Kapitel 10

Die Taverne war uriger als die auf Mykonos, ein Schwarzweißfernseher flatterte wie eine Flagge, die niemand grüßte, die alten Gebirgsbewohner waren zu stolz, irgendwelchen Touristen Beachtung zu schenken, selbst hübschen rothaarigen englischen Mädchen in blauen Kaftans und Goldarmbändern nicht. Doch in der Geschichte, die Joseph jetzt erzählte, waren es Charlie und Michel, die allein im Grillroom eines Hotels außerhalb von Nottingham zu Abend aßen; Michel hatte die Leute bestochen, dass sie sie noch zu so später Stunde einließen. Charlies eigenes rührendes Auto hatte wieder einmal einen Defekt und stand in der Reparaturwerkstatt in Camden, auf die sie seit neuestem schwor. Aber Michel hatte eine Mercedes-Limousine; keine andere Marke gefiel ihm so gut. Er wartete damit am Hintereingang des Theaters, und er fuhr augenblicklich mit Charlie davon, zehn Minuten durch den ewigen Nottinghamer Regen. Und kein vorübergehender Koller von Charlie, ob nun hier oder dort, keine plötzlich keimenden Zweifel vermochten den Schwung von Josephs Erzählung zu nehmen. »Er hat Autohandschuhe an«, sagte Joseph. »Dafür schwärmt er. Du merkst das, sagst aber nichts dazu.«

Mit Luftlöchern auf dem Handschuhrücken, dachte sie. »Wie fährt er?«

»Eine Naturbegabung ist er als Autofahrer nicht gerade, aber das kreidest du ihm nicht an. Du fragst ihn, wo er lebt, und er erwidert, er sei von London heraufgefahren, eigens um dich zu sehen. Du fragst ihn nach seinem Beruf, und er sagt: ›Student.‹ Du erkundigst dich, wo er studiert: er sagt, ›in Europa‹ , und lässt irgendwie durchblicken, dass Europa so etwas wie ein Schimpfwort sei. Als du Genaueres wissen willst - aber nur nicht zu sehr bedrängen -, erklärt er, er mache ein, zwei Semester in verschiedenen Städten, je nachdem, wozu er Lust habe und wer gerade lese. Die Engländer, erklärt er, verstünden das System nicht. Und als er das Wort ›Engländer‹ ausspricht, klingt das feindselig in deinen Ohren; du weißt nicht, warum, aber irgendwie feindselig. Was fragst du als nächstes?« »Wo er im Augenblick lebt?«

»Da weicht er aus. Genauso wie ich. Manchmal in Rom, sagt er unbestimmt, manchmal in München, ein bisschen in Paris, wo immer er Lust hat zu leben. Er behauptet nicht, bescheiden zu leben, macht aber klar, dass er unverheiratet ist, was dich nicht gerade entsetzt.« Lächelnd zog er seine Hand zurück. »Du fragst ihn, welche Stadt er am liebsten mag, eine Frage, die er als nicht von Belang abtut; du fragst ihn, was er studiert, und er antwortet: ›die Freiheit‹. Du fragst ihn, wo er zu Hause ist, und er erwidert, sein Zuhause stehe gerade unter feindlicher Besatzung. Darauf reagierst du wie?«

»Mit Verwirrung.«

»Doch wie üblich lässt du nicht locker, und so spricht er den Namen Palästina aus. Voller Leidenschaft. Du merkst das seiner Stimme sofort an. Wie ein Kriegsruf - Palästina.« Dabei sah er sie so eindringlich an, dass sie nervös lächelte und den Blick abwandte. »Vielleicht darf ich dich daran erinnern, Charlie, dass du zwar zu dieser Zeit tief in deiner Affäre mit Alastair steckst, er aber gerade sicher in Argyll ist, wo er einen Werbespot für irgendein völlig wertloses Konsumprodukt dreht, und du weißt zufällig, dass er was mit der Hauptdarstellerin hat. Stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte sie und stellte überrascht fest, dass sie errötete.

»Und jetzt sag mir bitte, was die Worte Palästina, Palästinenser - auf diese Weise von diesem jungen Hitzkopf ausgesprochen - an einem verregneten Abend in einem Hotel in Nottingham für dich bedeutet. Nehmen wir mal an, er fragt dich selbst danach. Jawohl. Er fragt dich. Warum nicht?«

Es wird ja immer besser, dachte sie; wie viele Seiten hat dieser Kitschroman eigentlich? »Ich bewundere Sie«, sagte sie. »Nenn mich bitte Michel.« »Ich bewundere Sie, Michel.« »Weswegen?« »Wegen Ihrer Leiden.« Sie kam sich ein bisschen albern vor. »Weil Sie nicht aufgeben.«

»Unsinn. Wir Palästinenser sind eine Bande von ungebildeten Terroristen, wir hätten uns längst mit dem Verlust unserer Heimat abfinden sollen. Wir sind nichts weiter als ehemalige Schuhputzer und Straßenhändler, jugendliche Kriminelle mit Maschinenpistolen in der Hand und alte Männer, die nicht vergessen wollen. Wer also sind wir, bitte schön? Sag mir deine Meinung. Ich werde sie zu schätzen wissen. Für mich bist du immer noch Johanna, vergiss das nicht.«

Sie holte tief Atem. Dann haben sich meine Wochenend-Seminare doch gelohnt. »Na schön. Also: Die Palästinenser -ihr - sind friedfertige, redliche Bauern mit einer großen Tradition, die man von 1948 an ungerechterweise aus ihrem Land vertrieben hat, um den Zionismus zu beschwichtigen -und um in Arabien ein Bollwerk für den Westen zu schaffen.«

»Ich finde deine Worte nicht anstößig. Bitte, fahr fort.«

Es war wunderbar zu sehen, wie viel ihr bei seinen perversen Stichworten einfiel. Bruchstücke aus vergessenen Flugblättern, Vorträge von Liebhabern, Brandreden von Freiheitskämpfern, Zitate aus flüchtig gelesenen Büchern - alle kamen wie getreue Verbündete zu ihr, jetzt, da sie sie brauchte. »Ihr seid die Erfindung eines europäischen Schuldkomplexes wegen der Juden... ihr habt die Zeche für einen Holocaust zahlen müssen, mit dem ihr nichts zu tun hattet... ihr seid die Opfer einer rassistischen, antiarabischen imperialistischen Politik der Enteignung und Vertreibung…«

»Und des Mordes«, setzte Joseph leise hinzu.

»Und des Mordes.« Wieder unsicher werdend bemerkte sie, dass die Augen des Fremden immer noch eindringlich auf sie gerichtet waren, und wie auf Mykonos wusste sie plötzlich nicht, was sie darin las. »Das jedenfalls sind die Palästinenser«, tat sie es ab. »Wenn du danach fragst. Wenn du es schon tust«, fügte sie noch hinzu, als er immer noch nichts sagte.

Sie blickte ihn weiterhin an, wartete auf das Stichwort, das ihr sagte, was sie sein sollte. Unter dem zwingenden Druck seiner Gegenwart hatte sie auf die unausgegorenen Ideen einer früheren Existenz zurückgegriffen, mit denen sie eigentlich nichts mehr zu schaffen haben wollte, es sei denn, er wollte das.

»Bedenke, dass es für ihn keinen small-talk gibt«, befahl ihr Joseph, als hätten sie sich noch nie im Leben angelächelt. »Wie schnell er an die ernsthafte Seite deines Wesens appelliert hat. In gewisser Weise ist er auch sehr penibel - so hat er zum Beispiel für heute abend alles vorausgeplant: das Essen, den Wein, die Kerzen - sogar seine Unterhaltung. Wir können sagen, dass er mit einer den Israelis gleichkommenden Tüchtigkeit einen ganzen Feldzug vorbereitet hat, um seine Johanna im Sturm zu nehmen.«

»Schändlich«, sagte sie mit ernster Stimme und betrachtete ihr Armband.

