Kapitel 21
Bei ihrer Landung in Beirut regnete es, und sie wusste, dass es ein heißer Regen war, denn die Hitze, die von ihm ausging, drang in die Kabine, als sie noch kreisten, und ihre Kopfhaut juckte wieder von dem Färbemittel, mit dem sie auf Helgas Anweisung ihr Haar hatte behandeln müssen. Sie setzten über einer Wolke zur Landung an, die unter den Scheinwerfern der Maschine wie rot aufleuchtende Felsen aussah. Die Wolke hörte auf, sie flogen niedrig übers Meer, rasten auf die näher kommenden Berge zu, als sollten sie daran zerschellen. Sie hatte einen wiederkehrenden Alptraum, bei dem es genauso war, nur dass ihr Flugzeug eine von Menschen wimmelnde und von Wolkenkratzern gesäumte Straßenschlucht hinunterflog. Nichts konnte die Maschine aufhalten, denn der Pilot liebte sie gerade. Sie landeten glatt, die Türen gingen auf, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie die Düfte des Orients in der Nase, die sie wie eine Heimkehrerin begrüßten. Es war sieben Uhr abends, aber es hätte genauso gut drei Uhr morgens sein können; denn sie wusste sofort, dass dies keine Welt war, die schlafen ging. Der Tumult in der Ankunftshalle erinnerte sie an den Derby-Day vor den großen Ferien; es standen genug Bewaffnete in verschiedenen Uniformen herum, um einen eigenen Krieg zu führen. Ihre Schultertasche an die Brust gedrückt, ging sie auf die Schlange vor dem Schalter für Einreisende zu und stellte verwundert fest, dass sie lächelte. Ihr ostdeutscher Pass, ihre Verkleidung, die vor fünf Stunden auf dem Londoner Flughafen noch eine Frage von Leben und Tod für sie gewesen waren, in dieser Atmosphäre rastlosen und gefährlichen Drängens waren sie bedeutungslos.
»Stell dich an der linken Schlange an, und wenn du deinen Pass zeigst, frag nach Mr. Mercedes«, hatte Helga ihr befohlen, als sie auf dem Parkplatz von Heathrow im Citroen gesessen hatten.
»Und was passiert, wenn er mich mit einem Schwall Deutsch überfällt?«
Die Frage war unter ihrer Würde. »Wenn du dich verirrst, nimm ein Taxi, fahr ins Commodore Hotel, setz dich ins Foyer und warte. Das ist ein Befehl. Mercedes - wie das Auto.«
»Und dann?«
»Charlie, ich finde wirklich, du stellst dich ein bisschen dämlich und stur an. Hör endlich damit auf.«
»Sonst erschießt du mich«, sagte Charlie anzüglich.
»Miss Palme! Passport! Pass! Ja, bitte!«
Die Worte kamen von einem kleinen, glückstrahlenden Araber mit einem Eintagebart, krusseligem Haar und makelloser, fadenscheiniger Kleidung. »Bitte«, wiederholte er und zupfte sie am Ärmel. Sein Jackett stand offen, und er hatte einen großen silbernen Revolver im Gürtel stecken. Zwischen ihr und dem Beamten der Passbehörde standen noch etwa zwanzig Leute, und Helga hatte sie überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass es so sein könne. »Ich bin Mr. Danny. Bitte, Miss Palme. Kommen Sie!« Sie gab ihm ihren Pass, und er stürzte sich damit in die Menge, die Arme weit ausgebreitet, damit sie in seinem Kielwasser folgen konnte. So viel zu Helga. So viel zu Mercedes. Danny war verschwunden, doch einen Augenblick später tauchte er mit stolzgeschwellter Brust wieder auf. Mit der einen Hand hatte er eine weiße Landekarte umklammert, mit der anderen hatte er einen großen, offiziell aussehenden Mann in schwarzer Lederjacke gepackt. »Freunde«, erklärte Danny mit einem breiten patriotischen Grinsen. »Alle Freunde von Palästina.«
Irgendwie bezweifelte sie das, doch war sie angesichts seiner Begeisterung zu höflich, das zu sagen. Der große Mann betrachtete sie ernst von oben bis unten und vertiefte sich dann in den Pass, den er Danny reichte. Zuletzt besah er sich noch die weiße Landekarte und steckte sie dann in seine Brusttasche.
