Kapitel 7

Um seine kleine Unterhaltung mit Charlie wieder aufzunehmen, hatte Kurtz sich für einen Ton wohlwollender Endgültigkeit entschieden, als gehe es ihm nur noch darum, ein paar letzte strittige Punkte zu klären, ehe er zu anderen Dingen überging.

»Charlie, nochmals zu Ihren Eltern«, sagte er. Litvak hatte einen Ordner aus der Aktenmappe gezogen und hielt ihn so, dass Charlie nichts erkennen konnte.

»Ja, zu den Eltern«, sagte sie und griff mutig nach einer Zigarette. Kurtz ließ sich nicht zur Eile antreiben und studierte bestimmte Unterlagen, die Litvak ihm in die Hand gedrückt hatte. »Kehren wir zur Schlussphase im Leben ihres Vaters zurück, sein Zusammenbruch, die finanzielle Schande, sein Tod und so weiter. Können Sie uns noch einmal genau sagen, in welcher Reihenfolge sich das alles abspielte? Sie besuchten ein englisches Internat. Die schreckliche Nachricht kam. Von da an weiter, bitte.« Sie begriff nicht ganz, was er wollte. »Von wo an?«

»Die Nachricht trifft ein. Von da an weiter.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich wurde rausgeschmissen, fuhr nach Haus, dort wimmelte es von Gerichtsvollziehern; wie Ratten. Aber das hatten wir doch schon alles, Marty. Was soll denn noch sein?«

»Die Internatsleiterin ließ Sie kommen, haben Sie gesagt«, erinnerte Kurtz sie nach einer Pause. »Schön. Was hat sie also gesagt? Den genauen Wortlaut, bitte?«

»›Tut mir leid, aber ich habe die Hausmutter angewiesen, Ihre Sachen zu packen. Wiedersehn und viel Glück!‹ Soweit ich mich erinnere.«

»Ach, daran erinnern Sie sich?« sagte Kurtz mit trockenem Humor, lehnte sich vor und warf nochmals einen Blick in Litvaks Papiere. »Keine Moralpredigt von ihr über die Verderbtheit der bösen Welt draußen?« fragte er immer noch lesend. »Kein ›Wirf dich nicht zu leicht weg‹ oder so? Nein? Keinerlei Erklärung, wieso und warum, als man Sie aufforderte zu gehen?«

»Das Schulgeld war ja schon seit zwei Semestern nicht mehr bezahlt worden - ist das nicht Grund genug? Für sie war das schließlich ein Geschäft, Marty. Sie mussten an ihr Bankkonto denken. Es war eine Privatschule, vergessen Sie das nicht.« Sie ließ durchblicken, dass sie müde sei. »Meinen Sie nicht, wir sollten’s für heute genug sein lassen? Ich weiß auch nicht, wieso, aber ich komme mir ziemlich gerädert vor.«

»Oh, das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie sind ausgeruht, und Sie haben Reserven. Sie sind also nach Hause. Mit der Bahn?« »Bis nach Hause per Bahn. Und ganz allein. Mit meinem Köfferchen. Auf dem Nachhause-Weg.« Sie streckte sich und sah sich lächelnd im Raum um, doch Joseph hatte den Kopf abgewandt. Er schien einer anderen Musik zuzuhören.

»Sie sind also nach Hause und haben dort was genau vorgefunden?«

»Das totale Chaos, wie ich Ihnen schon sagte.«

»Könnten Sie dieses Chaos bitte ein bisschen genauer beschreiben?«

»Möbelwagen auf der Auffahrt. Männer in Schürzen. Mutter in Tränen aufgelöst. Mein halbes Zimmer schon ausgeräumt.«

»Und wo war Heidi?«

»Jedenfalls nicht da. Nicht vorhanden. Zählte nicht zu denen, die dabei waren.«

»Und keiner hat nach ihr geschickt? Ihre ältere Schwester, der Augapfel Ihres Vaters? Die nur zwanzig Kilometer entfernt wohnte? Warum ist denn Heidi nicht gekommen, um zu helfen?«

»Wahrscheinlich, weil sie schwanger war«, erklärte Charlie sorglos und betrachtete wieder ihre Hände. »Das ist sie normalerweise immer.«

Aber Kurtz blickte Charlie an und nahm sich eine Menge Zeit, ehe er überhaupt etwas sagte. »Wer, haben Sie gesagt, war bitte schwanger?« fragte er, als ob er nicht gehört hätte.

»Heidi.«

»Charlie, Heidi war nicht schwanger. Zu Heidis erster Schwangerschaft kam es erst im Jahr darauf.«

»Ja, gut, dann war sie eben mal nicht schwanger.«

»Warum ist sie also nicht gekommen, um der Familie ein bisschen zur Hand zu gehen?«

»Vielleicht wollte sie es nicht wissen. Sie kam jedenfalls nicht, das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Marty, um Himmels willen, die ganze Sache ist schließlich zehn Jahre her. Ich war noch ein Kind, ein ganz anderer Mensch.« »Wegen der Schande, was? Heidi konnte die Schande nicht ertragen. Die des Bankrotts Ihres Vaters, meine ich.« »Was für eine Schande soll es denn sonst gegeben haben?« gab sie schnippisch zurück.

Kurtz fasste ihre Frage rhetorisch auf. Er beschäftigte sich wieder mit seinen Papieren, sah, dass Litvaks langer Finger auf etwas zeigte. »Jedenfalls ließ Heidi sich nicht blicken, und die ganze Verantwortung, mit der Familienkrise fertig zu werden, lastete auf Ihren jungen Schultern, stimmt’s? Die eben sechzehnjährige Charlie, aufgerufen, die Retterin zu spielen. Ihr Intensivkurs über die Anfälligkeit des kapitalistischen Systems, wie Sie es vor noch nicht langer Zeit mal so hübsch ausgedrückt haben. ›Ein Anschauungsunterricht, den man nie wieder vergisst.‹ Sie mussten mit ansehen, wie sämtliche Fetische der Konsumgesellschaft - hübsche Möbel - hübsche Kleider - sämtliche Attribute bürgerlicher Wohlanständigkeit -praktisch vor Ihren Augen auseinander genommen und weggeschafft wurden. Sie ganz allein. Mussten damit fertig werden. Den Haushalt auflösen. Waren unbestritten diejenige, die die Angelegenheit Ihrer rührend bourgeoisen Eltern in die Hand nahm, die von Rechts wegen der Arbeiterklasse hätten angehören sollen, aber so bedenkenlos waren, es nicht zu tun. Die sie tröstete. Die ihnen half, ihre Schande zu ertragen. Ich nehme an, es war, als ob Sie ihnen die Absolution erteilten. Verdammt schwer«, setzte er traurig hinzu. »Wahrhaftig kein Kinderspiel.« Er hielt inne, wartete darauf, dass sie etwas sagte.

Doch das tat sie nicht. Sie hielt schweigend seinem Blick stand. Sie konnte gar nicht anders. Seine tief eingekerbten Gesichtszüge verhärteten sich, besonders um die Augen herum, auf merkwürdige Weise. Trotzdem hielt sie seinem Blick stand, auf ganz besondere Art; sie hatte, noch aus der Kindheit, eine Art, ihr Gesicht gleichsam zu einem eisigen Bild erstarren zu lassen und dabei anderen Gedanken nachzuhängen. Und gewann, wusste, dass sie Siegerin blieb, denn es war Kurtz, der als erster wieder das Wort ergriff, und das war der Beweis. »Charlie, wir sind uns darüber im klaren, dass dies alles sehr schmerzlich für Sie ist; trotzdem bitten wir Sie, mit Ihren eigenen Worten fortzufahren. Da ist also der Möbelwagen. Wir sehen, dass Ihre Sachen aus dem Haus herausgeschafft werden. Was sehen wir noch?«

»Mein Pony.«

»Haben sie das auch mitgenommen?« »Hab’ ich Ihnen doch schon gesagt.« »Zusammen mit den Möbeln? Im selben Möbelwagen?« »Nein, in einem anderen Laster. Seien Sie doch nicht albern.«

»Es waren also zwei Autos da. Beide zur selben Zeit? Oder einer nach dem anderen.«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Wo hielt sich Ihr Vater denn während dieser ganzen Zeit auf? Im Arbeitszimmer? Stand er am Fenster, und sah er nach, wie alles verschwand? Wie hält ein Mann sich - wenn die Schande so über ihn hereinbricht?«

»Er war im Garten.«

»Und tat dort was?«

»Er betrachtete die Rosen. Starrte sie an. Und wiederholte immer wieder, die dürfen sie nicht wegbringen. Was auch geschähe. Immer und immer wieder hat er das gesagt: ›Wenn sie meine Rosen mitnehmen, bring’ ich mich um.‹ «

»Und Ihre Mutter,«

»Mum war in der Küche und kochte. An was anderes konnte sie nicht denken.«

»Gas- oder Elektroherd?«

»Elektroherd.«

»Ja, habe ich mich da verhört? Hatten Sie nicht gesagt, das Elektrizitätswerk hätte den Strom abgestellt?« »Sie hatten ihn wieder angeschlossen.« »Und den Herd haben sie nicht abmontiert und mitgenommen?«

»Den mussten sie dalassen. Es gibt da eine gesetzliche Vorschrift: den Herd, einen Tisch und einen Stuhl für jeden, der im Haus wohnt.«

»Und Messer und Gabel?«

»Ein Besteck für jede Person.«

»Warum haben sie denn nicht einfach das Haus beschlagnahmt? Und Sie alle auf die Straße gesetzt?«

»Weil es auf Mutters Namen eingetragen war. Darauf hatte sie schon verjähren bestanden - dass das gemacht wurde.«

»Kluge Frau. Immerhin passierte das Ganze in Ihrem Elternhaus. Und wo, sagten Sie, hatte Ihre Internatsleiterin vom Bankrott Ihres Vaters gelesen?«

Fast hätte sie die Frage nicht mitbekommen. Für einen Moment verschwammen die Bilder vor ihrem geistigen Auge, doch dann nahmen sie wieder feste Umrisse an und lieferten ihr die Wörter, die sie brauchte: ihre Mutter mit fliederfarbenem Kopftuch über den Herd gebeugt, hektisch dabei, Arme Ritter zuzubereiten, ein Lieblingsgericht der Familie. Ihr Vater, in einem doppelreihigen Blazer, wie er grau im Gesicht und wortlos die Rosen betrachtete. Die Internatsleiterin, die Hände auf dem Rücken, wie sie ihren in Tweed gehüllten Körper vor dem nicht angezündeten Kamin in ihrem beeindruckenden Wohnzimmer wärmte. »In der London Gazette«, erwiderte Charlie stumpf. »Wo über alle Pleiten berichtet wird.«

»Hatte die Anstaltsleiterin die Gazette abonniert?«

»Vermutlich.«

Kurtz nickte ausdauernd und bedächtig, nahm dann einen Bleistift und schrieb das eine Wort vermutlich auf einen vor ihm liegenden Block, und zwar so, dass Charlie es lesen konnte. »So, und nach dem Bankrott kamen dann die Anklagen wegen Betrug. Richtig so? Wollen Sie uns nicht von der Verhandlung berichten?« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt: Vater wollte nicht zulassen, dass wir dabei waren. Erst wollte er selbst seine Verteidigung übernehmen - den Helden spielen. Wir sollten vorn auf der ersten Bank sitzen und ihm Beifall klatschen. Als sie ihm dann aber die Beweise vorlegten, überlegte er es sich anders.«

»Wie lautete denn die Anklage?«

»Dass er seine Kunden betrogen hätte.«

»Und wie viel hat er bekommen?«

»Achtzehn Monate, ein Teil der Zeit wurde ihm erlassen. Das hab’ ich Ihnen doch schon erzählt, Marty. Habe ich doch schon alles gesagt. Was soll das?«

»Haben Sie ihn jemals im Gefängnis besucht?«

»Das hat er nicht erlaubt. Er wollte nicht, dass wir seine Schande sähen.«

»Seine Schande«, wiederholte Kurtz nachdenklich. »Seine Schande. Sein Sturz. Das ist Ihnen wirklich unter die Haut gegangen, was?«

»Würde ich Ihnen besser gefallen, wenn es das nicht getan hätte?«

»Nein, Charlie, ich glaube nicht.« Wieder machte er eine kleine Pause. »Nun ja, das hätten wir. Sie blieben also zu Hause. Gaben das Internat auf, verzichteten auf eine ordentliche Ausbildung ihres ausgezeichneten, sich gerade entwickelnden Geistes, kümmerten sich um Ihre Mutter, warteten auf die Entlassung Ihres Vaters. Stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Und sind nicht ein einziges Mal ins Gefängnis gegangen?«

»Himmel!« flüsterte sie hoffnungslos. »Warum drehen Sie mir so das Messer im Bauch rum?«

»Sind nicht einmal in die Nähe gekommen?« »Nein!«

Sie hielt die Tränen mit einem Mut zurück, den sie bestimmt bewunderten. ›Wie hat sie nur damit fertig werden können?‹ mussten sie sich fragen. Sowohl damals wie jetzt? Warum stocherte er nur so unbarmherzig in ihren alten Wunden herum? Das Schweigen war wie eine Pause zwischen zwei Schreien. Man hörte nur das schabende Geräusch von Litvaks Kugelschreiber, der über die Seiten des Notizbuchs flog.

