Kapitel 27

Die Welt erfuhr von den direkten oder weniger direkten Folgen der Operation mehr, als ihr klar war; ganz gewiss jedenfalls mehr als Charlie. Die Welt erfuhr zum Beispiel - oder hätte es erfahren können, wenn sie sich die kleineren Nachrichten in den Auslandsseiten der angelsächsischen Presse genauer angesehen hätte -, dass ein mutmaßlicher palästinensischer Terrorist bei einem Schusswechsel mit einer westdeutschen Sondereinsatztruppe ums Leben gekommen war und seine weibliche Geisel, deren Name nicht genannt wurde, im Schockzustand, doch sonst unverletzt, in ein Krankenhaus gebracht worden war. In den deutschen Zeitungen erschienen unheimliche Versionen der Geschichte Wildwest im Schwarzwald -, aber die Berichte waren so bemerkenswert sicher und doch widersprüchlich, dass es schwierig war, ihnen überhaupt etwas zu entnehmen. Eine Verbindung mit dem misslungenen Freiburger Bombenattentat auf Professor Minkel - der ursprünglich als tot gemeldet worden, dann jedoch wunderbarerweise dennoch mit dem Leben davongekommen war - wurde von dem weltgewandten Dr. Alexis so geistreich abgestritten, dass jeder sie als gegeben annahm. Es sei ja auch durchaus in der Ordnung, schrieben die Klügeren unter den Leitartiklern, dass man uns nicht zuviel sagt.

Eine Folge kleinerer Zwischenfälle in der westlichen Welt rief hier und da Spekulationen über das Wirken der einen oder anderen arabischen Terroristenorganisation hervor, doch da es heutzutage so viele rivalisierende Gruppierungen gab, war es reiner Zufall, auf wen man mit dem Finger zeigte. Dass zum Beispiel Dr. Anton Mesterbein, der humanitäre Schweizer Anwalt, der sich stets für die Rechte von Minderheiten eingesetzt hatte und Sohn eines bedeutenden Finanziers war, am hellichten Tag sinnlos abgeknallt wurde, lastete man rundheraus einer extremen Falangistenorganisation an, die vor kurzem jenen Europäern »den Krieg erklärt« hatte, die offen Sympathie für eine »Besetzung« des Libanon durch die Palästinenser bekundeten. Die ungeheuerliche Tat geschah, als das Opfer - ungeschützt wie immer - gerade seine Villa verließ, um ins Büro zu fahren, und die Welt war zumindest den ersten Teil des Vormittags über tief erschüttert. Als der Herausgeber einer Züricher Zeitung einen mit »Freier Libanon« unterzeichneten Bekennerbrief erhielt und als authentisch erklärte, wurde ein jüngerer libanesischer Diplomat ersucht, das Land zu verlassen, was er einsichtigerweise auch tat.

