten jungen Sabra-Siedler nieder und versuchten, jenes harte, weltliche Leben zu führen, das ursprünglich das zionistische Ideal gewesen war. Seither hatte der Kibbuz gelegentliche Beschießungen, offenkundigen Wohlstand und einen besorgniserregenden Mitgliederschwund überlebt.

Rasensprenger liefen, als Becker eintraf; die Luft war süß vom Duft roter und rosa Rosen. Scheu und gleichzeitig sehr erregt empfingen ihn seine Gastgeber. »Bist du gekommen, um dich endlich bei uns niederzulassen, Gadi? Ist deine Kampfzeit vorbei? Hör zu, da ist ein Haus, das auf dich wartet. Du kannst schon heute Abend einziehen!« Er lachte, sagte jedoch weder ja noch nein. Er bat um Arbeit für ein paar Tage, aber sie konnten ihm so gut wie nichts geben; es ist Saure-Gurken-Zeit, erklärten sie. Obst- und Baumwollernte seien längst abgeschlossen, die Bäume beschnitten und die Felder so weit bestellt, dass man nur noch auf den Frühling warte. Dann, da er beharrte, versprachen sie ihm, er könne im gemeinschaftlichen Speisesaal das Essen austeilen. Was sie jedoch wirklich von ihm wissen wollten, war seine Meinung darüber, wohin das Land gehe - von Gadi, der, falls überhaupt jemand, uns das sagen kann. Was selbstverständlich bedeutete, dass sie sich von ihm vor allem eine Bestätigung ihrer eigenen Auffassungen erhofften - über diese Gauner an der Regierung und den Niedergang der Tel Aviver Politik. »Wir sind hierher gekommen, um zu arbeiten, um für unsere Identität zu kämpfen und Juden zu Israelis zu machen, Gadi! Wird aus uns irgendwann noch mal ein Land - oder sollen wir für alle Ewigkeit ein Schaufenster des internationalen Judentums sein? Welche Zukunft blüht uns, Gadi? Sag es uns!« Diese Fragen richteten sie mit einer gewissen vertrauensvollen Lebhaftigkeit an ihn, als wäre er eine Art Prophet unter ihnen, der ihrem Leben draußen eine neue Innerlichkeit geben könnte; sie konnten ja nicht wissen -zumindest zu Anfang nicht -, dass sie in die Leere seiner eigenen Seele hineinredeten. Und was ist aus all unserem schönen Gerede geworden, dass wir uns mit den Palästinensern schon verständigen werden, Gadi? Der große Fehler sei im Jahre 1967 zu suchen, zu diesem Schluss kamen sie, als sie wie gewöhnlich ihre Fragen selbst beantworteten; ‘67 hätten wir großmütig sein, ihnen einen annehmbaren Vorschlag machen sollen. Wer kann denn großzügig sein, wenn nicht die Sieger? »Wir sind so mächtig, Gadi, und sie so schwach!«

Nach einiger Zeit kamen diese unlösbaren Probleme Becker nur allzu vertraut vor, und wie es seiner in sich gekehrten Stimmung entsprach, ging er allein im Lager umher. Seine Lieblingsstelle war ein zerstörter Wachtturm, von dem aus man direkt hinunterblicken konnte auf eine kleine schiitische Stadt sowie in nordöstlicher Richtung auf die Kreuzfahrer-Festung Beaufort, die damals noch in der Hand der Palästinenser war. Dort erblickten sie ihn an dem letzten Abend, den er bei ihnen verbrachte, wie er ohne jede Deckung dastand und so dicht am elektrischen Grenzzaun wie nur möglich, ohne dass die Alarmanlage losging. Durch die untergehende Sonne war eine Seite von ihm erhellt, während die andere im Dunkeln lag, und, wie er hochgereckt dastand, sah es aus, als fordere er das gesamte Litani-Becken auf, seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.

Am nächsten Morgen war er wieder in Jerusalem. Nachdem er sich in der Disraeli Street gemeldet hatte, verbrachte er den Rest des Tages damit, durch die Straßen der Stadt zu spazieren, in denen er so manche Schlacht geschlagen und so viel Blutvergießen - sein eigenes nicht ausgenommen - erlebt hatte. Dennoch schien er alles, was er sah, in Frage zu stellen. Verwirrt und benommen starrte er auf die sterilen Bogengänge des wieder aufgebauten jüdischen Viertels; er hockte sich in die Empfangshallen der Wolkenkratzerhotels, die heute die Silhouette Jerusalems verschandeln, und dachte über die Gruppen anständiger amerikanischer Bürger aus Oshkosh, Dallas und Denver nach, die, guten Glaubens und in mittleren Jahren, in Jumbo-Ladungen hierher gebracht worden waren, damit sie mit ihrem Erbe in Verbindung blieben. Er warf einen Blick in die kleinen Boutiquen, die handgestickte arabische Kaftans und arabische Kunst feilboten, deren Echtheit von den Ladenbesitzern garantiert wurde; er lauschte dem harmlosen Geschwätz der Touristen, atmete ihre kostbaren Parfüms ein und hörte, wie sie - freilich unter Wahrung kameradschaftlicher Höflichkeit - sich über die Qualität des nach New Yorker Art zerlegten Ochsenfleischs ausließen, das irgendwie eben doch nicht ganz so gut schmeckte wie daheim. Und er verbrachte einen ganzen Nachmittag im Holocaust-Museum, tief bekümmert beim Anblick der Fotos von Kindern, die jetzt etwa in seinem Alter sein würden, wenn sie überlebt hätten.

Nachdem er all dies gehört hatte, brach Kurtz Beckers Urlaub ab und schickte ihn zurück an die Arbeit. Stell fest, um was es in Freiburg geht, sagte er zu ihm. Kämm die Bibliotheken und unsere Unterlagen durch. Stell fest, wen wir dort kennen, verschaff dir einen Plan von der Universität. Besorg dir Architektenzeichnungen und Stadtpläne. Stell alles zusammen, was wir wissen müssen, und vervielfältige es. Ablieferungstermin: gestern.

Ein guter Kämpfer ist nie normal, erklärte Kurtz Elli, um sich zu trösten. Wenn er nicht ein ausgemachter Dummkopf ist, denkt er zuviel nach.

Insgeheim konnte Kurtz sich nur wundern, wie tief sein noch nicht heimgeholtes Lämmchen ihn nach wie vor erzürnen konnte.

Загрузка...