»Ist da was, womit du was anfangen kannst, Mike?« wandte Kurtz sich an Litvak, ohne den Blick von ihr zu wenden.

»Durchaus«, hauchte Litvak, während sein Kugelschreiber weiter übers Papier huschte. »Das beweist Mumm, da passt eines zum anderen, daraus lässt sich was machen. Ich möchte bloß wissen, ob sie nicht irgendwo eine zu Herzen gehende Anekdote über diese Gefängnissache hat. Oder vielleicht besser noch darüber, wie er wieder rausgekommen ist - über die letzten Monate - warum nicht?«

»Charlie?« sagte Kurtz knapp und gab Litvaks Frage weiter.

Charlie bemühte sich sichtlich, darüber nachzudenken, bis ihr dann ein Einfall kam. »Nun ja, da war diese Sache mit den Türen«, sagte sie zweifelnd.

»Mit den Türen?« fragte Litvak. »Was für Türen?«

»Warum erzählen Sie’s uns nicht?« ermunterte Kurtz sie.

Eine Pause, während Charlie eine Hand hob und sich vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger über dem Nasenbein zwickte und dadurch tiefsten Kummer und eine leichte Migräne andeutete. Sie hatte die Geschichte schon oft erzählt, aber nie so gut wie jetzt. »Wir erwarteten ihn erst in einem Monat - er rief auch nicht an, wie sollte er auch? Wir waren umgezogen und lebten von der Wohlfahrt. Er kreuzte einfach auf, sah schlanker und jünger aus. Haare geschnitten. ›Hallo, Chas, ich bin entlassen.‹ Drüc kte mich an sich. Mum war oben, hatte viel zuviel Angst, um runterzukommen. Er war vollkommen unverändert. Bis auf die Sache mit den Türen. Die konnte er nicht aufmachen. Ging auf sie zu, blieb stehen, stand in Hab-Acht-Stellung da, den Kopf gesenkt, und wartete darauf, dass der Aufseher ihm aufschloss.« »Und der Aufseher - das war sie«, ließ Litvak sich leise neben Kurtz vernehmen. »Seine eigene Tochter. Donnerwetter

»Als es das erstemal passierte, konnte ich es nicht glauben. Ich schrie ihn an: ›Mach doch die Scheiß-Tür auf!‹ Aber seine Hand weigerte sich buchstäblich.«

Litvak schrieb wie ein Besessener. Kurtz hingegen war weniger begeistert. Er hatte die Nase wieder in die Unterlagen gesteckt, und sein Gesicht ließ erkennen, dass er ernste Vorbehalte hatte. »Charlie - ich habe hier ein Interview, das Sie mal gegeben haben - der Ipswich Gazette, stimmt’s? -, und darin erzählen Sie irgendeine Geschichte, wie Ihre Mutter und Sie gemeinsam eine Anhöhe vorm Gefängnis hinaufgestiegen sind, um zu winken, damit Ihr Vater Sie von seinem Zellenfenster aus sehen konnte. Aber nach dem, was Sie uns gerade eben erzählt haben, sind Sie nicht ein einziges Mal auch nur in die Nähe des Gefängnisses gekommen«

Charlie brachte es sogar fertig zu lachen - ein volltönendes Lachen, auch wenn von den Schatten kein Echo kam. »Aber, Marty, das war ein Interview, das ich gegeben habe«, sagte sie nachsichtig, weil er ein so ernstes Gesicht machte.

»Ja, und?«

»In Interviews motzt man die eigene Vergangenheit doch immer ein bisschen auf, um sie interessant zu machen.« »Haben Sie das hier bei uns etwa auch gemacht?« »Selbstverständlich nicht.«

»Quilley, Ihr Agent, hat irgendeinem Bekannten von uns vor kurzem erzählt, Ihr Vater sei im Gefängnis gestorben. Keineswegs zu Hause. Auch aufgemotzt?«

»Das hat Ned erzählt, nicht ich.«

»Richtig. Also gut. Einverstanden.«

Er klappte den Ordner zu, immer noch nicht überzeugt.

Sie konnte nicht anders. Sie drehte sich auf dem Stuhl um, wandte sich an Joseph und bat ihn indirekt, ihr aus der Klemme zu helfen. »Wie läuft es, Jose - gut?« »Sehr wirksam, würde ich sagen«, erwiderte er und beschäftigte sich auch weiterhin mit seinen eigenen Sachen. »Besser als in der Heiligen Johanna

»Aber, meine liebe Charlie - dein Text ist weit besser als der von Shaw.«

Er gratuliert mir nicht, sondern tröstet mich, dachte sie bekümmert. Aber warum war er nur so streng mit ihr. So spröde? Warum gab er sich so unnahbar, nachdem er sie doch hierher gebracht hatte? Rose aus Südafrika brachte ein Tablett mit Sandwiches. Rachel folgte ihr mit Keksen und einer Thermoskanne süßem Kaffee. »Wird hier niemals geschlafen?« beschwerte Charlie sich und griff zu. Doch niemand hörte ihre Frage. Oder vielmehr, weil alle sie durchaus gehört hatten, ging keiner darauf ein.

Die leichte, die mühelose Zeit war vorbei, und jetzt kam die lang erwartete gefährliche Phase, die Zeit der erhöhten Wachsamkeit vor Tagesanbruch, da ihr Kopf am klarsten und ihr Zorn am heftigsten war - mit anderen Worten die Zeit, da Charlies zurückgestellte politische Einstellung - von der Kurtz ihr versichert hatte, dass sie alle tiefste Hochachtung davor hätten - hervorgeholt und ihr Dampf gemacht werden sollte. Wieder lag alles in Kurtz’ Händen und lief nach einer bestimmten Reihenfolge und festgelegten Logik ab. Frühe Einflüsse, Charlie. Daten, Orte, Menschen, Charlie: Nennen Sie uns Ihre fünf Grundsätze, von denen Sie sich leiten lassen, ihre ersten zehn Begegnungen mit der militanten Alternative. Aber Charlie war nicht mehr nach Objektivität zumute. Ihr toter Punkt war vorüber, und jetzt begann ein Gefühl des Aufbegehrens in ihr zu rumoren, wie die Munterkeit ihrer Stimme und ihre flink hin und her schießenden Blicke ihnen hätten verraten sollen. Sie hatte sie alle satt bis obenhin. War es leid, in dieser Waffenbrüderschaft auch noch hilfreich zu sein, mit verbundenen Augen von einem Raum in den anderen geführt zu werden, ohne zu wissen, was diese durchtrainierten, sie willkürlich führenden Hände an ihrem Ellbogen machten und was diese klugen Stimmen ihr ins Ohr flüsterten. Das Opfer in ihr wartete nur darauf, endlich kämpfen zu können.

»Charlie, was Sie uns jetzt sagen, ist ausschließlich, wirklich ausschließlich für die Unterlagen bestimmt«, erklärte ihr Kurtz. »Haben wir es erst mal in unseren Unterlagen festgehalten, werden wir in der Lage sein, Ihnen ein paar Schleier abzunehmen«, versicherte er ihr. Trotzdem ließ er sich nicht davon abbringen, sie noch einmal durch einen ermüdenden Katalog von Demos und Sit-ins, Protestmärschen und Besetzungen und Samstag-nachmittag-Revolutionen hindurchzuführen und sie in jedem einzelnen Fall nach dem auszufragen, was er ›die Beweggründe‹ nannte, die hinter ihren Handlungen gestanden hätten.

»Himmelherrgott, hören Sie endlich auf, uns kritisch zu beurteilen, ja?« fuhr sie ihn an. »Man kann uns nicht logisch erklären, wir verfügen nicht über besondere Informationen, wir sind nicht organisiert...«

»Ja, was sind Sie dann, meine Liebe?« fragte Kurtz mit heiligmäßiger Freundlichkeit.

»Und lieb sind wir auch nicht. Wir sind Menschen. Erwachsene Menschen, kapiert? Hören Sie also endlich auf, mich zu quälen!«

»Charlie, wir quälen Sie doch nicht. Niemand hier will Sie quälen.« »Ach, ihr könnt mich alle mal!«

Sie hasste sich in dieser Stimmung. Hasste die Schroffheit, die in ihr durchbrach, wenn man sie in die Ecke trieb. Sie sah sich, wie sie furchtlos mit ihren schwachen Frauenfäusten gegen eine riesige Holztür hämmerte, während ihre kreischende Stimme mit gefährlich unüberlegten Schlagworten kämpfte. Gleichzeitig liebte sie jedoch die leuchtenden Farben, die sich zusammen mit ihrem Zorn einstellten, das herrliche Befreit-Sein, das zerschlagene Porzellan. »Wozu soll es gut sein, an was zu glauben, ehe man etwas ablehnt?« wollte sie wissen und erinnerte sich damit an eine großartige Phrase, die Long Al ihr - oder war es jemand anders gewesen - eingetrichtert hatte. »Vielleicht heißt etwas ablehnen, ja glauben. Ist das Ihnen jemals aufgegangen? Wir führen einen anderen Krieg, Marty - den wirklichen. Da steht nicht Macht gegen Macht oder Ost gegen West. Da stehen die Hungrigen gegen die Schweine, Sklaven gegen Unterdrücker. Sie glauben, Sie sind frei, nicht wahr? Aber das sind Sie nur, weil jemand anders in Ketten liegt. Sie essen, dafür muss jemand anders verhungern. Sie laufen, jemand anders steht still. Wir müssen das Ganze verändern.«

Einst hatte sie das geglaubt; hatte es wirklich geglaubt. Vielleicht tat sie das immer noch. Sie hatte es erkannt und sah es ganz klar vor Augen. Sie hatte damit bei Wildfremden angeklopft und beobachtet, wie sich die Feindseligkeit aus ihrem Gesicht verflüchtigte, sobald sie erst mal bis zu ihnen durchgedrungen war. Sie hatte es gefühlt und war dafür auf die Straße gegangen: für das Recht der Menschen, das Denken der Menschen zu befreien, sich gegenseitig aus dem Morast kapitalistischer und rassistischer Konditioniertheit herauszuziehen und sich einander zwanglos und brüderlich zuzuwenden. Dort draußen vermochte diese Vision an einem klaren Tag auch heute noch ihr Herz zu füllen und sie zu mutigen Taten hinzureißen, vor denen sie, wenn die Begeisterung sich nicht erfüllte, zurückgeschreckt wäre. Aber hier in diesen vier Wänden und umgeben von all diesen klugen Gesichtern war kein Raum für sie, um ihre Flügel auszubreiten.

Sie versuchte es noch einmal, mit schriller Stimme diesmal: »Wissen Sie, Marty, einer der Unterschiede, wenn man so alt ist wie Sie und so alt wie ich, liegt doch darin, dass es uns einfach nicht gleichgültig ist, für wen wir unsere Existenz aufs Spiel setzen. Aus irgendeinem Grunde sind wir nun mal nicht scharf darauf, unser Leben für eine multinationale Gesellschaft mit Sitz in Liechtenstein und Bankkonto auf den Holländischen Antillen zu opfern!« Das nun hatte sie ganz bestimmt von Al. Sie übernahm sogar sein sarkastisches Gekrächze, um es herauszubringen. »Wir finden es einfach nicht in Ordnung, dass Menschen, die wir nicht kennen, von denen wir noch nie gehört und die wir auch nicht gewählt haben, sich anmaßen, die Welt für uns zu ruinieren. Wir lieben nun mal keine Diktatoren, so komisch das ist, egal, ob es Gruppen von Leuten sind oder Gruppen von Ländern oder Institutionen. Und wir haben auch nichts für Rüstungswettlauf, chemische Kriegführung oder irgendetwas sonst übrig, was dieses Katastrophenspiel bestimmt. Wir sind der Meinung, dass der jüdische Staat nicht unbedingt eine imperialistische amerikanische Garnison sein muss, und glauben auch nicht, dass die Araber verlauste Wilde oder dekadente Ölscheichs sind. Abo lehnen wir ab. Statt bestimmte Leitbilder zu haben - oder bestimmte Vorurteile und Bindungen. Deshalb ist Ablehnung was Positives, oder? Weil es was Positives ist, diese Dinge nicht zu haben, kapiert?«

»Nun mal genau, Charlie, die Welt wie ruinieren?« fragte Kurtz, während Litvak geduldig weiterschrieb.

»Indem man sie vergiftet. Sie verbrennt. Sie mit Schadstoffen und Kolonialismus und der totalen, berechneten geistigen Knüppelung der Arbeiter verschandelt und...« Und der andere Text fällt mir gleich wieder ein, dachte sie. »Also kommen Sie nicht, und fragen Sie mich nicht nach den Namen und Adressen meiner fünf Haupt-Gurus - einverstanden, Marty? Die hab’ ich nämlich hier drin« - sie klopfte sich an die Brust - »und seien Sie nicht so verdammt überheblich, wenn ich Ihnen nicht die ganze beschissene Nacht lang Che Guevara zitieren kann; fragen Sie mich doch einfach, ob ich möchte, dass die Welt nicht untergeht, und ob meine Kinder...« »Können Sie Che Guevara zitieren?« fragte Kurtz interessiert.