»Willkommen«, sagte er auf deutsch, nickte rasch mit schräg gehaltenem Kopf, eine Aufforderung, sich zu beeilen. Sie waren an der Tür, als die Schlägerei begann. Zunächst fing es ganz harmlos damit an, dass ein uniformierter Beamter offensichtlich einem wohlhabend aussehenden Reisenden etwas sagte. Plötzlich schrieen die beiden einander an und fuchtelten sich gegenseitig mit den Händen dicht vor dem Gesicht herum. In Sekundenschnelle hatte jeder der beiden Streithähne Mitstreiter, und als Danny sie zum Parkplatz führte, stolperte eine Gruppe von Soldaten mit grünen Mützen im Laufschritt auf die Walstatt und nahm im Laufen die Maschinenpistolen von der Schulter.
»Syrer«, erklärte Danny und lächelte sie dabei philosophisch an, als wolle er sagen, jedes Land habe seine Syrer.
Das Auto - ein alter blauer Peugeot - parkte neben einem Kaffeestand und roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Danny machte die hintere Tür auf und bürstete mit der Hand die Polster ab. Als sie einstieg, glitt von der anderen Seite ein Junge herein und setzte sich neben sie. Als Danny den Motor anließ, tauchte ein zweiter Junge auf und setzte sich auf den Beifahrersitz. Es war so dunkel, dass sie ihre Gesichter nicht richtig sehen konnte, doch ihre Maschinenpistolen konnte sie gut erkennen. Die beiden waren so jung, dass sie es im ersten Augeblick schwierig fand zu glauben, dass die Waffen echt waren. Der Junge neben ihr bot ihr eine Zigarette an und war traurig, als Charlie ablehnte.
»Sprechen Spanisch?« erkundigte er sich mit ausgesuchter Höflichkeit, um ihr etwas anderes anzubieten. Charlie sprach kein Spanisch. »Dann verzeihen mein Englisch. Könnten Sie Spanisch, würde ich perfekt sprechen.« »Aber dein Englisch ist großartig.«
»Das stimmt nicht«, erklärte er vorwurfsvoll, als sei er bereits einer westlichen Perfidie auf die Spur gekommen, und versank in Schweigen.
Hinter ihnen fielen ein paar Schüsse, doch keiner verlor ein Wort darüber. Sie näherten sich einer mit Sandsäcken befestigten MG-Stellung. Danny brachte den Wagen zum Stehen. Ein uniformierter Wachtposten starrte sie an und winkte sie dann mit seiner Maschinenpistole durch.
»War das auch ein Syrer?« fragte sie. »Libanese«, sagte Danny aufseufzend.
Dennoch merkte sie ihm seine Aufregung an. Alle drei waren von einer gewissen Erregung gepackt - man spürte, dass sie auf der Hut waren, dass Augen und Kopf schnell arbeiteten. Die Straße war teils Schlachtfeld, teils Bauplatz; die Straßenlampen - sofern sie funktionierten - ließen das in schnell vorbeifliegenden Ausschnitten erkennen. Die Stümpfe verkohlter Bäume erinnerten an eine anmutige Allee; neue Bougainvilleas begannen sich über den Trümmern auszubreiten. Ausgebrannte und von Kugeln durchsiebte Autowracks standen auf den Bürgersteigen herum. Sie kamen an erleuchteten Schuppen mit grell bunten Läden darin und hochragenden Silhouetten zerschossener Gebäude vorüber, die zu zerklüfteten Bergspitzen zerbrochen waren. Sie fuhren an einem Haus vorüber, das dermaßen von Einschüssen durchlöchert war, dass es einer gigantischen Käsereibe glich, die sich vor dem bleichen Himmel im Gleichgewicht hielt. Ein Stück Mond glitt von einem Loch zum nächsten, hielt mit ihnen Schritt. Gelegentlich tauchte ein brandneues Gebäude auf: halb fertig, halb beleuchtet, halb bewohnt - ein Spekulationsobjekt aus roten Tragebalken und schwarzem Glas. »Prag, ich war zwei Jahre. Havanna, Kuba, drei. Sind Sie in Kuba gewesen?«
Der Junge neben ihr schien sich von seiner Enttäuschung erholt zu haben. »Ich bin nie in Kuba gewesen«, gestand sie. »Jetzt bin ich offizieller Dolmetscher. Spanisch - arabisch.« »Phantastisch«, sagte Charlie. »Gratuliere.« »Ich für Sie dolmetschen, Miss Palme?«
»Jederzeit«, sagte Charlie, und alle lachten ausgiebig. Die Europäerin war wieder in Gnaden aufgenommen.
