Kapitel 24
Sie kam am späten Nachmittag mit dem Flugzeug in Zürich an. Sturmlichter säumten die Landebahn und leuchteten vor ihr auf wie der Pfad, der sie dem bewusst gewählten Ziel entgegenführte. Verzweifelt hatte sie versucht, ihre Gedanken zu sammeln, doch hatte sie das Gefühl, dass sie nur eine Zusammenballung ihrer alten Frustrationen waren, gereift und auf die heruntergekommene Welt gerichtet. Jetzt wußte sie einfach, dass nichts, aber auch gar nichts Gutes an ihr war; jetzt hatte sie mit eigenen Augen die Todesqualen gesehen, die der Preis für den westlichen Überfluss waren. Sie war die, die sie immer gewesen war: eine Ausgestoßene, die sich wütend wehrte; nur mit dem Unterschied, dass die Kalaschnikow ihre nutzlosen Koller ersetzt hatte. Die Sturmlichter schossen wie brennende Wrackteile an ihrem Fenster vorüber. Die Maschine setzte auf. Allerdings stand auf ihrem Ticket Amsterdam, und theoretisch würde sie erst später landen. Alleinreisende Mädchen, die aus dem Nahen Osten zurückkehren, sind verdächtig, hatte Tayeh ihr bei ihrer letzten Einsatzbesprechung in Beirut gesagt. Unsere erste Aufgabe ist es, Sie mit einer respektableren Herkunft auszustatten. Fatmeh, die gekommen war, um sie zum Flugplatz zu bringen, hatte es weniger allgemein ausgedrückt: »Khalil hat befohlen, dass du bei deiner Ankunft eine neue Identität annimmst.«
Beim Betreten der völlig leeren Transithalle hatte sie das Gefühl, die erste Pionierin zu sein, die je ihren Fuß hierhersetzte. Musik vom Band lief ab, doch es war niemand da, der sie hörte. In einem eleganten Geschäft wurden Schokoladenbären und Käse feilgeboten, doch es war leer. Sie ging aufs Klo und unterzog ihr Aussehen einer eingehenden Musterung. Ihr Haar war zu einem Bubikopf geschnitten und undefinierbar braun gefärbt. Tayeh selbst war in der Beiruter Wohnung umhergehumpelt, als Fatmeh ihr Schlachtfest veranstaltet hatte. Kein Make-up, kein Sexappeal, hatte er befohlen. Sie trug ein schweres braunes Kostüm und eine leicht astigmatische Brille, durch die sie linste. Jetzt brauche ich nur noch einen Canotier und einen Blazer mit Wappen darauf, dachte sie. Sie hatte sich schon verdammt weit entfernt von Michels revolutionärer poule de luxe.
Grüß Khalil herzlich von mir, hatte Fatmeh beim Abschiedskuss zu ihr gesagt. Am Nachbarwaschbecken stand Rachel, doch Charlie sah einfach durch sie hindurch. Sie mochte sie nicht und kannte sie auch nicht; und es war auch reiner Zufall, dass ihre offene Handtasche zwischen ihnen stand, ihr Päckchen Marlboros obendrauf, so, wie Joseph sie instruiert hatte. Und sie sah auch weder Rachels Hand, als sie die Marlboros gegen ein Päckchen ihrer eigenen austauschte, noch nahm sie im Spiegel ihr rasches aufmunterndes Zwinkern wahr.
Ich habe nur dieses Leben und kein anderes. Ich liebe niemand außer Michel und bin niemand Treue schuldig außer dem großen Khalil.
Setzen Sie sich so nah an die Tafel mit den Abflügen heran, wie Sie können, hatte Tayeh befohlen. Sie tat es und holte aus dem kleinen Koffer ein Buch über Alpenpflanzen, das so groß und dünn war wie ein College-Jahrbuch. Sie schlug es auf und legte es sich so auf den Schoß, dass man den Titel sehen konnte. Sie trug einen runden Button mit der Aufschrift: »Rettet die Wale«, und das sei das zweite Zeichen, hatte Tayeh gesagt; denn von jetzt an verlange Khalil, dass alles doppelt zu sein und zu geschehen habe: zwei Pläne, zwei Erkennungszeichen, bei allem eine zweite Möglichkeit, falls die erste fehlschlägt; eine zweite Kugel für den Fall, dass die Welt noch lebt.
Khalil traut beim ersten Mal niemand, hatte Joseph gesagt. Aber Joseph war tot und begraben, ein abgelegter Prophet ihrer Jugend. Sie war Michels Witwe und Tayehs Soldat und war gekommen, in die Armee des Bruders ihres toten Geliebten einzutreten. Ein Schweizer Soldat musterte sie, ein älterer Mann, der mit einer Heckler & Koch-Maschinenpistole bewaffnet war. Charlie blätterte um. Hecklers waren ihre Lieblingswaffen. Beim letzten Übungsschießen hatte sie von hundert Schuss vierundachtzig in den Pappkameraden hineingejagt. Das war Bestleistung, nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass er sie noch immer betrachtete. Voller Zorn kam ihr ein Gedanke. Mit dir mach’ ich, was Bubi mal in Venezuela gemacht hat, dachte sie. Bubi hatte den Auftrag erhalten, einen bestimmten faschistischen Polizeibeamten zu erschießen; wenn dieser morgens aus seinem Haus kam, eine sehr günstige Zeit. Bubi versteckte sich im Eingang und wartete. Die Zielperson trug eine Pistole unterm Arm, war aber auch ein Familienmann, der ständig mit seinen Kindern herumtobte. Als er auf die Straße hinaustrat, holte Bubi einen Ball aus der Tasche und warf ihn so, dass er die Straße hinunter auf den Mann zusprang. Ein Gummiball für Kinder - welcher Familienvater würde sich nicht automatisch bücken, um ihn aufzufangen? Sobald der Polizeibeamte das tat, trat Bubi aus dem Hauseingang und schoss ihn tot. Denn wer kann eine Waffe abfeuern, wenn er einen Gummiball auffängt?
Jemand versuchte, sie anzusprechen. Pfeifenraucher, schweinslederne Schuhe, graue Flanellhose. Sie spürte, wie er unschlüssig stehen blieb und dann auf sie zukam.
»Verzeihung«, sagte er. »Sprechen Sie vielleicht Englisch?« Standardausgabe, englische Mittelklasse, Chauvi, blond, um die Fünfzig und dicklich. Gab vor, sich zu entschuldigen. Nein, tu’ ich nicht, wollte sie zu ihm sagen; ich seh’ mir bloß die Bilder an. Diesen Typ hasste sie so sehr, dass sie sich ums Haar übergeben hätte. Sie funkelte ihn an, doch er ließ sich nicht so leicht abweisen, wie alle diese Typen.
»Es ist nur, dass es hier so entsetzlich trostlos ist«, erklärte er. »Ich dachte, vielleicht hätten Sie Lust, etwas mit mir zu trinken? Ohne Hintergedanken. Würde Ihnen bestimmt gut tun.«
Sie sagte, nein, vielen Dank. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte gesagt: »Mein Daddy sagt, ich darf nicht mit Fremden sprechen.« Nach einer Weile schob er entrüstet ab, suchte nach einem Polizisten, um sie zu verpfeifen. Sie selbst wandte sich wieder der Betrachtung des gemeinen Edelweiß zu und lauschte, wie die Halle sich füllte. Ein Paar Füße nach dem anderen. An ihr vorüber zum Käseladen. An ihr vorüber zur Bar. Auf sie zu. Und halt. »Imogen? Du kennst mich doch. Sabine.«
Aufblicken. Pause, bis das Wiedererkennen dämmert. Lustiges Schweizer Kopftuch, um den undefinierbar braun gefärbten Bubikopf zu verbergen. Keine Brille, doch wenn Sabine eine aufsetzen würde wie die, die ich habe, könnte jeder schlechte Fotograf Zwillinge aus uns machen. Sie hatte eine große Tragetasche mit dem Aufdruck »Franz Carl Weber, Zürich« in der Hand, und das war das zweite Erkennungszeichen.
»Himmel, Sabine! Das bist ja du!«
Aufstehen. Sich förmlich einen flüchtigen Kuss auf die Wange geben. So ein Zufall! Wohin willst du denn?
Doch leider fliegt Sabines Maschine gleich. Welch ein Jammer, dass wir uns nicht zusammenhocken und nach Herzenslust einen Weiberklatsch halten können, aber so ist das Leben nun mal, oder? Sabine legt die Tragetasche Charlie vor die Füße. Hab mal eben ein Auge drauf für mich, ja? - Klar, mach’ ich, Sabs. Sabine verschwindet in ›Damen‹. Dreist in der Tasche herumschnüffelnd, als gehörte sie ihr, zieht Charlie einen lustig bedruckten Umschlag mit einem Band darum heraus, ertastet die Umrisse eines Passes und eines Flugscheins darin. Tauscht beides glatt gegen ihren eigenen irischen Paß, den Flugschein und die Transitkarte aus. Sabine kommt wieder, schnappt sich die Tragetasche, muss mich beeilen, rechter Ausgang. Charlie zählt bis zwanzig und geht noch mal aufs Klo, wo sie sich diesmal richtig hinhockt. Baastrup, Imogen, Südafrika, liest sie. Geboren in Johannesburg, drei Jahre und einen Monat nach mir. Ankunft Stuttgart in einer Stunde zwanzig Minuten. Leb wohl, irisches Mädchen, willkommen unsere abgebrühte kleine christliche Rassistin aus dem Busch, die Anspruch auf ihr Erbe als Weiße erhebt. Als sie aus ›Damen‹ herauskam, stellte sie fest, dass der Soldat sie immer noch ansah. Er hat alles gesehen. Er ist drauf und dran, mich zu verhaften. Er denkt, ich hab’ Dünnschiß, und weiß nicht, wie nahe er der Wahrheit damit kommt. Sie starrte ihn ihrerseits an, bis er sich trollte. Er wollte bloß was zum Begucken, dachte sie und zog ihr Buch über Alpenblumen noch einmal heraus. Der Flug schien fünf Minuten zu dauern. Ein überfälliger Christbaum stand in der Ankunftshalle des Stuttgarter Flughafens. Es herrschte eine Atmosphäre allgemeiner Familiengeschäftigkeit, alle wollten nach Hause. Charlie stellte sich mit dem südafrikanischen Paß an, sah sich auf einem Plakat die Fahndungsfotos von Terroristinnen an und hatte das unbehagliche Gefühl, gleich ihrem eigenen Abbild zu begegnen. Ohne mit der Wimper zu zucken, passierte sie die Paßkontrolle. Als sie auf den Ausgang zuging, sah sie Rose, ihre südafrikanische Landsmännin, halb schlafend auf einen Rucksack gefläzt, aber Rose war für sie genauso tot wie Joseph und unsichtbar wie Rachel. Die automatischen Türen gingen auf, ein Wirbel von Schneeflocken schlug ihr ins Gesicht. Sie stellte den Mantelkragen hoch und eilte über den breiten Bürgersteig zum Parkhaus hinüber. Vierter Stock, hatte Tayeh gesagt; ganz hinten links; halten Sie nach einem Fuchsschwanz an der Antenne Ausschau. Folglich hatte sie sich eine weite ausgefahrene Antenne mit einem brandroten Fuchsschwanz oben dran vorgestellt, doch dieser Fuchsschwanz war eine schüttere Nylonimitation an einer Spirale und lag mausetot auf dem kleinen Dach des Volkswagens.