»Unterdessen versichert er dir, dass du die großartigste Schauspielerin auf Erden bist, und das geht dir, wie ich annehme, wieder glatt runter. Er bleibt dabei, dich mit der heiligen Johanna zu verwechseln, doch inzwischen stört es dich nicht mehr ganz so sehr, dass Leben und Theater für ihn nicht zu trennen sind. Die heilige Johanna, erzählt er dir, sei seine Heldin gewesen, seit er zum ersten Mal von ihr gelesen habe. Obwohl eine Frau, habe sie es verstanden, das Klassenbewusstsein der französischen Bauern zu wecken und sie gegen die imperialistischen britischen Unterdrücker in die Schlacht zu führen. Sie sei eine echte Revolutionärin, die die Flamme der Freiheit für die ausgebeuteten Völker der Welt entzündet habe. Sie habe Sklaven zu Helden gemacht. Das ist die Summe seiner kritischen Analyse. Die Stimme Gottes, die in ihr sprach, sei nichts anderes gewesen als ihr revolutionäres Bewusstsein, das sie gedrängt habe, den Kolonialisten Widerstand zu leisten. Es kann nicht die eigentliche Stimme Gottes sein, denn Michel ist zu dem Schluss gekommen, dass Gott tot ist. Vielleicht warst du dir all dieser Dinge gar nicht bewusst, als du die Rolle spieltest?«

Sie fingerte immer noch am Armband herum. »Nun, möglich, dass mir ein paar davon nicht so klar waren«, räumte sie sorglos ein - nur um aufzublicken und abermals seiner granitartigen Missbilligung zu begegnen. »Ach, verdammt!« sagte sie.

»Charlie, ich warne dich: nimm Michel nie mit deinen europäischen Geistreicheleien auf den Arm. Sein Sinn für Humor ist höchst launisch und hört in jedem Fall dort auf, wo die Scherze auf seine Kosten gehen - besonders dann, wenn sie auch noch von Frauen kommen.« Eine Pause, damit die Warnung wirken konnte. »Na, schön. Das Essen ist grauenhaft, aber dir ist das vollkommen gleichgültig. Er hat Steak bestellt, weiß aber nicht, dass du gerade eine deiner vegetarischen Phasen hast. Du isst ein paar Happen, um ihn nicht zu beleidigen. In einem späteren Brief gestehst du ihm, es sei das schlimmste Steak gewesen, das du jemals gegessen hättest, aber auch das beste. Solange er spricht, hast du für nichts anderes Sinn als für seine lebhafte, leidenschaftliche Stimme und sein schönes arabisches Gesicht jenseits der Kerzen. Ja?«

Sie zögerte, lächelte dann. »Ja.«

»Er liebt dich, liebt deine Begabung, liebt die heilige Johanna. ›Für die britischen Kolonialisten war sie eine Verbrecherin‹ , sagt er dir. ›Alle Freiheitskämpfer waren für sie Verbrecher. Das ging auch George Washington, Mahatma Gandhi oder Robin Hood nicht anders. Und den Kämpfern des irischen Freiheitskampfes heute auch nicht.‹ Diese Ideen, die er da zum besten gibt, sind nicht gerade neu, wie du sehr wohl weißt, aber mit seiner inbrünstigen orientalischen Stimme vorgetragen, die so - wie soll man das ausdrücken? - voller animalischer Natürlichkeit ist, üben sie eine hypnotische Wirkung auf dich aus; sie erfüllen die alten Klischees mit neuem Leben, haben etwas von der Wiederentdeckung der Liebe. ›Für die Briten‹ , sagt er zu dir, ›ist jeder, der den Terror der Kolonialisten bekämpft, selbst ein Terrorist. Die Briten sind meine Feinde, alle, bis auf dich. Die Briten haben mein Land an die Zionisten weggegeben und die Juden aus Europa zu uns rübergeschafft mit dem Auftrag, den Osten in den Westen zu verwandeln. Geht hin und zähmt den Nahen Osten für uns, haben sie gesagt. Die Palästinenser taugen nichts, werden aber gute Kulis für euch abgeben. Die alten britischen Kolonisatoren waren müde und geschlagen, deshalb haben sie uns den neuen Kolonisatoren übergeben, die den Eifer und die Rücksichtslosigkeit hatten, den Knoten zu zerschlagen. Wegen der Araber macht euch nur keine Gedanken, sagten die Briten zu ihnen. Wir versprechen euch wegzusehen, wenn ihr euch mit ihnen anlegt. Hör zu! Hörst du auch wirklich zu?«

Jose, wann hätte ich jemals nicht zugehört?

»Heute abend ist Michel ein Prophet für dich. Niemand hat je zuvor die ganze Kraft seines Fanatismus auf dich allein konzentriert. Seine Überzeugung, seine Hingabe an die Sache -all das steht dir, während er spricht, leuchtend vor Augen. Theoretisch gesehen, redet er selbstverständlich auf eine schon Bekehrte ein, doch in Wirklichkeit pflanzt er in den Lumpensack deiner vagen linken Grundsätze das menschliche Herz. Auch das sagst du ihm in einem späteren Brief, gleichgültig, ob man nun ein menschliches Herz in einen Lumpensack pflanzen kann oder nicht. Du möchtest, dass er dich belehrt: Er tut es. Du möchtest, dass er deine britischen Schuldgefühle anspricht: Auch das tut er. Der Zy nismus, mit dem du dich schützt, wird einfach beiseite gefegt. Du fühlst dich wie neu geboren. Wie weit entfernt er ist von deinen immer noch nicht ausgerotteten Mittelklasse-Vorurteilen! Von deinen von Bequemlichkeit geprägten Sympathien für den Westen! Ja?« fragte er leise, als ob sie eine Frage an ihn gerichtet hätte. Sie schüttelte den Kopf, und schon ließ er sich wieder von der geborgten Leidenschaft seines arabischen Stellvertreters beflügeln.

»Er übersieht vollkommen, dass du theoretisch bereits auf seiner Seite stehst; er verlangt deine vollständige Identifizierung mit seiner Sache, eine neue Bekehrung. Er wirft dir Statistiken an den Kopf, als ob du persönlich für sie verantwortlich wärst. Seit 1948 über zwei Millionen christliche und moslemische Araber aus ihrer Heimat vertrieben und ihrer Bürgerrechte beraubt. Ihre Häuser und Dörfer niedergewalzt - er sagt dir, wie viele genau - nennt dir die Dunam-Zahl - ein Dunam sind tausend Quadratmeter. Du fragst danach, und er sagt es dir. Und als sie ins Exil kommen, schlachten ihre arabischen Brüder sie ab und behandeln sie wie den Abschaum der Menschheit, und die Israelis bombardieren und beschießen ihre Flüchtlingslager, weil sie nicht aufhören, sich zu wehren. Denn man ist ein Terrorist, wenn man sich dagegen wehrt, enteignet zu werden, wohingegen Siedlungen zu errichten, Flüchtlinge zu bombardieren und ein Volk zu dezimieren leider politische Notwendigkeiten sind. Weil zehntausend tote Araber nicht soviel wert sind wie ein toter Jude. Hör zu!« Er lehnte sich über den Tisch und packte ihre Hand. »Es gibt keinen liberalen Europäer, der zögern würde, gegen die Ungerechtigkeiten in Chile, Südafrika, Polen, Argentinien, Kambodscha, im Iran, Nord-Irland und an anderen Unruheherden zu sprechen, die gerade Mode sind.« Sein Griff wurde fester. »Wer aber bringt den schlichten Mut auf, laut den grausamsten Witz der Weltgeschichte auszusprechen: dass dreißig Jahre Israel die Palästinenser zu den neuen Juden auf Erden gemacht haben? Weißt du, wie die Zionisten mein Land beschrieben haben, ehe sie sich seiner bemächtigten: ›Ein Land ohne Menschen für Menschen ohne Land.‹Es gab uns überhaupt nicht. In Gedanken hatten die Zionisten längst Völkermord begangen; es galt, ihn nur noch in die Tat umzusetzen. Und ihr, die Briten, ihr wart die Baumeister dieser großen Vision. Weißt du, wie Israel entstand? Dadurch, dass eine europäische Macht einer jüdischen Lobby arabisches Gebiet zum Geschenk machte. Und nicht einen einzigen Bewohner dieses Gebietes deshalb fragte. Und diese Macht war Großbritannien. Soll ich dir beschreiben, wie Israel entstanden ist?... Ist es spät? Bist du müde? Musst du zurück in dein Hotel?«

Sie gab ihm die Antworten, die er hören wollte, und fand immer noch die Zeit, sich insgeheim über die Widersprüche eines Mannes zu wundern, der mit so vielen seiner miteinander im Widerstreit liegenden Schatten tanzen konnte und nicht die Balance verlor. Eine Kerze brannte zwischen ihnen. Man hatte sie in eine schmierige schwarze Flasche gestellt; sie wurde immer wieder von einem alten trunkenen Nachtfalter angegriffen, den Charlie gelegentlich mit dem Handrücken fortscheuchte, so dass ihr Armband aufblinkte. Während Joseph seine Geschichte um Charlie herum weiterspann, beobachtete sie im Schein der Kerze, wie sein kräftiges, beherrschtes Gesicht mit dem Michels abwechselte - wie zwei auf einer Fotoplatte übereinanderliegende Bilder.