Danny schaltete herunter, fuhr im Schrittempo weiter und kurbelte sein Fenster herunter. Dicht vor ihnen, mitten auf der Straße, glomm ein Kohlebecken, und eine Gruppe von Männern und Jungen in weißen Kaffiyehs und Teilen khakifarbener Kampfanzüge saß darum. Ein paar braune Hunde hatten in ihrer Nähe ein eigenes Lager aufgeschlagen. Sie musste an Michel denken, wie er in seinem Heimatdorf den Erzählungen der Reisenden gelauscht hatte, und dachte: Jetzt haben sie ein Dorf auf der Straße gebaut. Als Danny auf die Lichthupe tippte, stand ein schöner alter Mann auf, rieb sich den Rücken, kam - die Maschinenpistole in der Hand - zu ihnen herübergeschlurft und steckte sein runzliges Gesicht so weit zu Dannys Fenster hinein, bis sie sich umarmen konnten. Die Unterhaltung ging endlos zwischen ihnen hin und her. Da sie niemand beachtete, lauschte Charlie auf jedes ihrer Worte und stellte sich vor, sie könne irgendwie etwas verstehen. Als sie jedoch an dem Alten vorbei sah, bot sich ihr ein weniger angenehmer Anblick: regungslos im Halbkreis stehend, hatten vier von den Zuhörern des alten Mannes die Maschinenpistolen auf den Wagen gerichtet, und keiner von ihnen war älter äs fünfzehn Jahre. »Unsere Leute«, sagte Charlies Nachbar ehrfürchtig, als sie schließlich weiterfuhren. »Palästinenserkommandos. Unser Teil der Stadt.«
Und auch Michels Teil, dachte sie stolz.
Es fällt dir bestimmt nicht schwer, sie gern zu haben, hatte Joseph ihr gesagt.
Charlie verbrachte vier Nächte und vier Tage mit den Jungen und hatte jeden einzelnen, aber auch alle zusammen gern. Sie waren die erste von zahlreichen ›Familien‹ , in die sie aufgenommen wurde. Sie brachten sie ständig woanders unter, wie einen Schatz, immer in der Dunkelheit und immer mit ausgesuchter Höflichkeit. Sie sei so unverhofft eingetroffen, erklärten sie ihr mit bezauberndem Bedauern; es sei »für unseren Captain« nötig, gewisse Vorbereitungen zu treffen. Sie nannten sie »Miss Palme«, und vielleicht dachten sie wirklich, dass sie so hieß. Sie erwiderten Charlies Zuneigung zu ihnen, stellten jedoch nie persönliche oder aufdringliche Fragen, sondern bewahrten in jeder Hinsicht eine scheue und disziplinierte Zurückhaltung, die Charlie auf die Autorität, die sie in Zaum hielt, neugierig machte. Ihr erstes Zimmer lag im obersten Stock eines alten, von Kugeln zernarbten Hauses, aus dem alles Lebendige verschwunden war bis auf den Papagei des abwesenden Besitzers; der Vogel hatte einen Raucherhusten, den er jedes Mal ertönen ließ, wenn sich jemand eine Zigarette anzündete. Sein anderes Kunststück war ein Gekecker wie das Schrillen des Telefons, und er machte es in den Nachtstunden, so dass sie sich an die Tür schlich und darauf wartete, dass jemand an den Apparat ging. Die Jungen schliefen draußen auf dem Treppenabsatz, immer nur einer, während die anderen beiden rauchten, winzige Gläser süßen Tee tranken und sich beim Kartenspiel halblaut wie am Lagerfeuer unterhielten.