»Ich bin Saul. Und wie heißt du, Schätzchen?« sagte ganz in ihrer Nähe eine Männerstimme leise auf amerikanisch. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte sie, Arthur J. Halloran alias Abdul sei auferstanden, um sie heimzusuchen; als sie jedoch um den Pfeiler herumspähte, war sie erleichtert, als sie einen ziemlich normal aussehenden jungen Mann an der Wand lehnen sah. Lange Haare, Freizeitstiefel, frisches, träges Lächeln. Und einen »Rettet die Wale«-Button an der Windjacke wie sie. »Imogen«, antwortete sie, weil Tayeh ihr gesagt hatte, sich auf den Namen Saul einzustellen. »Mach die Kühlerhaube auf, Imogen. Und stell deinen Koffer rein. Und jetzt blick dich um. Vergewissere dich, ob dich jemand beobachtet hat. Ist dir irgend jemand verdächtig?« Sie ließ den Blick gemächlich prüfend durch die Parkhausetage wandern. Im Fahrerhaus eines Bedford-Kastenwagens, der mit verrückten Gänseblümchen übersät war, waren Raoul und ein Mädchen, das sie nicht richtig erkennen konnte, auf dem besten Weg zum Orgasmus. »Niemand«, sagte sie. Saul machte die Tür zum Beifahrersitz für sie auf.
»Und schnall dich bitte an, Schätzchen«, sagte er, als er neben ihr einstieg. »In diesem Land ist das Vorschrift, okay? Wo bist du denn gewesen, Imogen? Wo hast du dir denn diese Bräune geholt?«
Doch kleine Witwen, die auf Mord aus sind, lassen sich nicht auf banales Geplauder mit Fremden ein. Achselzuckend stellte Saul das Radio an und hörte sich die deutschen Nachrichten an. Der Schnee machte alles schön und ließ die Autos vorsichtig fahren. Sie fuhren durch das Durcheinander und fädelten sich dann in den Verkehr auf einer zweispurigen Landstraße ein. Dicke Flocken rasten auf ihre Scheinwerfer zu. Die Nachrichten waren vorbei, und eine Frauenstimme sagte ein Konzert an.
»Was dagegen, Imogen? Ist klassische Musik.«
Er ließ es trotzdem an. Mozart aus Salzburg, wo Charlie zu müde gewesen war, um mit Michel in der Nacht vor seinem Tod zu schlafen.
Sie fuhren am Rand der Helligkeitsglocke entlang, die über der Stadt lag, und die Schneeflocken tanzten darin wie schwarze Asche. Sie fuhren eine Kleeblattauffahrt hinauf, und unter ihnen, auf einem umzäunten Spielplatz, machten Kinder in roten Anoraks im Licht von Bogenlampen eine Schneeballschlacht. Ihr fiel ihre Gruppe in England ein - es war eine Ewigkeit her! Ich tue es für sie, dachte sie. Irgendwie hatte Michel das geglaubt. Irgendwie tun wir das alle. Alle bis auf Halloran, der aufgehört hatte zu begreifen, worum es eigentlich ging. Wieso musste sie immerzu an ihn denken? fragte sie sich. Weil er zweifelte, und gerade Zweifel hatte sie am meisten zu fürchten gelernt. Zweifeln heißt Verrat begehen, hatte Tayeh sie gewarnt.
Joseph hatte ungefähr das gleiche gesagt. Sie waren in ein ganz anderes Land hineingefahren: Ihre Straße wurde zu einem schwarzen Strom, der durch Canons aus weißen Feldern und schneebeladenen Wäldern hindurchführte. Sie verlor das Zeitgefühl, dann das Gefühl für Größenverhältnisse. Sie sah Traumschlösser und die Umrisse von Miniaturdörfern, die sich wie bei einer Spielzeugeisenbahn vom blassen Himmel abhoben. Die Spielzeugkirchen mit den Zwiebeltürmen weckten in ihr das Bedürfnis zu beten, doch war sie schon zu erwachsen für sie; außerdem war Religion ohnehin nur was für Schwächlinge. Sie sah zitternde Ponys an Heuballen zupfen, und eins nach dem anderen fielen ihr die Ponys ihrer Kindheit wieder ein. Jedes Mal, wenn etwas Schönes an ihr vorüberzog, flog ihr Herz ihm zu, sie versuchte, sich daran festzuhalten und das Tempo zu bremsen. Doch nichts blieb, nichts hinterließ einen dauernden Eindruck in ihr; die Dinge waren Atemhauch auf blankgeputztem Glas. Gelegentlich wurden sie von einem Auto überholt; einmal zog ein Motorrad in hoher Geschwindigkeit an ihnen vorüber, und sie meinte, den sich immer weiter entfernenden Rücken von Dimitri zu erkennen, doch befand er sich bereits außerhalb der Reichweite ihrer Scheinwerfer, ehe sie sich ganz sicher war.
Sie fuhren eine Bergkuppe hinauf, und Saul gab Gas. Sie fuhren nach links, überquerten eine Straße, dann wieder rechts, rumpelten einen Feldweg hinunter. Gefällte Bäume lagen links und rechts davon, wie erfrorene Soldaten in einer russischen Wochenschau. In der Ferne machte Charlie allmählich ein geschwärztes altes Haus mit hohen Schornsteinen aus, und einen Moment erinnerte es sie an das Haus in Athen. Raserei, nennt man das so? Saul hielt an und blinkte zweimal mit der Lichthupe. Eine Taschenlampe blinkte eine Antwort, offenbar aus der Mitte des Hauses heraus. Saul warf einen Blick auf die Armbanduhr und zählte leise die Sekunden. »Neun -zehn -jetzt«, sagte er, und in der Ferne blinkte nochmals das Licht auf. Er lehnte sich über sie hinüber und stieß die Tür für sie auf.
»So, weiter bring’ ich dich jetzt nicht, Schätzchen«, sagte er. »Die Unterhaltung war hochinteressant. Frieden, okay?« Den Koffer in der Hand, wählte sie eine Fahrspur im Schnee und ging auf das Haus zu. Nur der bleiche Schimmer des Schnees und Streifen von Mondlicht zwischen den Bäumen wiesen ihr den Weg. Als das Haus näher kam, erkannte sie einen alten Glockenturm ohne Uhr und einen zugefrorenen Teich, ohne Statue auf dem Sockel. Unter einem hölzernen Schutzdach blinkte ein Motorrad. Plötzlich hörte sie, wie eine vertraute Stimme sie verschwörerisch gedämpft ansprach. »Imogen, pass auf das Dach auf. Wenn dich ein Ziegel trifft, bist du mausetot. Imogen - ach, Charlie - das ist zu albern!« Gleich darauf hatte sich eine kräftige Gestalt aus dem Schatten des Vorbaus gelöst, um sie zu umarmen, die Taschenlampe und die automatische Pistole behinderten sie dabei nur leicht.
Von einer Flut lächerlicher Dankbarkeit gepackt, erwiderte Charlie Helgas Umarmung. »Helg - Himmel - du bist das -phantastisch!«
Im Licht der Taschenlampe geleitete Helga sie über den Marmorboden der Halle, bei dem die Hälfte der Steine schon herausgerissen war, dann vorsichtig eine geländerlose, gefährlich sich neigende Holztreppe hinauf. Das Haus starb, doch irgend jemand musste versucht haben, seinen Tod noch zu beschleunigen. Die weinenden Wände waren in roter Farbe mit Parolen beschmiert, Türgriffe und Lampenanschlüsse herausgerissen worden. Feindselige Abwehr gewann wieder die Oberhand, und Charlie versuchte, Helga die Hand zu entziehen, doch die hielt sie gepackt, als gehörte sie ihr. Sie durchquerten eine Flucht leerstehender Räume, von denen ein jeder groß genug war, um ein Bankett darin zu veranstalten. Im ersten stand ein zerschlagener Kachelofen, der mit Zeitungen vollgestopft war. Im zweiten eine Handdruckpresse; sie war völlig verstaubt und der Boden rings herum knöchelhoch mit den vergilbten Infos und Flugblättern der Revolutionen von gestern bedeckt. Sie betraten einen dritten Raum, und Helga richtete ihre Taschenlampe auf einen Haufen von Aktenordnern und Papieren, die man in einen Alkoven geworfen hatte. »Weißt du, was meine Freundin und ich hier machen, Imogen?« wollte Helga plötzlich mit lauter Stimme wissen. »Meine Freundin ist einfach phantastisch. Sie heißt Verona, und ihr Vater war ein Nazi, wie er im Buche steht. Junker und Industrieller, alles.« Ihr Griff lockerte sich, um sich gleich darauf wieder um Charlies Handgelenk zu schließen. »Er ist gestorben, und jetzt verkaufen wir ihn aus Rache. Die Bäume den Baumvernichtern. Das Land den Landzerstörern. Skulpturen und Möbel an den Flohmarkt. Was fünftausend wert ist, verkaufen wir für fünf. Hier hat der Schreibtisch ihres Vaters gestanden. Den haben wir eigenhändig zerhackt und im Kamin verbrannt. Ein Symbol. Dies hier war das Hauptquartier seiner faschistischen Kampagne - er hat seine Schecks an diesem Schreibtisch unterzeichnet und all seine repressiven Maßnahmen eingeleitet. Wir haben das Ding kaputtgemacht und verbrannt. Jetzt ist Verona frei. Sie ist arm, aber sie ist frei und hat sich den Massen angeschlossen. Ist sie nicht phantastisch? Vielleicht hättest du das auch tun sollen.«
Eine gewundene Dienstbotentreppe führte zu einem langen Korridor hinauf. Helga ging wortlos voran. Über ihnen hörte Charlie Folkmusic und roch die Dämpfe von brennendem Paraffin. Sie gelangten an einen Treppenabsatz, gingen an den Türen etlicher Dienstbotenkammern vorüber und blieben vor der letzten stehen. Unter der Tür sah man einen Lichtstreifen. Helga klopfte und sagte leise etwas auf deutsch. Ein Schlüssel wurde umgedreht, und die Tür ging auf. Helga trat als erste ein und winkte Charlie, ihr zu folgen. »Imogen, das hier ist die Genossin Verona.« Ein leichter Befehlston war in ihre Stimme gekommen. »Vero!«
Ein pummeliges, verwirrt wirkendes Mädchen erwartete sie. Sie trug eine Schürze über weiten schwarzen Hosen, und ihr Haar trug sie geschnitten wie ein Junge. Eine Pistolentasche mit einer Smith & Wessen darin hing über ihrer fetten Hüfte. Verona wischte sich die Hände an der Schürze ab, dann schüttelten sie sich bürgerlich die Hände.