Dass ein Diplomat der Nicht-Anerkennungs-Front vor der vor kurzem fertig gestellten Moschee in St. John’s Wood in seinem Auto in die Luft flog, war kaum irgendwo eine Meldung wert; immerhin handelte es sich um das vierte Bombenattentat dieser Art innerhalb von vier Monaten. Die blutrünstige Erdolchung des italienischen Musikers und Journalisten Alberto Rossino und seiner deutschen Begleiterin, deren unbekleidete und kaum identifizierbare Leichen erst Woc hen später an einem See in Tirol gefunden wurden, entbehrte laut der österreichischen Behörden trotz der Tatsache, dass beide Opfer Verbindungen zu Radikalenkreisen hatten, jeder politischen Grundlage. Nach den vorliegenden Beweisen zogen sie es vor, den Fall als einen Mord aus Leidenschaft zu behandeln. Die Dame, eine gewisse Astrid Berger, war für ihre ausgefallenen Neigungen wohlbekannt, und es wurde für möglich, wenn auch für grotesk gehalten, dass überhaupt kein Dritter an der Tat beteiligt war. Einer Folge von anderen, weniger interessanten Todesfällen, wurde praktisch überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt; genausowenig wie der Bombardierung eines alten, an der syrischen Grenze gelegenen Wüstenforts durch die Israelis, das nach Jerusalemer Quellen als Ausbildungslager für ausländische Terroristen diente. Was die Vierzentnerbombe betrifft, die auf einem Berg vor den Toren Beiruts explodierte und eine luxuriöse Sommervilla zerstörte und ihre Bewohner - darunter Tayeh und Fatmeh - tötete, so war diese Tat genausowenig zu durchschauen wie jeder andere Terrorakt in dieser tragischen Region. Doch Charlie in ihrer Feste am Meer erfuhr nichts von alledem; oder genauer gesagt, sie erfuhr ganz allgemein davon und war dieser Dinge entweder zu überdrüssig oder hatte zuviel Angst, um die Einzelheiten aufnehmen zu können. Zuerst wollte sie nichts weiter als schwimmen und langsame, ziellose Spaziergänge bis ans Ende des Strands und wieder zurück machen, wobei sie den Bademantel unterm Kinn festhielt, während ihre Leibwächter ihr in respektvoller Entfernung folgten. Im Meer setzte sie sich mit Vorliebe ins seichte Uferwasser, wo es keine Wellen mehr gab und sie Bewegungen machte, als wolle sie sich waschen - zuerst das Gesicht, doch dann auch Arme und Hände. Die anderen Mädchen waren angewiesen worden, nackt zu baden; doch als Charlie sich weigerte, sich diesem befreienden Beispiel anzuschließen, wies der Psychiater sie an, sich wieder anzuziehen und abzuwarten. Kurtz besuchte sie ein-, manchmal sogar zweimal die Woche. Er zeigte sich ihr gegenüber außerordentlich verständnisvoll, geduldig und treu, selbst wenn sie ihn anschrie. Alles, was er ihr zu sagen hatte, war praktischer Natur und nur zu ihrem Vorteil. Man habe einen Paten für sie erfunden, sagte er: einen alten Freund ihres Vaters, der reich geworden und vor kurzem in der Schweiz gestorben sei und ihr eine beträchtliche Summe Geldes hinterlassen habe, das, da es aus nichtbritischem Besitz komme, im Vereinigten Königreich von jeder Kapital-Transfer-Steuer befreit sei. Mit den britischen Behörden war gesprochen worden; sie hatten akzeptiert - aus Gründen, mit denen Charlie nichts zu tun hatte -, dass niemandem damit gedient sei, wenn man sich eingehender mit Charlies Beziehung zu gewissen europäischen oder palästinensischen Extremisten beschäftige, sagte er. Kurtz konnte sie auch davon überzeugen, dass Quilley ihr wieder wohl gesonnen sei; die Polizei, so sagte er, habe es sich nicht nehmen lassen, ihn eigens aufzusuchen und ihm zu erklären, dass sie bei dem Verdacht Charlie gegenüber einem Irrtum aufgesessen seien.

Kurtz besprach auch mit Charlie Möglichkeiten, wie ihr unvermitteltes Verschwinden aus London zu erklären sei, und Charlie stimmte passiv einer Mischung von Motiven zu, bei denen es sich um Angst vor Schikanen der Polizei, einen leichten Nervenzusammenbruch und einen geheimnisvollen Liebhaber handelte, den sie auf Mykonos aufgegabelt hatte, einen verheirateten Mann, der zuerst nach ihrer Pfeife getanzt, sie dann jedoch fallengelassen hatte. Erst als er anfing, sie in dieser Beziehung zu instruieren und in Nebensächlichkeiten auf die Probe zu stellen, wurde sie blass und fing an zu zittern. Ähnliches geschah, als Kurtz ihr vielleicht ein wenig unüberlegt eröffnete, man habe »an höchster Stelle« entschieden, sie könne jederzeit für den Rest ihres Lebens die israelische Staatsangehörigkeit annehmen.

»Gebt die doch Fatmeh«, fuhr sie Kurtz an, der inzwischen eine Reihe von neuen Fällen zu bearbeiten hatte und deshalb in den Unterlagen nachsehen musste, ehe ihm wieder einfiel, wer Fatmeh war - oder gewesen war. Was ihre Karriere betreffe, sagte Kurtz, so erwarteten sie ein paar aufregende Dinge, sobald sie sich imstande fühlte, sich wieder damit zu befassen. Ein paar Produzenten in Hollywood hätten sich während ihrer Abwesenheit ernstlich für Charlie interessiert; sie warteten nur darauf, dass sie an die Westküste fliege und dort Probeaufnahmen mache. Einer habe sogar eine kleine Rolle, von der er meine, sie sei ihr wie auf den Leib geschrieben; um was es sich im einzelnen handele, wisse Kurtz nicht. Aber auch in der Londoner Theaterszene hätten sich ein paar schöne Möglichkeiten ergeben.