»Hör zu. Hörst du überhaupt zu?«

Jose, ich höre. Michel, ich höre.

»Ich wurde als Kind einer patriarchalischen Familie in einem Dorf nicht weit von der Stadt Khalil entfernt geboren, die die Juden Hebron nennen.« Er hielt inne, die glühenden Augen eindringlich auf sie gerichtet. »Khalil«, wiederholte er. »Präg dir diesen Namen ein, denn er ist aus verschiedenen Gründen für mich von größter Wichtigkeit. Also: Khalil. Wiederhole ihn!«

Sie sagte es. Khalil.

»Khalil ist ein großes Zentrum des reinen islamischen Glaubens. Auf arabisch bedeutet es soviel wie ›Freund Gottes«. Die Bewohner von Khalil oder Hebron stellen die Elite Palästinas dar. Jetzt erzähle ich dir einen kleinen Witz, über den du sehr lachen wirst. Es gibt eine Überlieferung, derzufolge der einzige Ort, von dem die Juden niemals vertrieben wurden, der Berg Hebron südlich der Stadt ist. Es ist also gut möglich, dass ich jüdisches Blut in den Adern habe. Trotzdem schäme ich mich nicht.

Ich bin kein Anti-Semit, sondern nur ein Anti-Zionist. Glaubst du mir?«

Er wartete die Bestätigung gar nicht erst ab; das brauchte er auch nicht.

»Ich war der jüngste von vier Brüdern und zwei Schwestern. Alle bestellten die Äcker, mein Vater war der mukhtar oder das Oberhaupt, das von den weisen Ältesten gewählt wird. Unser Dorf war berühmt für seine Feigen und Trauben, seine Kämpfer und für seine Frauen, die genauso schön und gehorsam sind, wie du es bist. Die meisten Dörfer sind nur für eine Sache berühmt. Das unsere war für viele Dinge berühmt.« »Natürlich«, murmelte sie. Doch er war weit davon entfernt, sich auf den Arm genommen zu fühlen.

»Am berühmtesten aber war es für die weisen Ratschläge meines Vaters, der glaubte, dass die Moslems zusammen mit Christen und Juden eine einzige Gesellschaft bilden sollten, genauso, wie ihre Propheten im Himmel einträchtig unter einem Gott zusammenleben. Ich spreche sehr viel über meinen Vater, meine Familie und mein Dorf mit dir. Jetzt und auch später. Mein Vater bewunderte die Juden. Er hatte sich mit dem Zionismus beschäftigt und holte sie gern in unser Dorf, um sich mit ihnen zu unterhalten. Meine älteren Brüder mussten Hebräisch lernen. Als Kind hörte ich abends den Männern zu, wenn sie Lieder von alten Kriegen sangen. Tagsüber brachte ich das Pferd meines Großvaters zur Tränke und hörte die Berichte der Reisenden und Hausierer. Wenn ich dir dieses Paradies beschreibe, klingt das in deinen Ohren wie reine Poesie. Ich kann das. Ich habe die Gabe. Wie wir auf unserem Dorfplatz den dabke tanzten und dem oud lauschten, während die alten Männer Tricktrack spielten und ihre narjeels rauchten.«

Das Wort sagte ihr nichts, aber sie war klug genug, ihn nicht zu unterbrechen.

»In Wirklichkeit, das gebe ich dir gegenüber freimütig zu, erinnere ich mich nur an wenige solcher Dinge. In Wirklichkeit tue ich nichts weiter, als die Erinnerungen der Alten weiterzugeben; so werden unsere Traditionen in den Lagern lebendig gehalten. Je mehr Generationen wegsterben, desto mehr müssen wir unsere Heimat in den Erinnerungen derer erleben, die vor uns gewesen sind. Die Zionisten werden sagen, wir hätten keine Kultur gehabt, ja, es hätte uns überhaupt nicht gegeben. Sie werden dir sagen, wir wären heruntergekommen, hätten in Lehmhütten gehaust und seien in stinkenden Lumpen herumgelaufen. Sie werden dir Wort für Wort sagen, was früher von den Antisemiten in Europa über die Juden gesagt wurde. Die Wahrheit ist in beiden Fällen dieselbe: Wir waren ein edles Volk.« Ein Kopfnicken im Dunkeln deutete an, dass seine beiden Identitäten sich darüber einig waren.

»Ich beschreibe dir unser Leben als Bauern und die vielen komplizierten Systeme, mit deren Hilfe das Gemeinwesen in unserem Dorf aufrechterhalten wurde. Die Traubenernte, wie das ganze Dorf auf Befehl des mukhtars, meines Vaters, gemeinsam auf die Rebfelder hinauszog. Wie meine älteren Brüder zunächst eine Schule besuchten, die ihr Briten während der Mandatszeit gegründet hattet. Du wirst lachen, aber mein Vater hat auch an die Briten geglaubt. Wie der Kaffee im Gästehaus unseres Dorfes zu jeder Stunde des Tages warm gehalten wurden, damit niemand jemals von uns sagen könnte: ›Dieses Dorf ist zu arm, diese Leute sind Fremden gegenüber nicht gastfreundlich.‹ Du möchtest wissen, was mit dem Pferd meines Großvaters geschehen ist? Er hat es für ein Gewehr verkauft, damit er auf die Zionisten schießen konnte, als sie unser Dorf angriffen. Statt dessen erschossen die Zionisten meinen Großvater. Sie zwangen meinen Vater, dabeizustehen und zuzusehen. Meinen Vater, der an sie geglaubt hatte.«

»Ist das auch wahr?«

»Selbstverständlich.«

Freilich konnte sie nie sagen, ob es nun Joseph war, der antwortete, oder Michel; und sie wusste, dass er das auch gar nicht wollte.

»Ich spreche vom 48er Krieg als von der ›Katastrophe‹ -niemals vom Krieg, sondern von der Katastrophe. In der Katastrophe von ‘48, sage ich dir, trat die vernichtende Schwäche einer friedfertigen Gesellschaft zutage. Wir hatten keine Organisationen, wir konnten uns nicht gegen den bewaffneten Aggressor zur Wehr setzen. Unsere Kultur wurde in kleinen Gemeinschaften gepflegt, von denen jede in sich vollständig und abgeschlossen war. Das gleiche trifft auf unsere Wirtschaft zu. Doch wie den europäischen Juden vor dem Holocaust, fehlte uns die politische Einheit, und das war unser Verhängnis. Viel zu oft kam es vor, dass die Gemeinwesen sich gegenseitig bekämpften, doch das ist der Fluch der Araber und vielleicht auch der Juden überall auf der Welt. Weißt du, was sie mit meinem Dorf gemacht haben, diese Zionisten? Weil wir nicht fliehen wollten wie unsere Nachbarn?«

Sie wusste, dass sie es nicht wusste. Doch das war auch nicht weiter wichtig; er achtete ohnehin nicht auf sie.

»Sie machten Fassbomben, die sie mit Benzin und mit Sprengstoffen füllten, ließen sie den Hügel hinunterrollen und steckten unsere Frauen und Kinder in Brand. Ich könnte dir eine ganze Woche lang davon erzählen, nur von den Qualen, die sie meinem Volk angetan haben. Hände abgehackt, Frauen vergewaltigt und verbrannt, Kinder geblendet.«

Nochmals stellte sie ihn auf die Probe, wollte sie herausfinden, ob er das selbst glaubte, doch wollte er ihr außer einem höchst feierlichen Gesichtsausdruck, der zu jeder seiner Naturen gepasst hätte, keinen Anhaltspunkt geben.

»Ich flüstere dir die Worte Deir Yassin zu. Hast du sie zuvor gehört? Weißt du, was sie bedeuten?«

Nein, Michel, ich habe sie noch nie gehört.

Das schien ihn zu erfreuen. »Dann frag mich jetzt: Was bedeutet Deir Yassin

Sie tat es. Bitte, Herr, was bedeutet Deir Yassin?