»Vor einem Jahr war Verona genauso faschistisch wie ihr Vater«, verkündete Helga mit der Autorität des Besitzers. »Sklavin und Faschistin in einem. Und jetzt kämpft sie. Stimmt’s, Vero?« Wieder entlassen, verschloss Verona die Tür und zog sich in eine Ecke zurück, wo sie auf einem Camping-Kocher irgend etwas kochte. Charlie fragte sich, ob sie wohl insgeheim vom Schreibtisch ihres Vaters träumte.
»Komm. Schau, wer noch hier ist«, sagte Helga und trieb sie weiter durch den Raum. Charlie blickte sich rasch um. Sie befand sich auf einem großen Dachboden, genau wie der, auf dem sie während der Ferien in Devon unzählige Male gespielt hatte. Die schwache Beleuchtung stammte von einer Ölfunzel, die von einem Dachsparren herunterhing. Vor die Dachfenster hatte man dicke Lagen von Samtvorhängen genagelt. Ein lustiges Schaukelpferd hob an einer Wand die Beine; daneben stand auf einer Staffelei eine Schreibtafel. Ein Straßenplan war darauf gezeichnet, und farbige Pfeile zeigten auf ein großes rechteckiges Gebäude in der Mitte. Auf einem alten Tischtennistisch lagen Reste von Salami, Schwarzbrot und Käse. Vor einem Ölofen hingen Kleidungsstücke für beide Geschlechter zum Trocknen. Die beiden waren vor einer kurzen Holztreppe angelangt, und Helga stieg mit ihr hinauf. Auf dem erhöhten Fußboden lagen zwei Wasserbetten nebeneinander. Auf dem einen, bis zur Hüfte und noch weiter hinunter nackt, lehnte der dunkelhaarige Italiener, der Charlie an jenem Sonntag morgen in der Londoner City mit der Pistole in Schach gehalten hatte. Er hatte sich eine zerfetzte Decke über die Oberschenkel gelegt, und sie bemerkte um ihn herum die auseinander genommenen Teile einer Walther-Automatic, die er gerade reinigte. Ein Transistorradio neben seinem Ellbogen spielte Brahms.
»Und hier haben wir den energiegeladenen Mario«, verkündete Helga mit sarkastischem Stolz und berührte mit dem Zeh seine Genitalien. »Mario, du bist absolut schamlos, weißt du das? Bedeck dich augenblicklich, und begrüße unseren Gast. Ich befehle es dir.« Doch Marios einzige Reaktion bestand darin, sich spielerisch an den Rand des Bettes zu rollen und so zu sich einzuladen, wer immer Lust hätte. »Wie geht’s dem Genossen Tayeh, Charlie?« fragte er dann. »Du musst uns den neuesten Familientratsch erzählen.« Als ein Telefon klingelte, wirkte das wie ein Schrei in einer Kirche - und auf Charlie um so erschreckender, als ihr nie in den Sinn gekommen war, dass sie eines haben könnten. Um Charlies Stimmung zu heben, hatte Helga vorgeschlagen, sie sollten alle auf Charlies Wohl anstoßen und dabei ein bisschen plaudern. Sie hatte Gläser und eine Flasche auf einem Brotbrett balanciert und war gerade dabei, dieses feierlich durch den Raum zu tragen. Doch als sie das Klingeln vernahm, erstarrte sie zur Salzsäule, setzte das Brotbrett auf dem zufällig in der Nähe stehenden Tischtennistisch ab. Rossino stellte das Radio aus. Das Telefon stand allein auf einem kleinen Intarsientischchen, das Verona und Helga noch nicht verfeuert hatten; es war einer jener altmodischen Wandapparate mit extra Hörmuschel. Helga stand daneben, machte jedoch keinerlei Anstalten, den Hörer abzunehmen. Charlie hörte, wie es achtmal laut klingelte, ehe es endlich aufhörte. Helga blieb, wo sie war, und ließ die Augen nicht vom Apparat. Splitterfasernackt marschierte Rossino ungeniert ans andere Ende des Raums und schnappte sich ein Hemd, das auf der Wäscheleine hing.
»Er hat gesagt, er ruft morgen an«, beschwerte er sich, als er sich das Hemd über den Kopf zog. »Was ist denn plötzlich los?«
»Halt den Mund!« fuhr Helga ihn an.
Verona rührte weiter um, was immer sie kochen mochte, nur etwas langsamer vielleicht, als ob Schnelligkeit gefährlich wäre. Sie gehörte zu jenen Frauen, bei denen alle Bewegungen aus den Ellbogen zu kommen scheinen.
Wieder klingelte das Telefon, zweimal, und diesmal hob Helga den Hörer sofort ab, um ihn gleich wieder aufzulegen. Als es dann jedoch wieder klingelte, meldete sie sich mit einem knappen »Ja?« und lauschte, ohne zu nicken und ohne zu lächeln, vielleicht insgesamt zwei Minuten, ehe sie wieder auflegte. »Die Minkels haben ihre Pläne geändert«, verkündete sie. »Die heutige Nacht verbringen sie in Tübingen, wo sie Freunde an der Universität haben. Sie reisen mit vier großen Koffern und vielen kleinen Stücken und einer Aktentasche.« Mit einem sicheren Instinkt für Wirkung nahm sie einen feuchten Lappen aus Veronas Waschbecken und wischte die Tafel sauber. »Die Aktentasche ist schwarz und hat ganz einfache Scharniere. Und der Raum, in dem der Vortrag gehalten werden sollte, ist auch gewechselt worden. Die Polizei ist zwar nicht argwöhnisch, wohl aber nervös. Sie treffen so genannte spürbare Sicherheitsvorkehrungen.«
»Und was ist mit den Bullen?« sagte Rossino.
»Die Polizei möchte die Anzahl der Wachen vergrößern, doch das weist Minkel weit von sich. Er ist sozusagen ein Mann von Grundsätzen. Wenn er über Gesetz und Gerechtigkeit spricht, kann er nicht zulassen, von Geheimpolizei umringt zu sein. Für Imogen hat sich nichts geändert. Ihre Befehle sind immer noch dieselben. Es ist ihr erster Einsatz. Sie wird der Star des Abends sein. Nicht wahr, Charlie?«
Plötzlich waren alle Augen auf sie gerichtet - die von Verona mit hirnloser Starre, die von Rossino mit einem anerkennenden Grinsen und die von Helga mit jener freimütigen Offenheit, der so etwas wie Selbstzweifel wie immer völlig fremd war.
Sie lag flach da und benutzte den Unterarm als Kopfkissen. Ihr Schlafzimmer war nicht die Empore in einer Kirche, sondern eine Dachkammer ohne Licht und Vorhänge. Ihr Lager bestand aus einer alten Rosshaarmatratze und einer nach Kampfer riechenden vergilbten Wolldecke. Helga saß neben ihr und strich ihr mit kräftiger Hand über das gefärbte Haar. Mondlicht drang durch die Dachluke; der Schnee schuf sein eigenes tiefes Schweigen. Hier sollte jemand ein Märchen schreiben. Mein Geliebter sollte das elektrische Kaminfeuer anstellen und mich im Schimmer seiner roten Glut nehmen. Sie war in einer Blockhütte, sicher vor allem außer dem Morgen. »Was ist denn, Charlie? Mach die Augen auf. Magst du mich nicht mehr?«
Sie schlug die Augen auf und starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen oder zu denken.
»Träumst du immer noch von deinem kleinen Palästinenser? Machst du dir Sorgen darüber, was wir hier tun? Möchtest du lieber aufgeben und fortlaufen, solange noch Zeit dazu ist?«
»Ich bin müde.«
»Warum kommst du denn nicht rüber und schläfst mit uns? Wir könnten bumsen. Dann könnten wir schlafen. Mario ist ein klasse Liebhaber.«
Helga beugte sich über sie und küsste sie auf den Hals.
»Oder möchtest du lieber, dass Mario dich allein besucht? Du bist schüchtern? Selbst das erlaube ich dir.« Sie küsste sie nochmals, doch Charlie lag kalt und verkrampft da, ihr Körper wie aus Eisen.
»Morgen Abend wirst du vielleicht weniger abweisend sein. Khalil gegenüber gibt es kein Nein. Er ist schon jetzt fasziniert davon, dich kennen zu lernen. Er hat ausdrücklich dich verlangt. Weißt du, was er einem Freund von uns mal gesagt hat? ›Ohne Frauen würde ich meine menschliche Wärme verlieren und als Soldat versagen. Wer ein guter Soldat sein will, braucht vor allem Menschlichkeit.‹ Vielleicht kannst du dir vorstellen, was für ein großer Mann er ist. Du hast Michel geliebt, deshalb wird er dich lieben. Das ist überhaupt keine Frage. So.«
Helga gab ihr noch einen letzten, ein wenig längeren Kuss und verließ den Raum, und Charlie legte sich auf den Rücken und verfolgte mit weit geöffneten Augen, wie die späte Nacht langsam im Fenster heller wurde. Sie hörte, dass der klagende Schrei einer Frau zu einem flehentlichen, unterdrückten Schluchzen wurde; dann den drängenden Ruf eines Mannes. Helga und Mario trieben die Revolution ohne ihren Beistand weiter. Folge ihnen, wohin sie dich auch führen, hatte Joseph gesagt. Und wenn sie dir befehlen, jemand umzubringen, bring jemand um. Dafür sind wir verantwortlich, nicht du.
Wo wirst du sein?
Nahe.
In der Handtasche hatte sie eine Mickey-Maus-Taschenlampe mit einem winzigen Lichtstrahl, jene Art von Taschenlampe, mit der sie im Internat unter der Bettdecke gespielt hätte.
Zusammen mit Rachels Päckchen Marlboro nahm sie sie heraus. Es waren noch drei Zigaretten übrig, die sie lose wieder zurücksteckte. Vorsichtig, wie Joseph es ihr beigebracht hatte, entfernte sie das Zellophanpapier, riss die Pappe der Schachtel auf und breitete sie flach aus, die Innenseite nach oben. Dann feuchtete sie den Finger an und verrieb sacht den Speichel auf der leeren Pappe. Die Buchstaben wurden in Braun sichtbar, fein gestrichelt wie mit einer Zeichenfeder. Sie las die Botschaft und stopfte das flach zusammengelegte Päckchen in eine Spalte zwischen den Bodendielen, bis sie verschwand und nichts mehr davon zu sehen war.
Mut! Wir sind bei dir! Das ganze Vaterunser auf einem Stecknadelkopf.