»Ich möchte einfach wieder dorthin zurück, wo ich war«, sagte Charlie.

Kurtz erklärte, das lasse sich machen, meine Liebe, kein Problem. Der Psychiater war ein aufgeweckter junger Mann mit einem fröhlichen Zwinkern in den Augen, der vom Militär kam und nicht das geringste für Selbstanalyse oder irgendeine andere Form schwerblütiger Nabelschau übrig hatte. Überhaupt schien sein Interesse nicht so sehr darauf gerichtet, sie zum Reden zu bringen, als vielmehr sie davon zu überzeugen, es nicht zu tun; er muss in seinem Beruf eine höchst gespaltene Person gewesen sein. Er nahm sie zu Autofahrten mit, erst die Küstenstraßen entlang, dann auch nach Tel Aviv. Als er jedoch so unbesonnen war, sie auf ein paar schöne alte arabische Häuser aufmerksam zu machen, die die Stadtentwicklung überlebt hatten, konnte Charlie vor Wut nicht mehr zusammenhängend reden. Er besuchte wenig bekannte Restaurants mit ihr, schwamm mit ihr, streckte sich sogar am Strand neben ihr aus und versuchte, sie durch sein Geplauder etwas aufzumuntern, bis sie ihm mit einem Kloß im Hals erklärte, sie würde lieber in seinem Ordinationszimmer mit ihm reden. Als er hörte, dass sie gern ritt, sorgte er dafür, dass Pferde bereitstanden, und sie machten zu Pferd einen wunderbaren Tagesausflug, in dessen Verlauf sie sich völlig zu vergessen schien. Am nächsten Tag war sie für seinen Geschmack jedoch viel zu still, und er riet Kurtz, mindestens noch eine Woche zu warten. Und - tatsächlich - noch am selben Abend bekam sie einen längeren und völlig unerklärlichen Anfall von Erbrechen, was um so merkwürdiger war, wenn man bedachte, wie wenig sie aß.

Rachel, die ihr Studium an der Universität wieder aufgenommen hatte, besuchte sie und war offen und liebevoll und entspannt, ganz anders jedenfalls als die härtere Rachel, die Charlie in Athen kennengelernt hatte. Auch Dimitri setze seine Ausbildung fort, erzählte sie; Raoul denke daran, Medizin zu studieren und vielleicht Militärarzt zu werden; es könnte aber auch sein, dass er sich doch endgültig für die Archäologie entscheide. Charlie lächelte höflich zu diesen Familienneuigkeiten - Rachel sagte zu Kurtz, es sei, als ob sie mit ihrer Großmutter spräche. Auf lange Sicht machten jedoch weder ihre nordenglische Herkunft noch ihre lustigen Eigenheiten, wie sie für die englische Mittelschicht typisch waren, den erwünschten Eindruck auf Charlie, und nach einiger Zeit bat sie, immer noch höflich, man möge sie doch wieder in Ruhe lassen. Inzwischen waren in Kurtz’ Amt zu der großen Summe technischen und menschlichen Wissens, das den Grundstoff seiner vielen Unternehmungen bildete, eine Reihe wertvoller Erkenntnisse hinzugekommen. Trotz offensichtlich unausrottbarer Vorurteile gegenüber Nichtjuden waren sie, wie sich erwiesen hatte, nicht nur zu gebrauchen, sondern manchmal durch nichts zu ersetzen. So hätte sich zum Beispiel eine Jüdin wahrscheinlich nie so gut in mittlerer Position halten können. Was die Techniker wiederum interessierte, war die Sache mit den Batterien im Radiowecker; man lernt eben nie aus. Entsprechend wurde zu Ausbildungszwecken mit großem Erfolg eine gereinigte Fallgeschichte zusammengestellt und verwendet. In einer vollkommenen Welt, so wurde argumentiert, hätte der mit dem Fall befasste Beamte beim Austausch der Geräte bemerken müssen, dass die Batterien im Gerät der Agentin fehlten. Immerhin hatte er zwei und zwei zusammengezählt, als das Sendesignal plötzlich aufhörte, und war sofort eingedrungen. Beckers Name tauchte selbstverständlich nirgendwo in diesem Zusammenhang auf. Ganz abgesehen von der Frage der Sicherheit, hatte Kurtz in letzter Zeit nichts Gutes von ihm gehört und war nicht geneigt, ihn verherrlichen zu lassen.