»Moment mal«, sagte Litvak und hob eine durchscheinende Hand, während er mit der anderen wie gehetzt schrieb. »Das ist fabelhaft! Nur einen kleinen Moment, ja, Charlie?«

»Warum greift ihr nicht mal tief in die Tasche und schafft euch ein Scheiß-Tonbandgerät an?« fuhr Charlie ihn an. Ihre Wangen waren gerötet. »Oder klaut eins, wenn das schon auf eurer Linie liegt?«

»Weil wir keine Woche Zeit haben, die Niederschriften zu lesen«, erwiderte Kurtz, während Litvak weiterschrieb. »Das Ohr wählt aus, verstehen Sie, meine Liebe. Das tun Geräte nicht. Geräte sind unökonomisch. Können Sie Che Guevara wirklich zitieren, Charlie?« wiederholte er, während sie warteten. »Nein, natürlich kann ich das nicht, verdammt noch mal.«

Hinter ihr - ihr kam es vor, als wäre er einen Kilometer weit weg - modifizierte Josephs körperlose Stimme sanft ihre Antwort. »Aber sie könnte es, wenn sie ihn auswendig lernte. Sie hat ein phantastisches Gedächtnis«, versicherte er ihnen mit einem Hauch von Schöpferstolz. »Sie braucht nur was zu hören, und schon hat sie’s intus. Sie könnte in einer Woche seine gesamten Schriften auswendig lernen, wenn sie wollte.«

Warum hatte er gesprochen? Versuchte er, die Wogen zu glätten? Zu warnen? Oder sich zwischen Charlie und ihre unmittelbare Vernichtung zu stellen? Aber Charlie war nicht in der Stimmung, auf seine Feinheiten einzugehen, und Kurtz und Litvak besprachen sich wieder, diesmal auf Hebräisch.

»Hättet ihr was dagegen, in meiner Anwesenheit englisch zu sprechen, ihr beiden?« wollte sie wissen.

»Gleich, meine Liebe«, sagte Kurtz freundlich und redete weiter hebräisch.

Mit demselben klinischen Vorgehen - ausschließlich für unsere Unterlagen, Charlie - führte Kurtz sie übergewissenhaft durch die noch verbliebenen widersprüchlichen Artikel ihres wenig gefestigten Glaubens. Charlie fuchtelte mit den Armen herum und wütete und fuchtelte nochmals mit den Armen, sie tat es mit der wachsenden Verzweiflung der Halbgebildeten. Kurtz, der nur selten kritisierte und immer höflich blieb, warf zwischendurch einen Blick in seine Papiere, hielt inne, um sich mit Litvak zu beraten, oder notierte sich für seine eigenen undurchsichtigen Zwecke ein paar Dinge auf seinem Block. Während sie verbissen weiterirrte, kam sie selbst sich wie bei einem jener improvisierten Lehrstücke in der Schauspielschule vor und bemühte sich, in eine Rolle hineinzuschlüpfen, die ihr -je weiter sie kam - immer unverständlicher vorkam. Sie beobachtete ihre eigenen Gesten, doch die schienen mit dem, was sie sagte, nichts mehr zu tun zu haben. Sie protestierte, also war sie frei. Sie schrie, also protestierte sie. Sie lauschte ihrer Stimme, und die gehörte überhaupt niemand. Dem Bettgeflüster mit einem längst vergessenen Liebhaber entnahm sie einen Satz von Rousseau, von irgendwo anders her holte sie sich eine Stelle von Marcuse. Sie sah, wie Kurtz sich zurücklehnte, die Augen niederschlug, nickte und den Bleistift hinlegte - also war entweder sie fertig, oder er war es. Aber sie fand, dass sie sich trotz des hervorragenden Publikums und der Erbärmlichkeit ihres Textes ganz gut gehalten hatte. Kurtz schien das gleichfalls so zu sehen. Ihr war wohler zumute, und sie hatte das Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Kurtz erging es offensichtlich ebenso. »Charlie, ich muss Sie einfach beglückwünschen«, erklärte er. »Sie haben sich sehr ehrlich und sehr freimütig geäußert, und dafür danken wir Ihnen.«

»Das tun wir wirklich«, murmelte Litvak, der Schreiber. »Geschenkt«, erwiderte sie und kam sich hässlich und überhitzt vor.

»Haben Sie was dagegen, wenn ich jetzt ein bisschen Struktur in das Ganze bringe«, fragte Kurtz.

»Ja, das hab’ ich.«

»Wieso denn das?« sagte Kurtz, zeigte aber keinerlei Überraschung.

»Wir sind eine Alternative, deshalb. Wir sind keine Partei, wir sind nicht organisiert, wir haben kein fest umrissenes Programm. Und wir pfeifen auf jede Scheiß-Struktur.«

Sie wünschte, sie könnte irgendwie aus der verdammten Scheiße heraus. Oder dass ihr die Flucherei in dieser nüchternen Gesellschaft müheloser über die Lippen käme.

Kurtz ließ es sich trotzdem nicht nehmen, Struktur in das Ganze zu bringen, und bemühte sich betont, dabei sehr gewissenhaft vorzugehen.

»Was wir hier vor uns haben, Charlie, scheint einerseits die Grundvoraussetzung des klassischen Anarchismus zu sein, wie er vom achtzehnten Jahrhundert an bis heute gepredigt wird.« »Ach du dickes Ei!«

»Und zwar die Ablehnung jeglicher Reglementierung. Womit wir es hier zu tun haben, das ist die Überzeugung, dass jede Regierung von Übel ist, dass folglich auch der Nationalstaat von Übel ist, das Bewusstsein, dass beide zusammen im Widerspruch zur freien Entfaltung des Individuums stehen. Sie fügen noch ein paar moderne Einstellungen hinzu. Also etwa Ihre Ablehnung von Langeweile, Wohlstand, von dem, was man, wenn ich nicht irre, das klimatisierte Elend des westlichen Kapitalismus nennt. Sie selbst erinnern dann noch an das wahre Elend, in dem drei Viertel der Weltbevölkerung dahinvegetieren. Richtig, Charlie? Haben Sie dagegen was einzuwenden? Oder können wir uns das ›Ach du dickes Ei‹ diesmal schenken?«

Sie würdigte ihn keiner Antwort, sondern zog es vor, mit verzerrtem Gesicht ihre Fingernägel zu betrachten. Himmelherrgott - was spielten Theorien heutzutage noch für eine Rolle? wollte sie sagen. Die Ratten haben das Schiff bereits in Besitz genommen, so einfach ist das häufig. Alles andere ist narzisstischer Quatsch. Musste es sein.

»In der heutigen Welt«, fuhr Kurtz ungerührt fort, »in der heutigen Welt haben Sie, so würde ich meinen, mehr gute Gründe, sich zu dieser Ansicht zu bekennen, als Ihre Vorväter je hatten, schon allein deshalb, weil die Nationalstaaten heutzutage mächtiger sind denn je; das gleiche gilt für die großen Gesellschaften und für die Gelegenheiten zur Reglementierung.«

Ihr ging auf, dass er sie führte, doch sah sie keinerlei Möglichkeit mehr, ihn davon abzuhalten. Er unterbrach sich, um ihr Gelegenheit zu geben, etwas dazu zu sagen, doch blieb ihr nichts anderes übrig, als das Gesicht abzuwenden und ihre wachsende Unsicherheit hinter einer Maske zorniger Ablehnung zu verbergen.

»Sie sind gegen die außer Rand und Band geratene Technik«, fuhr er gleichmütig fort. »Nun, das hat schon Huxley für Sie getan. Sie zielen darauf ab, menschliche Motive freizusetzen, die endlich einmal weder auf Konkurrenzdenken noch auf Aggression beruhen. Doch um das bewerkstelligen zu können, müssen Sie erst die Ausbeutung abschaffen. Fragt sich nur, wie.«

Wieder hielt er inne, und seine Pausen wurden für sie bedrohlicher als das, was er sagte; es waren die Pausen auf dem Weg zum Schafott.

»Hören Sie auf, so gönnerhaft zu mir zu sein, Marty. Bitte, hören Sie damit auf!«

»Nun, wenn ich Sie recht interpretiere, Charlie«, fuhr Kurtz unbeirrt freundlich fort, »ist es genau das Thema Ausbeutung, bei dem wir vom verbalen Anarchismus, um ihn mal so zu nennen, in den praktizierten Anarchismus umkippen.« Er wandte sich an Litvak, spielte ihn gegen sie aus. »Sie wollten dazu was sagen, Mike?«

»Ich wollte sagen, die Ausbeutung ist das Thema, um das sich alles dreht, Marty«, sagte Litvak leise. »Setzen Sie statt Ausbeutung Eigentum, und Sie haben es auf die kürzeste Formel gebracht. Zuerst gibt der Ausbeuter seinem Lohnsklaven eins mit seinem überlegenen Reichtum über den Schädel; dann unterzieht er ihn einer Gehirnwäsche, so dass er glaubt, Vermögensbildung sei ein gültiger Grund, ihn zu zerbrechen und zu zermahlen. Auf diese Weise hat er ihn doppelt geködert.«

»Großartig«, sagte Marty vergnügt. »Die Vermögensbildung ist von Übel, folglich ist Vermögen, Eigentum an sich von Übel, folglich sind diejenigen von Übel, die das Eigentum schützen, folglich gilt es - da Sie zugegebenermaßen keine Geduld mit dem demokratischen Entwicklungsprozess haben - das Eigentum abzuschaffen und die Reichen umzubringen. Soweit einverstanden, Charlie?«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Mit so was hab’ ich nichts zu tun.«

Marty schien enttäuscht. »Soll das heißen, Sie lehnen es ab, den Ausbeuterstaat abzuschaffen, Charlie? Wieso denn das? Plötzlich kleinmütig geworden?« Und, wieder zu Litvak gewandt: »Ja, Mike?«

»Der Staat ist ein Tyrann«, warf Litvak hilfreich ein. »Genau das hat Charlie gesagt. Außerdem hat sie auch noch von der Gewalttätigkeit des Staates, dem Terrorismus des Staates, der Diktatur des Staates gesprochen - schlechter kann ein Staat eigentlich nicht sein.« setzte Litvak noch mit einer Stimme hinzu, die irgendwie Verwunderung ausdrückte.

»Aber das bedeutet doch noch lange nicht, dass ich rumlaufe, Leute umbringe und irgendwelche Scheißbanken ausraube! Himmel! Was soll das?«

Kurtz ließ sich von ihrem Ausbruch nicht beeindrucken. »Charlie, Sie haben uns gegenüber deutlich gemacht, dass die Kräfte von Gesetz und Ordnung nichts weiter sind als die Handlanger einer falschen Autorität.« Litvak steuerte eine Fußnote bei. »Und dass es für die Massen bei den Gerichten keine Gerechtigkeit gibt«, gab er Kurtz zu bedenken.

»Das stimmt doch auch! Das ganze System ist ein Fehlschlag! Es ist erstarrt, es ist korrupt, es begünstigt die Besitzenden, es…«

»Ja, warum es dann nicht zerstören?« fragte Kurtz durchaus wohlwollend. »Warum sprengen Sie es dann nicht in die Luft und erschießen Sie nicht jeden Polizisten, der versucht, Sie daran zu hindern, oder überhaupt jeden Polizisten, der es nicht tut? Warum jagen Sie nicht die Kolonialisten und die Imperialisten in die Luft, wo immer Sie sie finden? Wo bleibt denn plötzlich die Integrität, der Sie sich so rühmen? Was ist denn schiefgelaufen?« »Ich will überhaupt nichts in die Luft sprengen! Ich will Frieden! Ich möchte, dass die Menschen frei sind!« erklärte sie verbissen und zog sich Hals über Kopf auf das einzige zurück, was ihr Sicherheit bot.

Doch Kurtz schien sie nicht zu hören. »Sie enttäuschen mich, Charlie«, sagte er. »Plötzlich mangelt es Ihnen an Folgerichtigkeit. Sie haben durchschaut, worauf es ankommt. Weshalb gehen Sie dann jetzt nicht hin und ändern etwas daran? Warum geben Sie sich eben noch als eine Intellektuelle, die Augen und Grips genug hat zu sehen, was von den irregeleiteten Massen nicht zu durchschauen ist, und gleich darauf haben Sie nicht den Mumm, hinzugehen und zum Wohle derer, deren Herzen und Gemüter von den kapitalistischen Machthabern versklavt sind, etwas zu unternehmen - ihnen einen kleinen Dienst zu erweisen, zum Beispiel durch Diebstahl, zum Beispiel durch Mord, zum Beispiel dadurch, dass Sie etwas in die Luft sprengen - sagen wir mal, ein Polizeirevier. Nun kommen Sie schon, Charlie, wo bleibt das Handeln? Sie sind die Freie hierunter uns. Jetzt lassen Sie uns nicht nur Worte hören, sondern Taten sehen.«

Kurtz’ ansteckende Lustigkeit hatte sich zu neuen Höhen aufgeschwungen. Die Krähenfüße an seinen Augenwinkeln waren so tief, dass sie wie schwarze Furchen in seine mitgenommene Haut eingeschnitten waren. Aber Charlie konnte auch kämpfen, redete ihn jetzt ganz unmittelbar an, setzte ihre Worte genauso ein, wie er es tat, erschlug ihn damit und versuchte, sich mit Gewalt an ihm vorbei einen letzten Ausweg in die Freiheit zu bahnen.