»Wieder antworte ich dir, als ob ich es gestern mit eigenen Augen gesehen hätte. Am 9. April 1948 wurden in dem kleinen arabischen Dorf Deir Yassin zweihundertvierundfünfzig Dorfbewohner - Greise, Frauen und Kinder - von zionistischen Terrorkommandos niedergemetzelt, während die jungen Männer bei der Feldarbeit waren. Schwangeren Frauen wurden die ungeborenen Kinder im Leib umgebracht. Die meisten Leichen wurden in einen Brunnen geworfen. Es dauerte nur wenige Tage, und nahezu eine halbe Million Palästinenser war aus ihrer Heimat geflohen. Das Dorf meines Vaters bildete eine Ausnahme. ›Wir werden bleiben‹ , sagte er. ›Wenn wir in die Verbannung gehen, lassen uns die Zionisten nie wieder zurückkehren.‹ Er glaubte sogar, ihr Briten würdet wiederkommen, um uns zu retten. Er hat nicht begriffen, dass euer imperialistischer Ehrgeiz darauf ausgerichtet war, im Herzen des Nahen Ostens einen gehorsamen westlichen Verbündeten sich einnisten zu lassen.«

Sie spürte seinen Blick und fragte sich, ob ihm bewusst sei, dass sie sich innerlich zurückgezogen hatte, oder ob er entschlossen war, das nicht zur Kenntnis zu nehmen. Erst hinterher ging ihr auf, dass er sie absichtlich ermunterte, sich von ihm abzuwenden und ins gegnerische Lager überzugehen.

»Noch fast zwanzig Jahre nach der Katastrophe klammerte sich mein Vater an das, was von unserem Dorf noch übrig geblieben war. Einige schimpften ihn einen Kollaborateur. Sie hatten keine Ahnung. Sie hatten nie den zionistischen Stiefel im Genick gehabt. Überall um uns herum in den benachbarten Gebieten wurden die Menschen vertrieben, geschlagen, verhaftet. Die Zionisten nahmen ihnen ihr Land weg, machten ihre Häuser mit Bulldozern dem Erdboden gleich und bauten auf ihnen neue Siedlungen, in denen kein Araber leben durfte. Aber mein Vater war ein Mann des Friedens und der Weisheit, und eine Zeitlang hielt er die Zionisten von unserer Haustür fern.«

Wieder wollte sie ihn fragen: Ist das wahr? Doch wieder kam sie zu spät.

»Aber als im 67er-Krieg die Panzer auf unser Dorf zurollten, da flohen auch wir über den Jordan. Tränen in den Augen, rief mein Vater uns zusammen und befahl uns, unsere Habseligkeiten zusammenzusuchen. ›Die Pogrome werden jeden Augenblick losgehen‹ , sagte er. Ich fragte ihn - ich, der Kleinste, der keine Ahnung hatte: ›Vater, was ist ein Pogrom?‹ Und er erwiderte: ›Das, was die Europäer den Juden angetan haben, tun uns jetzt die Zionisten an. Sie haben einen großen Sieg errungen, und sie könnten es sich leisten, großmütig zu sein. Aber in ihrer Politik ist von dieser Tugend nichts zu spüren.‹ Bis zu meinem Tode werde ich nie vergessen, wie mein stolzer Vater die elende Hütte betrat, die von nun an unser Zuhause sein sollte. Lange stand er auf der Schwelle und wartete darauf, dass er die Kraft fände, sie zu überschreiten. Er weinte nicht, wohl aber saß er tagelang auf einer Kiste mit seinen Büchern und rührte kein Essen an. Ich glaube, in diesen Tagen ist er um zwanzig Jahre gealtert. ›Ich habe mein Grab betreten‹ , sagte er. ›Diese Hütte ist mein Grab.‹ Vom Augenblick unserer Ankunft in Jordanien an waren wir staatenlos, hatten wir keine Papiere, keine Rechte, keine Zukunft und keine Arbeit mehr. Meine Schule? Eine Blechhütte, bis zur Decke voll mit fetten Fliegen und unterernährten Kindern. Die Fatah ist mein Lehrer. Es gibt so viel zu lernen. Wie man schießt. Wie man gegen den zionistischen Aggressor kämpft.«

Er sprach nicht weiter, und zuerst dachte sie, er lächelte sie an, doch war sein Gesichtsausdruck alles andere als fröhlich. »›Ich kämpfe, also bin ich‹ «, verkündete er gelassen. »Weißt du, von wem dieses Wort stammt? Von einem Zionisten, einem friedliebenden patriotischen, idealistischen Zionisten, der mit terroristischen Methoden viele Briten und viele Palästinenser umgebracht hat. Da er aber ein Zionist ist, ist er kein Terrorist, sondern ein Held und ein Patriot. Soll ich dir sagen, wer er war, als er diese Worte sprach, dieser friedliebende, zivilisierte Zionist? Er war der Premierminister eines Landes, das sie Israel nennen. Und weißt du, wo er herkam, dieser terroristische zionistische Premierminister? Aus Polen. Kannst du mir bitte sagen - eine gebildete Engländerin einem schlichten staatenlosen Bauern -, kannst du mir bitte sagen, wie es kommen konnte, dass ein Pole der Herrscher über meine Heimat Palästina wurde, ein Pole, der nur ist, weil er kämpft? Kannst du mir bitte erklären, nach welchem Prinzip des englischen Rechts, der englischen Unparteilichkeit und des englischen fair play dieser Mann dazu kommt, über mein Land zu herrschen? Und uns Terroristen zu schimpfen?«

Die Frage war ihr entschlüpft, ehe sie Zeit hatte, sie sich genau zu überlegen. Sie hatte sie nicht als Herausforderung gemeint. Sie kam ganz von selbst, tauchte aus dem Chaos empor, das er in ihr anrichtete: »Ja, kannst du es denn?«

Er antwortete nicht, aber er ging ihrer Frage auch nicht aus dem Wege. Er nahm sie an. Einen Augenblick hatte sie das Gefühl, er hätte sie erwartet. Dann lachte er, kein besonders nettes Lachen, griff nach seinem Glas und prostete ihr zu. »Bring einen Trinkspruch auf mich aus«, befahl er. »Komm! Erheb dem Glas. Die Geschichte gehört den Siegern. Hast du diese einfache Tatsache vergessen? Trink mit mir!« Zweifelnd hob sie ihm ihr Glas entgegen.

»Auf das kleine, tapfere Israel!« sagte er. »Auf sein erstaunliches Überleben dank einer amerikanischen Finanzhilfe von sieben Millionen Dollar pro Tag und dank der Tatsache, dass das gesamte Pentagon nach Israels Pfeife tanzt.« Ohne zu trinken, setzte er das Glas wieder ab. Sie tat das gleiche. Zu ihrer Erleichterung schien das Melodrama mit dieser Geste vorläufig vorüber zu sein. »Und du, Charlie, hörst zu. Fassungslos. Überwältigt. Von seiner Romantik, seiner Schönheit, seinem Fanatismus. Er kennt keine Zurückhaltung. Keine westlichen Hemmungen. Haut es hin - oder stößt das Gewebe deiner Phantasie das beunruhigende Transplantat ab?« Sie nahm seine Hand. »Und sein Englisch reicht für all das aus, ja?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen.

»Sein Wortschatz ist mit Jargon und einem eindrucksvollen Anteil schön klingender Phrasen, fragwürdiger Statistiken und gequälter Zitate überfrachtet. Trotzdem geht von ihm die Begeisterung eines jungen und leidenschaftlichen, aber auch entgegenkommenden Wesens aus.«

»Und was macht Charlie die ganze Zeit über? Ich sitze einfach da, nicht wahr, gucke dumm und lese ihm jedes Wort von den Lippen ab? Ermuntere ich ihn? Was mache ich?«

»Laut Textvorlage ist das, was du machst, praktisch bedeutungslos. Michel hypnotisiert dich fast über die Kerze hinweg. So beschreibst du es ihm später in einem deiner Briefe. ›Mein Lebtag werde ich nicht Dein bezauberndes Gesicht über dem Kerzenlicht vergessen - an jenem ersten Abend, den wir zusammen verbrachten.‹ Ist das für deinen Geschmack zu dick aufgetragen? Allzu kitschig?« Sie gab seine Hand frei. »Was für Briefe? Woher bekommen wir denn die ganze Zeit über Briefe?«

»Einigen wir uns zunächst darüber, dass du ihm später schreiben wirst. Aber ich frage noch mal - ist das spielbar, haut das hin? Oder sollen wir den Autor erschießen und nach Hause gehen?«

Sie trank einen Schluck Wein. Dann noch einen. »Es ist stimmig. Bis jetzt lässt es sich spielen.«

»Und der Brief - nicht zuviel des Guten - du kannst damit leben?« »Wenn man es nicht alles in einem Liebesbrief raushängen kann - wo dann?«

»Ausgezeichnet. Dann schreibst du ihm so, und so läuft das Stück bis jetzt auch ab. Bis auf eine Kleinigkeit. Dass dies nicht dein erstes Zusammentreffen mit Michel ist.«

Alles andere als bühnenwirksam stellte sie ihr Glas mit einem Ruck hin.