Im späten Frühjahr endlich, sobald das Litani-Becken für Panzer trocken genug war, erfüllten sich Kurtz’ schlimmste Befürchtungen und Gavrons düsterste Drohungen: Es kam zu dem lang erwarteten israelischen Vorstoß in den Libanon hinein, und das beendete die augenblickliche Phase der Feindseligkeiten oder - je nachdem, wo man stand - läutete die nächste ein. Die Flüchtlingslager, in denen Charlie zu Gast gewesen war, wurden ›saniert‹ , was mehr oder weniger darauf hinauslief, dass Bulldozer hineinfuhren, um die Leichen unter die Erde zu bringen und zu vollenden, was Panzer und Artilleriebeschießungen begonnen hatten; ein bedauernswerter Flüchtlingsstrom nach Norden setzte ein und ließ Hunderte, zuletzt sogar Tausende von Toten zurück. Sondereinheiten vernichteten völlig die Geheimunterkünfte in Beirut, in denen Charlie übernachtet hatte; vom Haus in Sidon blieben nur die Hühner und der Mandarinenhain übrig. Das Haus wurde von einem Kommando von Sayaret zerstört, die auch den beiden Jungen Kareem und Yasir den Garaus machten. Sie kamen bei Nacht von See her, genauso wie Yasir, der große Geheimdienstmann, es immer vorausgesagt hatte, und verwendeten eine besondere Art von amerikanischer Sprengkugel, die noch auf der Geheimliste stand und bloß den Körper zu berühren braucht, um zu töten. Von alldem - von der wirksamen Zerstörung ihrer kurzen Liebe zu Palästina - teilte man Charlie klugerweise nichts mit. Es könne sie aus den Angeln heben, sagte der Psychiater; bei ihrer Phantasie und Selbstversunkenheit könne es durchaus sein, dass sie sich für den gesamten Einmarsch verantwortlich machte. Man solle ihr besser nichts davon sagen; sollte sie später von selbst darauf kommen. Was Kurtz betrifft, so bekam man einen ganzen Monat lang kaum etwas von ihm zu sehen, oder wenn er gesehen wurde, dann erkannte ihn kaum jemand. Sein Körper schien zur halben Größe zusammengeschrumpft zu sein, seine slawischen Augen hatten allen Glanz verloren, er sah endlich so alt aus, wie er wirklich war, wie alt das auch immer sein mochte. Dann kehrte er eines Tages wie jemand, der eine lange und zehrende Krankheit hinter sich hatte, an seinen Arbeitsplatz zurück und hatte innerhalb von Stunden, wie’s schien, seine merkwürdige Dauerfehde mit Misha Gavron wieder aufgenommen.

Zuerst schwamm Gadi Becker in Berlin in einem Vakuum, das dem Charlies vergleichbar war; doch er erlebte das nicht zum ersten Mal und war überdies in gewisser Hinsicht wegen der Ursachen und Wirkungen weniger empfindlich. Er kehrte in seine Wohnung zurück und wandte sich wieder seinen Geschäftsaussichten zu; Zahlungsunfähigkeit stand wieder einmal bevor. Obwohl er ganze Tage damit zubrachte, mit seinen Lieferanten zu telefonieren oder Kisten von einer Seite des Lagers auf die andere zu schaffen, schien die Weltflaute die Berliner Bekleidungsindustrie härter und empfindlicher getroffen zu haben als jede andere Stadt. Da war eine Frau, mit der er gelegentlich schlief, eine ziemlich imposante Erscheinung wie aus den dreißiger Jahren, die außerordentlich warmherzig war und - zur Beruhigung seiner ererbten Normen -auch noch leicht jüdisch aussah. Nach etlichen Tagen fruchtloser Überlegungen rief er sie an und sagte, er sei vorübergehend in der Stadt. Nur für ein paar Tage, sagte er; vielleicht auch nur für einen einzigen. Er hörte sich an, wie sehr sie sich darüber freute, dass er wieder da sei, und lauschte auch ihren milden Vorhaltungen über sein plötzliches Verschwinden; aber er lauschte auch den unklaren Stimmen aus seinem eigenen Inneren.