»Hören Sie, ich bin oberflächlich, kapiert, Marty? Ich bin nicht belesen, bin ungebildet und kann nicht zusammenzählen, logisch argumentieren oder analysieren. Ich habe eine zweitklassige teure Schule besucht, und ich wünsche zu Gott -und zwar mehr als alles andere auf der Welt -, ich wäre irgendwo in einem Provinznest in einer Seitenstraße zur Welt gekommen, und mein Vater hätte sich sein Geld mit seiner Hände Arbeit verdient, statt alte Damen um ihre lebenslangen Ersparnisse zu bringen! Ich habe es bis obenhin satt, einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden, und es kotzt mich an, mir Tag für Tag fünfzehntausend Gründe anhören zu müssen, warum ich meinen Nächsten nicht von gleich zu gleich lieben soll, und ich möchte ins Bett, verdammt noch mal!«

»Wollen Sie mir etwa sagen, Sie widerriefen diese Einstellung, die Sie uns dargelegt haben, Charlie?«

»Ich habe keine Einstellung, die ich Ihnen dargelegt hätte.«

»Sie haben keine?«

»Nein!« »Keine feste Einstellung, keine Verpflichtung zu handeln, bis auf die, dass Sie sich an niemand gebunden fühlen.«

»Ja.«

»Friedlich an niemand gebunden«, fügte Kurtz noch zufrieden hinzu. »Sie gehören also der extremen Mitte an.« Er knöpfte die linke obere Brusttasche auf, fummelte mit den dicken Fingern darin herum und holte unter einem ganzen Haufen Krimskrams einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt hervor, einen ziemlich langen, der- da er ihn so gesondert aufbewahrt hatte - sich auf irgendeine Weise von denen unterscheiden musste, die in dem Aktenordner abgeheftet waren.

»Charlie, vorhin haben Sie flüchtig erwähnt, Sie und Al hätten irgendwo unten in Dorset an einem Wochenendseminar teilgenommen«, sagte Kurtz und faltete den Zeitungsausschnitt umständlich auseinander. »›Ein Wochenendseminar über radikales Denken‹ , so haben Sie es bezeichnet, glaube ich. Wir haben uns nicht eingehend damit beschäftigt, was dabei herausgekommen ist; wenn ich mich recht erinnere, sind wir über diesen Teil unserer Unterhaltung einfach hinweggegangen. Haben Sie was dagegen, wenn wir da noch etwas tiefer bohren?«

Wie jemand, der sein Gedächtnis auffrischt, las Kurtz schweigend den Zeitungsausschnitt durch und schüttelte dabei gelegentlich den Kopf, als wollte er sagen: »Na, so was.«

»Scheint gar nicht so ohne zu sein«, meinte er jovial, während er weiter las. »Ausbildung an Gewehrattrappen. Sabotagetechniken - wobei selbstverständlich kein echter Sprengstoff benutzt wurde, sondern Plastilin. Wie man im Untergrund lebt. Überleben. Die Philosophie der Stadt-Guerilla. Selbst wie man sich um einen Gast - wider Willen - kümmert. Verstehe: ›Ingewahrsamnehmen aufmüpfiger Elemente unter wohnungsähnlichen Verhältnissen‹. Das gefällt mir. Ein schöner Euphemismus.« Er blickte über den Rand des Zeitungsausschnitts hinweg. »Handelt es sich um einen mehr oder weniger zutreffenden Artikel, oder haben wir es hier mit einer der typischen Übertreibungen der kapitalistischzionistischen Presse zu tun?«

Sie glaubte nicht mehr an seine guten Absichten, doch er wollte auch nicht, dass sie das tat. Kurtz’ alleiniges Ziel war es, sie mit Schrecken vor ihren eigenen extremen Ansichten zu erfüllen und sie zu zwingen, sich von Positionen zurückzuziehen, die einzunehmen ihr gar nicht bewusst war. Manche Verhöre dienen nur dazu, die Wahrheit, andere, Lügen hervorzulocken. Kurtz ging es um Lügen. Seine heisere Stimme hatte daher merklich etwas Hartes bekommen, und der lustige Ausdruck auf seinem Gesicht verflüchtigte sich zusehends.

»Wollen Sie uns vielleicht ein objektiveres Bild zeichnen, Charlie?« fragte Kurtz.

»Das war Als Szene, nicht meine«, sagte sie trotzig und machte ihren ersten Rückzieher.

»Aber Sie sind zusammen hingefahren.« »Wir hatten beide kein Geld, und so war es ein billiges Wochenende auf dem Land. Das ist alles.«

»Das ist alles«, murmelte Kurtz und überließ sie einem ausgedehnten und schuldbewusstem Schweigen, das zu schwer auf ihr lastete, als dass sie es ohne weiteres hätte beiseite schieben können.

»Es waren ja nicht nur er und ich da«, begehrte sie auf. »Da waren - mein Gott! - zwanzig von uns. Junge Leute, Schauspieler. Manche besuchten sogar noch die Schauspielschule. Man mietete einen Bus, man haschte ein bisschen, und man spielte bis zum Morgen Wechsel-die-Bettchen. Was soll daran weiter schlimm sein?«

Kurtz hatte im Moment keine Meinung dazu, was schlimm war und was nicht.

»Man«, sagte er. »Aber was haben Sie getan? Den Bus gefahren? Wo Sie doch eine so großartige Autofahrerin sind, wie wir hören.«

»Ich habe Al begleitet. Wie ich schon sagte. Es war seine Szene, nicht meine.« Sie hatte den Halt verloren und fiel. Sie wusste kaum, wie sie abgerutscht war oder wer ihr auf die Finger getreten hatte. Vielleicht hatte sie auch nur die Müdigkeit überwältigt, und sie hatte deshalb losgelassen. Vielleicht hatte sie das aber auch schon die ganze Zeit über gewollt.

»Und wie oft, meinen Sie, haben Sie sich so was gegönnt, Charlie? Hitzige Reden zu führen? Hasch zu rauchen? In aller Unschuld in freier Liebe zu machen, während andere sich einer Terroristenausbildung unterzogen? Sie reden, als ob es so was alle Tage gegeben hätte. Stimmt das? War so was üblich?«

»Nein, es war nicht üblich! Das ist aus und vorbei, und ich habe mir so was nicht gegönnt

»Möchten Sie uns sagen, wie häufig so was vorkam?«

»Es ist auch nicht häufig vorgekommen.«

»Wie oft?«

»Ein paarmal. Das ist alles. Dann bekam ich kalte Füße.« Sie fiel, geriet ins Trudeln, und das Dunkel verdichtete sich. Überall um sie herum Luft, ohne sie freilich zu berühren. Joseph, hol mich hier raus! Aber Joseph hatte sie ja gerade reingezogen. Sie horchte auf seine Stimme, sandte ihm mit dem Hinterkopf kleine Botschaften, aber er reagierte nicht. Kurtz sah sie unbewegt an, und sie erwiderte seinen Blick unbewegt. Sie hätte geradenwegs durch ihn hindurch gesehen, wäre sie dazu imstande gewesen; am liebsten hätte sie ihn mit ihrem trotzigen Funkeln geblendet.

»Ein paarmal«, wiederholte er nachdenklich. »Richtig, Mike?«

Litvak sah von seinen Notizen auf. »Ein paarmal«, wiederholte er echogleich.

»Wollen Sie uns denn erzählen, warum Sie kalte Füße bekommen haben?« fragte Kurtz. Ohne den Blick von ihr zu lassen, griff er nach Litvaks Hefter.

»Es war eine harte Szene«, sagte sie, plötzlich leise, wegen der Wirkung.

»Hört sich so an«, sagte Kurtz und schlug den Hefter auf. »Ich meine aber nicht politisch. Ich meine, was den Sex betrifft. Das war mir einfach zuviel. Seien Sie doch nicht so schwer von Begriff.«

Kurtz leckte sich den Daumen und blätterte eine. Seite um; leckte sich den Daumen und blätterte noch eine um; flüsterte Litvak etwas zu, der daraufhin ein paar Worte hauchte - und zwar nicht auf englisch. Er klappte den bräunlichen Ordner zu und ließ ihn in die Aktenmappe gleiten. »›Ein paarmal. Das war alles. Dann bekam ich

kalte Füße‹ «, intonierte er nachdenklich. »Wollen Sie diese Aussage in irgendeiner Weise revidieren?«

»Warum sollte ich?«

»›Ein paarmal.‹ Richtig?«

»Warum denn nicht?«

»Ein paarmal - das heißt: zweimal, stimmt’s?«

Das Licht über ihr verschwamm - oder schwamm ihr Kopf? Mit Bedacht drehte sie sich auf dem Stuhl um. Joseph saß über seinen Tisch gebeugt, viel zu beschäftigt, um auch nur aufzublicken. Sie wandte sich wieder ab und stellte fest, dass Kurtz immer noch wartete.

»Zwei- oder dreimal«, sagte sie. »Was soll das denn?«

»Und viermal? Kann ›ein paarmal‹ auch viermal bedeuten?«

»Ach, hören Sie doch auf!«

»Ich nehme an, das ist eine Sache der Linguistik. ›Ich habe meine Tante voriges Jahr ein paarmal besuchte Das könnte auch viermal bedeuten. Fünfmal wäre wohl das Äußerste. Bei fünfmal redet man schon von einem halben dutzendmal.« Langsam blätterte er in seinen Unterlagen. »Wollen Sie dieses ›ein paarmal‹ revidieren und ›ein halbes dutzendmal« draus machen, Charlie?«

»Ich habe ›ein paar Mal‹ gesagt und meine ›ein paar Mal‹.«

»Zweimal?«

»Ja, zweimal.« »Also zweimal. Jawohl, ich habe nur zweimal an so einem Wochenend-Seminar teilgenommen. Andere mögen an der kriegerischen Ausbildung teilgenommen haben, meine Interessen lagen auf sexuellem und gesellschaftlichem Gebiet. Mir ging es um die Erholung. Amen.‹ Gezeichnet: Charlie. Könnten Sie noch den genauen Zeitpunkt für die beiden Male angeben?«

Sie nannte ein Datum im vorigen Jahr, kurz nachdem Al und sie sich zusammengetan hatten. »Und das andere Mal?« »Das habe ich vergessen. Was spielt es für eine Rolle?«

»Sie hat es vergessen.« Er sprach so langsam, dass seine Stimme fast zum Stillstand kam, ohne indes etwas von ihrer Macht einzubüßen. Ihr war, als schliche sie wie ein plumpes Tier auf sie zu. »Ist es zum zweiten Mal bald nach dem ersten Mal gekommen, oder lag ein langer Zeitraum dazwischen?«

»Ich weiß es nicht mehr!«

»Sie weiß es nicht. Das erste Wochenende war ein Einführungsseminar für Anfänger, stimmt’s?«

»Ja.«

»In was wurden Sie denn eingeführt?«

»Hab’ ich Ihnen doch schon gesagt - in Gruppensex.«

»Keine Diskussionen, keine Seminare, keine Unterweisungen?« »Es hat Diskussionen gegeben, doch.« »Über welche Themen, bitte?« »Über Grundprinzipien.« »Von was?«

»Radikalismus - was denken Sie denn?« »Wissen Sie noch, wer zu Ihnen gesprochen hat?«

»Eine Lesbe mit fleckigem Gesicht über Women’s Lib. Ein Schotte über Kuba, jemand, den Al bewunderte.« »Und bei der anderen Gelegenheit - von der Sie nicht mehr wissen, wann es war, bei der zweiten und letzten Gelegenheit -, wer hat da Vorträge gehalten?«

Keine Antwort. - »Auch vergessen?«

»Ja!«

»Das ist ungewöhnlich, nicht wahr, dass Sie sich an das erstemal genau erinnern - den Sex, die Diskussionsthemen, die Seminarleiter. Und beim zweitenmal an überhaupt nichts?«

»Nachdem ich die ganze Nacht auf war und Ihnen Ihre verrückten Fragen beantwortet habe - nein, überhaupt nicht ungewöhnlich.«

»Wohin wollen Sie?« fragte Kurtz. »Möchten Sie ins Badezimmer? Rachel, bring Charlie ins Badezimmer! Rose!« Sie war aufgestanden. Aus den Schatten hörte sie weiche Füße auf sich zukommen.