Ihre Einsatzzentrale im Freiburger Stadtzentrum war ein Hals über Kopf angemietetes Büro zu ebener Erde in einer lebhaften Hauptstraße, ihre Tarnung die Walker & Frosch Investment Company GmbH, eine der Dutzende von Firmen, die Gavrons Sekretariat ständig eingetragen hielt. Ihre Kommunikationsausrüstung sah mehr oder weniger so aus wie kommerzielle Software; außerdem hatten sie dank Alexis’ Entgegenkommen drei normale Telefone, von denen eines, das am wenigsten offizielle, den direkten Draht des Doktors zu Kurtz darstellte. Es war früher Morgen nach einer aufregenden Nacht, die sie zunächst mit der heiklen Aufgabe verbracht hatten, Charlie aufzuspüren und das Haus zu überwachen; hinterher hatte es noch eine heftig geführte Auseinandersetzung zwischen Litvak und seinem westdeutschen Gegenstück darüber gegeben, wo man sich gegeneinander abgrenzte, denn Litvak geriet mittlerweile mit jedem in Streit. Kurtz und Alexis hatten sich klüglich aus diesem Geplänkel zwischen Untergebenen herausgehalten. Die allgemeine Übereinkunft erwies sich als tragfähig, und Kurtz hatte noch kein Interesse, es zu brechen. Sollten Alexis und seine Leute ruhig den Ruhm einheimsen; Litvak und die seinen würden sich mit der Genugtuung begnügen.
Was Gadi Becker betraf, so war er wieder im Krieg. Da es nun jeden Augenblick losgehen konnte, hatte sein Verhalten etwas gebändigt und entschlossen Behendes. Die Selbstprüfungen, die ihn in Jerusalem heimgesucht hatten, waren gewichen; die nagende Ungewissheit des Wartens war vorbei. Während Kurtz unter einer Armeewolldecke döste und Litvak nervös und völlig erschöpft auf und ab tigerte oder kryptisch in das eine oder andere Telefon sprach und sich in eine unbeschreibliche Laune hineinsteigerte, stand Becker an den Jalousien des breiten Fensters Wache und schaute geduldig hinauf zu den schneeverhüllten Bergen auf der anderen Seite der olivgrünen Dreisam. Denn genauso wie Salzburg, ist auch Freiburg eine von Bergen umringte Stadt, in der jede Straße zu ihrem eigenen Jerusalem hinaufzuführen scheint.
»Sie ist in Panik«, verkündete Litvak Beckers Rücken plötzlich.
Verwirrt drehte Becker sich um und sah ihn an.
»Sie ist zu ihnen übergegangen«, behauptete Litvak. Seine Stimme hatte etwas kehlig Unsicheres.
Becker wandte sich wieder dem Fenster zu. »Ein Teil von ihr ist zu ihnen übergegangen, ein anderer Teil ist bei uns geblieben«, erwiderte er. »Genau darum haben wir sie ja gebeten.«
»Sie ist zu ihnen übergegangen«, wiederholte Litvak und empörte sich mit dem Anschwellen seiner eigenen Provokation. »So was ist bei Agenten schon öfter vorgekommen. Und genau das ist jetzt passiert. Ich hab’ sie am Flugplatz gesehen, ihr nicht. Sie sieht aus wie ein Gespenst, sag’ ich euch.«
»Wenn sie wie ein Gespenst aussieht, will sie so aussehen«, sagte Becker ungerührt. »Sie ist Schauspielerin. Und sie steht es durch.«
»Aber worin sehen Sie ihre Motivation? Sie ist keine Jüdin. Sie ist überhaupt nichts. Sie gehört zu ihnen. Vergessen Sie sie!« Als er hörte, dass Kurtz sich unter seiner Decke rührte, hob Litvak die Stimme, um auch ihn mit einzubeziehen.
»Wenn Sie immer noch zu uns gehört, warum hat sie dann Rachel auf dem Flughafen eine unbeschriebene Zigarettenschachtel gegeben, können Sie mir das sagen? Wochenlang unter diesem Abschaum, und schreibt uns nicht mal ‘ne Zeile, wann sie wieder rauskommt? Was für eine Agentin ist denn das, die uns gegenüber so loyal ist?«
Becker schien in den fernen Bergen nach einer Antwort Ausschau zu halten. »Vielleicht hat sie nichts zu sagen«, sagte er. »Sie erklärt sich mit Taten. Nicht mit Worten.«
Aus den Untiefen seines kargen Feldbetts bot Kurtz verschlafen einen Trost an. »Deutschland macht dich nervös, Shimon. Reg dich ab! Was spielt es schon für eine Rolle, zu wem sie gehört, solange sie uns den Weg zeigt?«
Doch Kurtz ’ Worte bewirkten genau das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte. In seiner selbstquälerischen Stimmung spürte Litvak eine unfaire, gegen ihn gerichtete Allianz, und das brachte ihn noch mehr in Rage.
»Und wenn sie zusammenbricht und ein Geständnis ablegt? Wenn sie ihnen die ganze Geschichte erzählt, von Mykonos bis hierher? Weist sie uns dann immer noch den Weg?«
Offensichtlich war er auf Kollisionskurs aus; nichts passte ihm.
Kurtz richtete sich auf einem Ellbogen auf und schlug einen härteren Ton an. »Was sollen wir denn tun, Shimon? Sag uns die Lösung für das Team. Angenommen, sie ist übergelaufen. Angenommen, sie hat das ganze Unternehmen von vorn bis hinten ausgeplaudert. Willst du, dass ich Misha Gavron anrufe und ihm sag’, dass alles aus ist?«
Becker hatte sich nicht vom Fenster fortbewegt, sich allerdings wieder umgedreht, und er beobachtete Litvak jetzt nachdenklich über den ganzen Raum hinweg. Während er den Blick zwischen den beiden Männern hin und her gehen ließ, warf Litvak die Arme auseinander, eine heftige, wilde Gebärde gegenüber zwei Männern, die sich nicht von der Stelle rührten.
»Irgendwo da draußen steckt er!« rief Litvak. »In einem Hotel. Einer Wohnung. Einem Bett. Muss er sein. Riegelt die Stadt ab. Die Straßen, die Eisenbahn, die Busse. Lassen Sie Alexis einen Ring um die Stadt legen. Jedes Haus durchsuchen, bis wir ihn haben.«
Kurtz versuchte es mit etwas gutmütigem Humor. »Shimon. Freiburg ist nicht die West-Bank.«
Doch Becker, dessen Interesse endlich geweckt war, schien den Gedanken gern weiterverfolgen zu wollen. »Und wenn wir ihn gefunden haben?« fragte er, als ob er sich noch nicht ganz zu Litvaks Plan durchringen könnte. »Was machen wir dann, Shimon?«
»Finden. Umlegen. Operation ausgeführt.«
»Und wer legt Charlie um?« fragte Becker genauso vernünftig. »Wir oder sie?«
Plötzlich ging in Litvaks Kopf mehr vor, als er von sich aus bewältigen konnte. Unter den Spannungen der vergangenen Nacht sowie des bevorstehenden Tages wurde die ganze verknäulte Masse seiner - männlichen wie weiblichen -Frustrationen plötzlich an die Oberfläche geschwemmt. Sein Gesicht verfärbte sich, seine Augen blitzten, als er einen dünnen Arm vorschnellen ließ und anklagend auf Becker zeigte. »Eine Hure ist sie, eine Kommunistin ist sie, und ein Araber-Liebchen ist sie!« schrie er so laut, dass man es noch nebenan hören konnte. »Lassen wir sie doch fallen! Wen kümmert’s?«
Falls Litvak erwartet hatte, dass Becker sich deshalb mit ihm in die Haare geraten würde, so hatte er sich getäuscht, denn das Äußerste, das Becker von sich gab, war ein stummes, gleichsam zustimmendes Nicken, als ob alles, was er bisher über Litvak gedacht hatte, sich jetzt bestätigte. Kurtz hatte die Wolldecke weg geschoben. Er saß in der Unterhose auf dem Bett und rieb sich mit den Fingerspitzen das kurze graue Haar auf dem vorgeneigten Kopf.
»Geh und nimm ein Bad, Shimon«, befahl er ruhig. »Ein Bad, Entspannung, eine Tasse Kaffee. Komm gegen Mittag wieder. Und lass dich vorher nicht hier blicken.« Ein Telefon klingelte. »Geh nicht ran«, fügte er noch hinzu und nahm selbst den Hörer ab, während Litvak ihn in stummem Entsetzen über sich selbst von der Tür her beobachtete. »Er ist beschäftigt«, sagte Kurtz auf deutsch. »Ja, hier spricht Helmuth. Wer spricht dort?«
Er sagte ja und dann nochmals ja; und gut gemacht. Dann legte er auf und lächelte sein altersloses, freudloses Lächeln. Bedachte erst Litvak damit, um ihn zu trösten, dann auch Becker, denn in diesem Augenblick waren ihre Meinungsverschiedenheiten unerheblich. »Charlie ist vor fünf Minuten im Hotel der Minkels eingetroffen«, sagte er. »Rossino ist bei ihr. Sie lassen sich ein schönes Frühstück schmecken, reichlich vor der Zeit, genau wie unser Freund es mag.«
»Und das Armband?« fragte Becker.
Dieses Detail gefiel Kurtz am besten. »Am rechten Handgelenk«, sagte er stolz. »Sie hat eine Botschaft für uns. Sie ist ein Prachtmädchen, Gadi. Ich gratuliere dir!«
Das Hotel stammte aus den sechziger Jahren, einer Zeit also, in der das Gaststättengewerbe noch an große, von Gästen wimmelnde Hotelhallen mit beruhigend plätschernden beleuchteten Springbrunnen und goldenen Uhren unter Glas geglaubt hatte. Eine breite Doppeltreppe führte zu einem Zwischenstock, und von dem Tisch am Geländer, wo sie saßen, hatten Charlie und Rossino sowohl den Haupteingang als auch die Rezeption sehr gut im Auge. Rossino trug den blauen Anzug des angehenden leitenden Angestellten und Charlie ihre südafrikanische Pfadfinderinnen-Uniform und das hölzerne Christkind aus dem Ausbildungslager. Von den Gläsern ihrer Brille - Tayeh hatte darauf bestanden, dass sie echt sein müssten - taten ihr die Augen weh, wenn sie an der Reihe war zu beobachten. Sie hatten Eier mit Speck gegessen, denn sie war sehr hungrig gewesen, und jetzt tranken sie frischen Kaffee, während Rossino die Stuttgarter Zeitung las und sie ab und zu mit irgendeiner witzigen Nachricht beglückte. Sie waren frühmorgens in die Stadt gefahren, und sie hatte sich auf dem Soziussitz fast zu Tode gefroren. Am Bahnhof hatten sie die Maschine abgestellt, Rossino hatte Erkundigungen eingezogen, und dann waren sie mit einem Taxi zum Hotel weitergefahren. Im Laufe der Stunde, die sie nun hier saßen, hatte Charlie beobachtet, wie Polizeieskorten einen katholischen Bischof hergebracht hatten und dann mit einer Delegation von Westafrikanern in Stammestracht noch einmal wiedergekommen waren. Sie hatte eine Busladung Amerikaner ankommen und eine Busladung Japaner abfahren sehen; die Anmeldeformalitäten kannte sie mittlerweile auswendig, kannte sogar den Namen des Hoteldieners, der den Neuankömmlingen die Koffer abnahm, sobald sie durch die Schiebetür traten, sie auf ihre kleinen Rollwägelchen lud und auf Armeslänge entfernt wartete, während die Gäste die Anmeldeformulare ausfüllten.