»Dann komm doch vorbei«, sagte sie, nachdem sie damit fertig war, ihn auszuschimpfen.

Doch er tat es nicht. Es war ihm unmöglich, das Vergnügen zu billigen, das sie ihm vielleicht schenken könnte. Aus Angst vor sich selbst eilte er in einen eleganten griechischen Nachtklub, den er kannte und der unter der Leitung einer kosmopolitisch klugen Frau stand. Nachdem es ihm gelungen war, sich zu betrinken, beobachtete er, wie die Gäste die Teller nur allzu bereitwillig in der besten deutsch-griechischen Tradition zerbrachen. Am nächsten Tag fing er ohne allzu viele Vorbereitungen an, einen Roman über eine jüdische Berliner Familie zu schreiben, die nach Israel geflohen war und dort wieder die Zelte abgebrochen hatte, weil sie sich nicht mit dem abfinden konnte, was im Namen Zions getan wurde. Doch als er sich ansah, was er geschrieben hatte, warf er seine Notizen in den Papierkorb und dann aus Sicherheitsgründen ins Feuer. Ein neuer Mann von der Bonner Botschaft flog ein, um ihm einen Besuch abzustatten, und sagte, er sei der Nachfolger seines Vorgängers: Falls Sie mit Jerusalem sprechen möchten oder sonst irgend etwas, wenden Sie sich an mich. Offenbar ohne sich zurückhalten zu können, ließ Becker sich mit ihm auf eine provozierende Diskussion über den Staat Israel ein. Und er hörte mit einer außerordentlich beleidigenden Frage auf, von der er behauptete, er habe sie aus den Schriften von Arthur Koestler, die er aber offensichtlich seinen eigenen Befürchtungen angepasst hatte: »Ich frage mich, was soll aus uns werden?« sagte er. »Ein jüdisches Vaterland oder ein hässliches kleines spartanisches?«

Der neue Mann hatte harte Augen und wenig Phantasie, und die Frage ärgerte ihn offensichtlich, ohne dass er begriff, was sie eigentlich sollte. Er hinterließ etwas Geld und seine Visitenkarten: Zweiter Wirtschaftssekretär. Was jedoch bedeutsamer war: Er hinterließ eine Wolke von Zweifeln, die Kurtz’ Anruf am nächsten Morgen offensichtlich zerstreuen sollte.

»Was, zum Teufel, soll das heißen?« fragte er bärbeißig auf englisch, sobald Becker den Hörer abgenommen hatte. »Wenn du jetzt anfängst, das eigene Nest zu beschmutzen, dann komm doch nach Hause, wo jedenfalls kein Mensch auf dich achtet.«

»Wie geht es ihr?« fragte Becker.

Möglich, dass Kurtz’ Antwort bewusst grausam ausfiel, denn das Gespräch fand zu einer Zeit statt, als er selber ganz tief unten war. »Frankie geht’s einfach gut. Seelisch und im Aussehen, und aus irgendeinem mir unerfindlichen Grunde lässt sie sich nicht davon abbringen, dich zu lieben. Elli hat erst neulich mit ihr gesprochen und den deutlichen Eindruck gewonnen, dass sie die Scheidung nicht für bindend betrachtet.«

»Scheidungen sollen ja auch nicht binden.«

Doch wie gewöhnlich hatte Kurtz auch darauf eine Antwort.

»Scheidungen sollen einfach nicht sein, Schluss.«

»Also, wie geht es ihr?« fragte Becker mit Nachdruck. Kurtz musste sein Temperament zügeln, ehe er antwortete. »Falls wir von einer gemeinsamen Freundin sprechen, so geht es ihr gesundheitlich gut, sie wird geheilt, und sie will dich nie wiedersehen - und mögest du immer jung bleiben!« Kurtz schloss mit einem ungezügelten Brüllen und legte auf.