Eine neue Erregung hatte sich seiner bemächtigt: »Hör zu«, sagte er, lehnte sich vor, und das Kerzenlicht fiel auf seine gebräunten Schläfen wie Sonnenstrahlen auf einen Helm. »Hör zu«, wiederholte er. »Hörst du mir zu?« Aber wieder wartete er ihre Antwort nicht ab. »Ein Zitat. Von einem französischen Philosophen. Das größte Verbrechen besteht darin, nichts zu tun, weil wir befürchten, dass wir nur wenig bewirken können. Klingelt da nichts bei dir?«

»Mein Gott!« sagte Charlie leise und kreuzte unwillkürlich die Arme vor der Brust, wie um sich zu schützen. »Soll ich fortfahren?« Er tat es ohnehin. »Erinnert dich das nicht an jemand? Es gibt nur einen Klassenkampf, und zwar den zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten, den Kapitalisten und den Ausgebeuteten. Unsere Aufgabe ist es, den Krieg unter diejenigen zu tragen, die ihn machen. Unter die rassistischen Millionäre, die die Dritte Welt als Selbstbedienungsladen betrachten. Unter die korrupten, durch Öl reich gewordenen Scheichs, die das Geburtsrecht der Araber verkauft haben.« Er hielt inne, bemerkte, wie ihr Kopf zwischen die Hände gesunken war.

»Hör auf, Jose«, flüsterte sie. »Das ist zuviel. Geh nach Hause.«

»Unter die imperialistischen Kriegstreiber, die die zionistischen Aggressoren mit Waffen versorgen. Unter die hirnlose westliche Bourgeoisie, die, ohne es zu wissen, selber Sklaven, Fortsetzer des eigenen Systems sind.« Das war kaum noch ein Flüstern, aber seine Stimme klang gerade deswegen um so eindringlicher. »Die Welt sagt uns, wir sollen keine unschuldigen Frauen und Kinder angreifen. Aber ich sage euch, so etwas wie Unschuld gibt es gar nicht mehr. Für jedes Kind, das in der Dritten Welt vor Hunger stirbt, gibt es im Westen ein Kind, das ihm seine Nahrung gestohlen hat...«

»Hör auf«, wiederholte sie durch die Finger hindurch: jetzt war sie sich des Bodens, auf dem sie stand, nur allzu sicher. »Es reicht. Ich geb’ auf.«

Doch er fuhr unbeirrt fort: »Mit sechs wurde ich aus unserem Land vertrieben. Mit acht schloss ich mich der Ashbal an. - Was ist die Ashbal, bitte? - Komm, Charlie, das war deine Frage. Warst du es nicht, die diese Frage gestellt - die die Hand hochgehoben hat? - ›Was ist die Ashbal, bitte?‹ Und was habe ich geantwortet?«

»Kinder-Miliz«, sagte sie, das Gesicht immer noch in den Händen. »Mir wird’s gleich schlecht, Jose. Jetzt.«

»Mit zehn kauerte ich in einem selbstgebauten Schutzraum, während die Syrer unser Lager mit Raketen belegten. Als ich fünfzehn war, kamen meine Mutter und meine Schwester bei einem zionistischen Bombenangriff ums Leben. Fahr bitte fort, Charlie - beende du meine Lebensgeschichte für mich.«

Sie hatte wieder seine Hand ergriffen - diesmal mit beiden Händen - und schlug sie sanft voller Vorwurf gegen die Tischplatte.

»Wenn Kinder bombardiert werden können, können sie auch kämpfen«, erinnerte er sie. »Und wenn sie Siedlungen anlegen? Was dann? Mach schon!«

»Dann müssen sie getötet werden«, murmelte sie widerstrebend.

»Und wenn ihre Mütter sie nähren und lehren, uns unsere Häuser wegzunehmen und unser Volk im Exil zu bombardieren?« »Dann stehen ihre Mütter mit ihren Männern in vorderster Linie. Jose…«

»Und wie reagieren wir darauf?«

»Dann müssen auch sie getötet werden. Aber ich habe ihm damals nicht geglaubt, und ich glaube ihm auch heute nicht.« Er überhörte ihren Einwand. Er beteuerte ihr seine ewige Liebe. »Hör zu! Während ich dich auf dem Wochenendseminar mit meiner Botschaft begeisterte, sah ich durch die Augenschlitze in meinem schwarzen Kopfschützer, wie du mir dein hingerissenes Gesicht zuwandtest. Dein rotes Haar. Deine markanten, revolutionären Züge. Ist es nicht merkwürdig, dass bei unserer ersten Begegnung ich es war, der auf der Bühne stand, und du unter den Zuschauern saßest?«

»Ich war hingerissen! Ich hielt dich für vollkommen übergeschnappt und war drauf und dran, dir das auch zu sagen!«

Er ließ sich nicht beirren. »Was immer du damals empfunden hast - hier, in dem Nottinghamer Motel, wirst du unter meinem hypnotischen Einfluss augenblicklich anderen Sinnes: Zwar hättest du mein Gesicht nicht sehen können, sagst du, aber meine Worte hätten sich für immer in dein Gedächtnis eingebrannt. Warum nicht?... Komm, Charlie! So steht es in deinem Brief an mich!«

Sie ließ sich nicht vereinnahmen. Noch nicht. Zum ersten Mal, seit Josephs Geschichte begonnen hatte, war Michel unversehens zu einem selbständigen, lebendigen Wesen geworden. Bis zu diesem Augenblick, so wurde ihr klar, hatte sie ihren imaginären Liebhaber unwillkürlich mit Josephs Zügen ausgestattet, mit Josephs Stimme, um seine Tiraden zu charakterisieren. Plötzlich jedoch waren die beiden Männer wie eine Zelle, die sich teilte, waren sie zwei unabhängige und miteinander im Widerstreit liegende Wesen, und Michel hatte in der Wirklichkeit ein Eigenleben bekommen. Sie sah den unausgefegten Vortragssaal mit dem sich aufrollenden Mao-Foto und den zerkratzten Schulbänken wieder vor sich. Sie sah die Reihen von höchst unterschiedlichen Köpfen, vom Afro- Look bis zur Jesus-Frisur und zurück, sah Al im Zustand alkoholisierten Überdrusses zusammengesackt neben sich sitzen. Und auf dem Podium sah sie die einsame, unergründliche Gestalt unseres tapferen Vertreters aus Palästina, kleiner als Joseph und vielleicht auch ein wenig gedrungener, obwohl das schwer zu sagen war, denn er war in seine schwarze Maske und die formlose Khaki-Bluse und das schwarz-weiß gemusterte kaffiyeh gehüllt. Aber jünger- das zweifellos - und fanatischer. Sie erinnerte sich an seine fischähnlichen Lippen, ausdruckslos innerhalb ihrer zottigen Umrandung. Sie erinnerte sich an das rote Taschentuch, das er sich trotzig um den Hals geschlungen hatte, und an die behandschuhten Hände, mit denen er zu seinen Worten gestikulierte. Am deutlichsten jedoch erinnerte sie sich an seine Sprechweise - nicht kehlig, wie sie erwartet hatte, sondern bedächtig und gepflegt, in makabrem Widerspruch zu seiner blutrünstigen Botschaft. Aber ebenfalls nicht Josephs Stimme. Sie erinnerte sich, wie er - ganz anders als Joseph - innehielt, um einen unbeholfenen Satz neu zu formulieren, oder sich um grammatikalische Korrektheit bemühte: »Gewehr und Rü Imperialist ist, wer uns in unserem revolutionären Kampf nicht beisteht…nichts zu tun heißt der Ungerechtigkeit Vorschub leisten...«