»Und Seine Heiligkeit, der Papst, hat vor, eine Reise durch sämtliche faschistischen südamerikanischen Staaten zu machen«, ließ Rossino sich hinter seiner Zeitung vernehmen, als sie aufstand. »Vielleicht erledigen sie ihn ja diesmal. Wohin willst du, Imogen?«
»Pinkeln.«
»Was ist denn los? Nervös?«
In der Damentoilette flackerte eine rosa Leuchtstoff röhre über dem Spiegel des Waschtischs, und sanfte Musik übertönte das Surren der Ventilatoren. Rachel trug Lidschatten auf. Zwei andere Frauen wuschen sich die Hände. Eine Tür war geschlossen. Charlie ging vorbei und drückte Rachel die hingekritzelte Meldung in die wartende Hand. Dann wusch auch sie sich und kehrte an den Tisch zurück. »Lass uns machen, dass wir hier rauskommen«, sagte sie, als ob sie es sich auf ihrem Gang zur Toilette doch anders überlegt hätte. »Es ist lächerlich.«
Rossino zündete sich eine dicke holländische Zigarre an und blies ihr den Rauch mit Bedacht ins Gesicht.
Ein offiziell-aussehender Mercedes fuhr vor und spuckte eine Handvoll Herren in dunklen Anzügen mit Namensschildchen am Revers aus. Rossino wollte gerade einen dreckigen Witz über sie machen, als er von einem Pikkolo unterbrochen wurde, der ihn ans Telefon rief. Signor Verdi, der an der Rezeption seinen Namen und fünf Mark hinterlassen hatte, werde in Kabine 3 erwartet. Sie nippte an ihrem Kaffee und spürte das Heiße die ganze Speiseröhre hinunter. Rachel saß mit einem Freund unter einer Palme aus Aluminium und las im Cosmopolitan. Der Freund war für sie neu und sah wie ein Deutscher aus. Er drückte ein in einer Plastikhülle steckendes Schriftstück an sich. Etwa zwanzig Leute saßen da, doch Rachel war die einzige, die sie erkannte. Rossino kam wieder zurück.
»Die Minkels sind vor zwei Minuten auf dem Bahnhof eingetroffen. Haben sich ein Taxi geschnappt - blauer Peugeot. Müssen jeden Augenblick hier eintreffen.«
Er bat um die Rechnung und zahlte gleich, wandte sich dann jedoch wieder seiner Zeitung zu.
Ich werde alles einmal machen, hatte sie sich geschworen, als sie dagelegen und auf den Morgen gewartet hatte; alles wird ein letztes Mal sein. Das wiederholte sie sich jetzt. Wenn ich jetzt hier sitze, brauche ich nie wieder hier zu sitzen. Wenn ich hinuntergehe, brauche ich nie wieder heraufzukommen. Und wenn ich das Hotel verlasse, brauche ich nie wieder herzukommen. »Warum knallen wir den Scheißkerl nicht einfach ab, und damit hat sich’s?« flüsterte Charlie unter einem plötzlichen Aufwallen von Angst und Hass, als sie den Blick wieder dem Eingang zuwandte.
»Weil wir am Leben bleiben wollen, um weitere Scheißkerle abzuknallen«, erklärte Rossino ihr geduldig und blätterte um. »Manchester United hat wieder verloren«, fügte er selbstzufrieden hinzu. »Armes England!«
»Achtung, es tut sich was«, sagte Charlie.
Ein Taxi - ein blauer Peugeot - war jenseits der Glastüren vorgefahren. Eine grauhaarige Frau kletterte heraus. Ihr folgte ein großer, vornehm aussehender Mann mit langsamem, gemessenem Gang. »Sieh dir das kleine Gepäck genau an, ich pass’ auf die großen Stücke auf«, sagte Rossino ruhig zu ihr und zündete sich seine Zigarre wieder an.
Der Fahrer machte den Kofferraum auf; Franz, der Hoteldiener, stand mit seinem Wägelchen hinter ihm. Zuerst kamen zwei zueinander passende Koffer; braunes Nylon, weder alt noch neu, als zusätzliche Verstärkung Riemen um die Mitte. Rote Anhänger. Dann ein alter Lederkoffer, viel größer als die anderen und an der einen Schmalseite mit einem Paar Rädern versehen. Und noch ein Koffer.
Rossino stieß einen leisen italienischen Fluch aus. »Ja, wie lange haben die denn bloß vor zu bleiben?« beschwerte er sich.
Die kleinen Gepäckstücke waren vorn auf dem Beifahrersitz gestapelt. Nachdem er den Kofferraum wieder verschlossen hatte, lud der Fahrer sie aus, doch sie passten nicht alle auf einmal auf Franz’ Wägelchen. Ein schäbiger Beutel aus Lederpatchwork und zwei Schirme, seiner und ihrer. Eine Tragetasche aus Papier mit einer schwarzen Katze darauf. Zwei große Schachteln in festlichem Einwickelpapier, vermutlich verspätete Weihnachtsgeschenke. Dann sah sie sie: die schwarze Aktentasche. Feste Seiten, Stahlrahmen, Lederanhänger mit Namen und Adresse. Gute alte Helg, dachte Charlie; Scheinwerfer an! Minkel zahlte das Taxi. Wie jemand anders, den Charlie einmal gekannt hatte, verwahrte er das Kleingeld in einem Portemonnaie und schüttete es sich auf die Handfläche, ehe er die ungewohnten Münzen weggab. Frau Minkel nahm die Aktenmappe. »Scheiße!« sagte Charlie.
»Abwarten«, sagte Rossino. Mit Paketen beladen, folgte Minkel seiner Frau durch die Schiebetür.
»Jetzt ungefähr sagst du mir, dass du glaubst, ihn zu erkennen«, sagte Rossino ruhig. »Ich sag’ dir, warum gehst du nicht runter und siehst ihn dir genauer an? Du zögerst und zierst dich, du bist eine schüchterne kleine Jungfrau.« Er hielt sie am Ärmel ihres Kleides gepackt. »Nur nichts erzwingen. Wenn’s jetzt nicht klappt - es ergeben sich noch tausend Möglichkeiten. Runzle die Stirn. Rück die Brille zurecht. Geh!«
Minkel trat mit kleinen, leicht albern wirkenden Schritten an die Rezeption heran, als hätte er das noch nie in seinem Leben gemacht. Seine Frau, die die Aktenmappe hielt, stand neben ihm. Der Empfang war nur mit einer Angestellten besetzt, und die war mit zwei anderen Gästen beschäftigt. Minkel wartete und blickte sich dabei verwirrt um. Seine Frau taxierte unbeeindruckt das Etablissement. Auf der anderen Seite der Halle, hinter einer Rauchglasabtrennung, versammelte sich eine Gruppe von gutgekleideten Deutschen zu irgendeiner Feier. Missbilligend betrachtete sie die Gäste und flüsterte ihrem Mann etwas zu. Die Rezeption wurde frei, und Minkel nahm ihr die Aktentasche ab: ein stillschweigender, instinktiver Austausch zwischen Partnern. Die Angestellte an der Rezeption war blond und trug ein schwarzes Kleid. Mit roten Fingernägeln ging sie die Kartei durch, ehe sie Minkel ein Formular zum Ausfüllen gab. Die Treppenstufen stießen gegen Charlies Hacken, ihre feuchte Hand klebte am breiten Geländer. Minkel war durch die astigmatischen Brillengläser eine verschwommene, abstrakte Form. Der Boden kam ihr entgegen, und sie machte sich zögernd auf den Weg zur Rezeption. Minkel stand über den Tresen gebeugt und füllte sein Formular aus. Er hatte seinen israelischen Paß neben dem Ellbogen liegen und schrieb die Passnummer ab. Die Aktenmappe auf dem Boden neben seinem linken Fuß; Frau Minkel war nicht im Weg. Charlie stellte sich rechts neben Minkel und sah ihm heuchlerisch beim Schreiben über die Schulter. Frau Minkel kam von links und sah Charlie befremdet an. Sie stieß ihren Mann leicht an. Nachdem ihm endlich bewusst war, dass man ihn von nahem musterte, hob Minkel langsam das ehrwürdige Haupt und wandte es ihr zu. Charlie räusperte sich, tat schüchtern, was ihr nicht schwerfiel. Jetzt.
»Professor Minkel?« fragte sie.
Er hatte bekümmerte graue Augen und sah womöglich noch verlegener aus, als es Charlie war. Es war plötzlich, als ob es darum ging, einem schlechten Schauspieler zu helfen.
»Ja, ich bin Professor Minkel«, räumte er ein, als sei er sich nicht ganz sicher. »Ja, der bin ich. Warum?« Dass sein Auftritt so ausgesprochen schlecht war, verlieh ihr Kraft.
Sie holte tief Atem.
»Herr Professor, ich bin Imogen Baastrup aus Johannesburg, und ich habe an der Witwatersrand-Universität Soziologie studiert«, stieß sie, ohne Luft zu holen, hervor. Ihr Akzent war weniger südafrikanisch als australisch; ihr Benehmen unangenehm, aber entschlossen. »Ich hatte letztes Jahr das unerhörte Glück, Ihren Jubiläumsvortrag über Rechte der Minderheiten in rassistischen Gesellschaften zu hören. Ein großartiger Vortrag war das. Er hat mein Leben verändert, wirklich. Ich wollte Ihnen ja schreiben, hab’s dann aber nie geschafft. Würde es Ihnen was ausmachen, bitte, wenn ich Ihnen die Hand drückte?«
Sie musste sie sich praktisch nehmen. Töricht starrte er seine Frau an, doch sie hatte mehr Talent und schenkte Charlie zumindest ein Lächeln. Auf dieses ›Stichwort‹ von ihr lächelte auch Minkel. Wenn Charlie schwitzte, war das nichts im Vergleich zu Minkel: es war, als ob sie die Hand in einen Öltopf steckte.
»Bleiben Sie länger hier, Herr Professor? Was haben Sie hier vor? Sagen Sie bloß nicht, Sie halten wieder einen Vortrag.« Im Hintergrund, von ihr nur verschwommen wahrgenommen, erkundigte sich Rossino bei der Dame an der Rezeption, ob ein Signor Boccaccio aus Mailand bereits eingetroffen sei.