Am selben Abend rief Frankie an - Kurtz musste ihr aus Bosheit die Nummer gegeben haben. Das Telefon war Frankies Instrument. Mochten andere Geige, Harfe oder Schofar spielen - für Frankie war es jedes Mal das Telefon.

Becker hörte ihr eine ganze Weile zu: ihrem Weinen, worin sie unvergleichlich war, ihren Schmeicheleien und ihren Schwüren. »Ich werde sein, was immer du willst«, sagte sie. »Sag’s mir nur, und ich bin es!«

Doch jemand erfinden, das war das letzte, was Becker wollte. Nicht lange nach diesem Telefongespräch kamen Kurtz und der Psychiater zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, Charlie wieder ins Wasser zu werfen.

Die Tournee lief unter dem Titel »Ein Strauß Lustspiele«, und das Theater diente wie andere, in denen sie bereits gespielt hatte, als Treffpunkt für Frauengruppen und Spielschule und in Wahlzeiten ohne Zweifel auch als Wahllokal. Es war ein erbärmliches Stück und ein mieses Theater und kam am unteren Ende ihres Niedergangs. Das Theater hatte ein Blechdach und einen Holzfußboden, und wenn sie mit den Füßen aufstampfte, kamen ganze Staubwolken aus den Ritzen. Sie hatte damit angefangen, nur noch tragische Rollen zu übernehmen, denn nach einem nervösen Blick auf sie war Ned Quilley davon ausgegangen, dass sie nur Tragödien wolle; Charlie selbst war es aus nur ihr bekannten Gründen genauso gegangen. Doch sie kam rasch dahinter, dass ernste Rollen, falls sie ihr überhaupt etwas bedeuteten, zuviel für sie waren. Sie schrie oder weinte an den unpassendsten Stellen, und ein paar Mal war es sogar vorgekommen, dass sie einen Abgang hatte vortäuschen müssen, um sich wieder in den Griff zu bekommen.

Häufiger war es jedoch die Bedeutungslosigkeit, die ihr zu schaffen machte; sie hatte einfach keine Lust und - was schlimmer war - kein Verständnis mehr für das, was in der westlichen Mittelschicht als Schmerz galt. So kam es schließlich, dass die Komödie doch die geeignetere Maske für sie war, und durch diese Maske hatte sie zugesehen, wie ihre Wochen abwechselnd zwischen Sheridan und Priestley und dem allermodernsten Genie vergangen waren, dessen Darbietung im Programmheft als ein mit widerborstigem Witz angereichertes Souffle bezeichnet wurde. Sie hatten es in York gespielt, Nottingham aber Gott sei Dank ausgelassen; sie hatten es in Leeds und Bradford, Huddersfield und Derby gespielt; und Charlie wartete immer noch darauf, dass das Souffle aufging oder der Witz übersprang; wahrscheinlich lag jedoch die Schuld bei ihr selbst, denn in ihrer Vorstellung leierte sie ihren Text runter wie ein trunkener Boxer, der entweder böse Schläge einstecken oder für immer zu Boden gehen muss.

Hatte sie keine Proben, hing sie herum wie ein Patient im Wartezimmer des Arztes, rauchte und las Illustrierte. Doch als der Vorhang heute abend wieder aufging, trat anstelle der Nervosität eine gefährliche Trägheit, und am liebsten wäre sie eingeschlafen. Sie hörte ihre Stimme die ganze Tonleiter hinauf- und hinuntergehen, spürte, wie ihr Arm dorthin griff, ihr Fuß jenen Schritt machte; sie machte eine Pause an einer Stelle, an der es für gewöhnlich einen todsicheren Lacher gab, rief jedoch statt dessen eine verständnislose Stille hervor. Gleichzeitig traten ihr Bilder aus dem verbotenen Album vor Augen, von dem Gefängnis in Sidon und der Schlange wartender Mütter an der Mauer; von Fatmeh; vom nächtlichen Schulungszimmer im Lager, in dem sie die Schlagworte für die Demonstration auf T-Shirts bügelte; vom Luftschutzbunker und den stoischen Gesichtern, die sie ansahen und sich fragten, ob sie vielleicht Schuld daran habe. Und von Khalils behandschuhter Hand, wie sie mit dem eigenen Blut rohe Klauenzeichen an die Wand malte.