»Ich habe dich sofort geliebt«, erklärte Joseph im selben Ton, so als erinnerte er sich wirklich. »Zumindest sage ich dir das jetzt. Gleich, nachdem der Vortrag zu Ende war, habe ich mich erkundigt, wer du seist, aber ich brachte es nicht über mich, dich vor so vielen Menschen anzusprechen. Außerdem war mir bewusst, dass ich dir mein Gesicht nicht zeigen konnte, und das ist immerhin einer meiner größten Aktivposten. Ich beschloss daher, dich im Theater ausfindig zu machen. Ich zog Erkundigungen ein und verfolgte deine Spur bis nach Nottingham. Hier bin ich. Ich liebe dich unendlich, gezeichnet: Michel.«

Als gelte es, sie zu entschädigen, gab Joseph sich betont um ihr Wohlergehen besorgt, schenkte ihr nach, bestellte Kaffee -nicht zu süß, wie du ihn magst. Ob sie sich frisch machen wolle? Nein, danke, es geht mir gut. Das Fernsehen zeigte in den Nachrichten ausgiebig einen grinsenden Politiker, wie er die Gangway eines Flugzeuges herunterkam. Ohne dass ein Missgeschick passierte, schaffte er die letzte Stufe.

Nachdem er sein Soll an Fürsorge erfüllt hatte, sah Joseph sich bedeutsam in der Taverne um, richtete den Blick dann auf Charlie, und seine Stimme war plötzlich ganz aufs Praktische gerichtet. »Ja, also, Charlie. Du bist seine Johanna, seine Liebe. Er ist ganz besessen von dir. Die Bedienung ist nach Hause gegangen, wir beide sitzen ganz allein im Speisesaal. Dein unmaskierter Verehrer und du. Es ist nach Mitternacht, und ich habe viel zu lange geredet, obwohl ich kaum angefangen habe, dir zu sagen, wie es in meinem Herzen aussieht, oder dich nach dir, die ich unvergleichlich liebe, zu fragen, das ist eine ganz neue Erfahrung für mich, und so weiter und so fort. Morgen ist Sonntag, du hast keinerlei Verpflichtungen. Ich habe ein Zimmer im Motel genommen. Ich mache nicht den Versuch, dich zu überreden. Das ist nicht meine Art. Vielleicht habe ich auch zu große Hochachtung vor deiner Würde. Oder vielleicht bin ich auch zu stolz, um anzunehmen, dass man dich überreden müsse. Entweder, du kommst als Kampfgefährtin zu mir, als jemand, der wahrhaft und frei liebt, Soldat zu Soldat - oder du tust es nicht. Wie reagierst du? Wirst du plötzlich ungeduldig und willst ins Astral Commercial and Private Hotel in der Nähe des Bahnhofs zurück?«

Sie starrte ihn an, dann wandte sie den Blick ab. Ihr lag ein halbes Dutzend witziger Antworten auf der Zunge, doch sie unterdrückte sie. Die mit der Kapuze verhüllte völlig isolierte Gestalt an dem Wochenendseminar war plötzlich wieder etwas Abstraktes für sie. Joseph, nicht der Fremde, hatte die Frage gestellt. Was sollte sie schon sagen, da sie in ihrer Vorstellung doch bereits zusammen im Bett lagen, Josephs Kopf mit dem kurz geschnittenen Haar auf ihrer Schulter ruhte, Josephs kräftiger, narbenbedeckter Körper neben ihr ausgestreckt war und sie versuchte, seine wahre Natur aus ihm herauszuholen? »Schließlich, Charlie - du selbst hast es uns erzählt -, bist du mit vielen Männern für weniger ins Bett gegangen, würde ich meinen.«

»Oh, für wesentlich weniger«, pflichtete sie ihm bei und interessierte sich plötzlich für den Salzstreuer aus Plastik.

»Du trägst seinen teuren Schmuck. Du bist allein in einer trostlosen Stadt. Es regnet. Er hat dich verzaubert - hat der Schauspielerin geschmeichelt und die Revolutionärin begeistert. Wie könntest du ihm einen Korb geben?«

»Mich auch noch zum Essen ausgeführt«, erinnerte sie ihn. »Selbst wenn ich grade kein Fleisch aß.«

»Es ist alles, was eine gelangweilte Europäerin sich erträumen könnte, oder?«

»Jose, um Himmels willen«, flüsterte sie, nicht einmal imstande, ihn anzusehen.

»Also dann«, sagte er munter und schnippte nach der Rechnung. »Gratuliere. Du bist also endlich deinem Seelenfreund begegnet.« Eine geheimnisvolle Brutalität machte sich plötzlich in seinem Verhalten bemerkbar. Sie hatte das lächerliche Gefühl, dass ihre Einwilligung ihn geärgert hatte. Sie beobachtete, wie er bezahlte, sah ihn die Rechnung einstecken. Hinter ihm trat sie in die Nachtluft hinaus. Ich bin das doppelt-versprochene Mädchen, dachte sie.

Wenn du Joseph liebst, nimm Michel. Er hat mich an sein Phantom im Theater der Wirklichkeit verkuppelt.

»Im Bett vertraut er dir an, dass er in Wirklichkeit Salim heißt, aber das ist ein großes Geheimnis«, sagte Joseph wie beiläufig, als sie ins Auto stiegen. »Er zieht Michel vor. Teils aus Sicherheitsgründen, teils weil er schon leicht in die europäische Dekadenz verliebt ist.«

»Salim gefällt mir besser.« »Aber du sagst Michel zu ihm.«

Genau, was auch immer ihr alle sagt, dachte sie. Doch ihre Passivität war trügerisch, sogar für sie selbst. Sie spürte, wie Empörung sich in ihr regte, noch tief unten, aber höher, immer höher stieg.

Das Motel sah aus wie ein niedriger Fabrikbau. Zuerst fanden sie keinen Platz zum Parken; dann rumpelte ein weißer Volkswagenbus ein Stück voran, um ihnen Platz zu machen, und flüchtig sah sie die Gestalt von Dimitri am Steuer. Die Orchideen an sich gedrückt, wie Joseph es ihr aufgetragen hatte, wartete sie, während er seinen roten Blazer überzog, um ihm dann - allerdings zögernd und auf Distanz bedacht - über den Asphalt zum Eingang zu folgen. Joseph trug außer ihrer Schultertasche auch noch seine elegante schwarze Reisetasche. Gib her, das ist meine. In der Halle sah sie aus dem Augenwinkel Raoul und Rachel unter der schaurigen Leuchtröhre stehen und Anschläge über Touren für morgen studieren. Sie funkelte sie an. Joseph ging zur Rezeption, und jetzt kam sie näher, um zuzusehen, wie er sich eintrug, obwohl er ihr eingeschärft hatte, es nicht zu tun. Arabischer Name, Staatsbürgerschaft libanesisch, Adresse eine Apartment-Nummer in Beirut. Sein Benehmen herablassend: ein Mann von Rang, bereit, jederzeit beleidigt zu sein. Du bist gut, dachte sie trübsinnig und versuchte, ihn zu hassen. Keine überflüssigen Gesten, aber viel Stil; du machst dir die Rolle zu eigen. Der gelangweilte Nachtportier bedachte sie mit einem lüsternen Blick, zeigte aber nicht die Respektlosigkeit, die ihr vertraut war. Der Hausdiener lud ihr Gepäck auf einen riesigen Klinik-Rollwagen. Ich trage einen blauen Kaftan und ein Goldarmband und Wäsche von Persephone, München; der erste Bauer, der mich ein Flittchen nennt, kann was erleben! Joseph nahm ihren Arm, und seine Hand versengte ihre Haut. Sie machte sich von ihm frei. Zieh Leine! Unter den leisen Klängen gregorianischen Gesangs folgten sie ihrem Gepäck durch einen grauen Tunnel vorüber an pastellfarben gestrichenen Türen. Ihr Schlafzimmer war grande luxe: das heißt, französisches Bett und steril wie ein Operationssaal. »Himmel!« platzte sie heraus und starrte mit wütender Feindseligkeit um sich. Der Hausdiener drehte sich erstaunt nach ihr um, doch sie ignorierte ihn. Sie entdeckte eine Schale Obst, einen Eiskübel, zwei Gläser und eine Flasche Wodka, die neben dem Bett standen. Eine Vase für die Orchideen. Sie stopfte sie hinein. Joseph gab dem Diener ein Trinkgeld, der Rollwagen quietschte zum Abschied, und plötzlich waren sie allein - mit einem Bett, so groß wie ein Fußballplatz, zwei gerahmten Kohlezeichnungen von minoischen Stieren, die die geschmackvolle erotische Atmosphäre lieferten, und einem Balkon mit verbautem Blick auf den Parkplatz. Charlie nahm die Wodka-Flasche aus dem Kühler, schenkte sich ein großes Glas ein und ließ sich auf den Bettrand fallen.