»Ich haue ab. Nehme meine Optionen wahr. Ich will raus hier! Und zwar jetzt.«

»Ihre Optionen können Sie nur in ganz bestimmten Phasen wahrnehmen, und zwar dann, wenn Sie von uns dazu aufgefordert werden. Wenn Sie schon vergessen haben, wer beim zweiten Seminar, an dem Sie teilgenommen haben, die Diskussion geleitet hat, sagen Sie mir wenigstens, um was es dabei ging.«

Sie stand immer noch, und irgendwie machte sie das kleiner. Sie blickte sich um und sah Joseph, der sich - das Kinn auf gestützt - aus dem Lampenlicht herausgedreht hatte. Für ihre angsterfüllten Augen schien er in einer Art Mittelbereich zu schweben, Kurtz’ Stimme füllte weiterhin ihren Kopf und brachte die Menschen darin zum Schweigen. Sie stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sie beugte sich vor; sie befand sich in einer merkwürdigen Kirche, ohne Freunde, um sie zu beraten, wusste nicht, ob sie stehen oder knien sollte. Doch Kurtz’ Stimme war überall, und es hätte keine Rolle gespielt, ob sie sich auf den Boden gelegt oder durch das Butzenglasfenster entschwebt oder hundert Meilen fort gewesen wäre - nirgends war man sicher vor dem betäubenden Klang dieser sie bedrängenden Stimme. Sie nahm die Hände vom Tisch, verschränkte sie hinter dem Rücken, hielt sie fest, weil sie die Gewalt über ihre Gesten verlor. Hände spielen eine Rolle. Hände sprechen. Hände handeln. Sie spürte, wie sie sich gegenseitig trösteten wie verängstigte Kinder. Kurtz fragte sie nach einer Resolution. »Haben Sie sie nicht unterschrieben, Charlie?«

»Das weiß ich nicht!«

»Aber, Charlie, nach Beendigung eines solchen Seminars gehen doch immer Resolutionen herum. Es wird diskutiert. Und eine Resolution verabschiedet. Um was ging es bei dieser Resolution? Wollen Sie mir etwa im Ernst sagen, Sie wüssten nicht, um was es dabei ging, wüssten nicht, ob Sie sie unterschrieben haben oder nicht? Hätten Sie sich denn überhaupt weigern können, sie zu unterschreiben?«

»Nein.«

»Charlie, jetzt nehmen Sie doch mal Vernunft an. Wie kann ein Mensch von Ihrer allzu unterschätzten Intelligenz so etwas wie eine förmliche Resolution nach einem Drei-Tage-Seminar vergessen? Etwas, was man aufsetzt und formuliert - worüber man abstimmt - was angenommen wird oder nicht angenommen wird - unterzeichnet oder nicht unterzeichnet? Wie machen Sie das? Eine Resolution zu verfassen, ist doch ein mühseliger, ereignisreicher Vorgang, verdammt noch mal. Warum sind Sie plötzlich so vage, wo Sie doch, wenn es um anderes geht, von so wunderbarer Klarheit sein können?«

Es war ihr egal. Es war ihr alles so verdammt egal, dass sie sich nicht einmal die Mühe machte, ihm zu sagen, dass es ihr egal sei. Sie war hundemüde. Sie wollte sich wieder hinsetzen, schaffte es aber einfach nicht. Sie wollte eine Unterbrechung, wollte aufs Klo und Zeit haben, ihr Make-up aufzufrischen, wollte fünf Jahre schlafen. Es war ihr nichts geblieben als ein Restgefühl, was sich auf der Bühne schickte, und das sagte ihr, sie müsse stehen bleiben und es durchstehen.

Unter ihr hatte sich Kurtz ein neues Papier aus der Aktenmappe herausgefischt. Nachdem er besorgt darüber nachgedacht hatte, wandte er sich an Litvak mit der Frage: »Sie hat gesagt, zweimal, richtig?«

»Auf keinen Fall mehr als zweimal«, bestätigte Litvak. »Sie haben ihr jede Chance gegeben höherzugehen, aber sie hat sich auf zwei versteift.«

»Und wie oft war es von uns aus gesehen?«

»Fünfmal.«

»Wieso kommt sie dann auf zwei?«

»Sie untertreibt«, erklärte Litvak und schaffte es, noch enttäuschter dreinzublicken als sein Kollege. »Sie untertreibt um fast zweihundert Prozent.«

»Dann lügt sie«, sagte Kurtz, dem es offenbar schwer fiel, sich mit dem abzufinden, was das bedeutete.

»Das kann man wohl sagen«, sagte Litvak.

»Ich habe nicht gelogen. Ich hab’s vergessen. Es war Al. Ich bin wegen Al mitgegangen, das ist alles.«

Unter den Kugelschreibern in der obersten Brusttasche seiner Buschjacke verwahrte Kurtz auch noch ein khakifarbenes Taschentuch. Jetzt holte er es heraus und fuhr sich damit merkwürdig übers Gesicht, als ob er Staubwischen wollte. Am Mund endete die Bewegung, und er steckte das Taschentuch wieder in die Tasche. Dann legte er die Uhr noch mal woandershin, schob sie von der linken auf die rechte Seite, als wäre es ein Ritual, das nur für ihn allein Bedeutung hätte. »Sie wollen sich nicht setzen?«

»Nein.«

Ihre Weigerung stimmte ihn nur noch trauriger. »Charlie, ich verstehe Sie nicht mehr. Mein Vertrauen zu Ihnen schwindet mehr und mehr.«

»Dann lassen Sie’s doch schwinden, verdammt noch mal! Suchen Sie sich jemand anders, den Sie rumschubsen können! Wieso komme ich überhaupt dazu, mit irgendwelchen israelischen Halsabschneidern Gesellschaftsspiele zu spielen? Zieht doch los und jagt noch ein paar Araber mit ihrem Auto in die Luft! Lasst mich aus den Klauen! Ich hasse euch! Alle miteinander!«

Während sie dies sagte, hatte Charlie ein sonderbares Gefühl; ihr war, als hörten sie ihr nur halb zu und als konzentrierte sich die andere Hälfte ihrer Aufmerksamkeit darauf, ihre Technik zu studieren. Hätte jemand gerufen: »So, diese Passage noch einmal, Charlie. Vielleicht etwas langsamer« - sie wäre kein bisschen überrascht gewesen. Doch Kurtz war mittlerweile soweit, endlich zur Sache zu kommen, und nichts auf seines jüdischen Gottes Erde - das wusste sie inzwischen sehr wohl - konnte ihn davon abhalten. »Charlie, ich verstehe Ihre Ausflüchte nicht«, beharrte er. Seine Stimme kam wieder in Fahrt. Sie hatte nichts von ihrer alten Eindringlichkeit verloren. »Ich begreife einfach nicht die Diskrepanzen zwischen der Charlie, die Sie uns bieten, und der Charlie, wie sie uns aus unseren Unterlagen entgegentritt. Ihr erster Besuch dieser Revolutions-Schule fand am 15. Juli vorigen Jahres statt. Es handelte sich um einen Einführungskurs für Anfänger, der ganz allgemein unter dem Thema Kolonialismus und Revolution stand. Und richtig, Sie alle fuhren mit dem Bus hin, eine Gruppe von Leuten, die alle von der Bühne waren; Alastair gehörte auch dazu. Ihr zweiter Besuch - auch wieder mit Alastair - fand einen Monat später statt; diesmal hatten Sie und Ihre Kommilitonen es mit einem sogenannten Exil-Bolivianer zu tun, der seinen Namen nicht nennen wollte; und mit einem gleichfalls namenlosen Herrn, der behauptete, für den provisorischen Flügel der IRA zu sprechen. Großzügig, wie Sie waren, haben Sie beiden Organisationen je einen Scheck über fünf Pfund ausgestellt; die Fotokopien dieser Schecks haben wir hier vorliegen.«

»Ich hab’ das für Al getan. Er war pleite.«

»Zum dritten Mal fuhren Sie einen Monat später hin; bei dieser Gelegenheit haben Sie an einer leidenschaftlich geführten Diskussion über das Werk des amerikanischen Denkers Thoreau teilgenommen. Das Verdikt, zu dem die Gruppe kam - und dem Sie sich anschlössen - lautete, dass Thoreau in Sachen Militanz ein verblasener Idealist mit sehr wenig praktischem Verständnis für tatkräftiges Handeln sei -kurz gesagt: ein Trottel. Sie unterstützten dieses Verdikt nicht nur, sondern gaben sogar noch den Anstoß für eine Zusatzresolution, in der größerer Radikalismus von Seiten aller Genossen gefordert wurde.«

»Doch nur wegen Al! Ich wollte, dass er mich akzeptiert, wollte Al gefallen. Am nächsten Tag hatte ich das schon vergessen!«

»Im kommenden Oktober, waren Sie und Alastair wieder da, diesmal zu einer ganz besonders passenden Schulung mit dem Thema ›Bürgerlicher Faschismus in der kapitalistischen Gesellschaft des Westens‹ , und diesmal spielten Sie eine führende Rolle bei den Gruppendiskussionen, wobei Sie Ihre Genossen mit vielen tiefsinnigen Anekdoten über Ihren kriminellen Vater, Ihre kindische Mutter und Ihre repressive Erziehung ganz allgemein beglückten.« Sie hatte aufgegeben zu protestieren. Sie hatte aufgehört nachzudenken und zu begreifen. Sie hatte absichtlich alles vor den Augen verschwimmen lassen, ein Stück Fleisch von der Mundinnenseite zwischen die Zähne genommen und biss zaghaft darauf herum, um sich zu bestrafen. Aber sie konnte nicht aufhören zuzuhören; das ließ Martys Stimme nicht zu. »Und zum allerletzten Mal waren Sie dann, wie Mike hier uns sagte, im Februar dieses Jahres dort, wobei Sie und Alastair eine Sitzung mit Ihrer Anwesenheit beehrten, deren Thema Sie eigensinnig verdrängt haben, bis eben jedenfalls, als Sie sich zu einer Verteufelung des Staates Israel hinreißen ließen. Diesmal ging es in der Diskussion ausschließlich um die beklagenswerte Expansion des Welt-Zionismus und seine Verzahnung mit dem amerikanischen Imperialismus. Der Hauptakteur war ein Herr, der dem Vernehmen nach die palästinensische Revolution vertrat, wenn er sich auch weigerte zu erklären, zu welchem Flüge! dieser großen Bewegung er gehörte. Er weigerte sich sogar im wahrsten Sinne des Wortes, sich zu enthüllen, da er sein Gesicht hinter einer Wollmütze verbarg, die ihm das passende unheimliche Aussehen verlieh. Erinnern Sie sich immer noch nicht an diesen Redner?« Er ließ keine Zeit zu antworten. »Das Thema, über das er sprach, war sein eigenes Heldenleben als großer Kämpfer und Zionistenkiller. ›Die Pistole ist der Pass für meine Rückkehr in die Heimat‹ , erklärte er. ›Wir sind keine Flüchtlinge mehr. Wir sind Revolutionäre!‹ Er löste eine gewisse Beunruhigung um sich herum aus, und ein oder zwei Stimmen - die Ihre war nicht dabei - fanden, dass er ein wenig zu weit gegangen sei.« Er hielt inne, doch sie sprach immer noch nicht. Er zog seine Uhr dichter an sich heran und lächelte sie ein wenig trübe an. »Warum erzählen Sie uns diese Dinge nicht, Charlie? Warum winden Sie sich von Fall zu Fall durch und wissen nicht, was für einen Bären Sie uns als nächstes aufbinden sollen? Habe ich Ihnen nicht versichert, dass wir darauf angewiesen sind, Ihre Vergangenheit genau zu kennen? Und dass sie uns außerordentlich gut gefällt?« Wieder wartete er geduldig auf eine Antwort, doch vergebens. »Wir wissen, dass Ihr Vater nie ins Gefängnis gekommen ist. Dass der Gerichtsvollzieher nie bei Ihnen war und kein Mensch Ihnen Ihr Pony weggenommen hat. Der arme Mann ging aus Unachtsamkeit bankrott, eine kleine Pleite, bei der kein Mensch irgendwelchen Schaden erlitt, außer ein paar Bankmanagern am Ort. Das Verfahren wurde in allen Ehren aufgehoben, wenn man das so nennt, und zwar lange vor seinem Tode; ein paar Freunde sammelten etwas Geld, und Ihre Mutter blieb ihm eine stolze, ergebene Frau. Es war auch nicht Ihres Vaters Schuld, dass Sie vorzeitig von der Schule abgingen, sondern allein Ihre eigene. Sie hatten sich -lassen Sie mich das mal so ausdrücken - in der Kleinstadt, wo das Internat lag, ein wenig zu bereitwillig mit ein paar Jungs eingelassen, was prompt den Lehrern zugetragen wurde. Folglich wurden Sie Hals über Kopf als verderbtes und potentiell gefährliches Element von der Schule gejagt und zu Ihren sträflich nachsichtigen Eltern zurückgeschickt, die Ihnen zu Ihrer großen Frustration sämtliche Übertretungen verziehen und sich nach Kräften bemühten, Ihnen alles zu glauben, was Sie ihnen erzählten. Im Laufe der Jahre haben Sie eine einleuchtende Geschichte um das Ereignis gewoben, um es ertragen zu können, und glauben sie inzwischen selber, obwohl die Erinnerung daran Ihnen insgeheim immer noch schwer zu schaffen macht und Sie viele merkwürdige Wege einschlagen lässt.« Und wieder legte er seine Uhr an einen sicheren Platz auf dem Tisch. »Wir sind Ihre Freunde, Charlie. Denken Sie etwa, wir würden Ihnen wegen so etwas je Vorwürfe machen? Glauben Sie etwa, wir verstünden nicht, dass Ihre politischen Einstellungen Ausdruck einer Suche nach Größe und nach Antworten sind, die Ihnen versagt wurden, als Sie sie am meisten brauchten? Wir sind Ihre Freunde, Charlie. Wir sind nicht mittelmäßig, gelangweilt, antriebslos, Vertreter des suburbia-esthablishments und Konformisten. Wir möchten teilhaben an dem, was Sie tun, es uns zunutze machen. Warum sitzen Sie da und führen uns an der Nase herum, wo wir doch nichts anderes von Ihnen hören wollen als die unbeschönigte, objektive Wahrheit, und zwar von Anfang bis Ende? Warum versuchen Sie, Ihren Freunden Knüppel zwischen die Beine zu werfen, statt uns von ganzem Herzen Vertrauen zu schenken?« Die Wut überschwemmte sie wie eine kochende See. Sie wurde von ihr emporgehoben und gereinigt; sie spürte, wie sie anschwoll, und ergab sich ihr als ihrer einzigen echten Verbündeten. Mit der ihrem Beruf eigenen Berechnung ließ sie zu, dass sie ganz und gar davon beherrscht wurde, während sie selbst, dieses winzige gyroskopische Geschöpf tief drinnen, das es stets schaffte, nicht umzufallen, dankbar auf Zehenspitzen seitlich in den Kulissen verschwand, um von dort aus zuzusehen. Zorn ließ ihre Bestürzung aussetzen und linderte den Schmerz ihrer Bloßstellung; Zorn ließ sie wieder klare Gedanken fassen und klar sehen. Sie trat einen Schritt vor und hob die Faust, um sie auf ihn niederfahren zu lassen, doch er war ihr an Jahren zu überlegen, zu unerschrocken und hatte schon zu viele Schläge einstecken müssen. Außerdem war da unmittelbar hinter ihr etwas, was noch erledigt werden musste.