Die Garderobe war gemeinschaftlich, doch Charlie suchte sie in der Pause nicht auf. Statt dessen stand sie draußen vorm Bühneneingang im Freien, rauchte und zitterte und starrte die neblige Straße hinunter und überlegte, ob sie einfach fortgehen und immer weiter gehen sollte, bis sie hinfiel und von irgendeinem Auto überfahren wurde. Sie riefen ihren Namen, und sie hörte, wie Türen zuschlugen und Füße liefen; doch es schien das Problem der anderen zu sein, nicht ihres, sollten sie sich damit befassen. Nur ein letztes - ein allerletztes - Gefühl von Verantwortung brachte sie dazu, die Tür aufzumachen und wieder hineinzugehen. »Charlie, um Himmels willen? Charlie, verdammt noch mal, was ist denn los?«

Der Vorhang ging auf, und sie stand wieder auf der Bühne. Allein. Langer Monolog, während Hilda am Schreibtisch ihres Mannes sitzt und einen Brief an ihren Geliebten verfasst: an Michel, an Joseph. Eine Kerze brannte daneben, und gleich würde sie bei der Suche nach einem weiteren Blatt Papier die Schreibtischschublade aufreißen und - »Oh, nein!« - den nicht abgeschickten Brief ihres Mannes an seine Geliebte finden. Sie fing an zu schreiben, und sie war in dem Motel in Nottingham; sie starrte in die Kerzenflamme und sah Josephs Gesicht, wie es sie über den Tisch in der Taverne bei Delphi anblinzelte. Sie sah noch einmal hin, und da war es Khalil, der mit ihr in dem Haus im Schwarzwald an dem rustikalen Tisch aß. Sie sprach ihren Text, und wunderbarerweise war es nicht der von Joseph oder von Tayeh oder von Khalil, sondern der von Hilda. Sie zog die Schreibtischschublade auf, steckte eine Hand hinein, verpasste einen Takt und zog völlig verwirrt ein mit der Hand beschriebenes Blatt hervor, hob es in die Höhe und drehte sich um, um dem Publikum zu zeigen, wie es aussah. Sie stand auf und trat mit dem Ausdruck wachsenden Unglaubens bis vorn an den Bühnenrand und fing an, laut vorzulesen - so ein geistreicher Brief, so voll reizender Anspielungen. Gleich würde John, ihr Mann, im Morgenrock von links auftreten, auf den Schreibtisch zugehen und ihren eigenen unvollendeten Brief an ihren Liebhaber vorlesen. In einer Minute würde es einen noch witzigeren Querschnitt aus ihren beiden Briefen geben, die Zuschauer würden sich ausschütten vor Lachen, bis sie nicht mehr konnten und geradezu in Ekstase gerieten, wenn die beiden verratenen Liebhaber, einer von der Untreue des anderen angeregt, einander wollüstig in die Arme fielen. Sie hörte ihren Mann eintreten, was für sie das Zeichen war, die Stimme zu erheben: Empörung tritt an die Stelle der Neugier, als Hilda weiterliest. Sie packte den Brief mit beiden Händen, drehte sich um, machte zwei Schritte nach vorn links, um nicht John zu verdecken.

Und da sah sie ihn - nicht John, sondern Joseph, ganz deutlich, er saß dort, wo Michel immer gesessen hatte: erste Reihe Mitte, und starrte mit dem gleichen schrecklich ernsten Interesse zu ihr hinauf.

Im ersten Augenblick war sie wirklich überhaupt nicht überrascht; die Trennwand zwischen ihrer inneren und ihrer äußeren Welt war schon zu ihren besten Zeiten eine ziemlich klapprige Angelegenheit gewesen und hatte neuerdings praktisch aufgehört zu existieren. Er ist also gekommen, dachte sie. Wurde aber auch Zeit. Orchideen, Jose? Keine Orchideen? Und keinen roten Blazer? Goldmedaillon? Schuhe von Gucci? Vielleicht hätte ich doch in die Garderobe gehen sollen. Und dein Briefchen lesen. Dann hätt’ ich gewusst, dass du kommst, oder? Und hätt’ einen Kuchen gebacken. Sie hatte aufgehört, laut vorzulesen, denn es hatte ja wirklich keinen Sinn mehr, überhaupt noch zu spielen, auch wenn der Souffleur ihr ungeniert den Text zuzischelte und der Direktor hinter ihm stand und mit den Armen fuchtelte wie jemand, der einen Schwarm Bienen abwehrt; irgendwie konnte sie beide sehen, obwohl sie ausschließlich Joseph anstarrte. Vielleicht bildete sie sich die beiden auch nur ein, weil Joseph endlich so wirklich geworden war. Hinter ihr hatte Ehemann John ohne jede Überzeugung angefangen, irgendeinen Text zu erfinden, um ihr aus der Patsche zu helfen. Du brauchst einen Joseph, wollte sie ihm stolz sagen; unser Jose hier schreibt dir einen Text für jede Gelegenheit.