»Prost, alter Junge«, sagte sie.

Joseph stand noch und beobachtete sie ausdruckslos. »Prost, Charlie«, erwiderte er, obwohl er kein Glas hatte. »So, und was machen wir jetzt? Monopoly spielen? Oder ist dies die große Szene, für die wir uns Eintrittskarten gekauft haben?« Sie wurde lauter. »Ich mein’, wer zum Teufel sind wir denn hier? Nur zu meiner Information? Wer? Richtig? Nur wer?« »Du weißt sehr gut, wer wir sind, Charlie. Wir sind ein Liebespaar, das seine Hochzeitsreise in Griechenland genießt.« »Ich dachte, wir wären in einem Motel in Nottingham?«

»Wir spielen beide Szenen gleichzeitig. Ich dachte, das wäre dir klar. Wir stellen die Vergangenheit und die Gegenwart her.« »Weil wir so wenig Zeit haben.« »Sagen wir: weil Menschenleben auf dem Spiel stehen.«

Sie nahm noch einen Schluck Wodka, und ihre Hand zitterte nicht im geringsten; das tat ihre Hand nie, wenn die schwarze Stimmung sie packte. »Jüdische Menschenleben«, korrigierte sie ihn.

»Gibt es da einen Unterschied zu anderen Menschenleben?« »Das würde ich aber verdammt noch mal doch sagen! Himmel! Ich meine, Kissinger kann die armen Scheiß-Kambodschaner bombardieren bis zum Gehtnichtmehr. Kein Mensch rührt einen Finger. Die Israelis können aus den Palästinensern Hackfleisch machen, sooft sie wollen. Wenn aber in Frankfurt oder sonst wo ein paar Rabbis hochgehen, dann ist das eine echte, erstklassige erlesene internationale Katastrophe, hab’ ich nicht recht?«

Sie starrte an ihm vorbei auf irgendeinen imaginären Feind, doch aus den Augenwinkeln sah sie, dass er einen entschlossenen Schritt auf sie zu machte, und einen strahlenden Augenblick lang meinte sie tatsächlich, er werde ihr die Qual der Wahl endgültig abnehmen. Doch statt dessen ging er an ihr vorüber ans Fenster und machte die Balkontür auf, vielleicht, weil er das Dröhnen des Verkehrs brauchte, um ihre Stimme damit zu übertönen.

»Katastrophen sind es alle«, erwiderte er ungerührt und blickte hinaus. »Frag mich, was die Bewohner von Kiryat Shmonah für Gefühle bewegen, wenn die palästinensischen Granaten runterkommen. Frag die Kibbuzim, wie ihnen beim Heulen der Katyusha-Raketen zumute ist - immer vierzig auf einmal -, wenn sie ihre Kinder in die Unterstände bringen und so tun, als wäre alles nur ein Spiel.« Er sprach nicht weiter und seufzte irgendwie gelangweilt, als hätte er seine eigenen Argumente schon hundertmal gehört.

»Trotzdem«, fügte er dann in zweckmäßigem Ton hinzu, »wenn du das nächste mal mit diesem Argument kommst, solltest du meines Erachtens dabei bedenken, dass Kissinger Jude ist. Auch das hat einen Platz in Michels unterentwickeltem politischen Vokabular.«

Sie presste die Knöchel in den Mund und entdeckte, dass sie weinte. Er kam zu ihr und setzte sich neben sie aufs Bett, und sie wartete darauf, dass er den Arm um sie legte und ihr etwas vernünftigere Argumente lieferte oder sie einfach nahm, was ihr am liebsten gewesen wäre. Doch er tat nichts dergleichen. Er war willens, sie ihrer Trauer zu überlassen, bis sie sich nach und nach einbildete, dass er irgendwie mit ihr gleichziehe und sie jetzt gemeinsam trauerten. Mehr als alle Worte schien sein Schweigen dem, was sie tun mussten, etwas an Schärfe zu nehmen. Eine Ewigkeit blieben sie so Seite an Seite, bis sie ihr Schluchzen in einem tiefen, erschöpften Seufzer ausklingen ließ. Doch selbst dann bewegte er sich noch nicht - nicht auf sie zu, nicht von ihr weg.

»Jose«, flüsterte sie verloren und nahm noch einmal seine Hand. »Wer, zum Teufel, bist du? Was fühlst du in all diesen verwirrten Stacheldrahtknäueln?«

Sie hob den Kopf und horchte auf die Geräusche von anderen Leben in den angrenzenden Räumen. Das quengelige Gegreine eines Kindes, das nicht einschlafen konnte. Ein schriller Ehestreit. Sie hörte Schritte vom Balkon und blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, dass Rachel, mit einem Trainingsanzug aus Frottee, mit Schwammbeutel und Thermosflasche bewaffnet, über die Schwelle in das Zimmer trat.

Wach und zu erschöpft, um Schlaf zu finden, lag sie da. So wie dies war Nottingham nie. Von nebenan hörte man, wie gedämpft telefoniert wurde, und sie meinte, seine Stimme zu erkennen. Sie lag in Michels Armen. Sie lag in Josephs Armen. Sie sehnte sich nach Al. Sie war in Nottingham mit der Liebe ihres Lebens, war sicher in ihrem eigenen Bett, daheim in Camden, war in dem Zimmer, das ihre Scheiß-Mutter immer noch Kinderzimmer nannte. Sie lag da, wie sie als Kind dagelegen hatte, nachdem ihr Pferd sie abgeworfen hatte, verfolgte den Film ihres Lebens und erforschte ihren Geist, so wie sie vorsichtig ihren Körper erforscht, jedes Teil einzeln abgetastet und nach irgendwelchen Schäden gesucht hatte. Meilenweit von ihr entfernt, auf der anderen Seite des Bettes, lag Rachel und las im Schein einer winzigen Lampe eine Taschenbuchausgabe von Thomas Hardy.

»Wen hat er eigentlich, Rachel?« sagte sie. »Wer stopft ihm die Socken und macht ihm seine Pfeifen sauber?« »Warum fragst du ihn nicht selbst, meine Liebe?«

»Du etwa?«

»Das würde nicht klappen, meinst du nicht auch? Jedenfalls nicht für länger.« Charlie döste, versuchte aber immer noch dahinter zu kommen, wer er eigentlich sei. »Er war ein Kämpfer«, sagte sie.

»Der beste«, sagte Rachel voller Genugtuung. »Ist es immer noch.«

»Und wie hat er sich dann seine Kämpfe ausgesucht?«

»Man hat sie für ihn ausgesucht, nicht wahr?« sagte Rachel, immer noch in ihr Buch versunken.

Charlie versuchte einen Vorstoß: »Er hat ja wohl mal eine Frau gehabt. Was ist mir ihr geschehen?« »Tut mir leid, meine Liebe«, sagte Rachel.

»›Ist sie von selbst abgesprungen, oder hat jemand nachgeholfen?‹ fragt man sich unwillkürlich«, grübelte Charlie, ohne sich durch die Abfuhr irritieren zu lassen. »Ich kann mir schon vorstellen, dass man so weit kommt. Die Ärmste, sie musste ja an die sechs Chamäleons auf einmal sein, bloß um eine Busfahrt mit ihm zu machen.« Eine Zeitlang lag sie still da.

»Wie kommt es denn, dass du dich auf diese Sache eingelassen hast, Rachel?« fragte sie, und zu ihrer Überraschung legte sich Rachel das Buch auf den Bauch und erzählte es ihr. Ihre Eltern seien orthodoxe Juden aus Pommern, sagte sie. Nach dem Krieg hätten sie sich in Macclesfield niedergelassen und wären in der Textilbranche reich geworden. »Filialen auf dem Kontinent und ein Penthouse in Jerusalem«, sagte sie unbeeindruckt. Ihr Wunsch sei es gewesen, dass Rachel nach Oxford ging und dann in das Familienunternehmen eintrat, doch habe sie lieber die Bibel und jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität studiert.