Gewiss, es war Kurtz gewesen, der durch seine bewusste Verlockung jenes Streichholz angerissen hatte, das dazu geführt hatte, dass sie explodierte. Und doch war es Josephs Arglist, Josephs Werben und Josephs unergründliches Schweigen, die ihre endgültige Demütigung bewirkten. Sie fuhr herum, machte zwei Schritte auf ihn zu und wartete darauf, dass jemand ihr in den Arm fiel, was jedoch keiner tat. Sie warf den Fuß hoch, stieß den Tisch um und sah zu, wie die Tischlampe in anmutigem Bogen - Gott weiß wohin - segelte, bis die Strippe zu kurz wurde und die Lampe mit einem überraschten Plop ausging. Sie zog die Faust zurück, wartete darauf, dass er sich verteidigte. Er tat es nicht, und so schlug sie auf ihn ein, während er so dasaß, und erwischte ihn mit aller Macht am Backenknochen. Sie überschüttete ihn mit einer Flut ihrer gemeinsten Flüche, mit denen, die sie für Long Al und das ganze unbeschriebene und schmerzliche Nichts ihres verqueren, allzu kleinen Lebens bereithielt, doch wünschte sie, er würde sich wehren oder zurückschlagen. Sie schlug ein zweites Mal zu, diesmal mit der anderen Hand, wollte sein ganzes Ich treffen und ihm ihren Stempel aufdrücken, doch seine vertrauten braunen Augen fuhren fort, sie unbeirrt zu beobachten wie Blinkfeuer am Ufer während eines Sturms. Mit halbgeballter Faust schlug sie ein drittes Mal zu und spürte, wie sie sich die Knöchel verstauchte, aber sie sah, wie ihm das Blut über die Backe lief. Sie kreischte: »Faschistenschwein!« schrie es immer wieder und spürte, dass ihr die Kraft ebenso ausging wie die Puste. Sie sah, dass Raoul, der strohblonde Hippie, an der Tür stand, und eines der Mädchen - Rose aus Süd-Afrika -vor das französische Fenster trat und die Arme ausbreitete, falls Charlie versuchen sollte, auf die Veranda zu springen, und wünschte mit allen Fasern, sie könnte verrückt werden, damit alle Mitleid mit ihr hätten; sie wünschte, sie wäre nichts weiter als eine Verrückte, die einen Tobsuchtsanfall hatte und nur darauf wartete, abgeführt zu werden, nicht jedoch eine dumme, törichte kleine radikale Schauspielerin, die mit der Zeit schwache Versionen von sich selbst erfunden, die ihren Vater und ihre Mutter verleugnet und sich unausgegorenen Überzeugungen in die Arme geworfen hatte, von denen sich loszusagen sie jetzt nicht den Mumm hatte, und im übrigen: was hatte es denn bis jetzt gegeben, um an deren Stelle zu treten? Sie hörte wie Kurtz allen auf englisch befahl, sich nicht von der Stelle zu rühren. Sie sah, wie Joseph sich abwendete; sah, wie er ein Taschentuch aus der Tasche zog und sich damit den Mund abtupfte, ihr gegenüber genauso gleichgültig, als wäre sie eine ungezogene fünfjährige Göre. »Bastard!« schrie sie ihn nochmals an, traf ihn seitlich am Kopf mit einem wuchtigen Schlag der offenen Hand, bei dem ihr Handgelenk umknickte und die Hand vorübergehend ganz gefühllos wurde, doch inzwischen hatte sie sich völlig verausgabt, war sie mutterseelenallein und wünschte nichts weiter, als dass Joseph zurückschlug.

»Nur keine Scheu, Charlie«, riet Kurtz ihr ruhig von seinem Stuhl aus. »Sie haben ja Frantz Fanon gelesen. Gewalttätigkeit als reinigende Kraft, wissen Sie noch? Sie befreit uns von unseren Minderwertigkeitskomplexen, macht uns unerschrocken und stellt unsere Selbstachtung wieder her.«

Es gab nur einen Ausweg für sie, und so beschritt sie ihn. Sie ließ die Schultern hängen, barg das Gesicht mit dramatischer Geste in den Händen und weinte untröstlich, bis - auf ein Kopfnicken von Kurtz hin - Rachel sich vom Fenster aus näherte und ihr den Arm um die Schulter legte, etwas, wogegen Charlie sich wehrte, um es dann doch geschehen zu lassen.

»Drei Minuten, nicht länger«, rief Kurtz, als die beiden auf die Tür zugingen. »Sie zieht sich nicht um und legt auch keine neue Identität an, sondern kommt gleich wieder hierher zurück. Ich möchte, dass der Motor weiterläuft. Charlie, stehen bleiben, wo Sie sind, nur einen Moment. Warten Sie. Ich habe stehen bleiben gesagt!« Charlie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. Regungslos stand sie da, schauspielerte mit dem Rücken und überlegte jammervoll, ob Joseph wohl was wegen der Schmarre in seinem Gesicht unternahm.

»Das haben Sie gut gemacht, Charlie«, sagte Kurtz ohne Herablassung vom anderen Ende des Raums zu ihr. »Gratuliere! Sie haben versucht wegzutauchen, aber Sie haben sich wieder gefasst. Sie haben gelogen, haben sich verfranzt, aber Sie sind drangeblieben, und als die Leitung unterbrochen wurde, haben Sie sich aufgeführt wie eine Furie und der ganzen Welt die Schuld an Ihren Schwierigkeiten gegeben. Wir sind stolz auf Sie. Nächstes Mal werden wir uns eine bessere Geschichte für Sie ausdenken. Beeilen Sie sich, ja? Wir haben gerade jetzt nur noch sehr, sehr wenig Zeit.«

Im Badezimmer stand Charlie da, den Kopf an die Wand gelehnt, und schluchzte, während Rachel Wasser ins Waschbecken einlaufen ließ und Rose für alle Fälle draußen wartete.

»Ich begreife nicht, wie du England auch nur eine Minute aushältst«, sagte Rachel und legte Seife und Handtuch für sie bereit. »Ich hab’ das fünfzehn Jahre durchgemacht, ehe wir weggingen. Ich dachte, ich müsste sterben. Kennst du Macclesfield? Das ist der Tod. Zumindest, wenn man Jüdin ist. Dieses Klassendenken, diese Kälte und diese Heuchelei! Für mich ist das der elendigste Ort auf der ganzen Welt, dieses Macclesfield, als Jüdin, glaub mir. Ich hab’ mir im Bad die Haut mit Zitronensaft abgeschrubbt, weil man mir sagte, sie sei teigig. Geh nicht ohne mich in die Nähe dieser Tür, ja, Liebes, ich müsste dich davon abhalten.«

Der Morgen graute, es war also Zeit, zu Bett zu gehen, und sie war wieder bei ihnen, und nirgends sonst wollte sie lieber sein. Sie hatten ihr ein bisschen erzählt, waren über die Geschichte hingestrichen, so wie ein Scheinwerfer über eine dunkle Einfahrt fährt und einen flüchtigen Blick auf das freigibt, was auch immer sich darin verbirgt. Stell dir vor, sagten sie -und erzählten ihr von einem vollkommenen Liebhaber, den sie nie kennengelernt hatte. Ihr war das ziemlich egal. Sie legten Wert auf sie. Sie kannten sie durch und durch; wussten um ihre Verletzlichkeit und um ihre vielen Masken. Und wollten sie trotzdem noch. Sie hatten sie gestohlen, um sie zu retten. Nach all ihrem Sichtreibenlassen - endlich dieser gerade Kurs. Nach all ihrer Schuld und Verheimlicherei - Billigung und Vertrauen. Nach all ihren Worten - auf der anderen Seite nun Handeln, Mäßigung, Zielstrebigkeit, Echtheit und aufrichtige Verpflichtung, jene Leere in ihr auszufüllen, die wie ein gelangweilter Dämon in ihr gegähnt und geschrieen hatte, solange sie sich erinnern konnte. Sie war ein Federgewicht, das von einem Sturmwind um und um gewirbelt worden war, aber plötzlich - zu ihrer Überraschung und Erleichterung - waren sie es, die die Richtung des Windes bestimmten.

Sie legte sich zurück, ließ sich von ihnen tragen, von ihnen annehmen, von ihnen nehmen. Gott sei Dank, dachte sie: endlich eine Heimat. Du wirst dich selbst spielen, mehr sogar noch, sagten sie - und wann jemals hatte sie das nicht getan? Dich selbst, und dein ganzes blendendes Können ist dabei aufgerufen, sagten sie - nenn es mal so. Nennt es, wie ihr wollt, dachte sie. Ja, ich höre zu. Ja, ich folge.

Sie hatten Joseph den Vorsitz an der Mitte des Tisches übergeben. Litvak und Kurtz saßen unbewegt wie Monde links und rechts von ihm. Josephs Gesicht war flammendrot, wo sie ihn getroffen hatte; eine Kette von kleinen Schrammen lief ihm über die linke Wange, dort, wo die Backenknochen hervorstanden. Durch die Jalousiestäbe wurden Leitern aus Frühlicht auf die Dielenbretter und den leichten Klapptisch geworfen. Sie hörten auf zu reden.

»Habe ich schon entschieden?« fragte sie ihn.

Joseph schüttelte den Kopf. Dunkle Bartstoppeln unterstrichen noch, wie eingefallen sein Gesicht war. Das von oben herabfallende Licht ließ feine Linien um seine Augen herum erkennen.

»Erklär mit das mit dem Nützen noch mal«, schlug sie vor. Sie spürte, dass aller Interesse gespannt war wie eine straffe Saite. Litvak, die weißen Hände vor sich gefaltet, mit toten Augen, die jedoch eigentümlich zornig wurden, wenn er sie betrachtete; Kurtz, alterslos und prophetenhaft, das runzelige Gesicht mit Silberstaub bestäubt. Und rings an den Wänden immer noch die jungen Leute, andächtig und unbewegt, als ob sie sich zur ersten Kommunion anstellten.