Zwischen ihnen war eine Wand aus Licht - nicht so sehr eine Wand, eher eine optische Trennung. Da sie zu ihren Tränen noch hinzukam, wurde ihre Sicht von ihm immer mehr beeinträchtigt, so dass sie schon den Verdacht hatte, er sei doch nur eine Fata Morgana. Aus den Kulissen riefen sie ihr zu, sie solle abtreten; Ehemann John war bereits hinuntergestapft -klonk, klonk - und hatte sie als Vorspiel freundlich, aber fest beim Ellbogen gefasst, ehe er sie dem Souffleur-Kasten übergab. Sie nahm an, dass sie gleich den Vorhang für sie fallen ließen und dieser kleinen Nutte - wie hieß sie doch noch gleich, ihre Ersatzspielerin - die Chance ihres Lebens gäben.

Ihr jedoch ging es darum, Joseph zu erreichen, ihn zu berühren und sich zu vergewissern. Der Vorhang fiel, doch sie stieg bereits die Stufen zu ihm hinunter. Die Lichter gingen an, und ja, es war Joseph, doch als sie ihn so deutlich sah, langweilte er sie; er war nur ein Zuschauer. Sie ging den Mittelgang hinauf, spürte, wie sich eine Hand auf ihren Arm legte, und dachte: Ach, wieder John - hau doch ab! Das Foyer war leer bis auf zwei altersschwache Herzoginnen, die vermutlich die Manager des Ganzen waren.

»Ich würd’ einen Arzt aufsuchen, meine Liebe«, sagte eine von ihnen. »Oder erst mal tüchtig ausschlafen«, sagte die andere.

»Ach, schenken Sie sich’s«, riet Charlie ihnen glücklich und benutzte einen Ausdruck, den sie noch nie benutzt hatte.

Kein Nottinghamer Regen fiel, kein roter Mercedes wartete auf sie, und so ging sie und stellte sich an die Bushaltestelle, wobei sie halb erwartete, dass der junge Amerikaner im Bus saß und ihr riet, nach einem roten Lieferwagen Ausschau zu halten. Joseph kam die leere Straße herunter auf sie zu. Er war sehr groß, als er auf sie zukam, und sie stellte sich vor, wie er plötzlich loslaufen würde, um seine eigenen Kugeln auf sie zuzutreiben, doch das tat er nicht. Er blieb vor ihr stehen, ein wenig außer Atem, und es war klar, dass jemand ihn mit einer Nachricht geschickt hatte, wahrscheinlich Marty, vielleicht aber auch Tayeh. Er machte den Mund auf, um die Nachricht loszuwerden, doch sie ließ ihn nicht soweit kommen.

»Ich bin tot, Jose. Du hast mich erschossen, weißt du nicht mehr?« Sie wollte noch etwas über das Theater des Wirklichen hinzufügen, darüber, dass Leichen nicht einfach wieder aufstehen und davongehen. Aber irgendwie hatte sie es vergessen.

Ein Taxi kam vorüber, und Joseph winkte es mit der freien Hand heran. Es hielt jedoch nicht; was kann man schon erwarten. Die Taxis heutzutage - die waren eine Sache für sich. Sie lehnte sich an ihn und wäre gefallen, hätte er sie nicht so fest gehalten. Ihre Tränen machten sie halb blind, und sie hörte ihn unter Wasser. Ich bin tot, sagte sie immer wieder, ich bin tot, ich bin tot. Doch es schien, dass er sie wollte, ob nun tot oder lebendig. Sie hielten einander umschlungen und gingen unbeholfen die Straße entlang, obwohl ihnen die Stadt fremd war.

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