Wieder kam Frau Minkel zu Hilfe. »Mein Mann macht eine Rundreise durch Europa«, erklärte sie. »Wir machen Ferien, halten ein paar Vorträge, besuchen Freunde. Wir freuen uns sehr darauf.« Auf diese Weise ermutigt, schaffte sogar Minkel selbst es, endlich etwas zu sagen. »Und was bringt Sie nach Freiburg - Miss Baastrup?« erkundigte er sich mit dem dicksten deutschen Akzent, den sie je außerhalb des Theaters erlebt hatte.
»Ach, ich dachte, ich sollte mir erst einmal ein bisschen die Welt ansehen, ehe ich mich entscheide, was ich eigentlich anfangen will«, sagte Charlie.
Hol mich raus, Himmel, hol mich hier raus. Die Dame an der Rezeption bedauerte, sie habe keine Reservierung für einen Signor Boccaccio vorliegen. Im Übrigen sei das Hotel auch belegt. Die andere Hälfte der Empfangsdame reichte Frau Minkel den Zimmerschlüssel. Irgendwie bedankte Charlie sich nochmals für den wirklich anregenden und lehrreichen Vortrag und bedankte Minkel sich für ihre freundlichen Worte; Rossino, der sich bei der Dame an der Rezeption bedankt hatte, ging flott auf das Hauptportal zu; Minkels Aktentasche hatte er zum größten Teil unter einem eleganten schwarzen Regenmantel verborgen, den er über dem Arm trug. Mit einem letzten schüchternen Dankesausbruch und unter Entschuldigungen ging Charlie hinter ihm her und bemühte sich sehr, keinerlei Eile erkennen zu lassen. Als sie die Glastüren erreichte, kam sie gerade rechtzeitig, um wie im Spiegel zu sehen, wie die Minkels sich hilflos umblickten und versuchten, sich zu erinnern, wer sie wann und wo zuletzt gehabt hatte.
Charlie schlüpfte zwischen den parkenden Taxis hindurch und erreichte den Parkplatz des Hotels, wo Helga, die ein Lodencape mit Hornknöpfen trug, wartend in einem grünen Citroen saß. Charlie rutschte neben sie, Helga fuhr langsam zur Ausfahrt des Parkplatzes, gab ihren Schein ab und bezahlte. Als der Schlagbaum in die Höhe ging, fing Charlie an zu lachen, als ob der Schlagbaum ihr Lachen freigesetzt hätte. Sie verschluckte sich, steckte sich die Knöchel in den Mund, legte Helga den Kopf auf die Schulter und ergab sich hilfloser herrlicher Heiterkeit.
»Es war unglaublich, Helg! Du hättest mich sehen müssen -Himmel!« An der Kreuzung starrte der junge Verkehrspolizist die beiden erwachsenen Frauen, die sich vor Lachen ausschütteten, bis ihnen die Tränen kamen, verwirrt an. Helga kurbelte das Fenster herunter und warf ihm eine Kusshand zu.
In der Einsatzzentrale saß Litvak am Funkgerät; Becker und Kurtz standen hinter ihm. Litvak schien erschrocken über sich selbst, als habe es ihm die Sprache verschlagen; er war bleich. Er trug einen Kopfhörer mit nur einem Hörer und einem Mikro an einer gepolsterten Halterung.
»Rossino ist mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren«, sagte Litvak. »Er hat die Aktenmappe bei sich und holt jetzt das Motorrad ab.«
»Ich will nicht, dass ihm jemand folgt«, sagte Becker hinter Litvaks Rücken zu Kurtz.
Litvak riss sich das Mikrofon herunter und führte sich auf, als könnte er seinen Ohren nicht trauen. »Nicht folgen? Wir haben sechs Leute um dieses Motorrad herum aufgebaut und Alexis vielleicht noch mal an die fünfzig. Wir haben einen Sender eingebaut und über die ganze Stadt Wagen verteilt. Wenn wir dem Motorrad folgen, folgen wir der Aktenmappe, und die Aktenmappe führt uns zu unserem Mann.« Er drehte sich zu Kurtz um und flehte ihn um Unterstützung an.
»Gadi?« sagte Kurtz.
»Er übergibt an Stafetten«, sagte Becker. »Das hat er immer getan. Das heißt, Rossino bringt es bis da und dahin, übergibt die Tasche an jemand anders, und dieser bringt sie wiederum zur nächsten Stafette. Bis heute nachmittag haben sie uns durch kleine Straßen, über offenes Land und durch leere Restaurants gehetzt. Und kein Beschatterteam der Welt übersteht das, ohne erkannt zu werden.«
»Und dein besonderes Interesse, Gadi?« fragte Kurtz weiter.
»Die Berger wird Charlie den ganzen Tag nicht von der Pelle rücken. Khalil wird die Berger in abgesprochenen Abständen und an bestimmten Orten anrufen. Sobald Khalil Lunte riecht, gibt er der Berger den Befehl, sie umzubringen. Falls er sich binnen zwei Stunden nicht meldet, oder drei, je nachdem, was abgemacht ist, legt sie sie sowieso um.«
Scheinbar unentschlossen, drehte Kurtz beiden Männern den Rücken zu und durchmaß den Raum. Dann wieder zurück. Und nochmals. Litvak ließ ihn nicht aus den Augen, als wäre er ein Wahnsinniger. Schließlich trat Kurtz an den Apparat, der ihn direkt mit Alexis verband, und sie hörten, wie er »Paul?« sagte, in jenem fragenden Ton, in dem man jemand um einen Gefallen bittet. Er sprach eine Weile ruhig, hörte zu, sprach wieder und legte dann auf. »Uns bleiben noch etwa neun Sekunden, bis er den Bahnhof erreicht«, sagte Litvak aufs äußerste erregt und lauschte in seinen Kopfhörer. »Sechs.«
Kurtz beachtete ihn nicht. »Man hat mir berichtet, die Berger und Charlie seien gerade zu einem eleganten Friseur«, sagte er. »Sieht so aus, als ob sie sich vor dem großen Ereignis noch schön machen ließen.« Er blieb vor ihnen stehen.
»Rossinos Taxi hat gerade den Bahnhofsplatz erreicht«, berichtete Litvak verzweifelt. »Jetzt bezahlt er.«
Kurtz sah Becker an. Sein Blick verriet Achtung, sogar Zartgefühl. Er war ein alter Trainer, dessen Lieblingssportler endlich Höchstform zeigt.
»Heute hat Gadi gewonnen, Shimon«, sagte er, den Blick immer noch auf Becker. »Pfeif deine Jungs zurück. Sag ihnen, sie soll’n sich bis heut’ abend ausruh’n.«
Ein Telefon klingelte, und wieder war es Kurtz, der abnahm. Es war Professor Minkel, der den vierten Nervenzusammenbruch während dieser Operation hatte. Kurtz hörte ihm geduldig bis zum Ende zu, dann sprach er lange und beschwichtigend mit seiner Frau.
»Es ist ein wirklich schöner Tag«, sagte er und unterdrückte seine Verzweiflung, als er auflegte. »Alle amüsieren sich köstlich.« Er setzte seine blaue Mütze auf und machte sich auf, um sich mit Alexis zu treffen und gemeinsam mit ihm den Hörsaal zu inspizieren. Es war die schlimmste und längste Warterei, die sie je hatte durchstehen müssen; eine Premiere, die alle Premieren beendete. Schlimmer noch: Sie konnte nichts allein unternehmen, denn Helga hatte Charlie zu ihrem Schützling und ihrer Lieblingsnichte gemacht und ließ sie nicht aus den Augen. Vom Friseur, wo Helga - noch unter der Trockenhaube -den ersten Anruf entgegengenommen hatte, fuhren sie in ein Damenbekleidungsgeschäft, wo Helga Charlie ein Paar pelzgefütterte Stiefel sowie Seidenhandschuhe wegen der Fingerabdrücke kaufte. Von dort zum Münster, wo Helga Charlie anmaßend eine Lektion in Geschichte erteilte, und dann unter viel Gekicher und Andeutungen weiter auf einen kleinen Platz, wo sie sie unbedingt mit einem gewissen Berthold Schwarz bekannt machen wollte - »sexiger als Berthold geht’s nicht, Charlie - du verliebst dich bestimmt unsterblich in ihn.« Berthold Schwarz entpuppte sich als ein Standbild.
»Ist er nicht phantastisch, Charlie? Möchtest du nicht auch, dass wir wenigstens einmal den Rock hochheben könnten? Weißt du, was er ist, unser Berthold? Er war Franziskaner, ein berühmter Alchimist, der Erfinder des Schießpulvers. Er liebte Gott so sehr, dass er all seinen Geschöpfen beibrachte, sich gegenseitig in die Luft zu jagen. Daher haben die guten Bürger ihm ein Denkmal gesetzt. Natürlich.«
Sie packte Charlies Arm und zog sie aufgeregt an sich. »Weißt du, was wir nach heute abend machen?« flüsterte sie ihr zu. »Wir kommen noch einmal hierher zurück, bringen Berthold ein paar Blumen und legen sie zu seinen Füßen nieder. Ja? Ja, Charlie?«
Der Turm des Münsters ging Charlie allmählich auf die Nerven; ein unruhiges, gezacktes Wahrzeichen, immer schwarz, das jedes Mal vor ihr auftauchte, wenn sie um eine Ecke bog oder eine neue Straße betrat.
Zum Mittagessen gingen sie in ein elegantes Restaurant, wo Helga Charlie badischen Wein spendierte, der, wie sie sagte, auf dem vulkanischen Boden des Kaiserstuhls gewachsen sei -ein Vulkan, Charlie, stell dir vor! -, und von jetzt an war alles, was sie aßen oder tranken oder sahen, Anlass für ermüdende und witzige Erläuterungen. Als sie bei der Schwarzwälder Kirschtorte waren - »Heute sind wir ganz bürgerlich« -, wurde Helga wieder ans Telefon gerufen und erklärte bei ihrer Rückkehr, sie müssten jetzt zur Universität, sonst würden sie nie alles schaffen. Sie stiegen daher in eine Fußgängerunterführung mit florierenden kleinen Geschäften hinab und kamen vor einem gewichtigen Gebäude aus erdbeerfarbenem Sandstein, Säulen und einer gewölbten Fassade mit goldener Inschrift darüber, die Helga selbstverständlich gleich übersetzen musste, wieder an die Oberfläche.
»Schau, eine hübsche Botschaft für dich, Charlie. Hör zu: ›Die Wahrheit wird euch frei machen.‹ Sie zitieren Karl Marx für dich, ist das nicht herrlich und aufmerksam?«
»Ich dachte, es stammte von Noël Coward«, sagte Charlie und sah, wie Zorn über Helgas übererregtes Gesicht huschte.