»Sie sagen, dass du Leben retten wirst, Charlie«, erklärte Joseph mit sachlicher Stimme, aus der er auch den leisesten Hinweis auf irgendwelches Theaterspielen rigoros verbannt hatte. Erkannte sie so etwas wie Zögern in seiner Stimme? Wenn ja, unterstrich das nur noch die Bedeutung dessen, was er sagte. »Dass du Müttern ihre Kinder zurückgeben und dazu beitragen wirst, friedliebenden Menschen Frieden zu bringen. Sie sagen, dass unschuldige Männer und Frauen am Leben bleiben werden. Durch dich.«

»Und was sagst du?«

Seine Antwort kam betont langsam. »Warum wäre ich sonst hier? Bei einem von uns würden wir diese Aufgabe ein Opfer nennen, ein Sühneopfer fürs Leben. Da es aber um dich geht -nun ja, vielleicht ist es gar nicht so anders.«

»Wo wirst du sein?«

»Wir werden dir so nahe sein, wie es geht.«

»Ich habe dich gemeint. Dich ganz persönlich. Dich, Joseph.«

»Natürlich werde ich in deiner Nähe sein. Das ist meine Arbeit.« Und nichts als meine Arbeit - das war es, was er eigentlich sagte; nicht einmal Charlie konnte die Botschaft missverstehen. »Joseph wird die ganze Zeit über in deiner Nähe sein, Charlie«, ließ Kurtz sich leise vernehmen.

»Joseph ist ein sehr, sehr guter Agent. Joseph, sag ihr bitte, wie es um den Zeitfaktor bestellt ist.«

»Wir haben nur sehr wenig Zeit«, sagte Joseph. »Jede Stunde zählt.«

Kurtz lächelte immer noch, schien darauf zu warten, dass er noch mehr sagte. Aber Joseph hatte dem nichts mehr hinzuzufügen. Sie hatte ja gesagt, musste ja gesagt haben. Oder zumindest zur nächsten Phase, denn sie spürte, wie alle rings um sie kaum merklich erleichtert aufatmeten; doch dann kam zu ihrer Enttäuschung nichts mehr. In der exaltierten Verfassung, in der sie sich befand, hatte sie sich vorgestellt, dass ihr ganzes Publikum in Applaus ausbrechen würde: der erschöpfte Mike das Gesicht in die spinnenhaften Hände sinken und seinen Tränen, ohne sich zu schämen, freien Lauf lassen würde; Marty sie wie ein alter Mann, als der er sich auch entpuppt hatte, mit den dicken Händen an den Schultern packen - mein Kind, meine Tochter! - und sein stachliges Gesicht an ihre Wange drücken würde; die jungen Leute, ihre Fans auf leisen Sohlen, nicht mehr abzuhalten sein würden, auf sie zuzustürzen und sie zu berühren. Und Joseph sie an die Brust ziehen würde. Doch auf der Bühne der Taten machte man das anscheinend nicht. Kurtz und Litvak waren damit beschäftigt, ihre Papiere zusammenzulegen und ihre Aktenmappen zu schließen. Joseph besprach sich mit Dimitri und Rose aus Südafrika. Raoul räumte das, was vom Tee und von den Keksen übrig geblieben war, fort, und nur Rachel schien sich Gedanken darüber zu machen, was jetzt aus der Neuangeworbenen werden sollte. Sie berührte Charlie am Arm und führte sie zum Treppenhaus, damit sie sich erst einmal schön hinlegte, wie sie es ausdrückte. Sie hatte die Tür noch nicht erreicht, da rief Joseph sie leise beim Namen. Gedankenverloren und neugierig zugleich starrte er sie an.

»Dann also gute Nacht«, wiederholte er, als wären diese Worte ein Rätsel für ihn.

»Dir auch, gute Nacht«, wünschte Charlie ihm mit einem mitgenommenen Lächeln, das den letzten Vorhang hätte bedeuten sollen. Doch das tat es nicht. Als Charlie Rachel den Korridor hinunter folgte, überraschte sie sich dabei, wie sie im Londoner Klub ihres Vaters, auf dem Weg zu dem auch Damen offenstehenden Anbau war, um dort Mittag zu essen. Sie blieb stehen, sah sich um und versuchte, die Ursache dieser Halluzination zu erkennen. Dann hörte sie sie: das rastlose Tickern eines verborgenen Fernschreibers, der die letzten Marktpreise ausspuckte. Offensichtlich kam es hinter einer halbgeschlossenen Tür hervor. Doch Rachel trieb sie daran vorbei, ehe sie es herausfinden konnte.

Die drei Männer waren wieder im Besprechungszimmer; das Geratter des Kodierungs-Apparates hatte sie dorthin gerufen wie ein Hornsignal. Während Becker und Litvak zusahen, hockte Kurtz sich an den Tisch und entzifferte mit dem Ausdruck fassungslosen Unglaubens das neueste, unerwartete, dringende und ausschließlich für ihn persönlich bestimmte Telegramm aus Jerusalem. Hinter ihm stehend, konnten sie sehen, wie der dunkle Schweißfleck sich auf seinem Hemd ausbreitete wie eine Blutlache. Der Funker war fort, von Kurtz hinausgeschickt, sobald der von Jerusalem kodierte Text ausgedruckt wurde. Sonst herrschte im Haus tiefstes Schweigen. Falls Vögel sangen oder Autos vorüber fuhren, hörten sie es nicht. Sie hatten nur Ohren für das Stop und Start des Druckers. »Ich hab’ dich nie besser in Form gesehen, Gadi«, erklärte Kurtz, dem nie etwas genug sein konnte. Er sprach englisch, die Sprache, in der auch Gavrons Text abgefaßt war. »Meisterhaft, genial, trifft den Nagel auf den Kopf.« Er riss ein Blatt ab und wartete auf den Ausdruck des nächsten. »Wirklich genauso, wie ein hilflos treibendes Mädchen sich seinen Retter wünschen könnte. Stimmt’s, Shimon?« Wieder ratterte der Apparat los.

»Ein paar von unseren Kollegen in Jerusalem - Mr. Gavron, um nur einen zu nennen - waren sehr skeptisch, weil meine Wahl ausgerechnet auf dich gefallen ist. Mr. Litvak hier übrigens auch. Ich nicht. Ich hatte volles Vertrauen.« Einen milden Fluch murmelnd, riss er das zweite Blatt heraus. »Dieser Gadi, er ist der beste, den ich je gehabt hab’, habe ich ihnen gesagt«, fuhr er fort. »Das Herz eines Löwen und der Kopf eines Dichters - genau das waren meine Worte. Ein Leben der Gewalt hat ihn nicht abgestumpft, hab’ ich gesagt. Wie macht sie sich, Gadi?«

Er drehte sogar den Kopf und legte ihn auf die Seite, um zu sehen, wie Becker antwortete.

»Hast du es nicht gemerkt?« sagte Becker.

Wenn Kurtz es gemerkt hatte, so sagte er es jedenfalls im Augenblick nicht. Als die Nachricht durch war, fuhr er in seinem Drehstuhl ganz herum, hielt die Blätter gerade vor sich hin, um das Licht der Tischlampe darauf fallen zu lassen, das ihm über die Schulter schien. Doch merkwürdigerweise war es Litvak, der als erster sprach - Litvak, der sich mit einem ebenso verkrampften wie schrillen Ausbruch von Ungeduld Luft machte, der seine beiden Kollegen völlig überraschte. »Sie haben wieder eine Bombe gelegt«, entfuhr es ihm. »Sagen Sie’s uns! Wo diesmal? Und wie viele von uns haben sie diesmal umgebracht?«

Bedächtig schüttelte Kurtz den Kopf und lächelte zum erstenmal, seit die Meldung hereingekommen war.

»Eine Bombe vielleicht, Shimon. Aber es ist keiner dabei umgekommen. Noch nicht.«

»Gib’s ihm doch einfach zu lesen«, sagte Becker. »Lass ihn doch nicht zappeln.«

Doch Kurtz zog es vor, ihn noch ein wenig länger im dunkeln zu lassen. »Misha Gavron grüßt uns und schickt noch drei weitere Meldungen«, sagte er. »Meldung Nummer eins: Gewisse Anlagen im Libanon werden morgen beschossen werden, doch die Betreffenden werden unsere Angriffsziele mit Sicherheit auslassen. Meldung Nummer zwei« - er warf die Blätter beiseite - »Meldung zwei ist ein Befehl, der in Qualität und Durchblick dem Befehl ähnlich ist, den wir gestern abend erhalten haben. Wir haben den prächtigen Dr. Alexis fallen zu lassen, am liebsten schon vorgestern. Keinerlei weiteren Kontakt. Misha Gavron hat seine Unterlagen gewissen neunmalklugen Psychologen übergeben, die ihn für vollkommen verrückt erklärt haben.«

Litvak wollte wieder Einspruch erheben. Vielleicht reagierte er so auf extreme Übermüdung. Vielleicht aber auch auf die Hitze, denn die Nacht war sehr heiß geworden. Immer noch lächelnd, redete Kurtz sanft auf ihn ein und holte ihn wieder zurück auf die Erde.

»Beruhige dich, Shimon. Unser prächtiger Chef macht nur ein bisschen in Politik, das ist alles. Sollte Alexis die Seite wechseln, und es kommt zu einem Skandal, der die Beziehungen unseres Landes mit einem bitter benötigten Verbündeten beeinträchtigt, bekommt Marty Kurtz was auf die Finger. Bleibt Alexis aber auf unserer Seite, hält den Mund und tut, was wir ihm sagen, fällt der ganze Ruhm auf Misha Gavron. Ihr wisst ja, wie Misha mit mir umgeht. Ich bin sein Jude.«

»Und die dritte Meldung?« fragte Becker. »Unser großer Meister rät uns, keine Zeit zu verlieren. Die kläffende Meute ist ihm dicht auf den Fersen, sagt er. Womit er selbstverständlich meint: uns auf den Fersen.«

Auf Kurtz’ Vorschlag hin ging Litvak hinaus, um seine Zahnbürste einzupacken. Als er mit Becker allein war, stieß Kurtz dankbar einen Seufzer der Erleichterung aus, gab sich plötzlich viel lockerer, trat an das niedrige Rollbett, nahm einen französischen Pass in die Hand, schlug ihn auf, vertiefte sich in die Personalangaben und prägte sie sich fest ein. »Du bist die Gewähr für unseren Erfolg, Gadi«, meinte er, während er noch las. »Irgendwelche Lücken, Sonderwünsche - du lässt es mich wissen, hörst du?« Becker hörte.

»Unsere Leute haben mir berichtet, ihr hättet da oben auf der Akropolis ein schönes Paar abgegeben. Wie ein Liebespaar im Film, sagen sie.«

»Sag ihnen, ich ließe danken.«

Mit einer alten, fettigen Haarbürste stellte Kurtz sich vor den Spiegel und machte sich daran, sich einen Scheitel zu ziehen. »Einen Fall wie diesen, bei dem ein Mädchen mitspielt, überlass’ ich ganz dem Gutdünken des Einsatzleiters«, meinte er nachdenklich, während er sich mit seinem Haar abmühte. »Manchmal macht es sich bezahlt, Distanz zu wahren, manchmal…« Er warf die Haarbürste in einen offenen Kulturbeutel.

»In diesem Fall macht’s die Distanz«, sagte Becker.

Die Tür ging auf. Litvak, zum Weggehen angezogen, eine Aktenmappe unterm Arm, wartete ungeduldig auf die Gesellschaft seines Herrn und Meisters.

»Wir sind schon spät dran«, sagte er mit einem unfreundlichen Blick auf Becker.

Und doch war Charlie trotz aller Manipulation von ihrer Seite zu nichts gezwungen worden - zumindest nicht nach Kurtz’ Begriffen. Darauf hatte er von Anfang an allergrößten Wert gelegt. Ohne eine dauerhafte sittliche Grundlage, so erklärte er, sei ihr Plan nicht durchzuführen. Gewiss, in den Anfangsphasen war versuchsweise schon mal von Druckausüben, Beherrschung, sogar von sexuell Hörigmachen durch einen weniger von Skrupeln geplagten Apoll als Becker die Rede gewesen; davon, Charlie ein paar Nächte unter sie zerbrechenden Umständen einzusperren, ehe man ihr eine freundschaftliche Hand entgegenstreckte. Gavrons neunmalkluge Psychologen waren, nachdem sie ihr Dossier gelesen hatten, mit allen möglichen albernen Vorschlägen gekommen, darunter einigen, die schlicht brutal genannt werden mussten. Doch Kurtz’ bewährtes Einsatzdenken hatte schließlich die Oberhand gegenüber Jerusalems immer größer werdendem Expertenheer behalten. Freiwillige kämpften härter und länger, hatte er ins Feld geführt. Freiwillige fänden selbst Mittel und Wege, um sich zu überzeugen. Und außerdem, wenn man einer Dame einen Heiratsantrag mache, sei es ratsam, sie vorher nicht zu vergewaltigen. Andere - darunter Litvak - hatten sich laut für ein israelisches Mädchen starkgemacht, das man mit einem background ähnlich dem Charlies ausstatten könne. Litvak war - wie andere auch - verbissen gegen die Vorstellung gewesen, sich in irgendeiner Weise auf die Loyalität einer Nichtjüdin, dazu noch einer Engländerin, verlassen zu müssen. Kurtz hatte nicht minder leidenschaftlich widersprochen. Er liebte die Natürlichkeit bei Charlie und war scharf auf das Original, nicht auf die Imitation. Ihre ideologische Schlagseite störte ihn nicht im geringsten; je näher sie am Ertrinken sei, sagte er, desto größer wäre ihre Freude, an Bord genommen zu werden.