»Es ist einfach passiert«, erwiderte sie, als Charlie nicht lockerließ und sie nach dem nächsten Schritt fragte.

Aber wie? Charlie ließ sich damit nicht abspeisen. Warum? »Wer hat dich ausgesucht, Rachel, und was sagen sie dann?« Rachel sagte ihr nicht, wie oder wer, wohl aber, warum. Sie kenne Europa und sie kenne den Antisemitismus, sagte sie. Und außerdem habe sie diesen überheblichen kleinen Sabra-Kriegshelden an der Universität zeigen wollen, dass sie genauso gut für Israel kämpfen könne wie irgendein junger Mann.

»Und was ist mit Rose?« fragte Charlie auf gut Glück. Bei Rose sei das kompliziert, entgegnete Rachel, als ob das bei ihr nicht der Fall wäre. Rose sei in Südafrika bei der Zionistischen Jugend gewesen, nach Israel gekommen und habe dann nicht gewusst, ob sie nicht doch hätte bleiben und gegen die Apartheid kämpfen sollen. »Sie strengt sich noch mehr an als andere, weil sie nicht weiß, was sie eigentlich tun soll«, erklärte Rachel und wandte sich dann mit einer Entschlossenheit, die jede weitere Diskussion ausschloss, wieder ihrem Bürgermeister von Casterbridge zu.

Ideale im Überfluss, dachte Charlie. Noch vor zwei Tagen hatte ich keine. Sie überlegte, ob sie denn jetzt welche hätte. Frag mich morgen früh. Eine Zeitlang schwelgte sie schläfrig in Schlagzeilen: BERÜHMTE PHANTASTIN BEGEGNET WIRKLICHKEIT.- JOHANNA VON ORLEANS VERBRENNT PALÄSTINENSISCHEN AKTIVISTEN. - Gut, Charlie, ja, gute Nacht.

Beckers Zimmer lag ein paar Schritte weiter den Korridor hinunter und hatte zwei Einzelbetten, das war das Äußerste, womit das Hotel bereit war, anzuerkennen, dass jemand allein war. Er lag auf einem Bett und starrte auf das andere, das Telefon auf einem Tischchen dazwischen. In zehn Minuten war es halb zwei, und halb zwei war der Zeitpunkt. Der Nachtportier hatte sein Trinkgeld eingesteckt und versprochen, den Anruf durchzustellen. Er war hellwach, wie oft um diese Stunde. Zu klarsichtig, um zu denken, und zu langsam, um wieder herunterzukommen. Alles präsent zu haben und zu vergessen, was dahinter steckt. Oder was nicht. Das Telefon klingelte auf die Minute genau, und sofort begrüßte ihn Kurtz’ Stimme. Wo ist er? fragte sich Becker. Er hörte im Hintergrund Musik vom Band und schloss richtig auf ein Hotel. Deutschland, fiel ihm ein. Ein Hotel in Deutschland spricht mit einem Hotel in Delphi. Kurtz sprach englisch, weil das weniger verdächtig war, und er sprach betont nachlässig, damit ein Mithörer, was zwar nicht wahrscheinlich war, aber möglich, nicht plötzlich aufhorchte. Ja, alles sei in Ordnung, versicherte ihm Becker; das Geschäft mache sich gut, er sähe im Augenblick keinerlei Fallstricke. Was ist mit dem jüngsten Erzeugnis? fragte er.

»Das mit der Zusammenarbeit klappt ganz ausgezeichnet«, versicherte Kurtz ihm in dem übertriebenen Ton, mit dem er seine weit verstreuten Truppen aufmunterte. »Gehen Sie nur zum Lager, sobald Sie wollen, Sie werden von dem Produkt bestimmt nicht enttäuscht sein. Und noch was.«

Becker führte in der Regel seine Telefongespräche mit Kurtz nicht zu Ende, und Kurtz auch nicht mit ihm. Es war schon eine sonderbare Sache zwischen ihnen, dass beide miteinander wetteiferten, der erste zu sein, der den anderen los wurde. Diesmal jedoch hörte Kurtz ihn bis zu Ende an und Becker Kurtz. Doch als er den Hörer auflegte, erblickte Becker seine attraktiven Züge im Spiegel und starrte sie voller Abscheu an. Einen Augenblick lang erschienen sie ihm voller falscher Versprechungen, und er hatte den morbiden und überwältigenden Wunsch, sie für immer auszulöschen: Wer, zum Teufel, bist du?... Was fühlst du? Er ging näher an den Spiegel heran. Ich habe das Gefühl, als betrachtete ich einen toten Freund und hoffte, er würde wieder lebendig. Ich habe das Gefühl, als hielte ich - ohne Erfolg - in einem anderen nach meinen alten Hoffnungen Ausschau. Ich habe das Gefühl, als wäre ich - wie du - Schauspieler und umgäbe mich mit anderen Formen meiner Identität, weil mir das Original unterwegs irgendwie abhanden gekommen ist. Aber in Wahrheit fühle ich gar nichts, denn echtes Gefühl ist zerstörerisch und widerspricht der militärischen Zucht. Deshalb fühle ich nicht, sondern ich kämpfe, und ergo bin ich. Er ging ungeduldig durch die Stadt, mit weit ausholenden Schritten, und hatte unbewegt vor sich hin gesehen, als ob Gehen ihn langweilte und die Entfernung wie immer zu kurz sei. Es war eine Stadt, die auf einen Angriff wartete, und er hatte im Laufe von zwanzig oder mehr Jahren zu viele Städte in diesem Zustand erlebt. Die Menschen waren von den Straßen geflüchtet; kein Kind war zu hören. Legt die Häuser in Schutt und Asche. Schießt auf alles, was sich bewegt. Von ihren Besitzern verlassen, standen die Ausflugsbusse und Autos da, und Gott allein wusste, wann sie sie wiedersehen würden. Gelegentlich glitt sein Blick rasch in eine offene Toreinfahrt oder den Eingang zu einer unbeleuchteten Gasse, aber immer auf der Hut zu sein, war ihm zur zweiten Natur geworden, und er verlangsamte den Schritt nicht. Als er zu einer Seitenstraße kam, hob er den Kopf, um den Namen zu lesen, lief aber auch hier rasch weiter, ehe er eilends in einen Bauplatz einbog. Zwischen den hoch aufgeschichteten Backsteinhaufen war ein bunt bemalter Kleinbus abgestellt. Daneben standen schief die Pfähle einer Wäscheleine, mit der zehn Meter Antennendraht getarnt worden waren. Die Tür ging auf, ein Pistolenlauf richtete sich auf sein Gesicht, als ob ein Auge ihn scharf anblickte, verschwand dann. Eine respektvolle Stimme sagte »Schalom!« Er stieg ein und schloss die Tür hinter sich. Die Musik übertönte das unregelmäßige Geratter des kleinen Fernschreibers nicht ganz. David, der ihn schon in der Villa in Athen bedient hatte, hockte dahinter; zwei von Litvaks jungen Männern leisteten ihm Gesellschaft. Becker nickte nur flüchtig, setzte sich auf die gepolsterte Bank und machte sich an die Lektüre des dicken Packens von Fernschreiben, die schon für ihn bereitgelegt worden waren.

Die jungen Männer betrachteten ihn voller Hochachtung. Er spürte geradezu, wie sie begierig seine Ordensspangen zählten; wahrscheinlich wussten sie über seine Heldentaten besser Bescheid als er selbst.

»Sie sieht gut aus, Gadi«, sagte der Mutigere von den beiden. Becker ging nicht darauf ein. Manchmal strich er einen Absatz an der Seite an, manchmal unterstrich er ein Datum. Als er fertig war, reichte er den jungen Leuten den Packen und ließ sich von ihnen abfragen, bis er überzeugt war, dass er sich alles genau eingeprägt hatte.

Wieder draußen vor dem Caravan, blieb er wider Willen vor dem Fenster stehen und hörte, wie sie sich mit fröhlichen Stimmen über ihn unterhielten. »Die Krähe hat ihm einen Direktorenposten nur für ihn allein verschafft; er leitet irgendeine große Textilfabrik in der Nähe von Haifa«, sagte der Mutige.

»Toll«, sagte der andere. »Also gehen wir in Pension und lassen uns von Gavron zu Millionären machen.«


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