Ein Steinweg führte um das Gebäude herum. Ein älterer Polizist patrouillierte davor und nahm die beiden jungen Frauen ohne besondere Neugier in Augenschein: sie sperrten Mund und Nase auf und zeigten sich gegenseitig etwas - Touristen bis in die Fingerspitzen. Vier Stufen führten zum Haupteingang hinauf. Innen sah man durch dunkle Glastüren die Lampen einer großen Halle blinken. Der Seiteneingang wurde von Statuen von Homer und Aristoteles bewacht. Hier hielten sich Helga und Charlie am längsten auf, bewunderten die Skulpturen und die pompöse Architektur, während sie insgeheim Entfernungen und Zugangsmöglichkeiten maßen. Ein gelbes Plakat verkündete Minkels Vortrag heute abend.
»Du hast Angst, Charlie«, flüsterte Helga, wartete gar nicht erst eine Antwort ab, sondern fuhr fort: »Hör zu, nach dem heutigen Morgen wirst du endgültig triumphieren. Du bist vollkommen. Du wirst zeigen, was Wahrheit und was Lüge ist, du wirst ihnen zeigen, was Freiheit ist. Bei großen Lügen brauchen wir eine große Tat, logisch. Eine große Tat, ein großes Publikum, eine große Sache. Komm!« Eine moderne Fußgängerbrücke führte über den zweispurigen Fahrdamm hinweg. Makabre Totempfähle aus Stein wachten an beiden Enden. Von der Brücke aus gingen sie durch die Universitätsbibliothek in ein Studentencafe, das wie eine Betonwiege über dem Fahrdamm hing. Während sie ihren Kaffee tranken, konnten sie durch die Glaswände Professoren und Studenten den Hörsaal betreten und verlassen sehen. Wieder wartete Helga auf einen Anruf. Er kam, und als sie zurückkehrte, fand sie in Charlies Gesichtsausdruck etwas, das sie ärgerte.
»Was ist denn mit dir los?« zischte sie. »Hat dich plötzlich das Mitleid mit Minkels bezaubernden zionistischen Überzeugungen gepackt? So edel, so hehr? Hör zu, er ist schlimmer als Hitler, ein Wolf im Schafspelz. Komm, trink einen Schnaps, das wird dir wieder Mut machen.«
Das Feuer des Schnapses brannte noch in ihr, als sie den leeren Park erreichten. Der Teich war mit Eis bedeckt, frühes Dunkel senkte sich herab; die Abendluft prickelte von winzigen gefrorenen Wasserteilchen. Sehr laut schlug eine alte Glocke die Stunde. Eine zweite Glocke - kleiner und höher - bimmelte hinterher. Das grüne Cape fest Um sich gezogen, stieß Helga sofort einen Freudenruf aus. »Ach, Charlie, horch! Hörst du dieses kleine Glöckchen? Es ist aus Silber. Und weißt du auch, warum? Ich werd’s dir erzählen. Ein Reisender zu Pferd verirrte sich eines Nachts. Räuber waren unterwegs, es war schlechtes Wetter, und er war so froh, Freiburg zu sehen, dass er dem Münster eine silberne Glocke stiftete. Jetzt läutet sie jeden Abend. Ist das nicht bezaubernd?«
Charlie nickte, versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Helga umschlang sie mit ihrem kräftigen Arm und hüllte sie in die Falten ihres Capes. »Charlie - hör zu! - soll ich dir noch eine Standpauke halten?«
Sie schüttelte den Kopf.
Helga hielt Charlie immer noch an die Brust gedrückt, als sie einen Blick auf die Uhr warf und dann den Weg hinunter ins Halbdunkel schaute. »Und noch was zu diesem Park. Weißt du, was ich meine?« Ich weiß nur, dass es der zweitschlimmste Ort auf Erden ist. Und ich vergebe nie erste Preise.
»Dann will ich dir noch eine Geschichte darüber erzählen. Ja? Im Krieg war hier ein Ganter.«
»Was ist das, ein Ganter?«
»Eine männliche Gans. Ein Gänserich. Und dieser Ganter war eine Luftschutz-Sirene. Wenn die Bomber kamen, war er der erste, der sie hörte, und wenn er schnatterte, gingen die Leute gleich in den Keller, ohne erst den offiziellen Alarm abzuwarten. Der Ganter starb, doch nach dem Krieg waren die Bürger so dankbar, dass sie ihm ein Denkmal errichteten. Da hast du Freiburg, wie es leibt und lebt. Ein Denkmal für ihren Bombenmönch, das andere für den Warner vor den Bombenangriffen. Sind sie nicht verrückt, diese Freiburger?« Helga wurde plötzlich ganz steif, warf abermals einen Blick auf die Uhr und spähte ins trübe Dunkel. »Da ist er«, sagte sie dann ganz ruhig und drehte sich um, um Lebewohl zu sagen.
Nein, dachte Charlie. Helg, ich liebe dich, du kannst mich jeden Tag zum Frühstück haben, bloß zwing mich jetzt nicht, zu Khalil zu gehen.
Helga legte die Hände flach auf Charlies Wangen und küsste sie sanft auf die Lippen.
»Für Michel, ja?« Sie küsste sie nochmals, heftiger diesmal. »Für die Revolution und den Frieden und für Michel. Geh jetzt diesen Weg runter, da kommst du an ein Tor. Dort wartet ein grüner Ford. Setz dich hinten rein, direkt hinter den Fahrer.« Noch ein Kuss. »Ach, Charlie, hör zu, du bist einfach phantastisch. Wir werden immer Freundinnen sein.«
Charlie schickte sich an, den Weg hinunterzugehen, blieb stehen, warf einen Blick zurück. Steif und eigentümlich pflichtbewusst im Dämmerlicht, stand Helga da und sah ihr nach. Ihr grünes Lodencape hing ihr um die Schultern wie bei einem Polizisten. Helga winkte - ein königliches Hinundherwedeln ihrer großen Hand. Charlie, vom Münsterturm bewacht, winkte zurück. Der Fahrer trug eine Pelzmütze, die sein Gesicht halb verbarg; außerdem hatte er den Pelzkragen seines Mantels hochgestellt. Er drehte sich nicht um und grüßte sie nicht, und sie konnte sich von ihrem Platz aus kaum eine Vorstellung davon machen, wie er aussah; der Linie seiner Wangenknochen nach zu urteilen, musste er jung sein; außerdem hatte sie den Verdacht, dass er Araber war. Er fuhr langsam, zuerst durch den abendlichen Stadtverkehr, dann aufs Land hinaus, über gerade schmale Straßen, auf denen noch Schnee lag. Sie kamen an einem kleinen Bahnhof vorüber, näherten sich einem Bahnübergang und blieben stehen. Charlie hörte das warnende Bimmeln einer Glocke und sah den hohen rot-weiß gestrichenen Schlagbaum erst zittern, dann sich allmählich senken. Ihr Fahrer schaltete in den zweiten Gang und raste über die Geleise; unmittelbar nachdem sie in Sicherheit waren, war die Schranke geschlossen.
»Danke«, sagte sie und hörte ihn lachen - ein kehliges Perlen; zweifellos war er Araber. Er fuhr einen Berg hinauf und hielt den Wagen nochmals an, diesmal an einer Bushaltestelle. Er reichte ihr eine Münze.
»Nimm einen Fahrschein für zwei Mark und den nächsten Bus in diese Richtung«, sagte er.
Die jährliche Schnitzeljagd am Foundation Day, dachte sie; ein Hinweis führt zum nächsten, und der letzte Hinweis führt dich zum Preis, um den es geht.
Es war pechdunkel, und die ersten Sterne zeigten sich. Ein schneidender Landwind blies von den Bergen. Weiter unten an der Straße erkannte sie das Licht einer Tankstelle, doch Häuser waren nicht zu sehen. Sie wartete fünf Minuten, dann kam aufseufzend ein Bus neben ihr zum Stehen. Er war dreiviertel leer. Sie kaufte ihren Fahrschein und setzte sich in die Nähe der Tür, die Knie zusammen, die Augen nirgends. An den beiden nächsten Haltestellen stieg niemand zu; an der dritten sprang ein Junge in Lederjacke auf und setzte sich fröhlich neben sie: ihr amerikanischer Chauffeur von gestern abend. »Zwei Haltestellen weiter ist eine neue Kirche«, sagte er im Plauderton. »Steig aus, geh an der Kirche vorbei, die Straße runter, bleib auf dem rechten Bürgersteig. Dann kommst du zu einem parkenden roten Wagen, vom Rückspiegel hängt ein kleines Teufelchen herunter. Mach die Tür zum Beifahrersitz auf, setz dich rein und warte. Mehr brauchst du nicht zu tun.«
Der Bus hielt, sie stieg aus und marschierte los. Der Junge fuhr weiter. Die Straße war gerade und die Nacht außerordentlich dunkel. Vor sich, knapp fünfhundert Meter entfernt, erkannte sie einen verschwommenen roten Fleck unter einer Straßenlaterne. Keine Parkleuchten. Der Schnee knirschte unter ihren neuen Stiefeln, und das Geräusch verstärkte noch ihr Gefühl, völlig von ihrem Körper gelöst zu sein. Hallo, Füße, was macht ihr da unten? Marschieren, Mädchen, marschieren. Der Kastenwagen kam näher, und sie erkannte, dass es ein kleiner Coca-Cola-Lieferwagen war, der weit auf den Bürgersteig hinaufgefahren worden war. Fünfzig Schritt weiter unter der nächsten Laterne war ein winziges Cafe und hinter dem Cafe wieder nichts als die nackte Schneefläche und die schnurgerade verlaufende Straße ohne besondere Merkmale, die nach irgendwohin führte. Was mochte einen Menschen bewogen haben, hier ein Cafe aufzumachen? Das war ein Rätsel für ein anderes Leben.
Sie machte die Tür des Lieferwagens auf und stieg ein. Die Fahrerkabine war durch die Straßenlaterne draußen merkwürdig hell erleuchtet. Sie roch Zwiebeln und sah einen Karton voller Zwiebeln zwischen den Kästen mit leeren Flaschen stehen, die den Laderaum füllten. Ein Plastikteufelchen mit Dreizack baumelte vom Rückspiegel herunter. Sie erinnerte sich an ein ähnliches Maskottchen in dem Wagen in London, als Mario sie entführt hatte. Ein Haufen schmieriger Kassetten lag neben ihren Füßen. Es war der stillste Ort auf der ganzen Welt. Ein einzelnes Licht kam langsam zu ihr die Straße herauf. Als es auf ihrer Höhe war, sah sie einen jungen Priester auf einem Fahrrad. Als er vorüberradelte, wandte er ihr das Gesicht zu; er sah beleidigt aus, als ob sie seiner Keuschheit zu nahe getreten wäre. Wieder wartete sie. Ein großer Mann mit einer Schirmmütze auf dem Kopf trat aus dem Cafe, schnupperte, blickte dann die Straße hinauf und hinunter, als wäre er sich nicht sicher, wie spät es sei. Er kehrte nochmals ins Cafe zurück, kam wieder heraus und ging langsam auf sie zu, bis er neben ihr stand. Mit den Spitzen einer behandschuhten Hand klopfte er an Charlies Scheibe. Ein Lederhandschuh, hart und glänzend. Eine helle Taschenlampe strahlte sie an, so dass sie ihn überhaupt nicht sehen konnte. Der Strahl verweilte auf ihr, wanderte dann langsam durch das Wageninnere, kehrte zu ihr zurück, blendete sie in einem Auge. Sie hob die Hand, um die Helligkeit abzuwehren, und als sie sie wieder sinken ließ, folgte ihr der Lichtstrahl bis zu ihrem Schoß. Die Taschenlampe ging aus, ihre Tür ging auf, eine Hand schloss sich um ihr Handgelenk und zog sie aus dem Wagen. Äug’ in Auge stand sie ihm gegenüber, und er war um eine gute Spanne größer als sie, breit und stämmig. Doch sein Gesicht lag im schwarzen Schatten unter dem Schirm seiner Mütze, und den Kragen hatte er der Kälte wegen hochgestellt.