Noch eine andere Denkrichtung - denn das Team arbeitete durchaus demokratisch, wenn man von Kurtz’ naturgegebener Tyrannei einmal absah - hatte ein längeres und langsamer vorgehendes Umwerben befürwortet, das Yanukas Entführung vorausgehen und mit einem geraden, nüchternen Angebot enden sollte, wie es bei der Anwerbung von Geheimdienstmitarbeitern üblich war. Doch auch diesen Vorschlag hatte Kurtz abgewürgt, noch ehe er richtig laut geworden war. Eine Frau von Charlies Temperament treffe ihre Entscheidungen nicht nach Stunden müßigen Überlegens, schrie er - Kurtz selbst übrigens auch nicht. Es sei besser zu komprimieren! Besser gründlich nachzuforschen und alles bis ins kleinste Detail hinein vorzubereiten, um sie dann mit einem gewaltigen Vorstoß im Sturm zu nehmen! Nachdem Becker sie sich angesehen hatte, hatte er zugestimmt: eine impulsive Rekrutierung sei das beste. Aber was machen wir, wenn sie nein sagt, verdammt noch mal? hatten sie gezetert: Gavron, die Krähe, war auch darunter. Alles so sorgsam eingefädelt zu haben, um dann vorm Altar einen Korb zu bekommen!

In dem Falle, Misha, mein Freund, sagte Kurtz, werden wir etwas Zeit und Geld verschwendet und ein paar Gebete umsonst gesprochen haben. An dieser Ansicht hielt er durch dick und dünn fest; selbst wenn er im engsten privaten Kreis -zu dem seine Frau und gelegentlich Becker gehörten - gestand, sich auf ein Teufelsspiel eingelassen zu haben. Aber auch hier setzte er vielleicht auf die Kokotte. Kurtz hatte sein Auge auf Charlie geworfen, seit sie zum ersten Mal bei dem Wochenendseminar aufgetaucht war. Er hatte ihr ein Etikett aufgeklebt, hatte Erkundigungen über sie eingezogen und sich in Gedanken von allen Seiten mit ihr beschäftigt. Man sucht sich sein Werkzeug zusammen, man hält nach Aufgaben Ausschau, man improvisiert, pflegte er zu sagen. Man passt eine Operation den Dingen an, die einem zur Verfügung stehen. Aber wozu sie erst nach Griechenland schleppen, Marty? Und alle anderen mit ihr? Machen wir denn in Wohlfahrt, dass wir plötzlich unsere kostbaren Geheimfonds mit vollen Händen für entwurzelte linke englische Schauspieler ausgeben?

Doch Kurtz blieb stur. Er verlangte von Anfang an, dass nicht kleinlich vorgegangen werde, weil er wusste, dass man ihm hinterher ohnehin tausend Abstriche machen würde. Da Charlies Odyssee in Griechenland beginnen sollte, darauf bestand er, müsse sie schon vor der Zeit nach Griechenland gebracht werden, wo die fremde Umgebung und das Besondere ihrer Situation es ihr leichter machen würden, sich von heimatlichen Bindungen zu befreien. Soll die Sonne sie weich machen. Und da Alastair sie nie allein losziehen lassen würde - warum ihn nicht mitkommen lassen, um ihn dann im psychologisch richtigen Moment zu entfernen und sie einer weiteren Stütze zu berauben. Und da alle Schauspieler Familien bilden - und sich nicht sicher fühlen, wenn sie nicht den Schutz der Herde haben - und da sich keine andere zwanglose Methode bot, um das Paar ins Ausland zu locken… So ging es weiter, ein Argument barg schon das nächste in sich, bis die Fiktion die einzige Logik war und die Fiktion ein Netz, in dem jeder sich verstrickte, der versuchte sie wegzufegen.

Was das Entfernen Alastairs betraf, so lieferte es noch am selben Tag ein amüsantes Postskriptum zu all ihren bisherigen Planungen. Zu besagter Szene kam es - ausgerechnet! - im Privatbüro des armen Ned Quilley. Charlie lag noch in tiefem Schlaf, und Ned gönnte sich einen kleinen Muntermacher vor den schweren Anforderungen des Mittagessens. Er zog gerade den Stopfen aus seiner Karaffe, als ihn eine Flut saftiger, schottisch-breit hervorgestoßener Flüche aus Mrs. Longmores Kabäuschen unten aufschreckte - ein Redeschwall, der mit der Forderung endete, sie solle ›den alten Bock aus seinem Schuppen rausrufen, sonst steige ich selbst hinauf und schnapp’ ihn mir‹. Quilley überlegte noch, wer von seinen herumzigeunernden Klienten sich dafür entschieden haben könnte, seinen Nervenzusammenbruch auf schottisch zu inszenieren, und das auch noch vor dem Lunch, trat dann zierlich auf Zehenspitzen an die Tür und legte das Ohr an das Paneel. Aber er erkannte die Stimme nicht. Gleich darauf polterten Schritte die Treppe herauf, wurde die Tür aufgerissen, und vor ihm stand die schwankende Gestalt von Long Al, die ihm von seinen gelegentlichen Vorstößen in Charlies Garderobe bekannt war, in denen Alastair während seiner eigenen sich lang hinziehenden Zeiten des Müßiggangs bei einer Flasche auf seine Freundin zu warten pflegte, wenn diese auf der Bühne stand. Alastair war verdreckt, hatte einen Drei-Tage-Bart und war stockbetrunken. Quilley versuchte in untadeligem Englisch zu erfahren, was dieses ungeheuerliche Benehmen zu bedeuten habe, doch das hätte er sich sparen können. Außerdem hatte er im Laufe seines Berufslebens eine ganze Reihe solcher Szenen erlebt und wusste daher aus Erfahrung, dass man nichts Besseres tun konnte, als so wenig wie möglich zu sagen.

»Sie widerliche alte Tunte«, begann Alastair immer noch recht zivil und hielt Quilley einen zitternden Zeigefinger direkt unter die Nase. »Sie hundsgemeine, intrigante alte Schwuchtel. Ich werde Ihnen Ihren blöden Hals umdrehen.«

»Aber weshalb denn, mein Bester?« sagte Quilley. »Warum?«

»Ich ruf’ die Polizei, Mr. Ned!« ließ Mrs. Longmore sich entrüstet von unten vernehmen. »Ich wähle neun-neun-neun -sofort!«

»Entweder, Sie setzen sich jetzt und erklären, was das Ganze zu bedeuten hat«, erklärte Quilley streng, »oder Mrs. Longmore ruft die Polizei.«

»Ich wähle!« rief Mrs. Longmore, die dies bei Gelegenheit früher schon getan hatte. Alastair setzte sich.

»Na, also«, sagte Quilley mit allem ihm zu Gebote stehenden Nachdruck. »Wie war’s mit einem kleinen schwarzen Kaffee, während Sie mir erzählen, was ich getan habe, um Sie so in Rage zu bringen.«

Die Liste war lang; einen hundsgemeinen Streich habe er – Quilley - ihm gespielt. Und zwar um Charlies willen. Zu behaupten, eine Filmgesellschaft zu sein, die es gar nicht gab. Seinen - Alastairs - Agenten zu überreden, Telegramme nach Mykonos zu schicken. Sich dazu herzugeben, mit ausgebufften Freunden in Hollywood unter einer Decke zu stecken. Bezahlte Flugtickets, bloß, um ihn vor seiner Clique lächerlich, ja, zur Schnecke zu machen! Bloß, damit er die Finger von Charlie ließ. Nach und nach dröselte Quilley die Geschichte auf. Eine Filmgesellschaft aus Hollywood, die sich Pan Talent Celestial nannte, habe von Kalifornien aus seinen Agenten angerufen, erklärt, ihr Hauptdarsteller sei erkrankt, daher wollten sie sofort Probeaufnahmen von Alastair machen. Sie seien bereit, alles zu bezahlen, was nötig sei, um ihn herzuholen, und als sie hörten, er sei in Griechenland, hätten sie dafür gesorgt, dass ein von der Bank als gedeckt erklärter Scheck über tausend Dollar im Büro seines Agenten abgegeben wurde. Alastair sei mit qualmenden Socken aus dem Urlaub zurückgekommen und habe danach eine geschlagene Woche lang wie auf Kohlen gesessen, doch sei es nicht zu Probeaufnahmen gekommen. Halten Sie sich weiterhin bereit, habe es in den Telegrammen geheißen. Alles per Telegramm, wohlgemerkt. Verhandlungen schweben. Am neunten Tag sei Alastair, inzwischen halb wahnsinnig, aufgefordert worden, sich in den Shepperton Studios einzufinden. Fragen Sie nach einem gewissen Pete Vyschinsky, Studio D. Kein Vyschinsky weit und breit. Kein Pete.

Alastairs Agent hatte die Nummer in Hollywood angerufen, wo ihm von der Telefonistin mitgeteilt worden war, Pan Talent Celestial habe dichtgemacht. Alastairs Agent rief andere Agenten an; keiner hatte je von Pan Talent Celestial gehört. Schicksal! Alastair konnte zwei und zwei genauso gut zusammenzählen wie jeder andere auch, und im Laufe einer zwei Tage währenden Sauftour zu Lasten seiner tausend Dollar Spesen war Alastair zu dem Schluss gekommen, der einzige Mensch, der ein Motiv habe und zu einem so miesen Trick imstande sei, sei Ned Quilley, in Agenten- und Schauspielerkreisen unter dem Namen ›Jammerlappen Quilley‹ bekannt, der nie aus seiner Abneigung gegen Alastair oder aus seiner Überzeugung ein Hehl gemacht habe, dass Alastair der schlechte Einfluss sei, der hinter Charlies verblasenen politischen Ansichten stehe. Aus diesem Grund war er nun höchstpersönlich vorbeigekommen, um Quilley den Hals umzudrehen. Nach ein paar Tassen Kaffee fing er jedoch an, seiner unsterblichen Bewunderung für seinen Gastgeber Ausdruck zu verleihen, und Quilley trug Mrs. Longmore auf, ihm ein Taxi zu bestellen.

Am Abend desselben Tages saßen die Quilleys beim gemeinsamen Aperitif vorm Abendessen im Garten - sie hatten erst vor kurzem für anständige Gartenmöbel tief in die Tasche gegriffen; Gusseisen, aber gegossen in den Original-Gussformen aus der Zeit vor der Jahrhundertwende -, und Marjory, die ernst seiner Geschichte gelauscht hatte, brach zu seinem großen Ärger in Lachen aus.

»Oh, dieses durchtriebene Frauenzimmer«, sagte sie. »Sie muss irgendeinen betuchten Liebhaber gefunden haben, um sich von Alastair freikaufen zu können!«

Dann sah sie Quilleys Gesicht. Wurzellose amerikanische Filmgesellschaft. Telefonnummern, bei denen keiner mehr rangeht. Filmemacher, die nirgends aufzuspüren sind. Und all das im Bannkreis Charlies. Und ihres Ned.

»Es ist noch viel schlimmer«, erklärte Quilley kläglich.

»Was denn, Liebling?«

»Sie haben all ihre Briefe gestohlen.«

»Was haben sie getan?«

All ihre handschriftlichen Briefe, sagte Quilley. Die sie in den letzten fünf Jahren oder über einen noch längeren Zeitraum geschrieben habe. All ihre geschwätzigen, peinlichpersönlichen billets-doux, geschrieben, wenn sie auf Tournee oder einsam gewesen war. Kleine Köstlichkeiten. Porträtzeichnungen von Regisseuren und Ensemblemitgliedern. Die süßen kleinen Zeichnungen, die sie mit Vorliebe hinkritzelte, wenn sie glücklich war. Futsch. Einfach aus den Unterlagen entwendet. Von diesen grässlichen Amerikanern, die partout nichts hatten trinken wollen - Karman und seinem schrecklichen Kumpel. Mrs. Longmore mache einen Riesenaufstand deswegen, und Mrs. Ellis sei es schlecht geworden.

»Denen würde ich aber einen bitterbösen Brief schreiben«, riet Marjory.

Aber wozu? fragte Quilley sich kleinlaut. Und überhaupt - an welche Adresse denn?

»Besprich das mit Brian«, schlug sie vor.

Schön, Brian war schließlich sein Anwalt; und wozu war ein Anwalt da? Nachdem sie wieder hineingegangen waren, schenkte Quilley sich erstmal einen tüchtigen Schluck ein und stellte den Fernseher an, nur, um die ersten Abendnachrichten mit Filmausschnitten von den letzten scheußlichen Bombenangriffen irgendwo serviert zu bekommen. Krankenwagen, ausländische Polizisten, die Verletzte wegkarrten. Doch Quilley war nicht in der Stimmung für derlei frivole Ablenkungen. Sie hatten Charlies Unterlagen regelrecht geplündert, sagte er sich immer wieder. Die Unterlagen einer Klientin, verflixt noch mal. In meinem Büro! Und der Sohn des alten Quilley sitzt daneben und hält sein Mittagsschläfchen, während sie das tun. So aufs Kreuz gelegt hatte man ihn schon seit Jahren nicht mehr!

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