»Bleib ganz ruhig stehen«, sagte er.
Nachdem er ihr die Schultertasche abgenommen hatte, prüfte er erst deren Gewicht, dann machte er sie auf und sah hinein. Zum dritten Mal in letzter Zeit erregte ihr kleiner Radiowecker besondere Aufmerksamkeit. Er stellte ihn an. Das Radio spielte. Er stellte es ab, fummelte daran herum und ließ etwas in seine Tasche gleiten. Einen Moment hatte sie gedacht, er hätte beschlossen, das Radio für sich zu behalten. Doch das hatte er nicht, denn sie sah, wie er es wieder in die Tasche fallen ließ und die Tasche in den Wagen warf. Dann, wie ein Lehrer im Anstandsunterricht, der ihre Haltung korrigiert, legte er ihr die Spitzen seiner behandschuhten Hand an die Schultern und richtete sie auf. Die ganze Zeit über lag sein dunkler Blick auf ihrem Gesicht. Sein rechter Arm hing herunter, und mit der Handfläche der linken Hand tastete er leicht ihren Körper ab, erst Hals und Schultern, dann Schlüsselbein und Schulterblätter, betastete vor allem die Stellen, wo die Träger ihres BHs gewesen wären, wenn sie einen getragen hätte. Dann ihre Achselhöhlen und die Seiten bis hinunter zu den Hüften; ihre Brüste und den Bauch.
»Heute morgen im Hotel hast du das Armband am rechten Arm getragen. Heute Abend trägst du es am linken. Warum?« Sein Englisch klang ausländisch, gebildet und höflich; sein Akzent, soweit sie es beurteilen konnte, arabisch. Eine weiche, jedoch kräftige Stimme; die Stimme eines Redners.
»Ich trag’ es mal da und mal da.«
»Warum?« wiederholte er.
»Damit es sich neu anfühlt.«
Er hockte sich vor sie und erforschte Hüften und Beine und die Innenseite ihrer Schenkel mit derselben minuziösen Aufmerksamkeit wie alles andere; dann - immer nur mit der linken Hand -drückte er vorsichtig an ihren neuen Pelzstiefeln herum.
»Weißt du, wie viel es wert ist, dieses Armband?« fragte er und richtete sich wieder auf.
»Nein.«
»Bleib still stehen.«
Er stand hinter ihr: der Rücken, das Gesäß, wieder die Beine bis hinunter zu den Stiefeln.
»Du hast es nicht versichern lassen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Michel hat es mir aus Liebe gegeben. Nicht für Geld.«
»Steig ein.«
Sie tat es; er ging vorn herum und kletterte neben ihr herein.
»Okay. Ich bring dich zu Khalil.« Er ließ den Motor an. »Lieferung frei Haus. Okay?«
Der Lieferwagen war mit einem automatischen Getriebe ausgestattet. Ihr fiel auf, dass er hauptsächlich mit der linken Hand steuerte, während die Rechte auf seinem Schoß lag. Das Klirren des Leerguts hinten überraschte sie vollkommen. Er erreichte eine Kreuzung, bog nach links in eine Straße ein, die genauso schnurgerade war wie die erste, nur, dass sie keine Straßenbeleuchtung hatte. Sein Gesicht, soweit sie etwas davon sehen konnte, erinnerte sie an Josephs, nicht so sehr in den Zügen, sondern wegen der Intensität darin und der angespannten Winkel seiner Kämpferaugen, die ständig die drei Spiegel des Wagens und auch noch sie selbst im Auge behielten.
»Magst du Zwiebeln?« fragte er über das Geklirr der Flaschen hinweg. »Sehr sogar.«
»Kochst du gern? Was kochst du? Spaghetti? Wiener Schnitzel?«
»Solche Sachen.«
»Was hast du für Michel gekocht?«
»Steak.«
»Wann?«
»In London. In der Nacht, als er in meiner Wohnung blieb.«
»Keine Zwiebeln?« fragte er.
»Nur im Salat«, sagte sie.
Sie fuhren wieder zurück in Richtung Stadt. Der Lichtschimmer, der von ihr ausging, bildete eine rosige Wand unter den schweren Abendwolken. Sie fuhren einen Hügel hinab und gelangten in ein flaches, sich weithin dehnendes Tal, das plötzlich keinerlei Form hatte. Sie sah halbgebaute Fabriken und riesige, kaum belegte Lastwagen-Parkplätze. Keine Geschäfte, keine Kneipen, nirgendwo ein Licht im Fenster. Sie fuhren auf einen betonierten Vorhof.
Er brachte den Lieferwagen zum Stehen, stellte jedoch den Motor nicht ab. HOTEL GARNI EDEN, las sie in roten Neonlettern, und über dem grellfarbigen Tor: Willkommen! Bienvenu! Wellcome!
Als er ihr die Schultertasche reichte, hatte er einen Einfall. »Hier - gib ihm die auch noch. Er mag sie auch«, sagte er und angelte den Zwiebelkarton zwischen den Kisten mit den leeren Flaschen heraus. Als er ihn ihr auf den Schoß fallen ließ, fiel ihr wieder die Regungslosigkeit seiner behandschuhten Rechten auf. »Zimmer fünf, vierter Stock. Die Treppe. Nicht den Fahrstuhl nehmen! Mach’s gut!«
Bei laufendem Motor sah er sie über den Vorhof auf den beleuchteten Eingang zugehen. Der Karton war schwerer, als sie erwartet hatte, und sie musste ihn mit beiden Armen tragen. Die Halle war leer, der Aufzug stand wartend da, doch sie nahm ihn nicht. Die Treppe war schmal und gewunden, der Teppich abgetreten. Die Musik vom Band klang irgendwie keuchend, die stickige Luft roch nach billigem Parfüm und kaltem Zigarettenrauch. Auf dem ersten Treppenabsatz rief eine alte Frau ihr aus dem Inneren ihres gläsernen Kabäuschens ein GrüßGott! zu, hob jedoch nicht den Kopf. Unerklärte Damen schienen hier häufig ein und aus zu gehen.
Auf dem zweiten Treppenabsatz hörte sie Musik und Frauenlachen; auf dem dritten wurde sie vom Aufzug überholt und fragte sich, warum er sie die Treppe hatte nehmen lassen, doch sie hatte keinen Willen mehr, keine Widerstandskraft; ihr ganzer Text und alles, was sie tat, war für sie geschrieben worden. Von dem Karton schmerzten ihre Arme, und als sie den Korridor des vierten Stocks erreicht hatte, war der Schmerz ihre größte Sorge. Die erste Tür war ein Notausgang, und die zweite, gleich daneben, trug die Nummer 5. Der Aufzug, der Notausgang, die Treppe, dachte sie automatisch; er hat mindestens immer zweierlei.
Sie klopfte, die Tür ging auf, und ihr erster Gedanke war: Ach, typisch, jetzt habe ich alles verpatzt. Denn der Mann, der vor ihr stand, war derselbe, der sie soeben im Coca-ColaWagen hergefahren hatte, nur, dass er nichts auf dem Kopf trug und an der linken Hand keinen Handschuh. Er nahm ihr die Brille ab, legte sie zusammen und gab sie ihr dann zurück. Nachdem er das getan hatte, nahm er ihr noch mal die Schultertasche ab und entleerte den Inhalt auf die billige rosa Daunendecke, ganz ähnlich wie in London, als sie ihr die dunkle Brille aufgesetzt hatten. Ungefähr der einzige Gegenstand im Zimmer mit Ausnahme des Bettes war die Aktentasche. Sie lag auf dem Waschtisch, leer, das schwarze Maul ihr zugewandt, als wollte es nach ihr schnappen. Es war die Tasche, die Professor Minkel zu stehlen sie geholfen hatte, dort in dem en Hotel mit dem Zwischenstock, als sie noch zu jung gewesen war, um es besser zu wissen.
Völlige Stille hatte sich über die drei Männer in der Einsatzzentrale gelegt. Keine Anrufe, nicht einmal von Minkel und Alexis; keine verzweifelten Widerrufe über die abhörsichere Telefonverbindung mit der Botschaft in Bonn. Die ganze so verschlungene Verschwörung hielt in ihrer gemeinsamen Vorstellung den Atem an. Litvak saß verzagt in sich zusammengesunken auf einem Bürostuhl; Kurtz schwamm in einer Art sonnigem Traum, hatte die Augen halb geschlossen und lächelte wie ein alter Alligator. Und Gadi Becker – wie immer der stillste von ihnen - starrte selbstkritisch in die zunehmende Dunkelheit hinaus, wie jemand, der sämtliche Versprechen seines bisherigen Lebens an sich vorüberziehen lässt - welche hatte er gehalten? Welche gebrochen?
»Wir hätten ihr den Sender schon jetzt geben sollen«, sagte Litvak. »Sie trauen ihr jetzt. Warum haben wir ihr nicht den Sender gegeben - dann wüssten wir jetzt genau, wo sie ist.«
»Weil er sie durchsuchen wird«, sagte Becker. »Er wird sie nach Waffen und Drähten durchsuchen, und er wird sie nach einem Sender durchsuchen.«
Litvak erhob sich weit genug, um Einspruch zu erheben. »Warum sie dann überhaupt einsetzen? Ihr seid verrückt. Warum ein Mädchen einsetzen, dem man nicht traut - und das bei einem Unternehmen wie diesem?«
»Weil sie noch nicht getötet hat«, sagte Becker. »Weil sie sauber ist. Deshalb bedienen sie sich ihrer, und deshalb trauen sie ihr nicht, aus ein und demselben Grund.«
Kurtz’ Lächeln wurde fast menschlich. »Sobald sie die erste Beute geschlagen hat, Shimon. Sobald sie kein Anfänger mehr ist. Sobald sie für alle Ewigkeit auf der falschen Seite des Gesetzes steht, bis zum Tode eine Illegale ist - dann, aber erst dann werden sie ihr trauen. Dann trauen ihr alle«, versicherte er Litvak zufrieden. »Ab heute abend neun Uhr wird sie eine von ihnen sein - kein Problem, Shimon, kein Problem.« Litvak war immer noch nicht getröstet.