Die Nächte waren endlos, und doch waren keine zwei Minuten gleich. Sogar die Geräusche führten Krieg miteinander, hielten sich erst in sicherer Entfernung, kamen näher, fanden sich zu Gruppen zusammen und fielen dann in einem Scharmützel widerstreitender Geräusche übereinander her - ein Schwall Musik, das Quietschen von Autoreifen und das Aufheulen von Sirenen -, dem tiefste Waldesruhe folgte. Gewehrfeuer erklang in diesem Orchester nur selten: hier ein Trommelwirbel, dort ein Zapfenstreich, gelegentlich das langsame Pfeifen eines Geschosses. Einmal hörte sie schallendes Gelächter, aber menschliche Stimmen waren selten. Einmal nachdem sie am frühen Morgen eindringlich an ihre Tür geklopft hatten, waren Danny und die beiden Jungen auf Zehenspitzen an ihr Fenster getreten. Als sie ihnen folgte, sah sie hundert Schritt die Straße hinunter ein Auto stehen. Rauch quoll heraus, dann wurde es in die Höhe gehoben und rollte auf die Seite wie jemand, der sich im Bett umdreht. Ein Schwall warmer Luft stieß sie ins Zimmer zurück. Irgend etwas fiel von einem Regal herunter. Sie hörte, wie es in ihrem Kopf einen dumpfen Ton gab.
»Frieden«, sagte Mahmoud, der hübscheste von den Burschen, augenzwinkernd; dann zogen sie sich mit leuchtenden Augen und voller Zuversicht zurück.
Nur die Morgendämmerung war vorhersagbar; denn dann ertönte die Stimme des Muezzins über krächzende Lautsprecher und rief die Gläubigen zum Gebet.
Trotzdem akzeptierte Charlie alles und gab sich ihrerseits allem ganz hin. In dem Widersinn rings um sie her, in dieser unverhofften Ruhepause zum Nachdenken, fand sie endlich eine Wiege für ihre eigene Irrationalität. Und da inmitten eines solchen Chaos kein Widerspruch zu groß war, als dass man ihn nicht hätte ertragen können, fand sie darin auch einen Platz für Joseph. In dieser Welt unerklärter vielfältiger Hingabe war ihre Liebe zu ihm in allem, was sie hörte und worauf ihr Auge fiel. Und wenn die Jungen sie bei Tee und Zigaretten mit kühnen Geschichten unterhielten, was ihre Familien unter den Zionisten alles zu erleiden gehabt hatten - wie Michel es getan hatte und mit der gleichen Neigung zum Romantischen -, war es wiederum ihre Liebe zu Joseph, ihre Erinnerung an seine sanfte Stimme und sein bezauberndes Lächeln, das ihr Herz für ihre Tragödie öffnete.
Das zweite Zimmer, in dem sie schlief, lag hoch in einem glitzernden Mietshaus. Von ihrem Fenster aus starrte sie auf die schwarze Fassade einer neuen internationalen Bank und daran vorbei hinaus auf das reglose Meer. Der leere Strand mit den verlassenen Strandhütten wirkte trostlos wie ein Badeort, der nie Saison hat. Ein einzelner Strandläufer wirkte so exzentrisch wie ein Badelustiger am Weihnachtstag im Serpentine-Teich. Das Merkwürdigste in dieser Wohnung waren jedoch die Vorhänge. Als die Jungen sie am Abend für sie zuzogen, war ihr nichts weiter daran aufgefallen. Doch als der Morgen graute, sah sie, dass eine Reihe Kugellöcher in einer Schlangenlinie über das Fenster lief. Das war der Tag, an dem sie den Jungs zum Frühstück Omelettes machte und ihnen Gin Rummy beibrachte, bei dem sie um Streichhölzer spielten. In der dritten Nacht schlief sie über einer Art militärischem Hauptquartier. Vor den Fenstern waren Gitterstäbe und an der Treppe Kugeleinschläge. Plakate von Kindern, die mit Maschinenpistolen oder Blumensträußen winkten. Auf jedem Treppenabsatz standen dunkeläugige Wachen herum, und das ganze Gebäude hatte eine tumultöse Atmosphäre, es war wie bei der Fremdenlegion. »Bald wird unser Captain Sie empfangen«, versicherte Danny ihr liebevoll von Zeit zu Zeit. »Er trifft seine Vorbereitungen, er ist ein großer Mann.«
Allmählich lernte sie das arabische Lächeln zu interpretieren, das Verzögerung rechtfertigt. Um sie über das Warten hinwegzutrösten, erzählte ihr Danny die Geschichte seines Vaters. Nach zwanzig Jahren im Lager schien der alte Mann vor Verzweiflung wirr im Kopf geworden zu sein. So packte er eines Morgens noch vor Sonnenaufgang seine paar Habseligkeiten samt den Besitzurkunden für sein Land in einen Sack, und ohne seiner Familie ein Wort davon zu sagen, machte er sich auf und überschritt die zionistischen Linien, um höchst persönlich seinen Hof zurückzuverlangen. Danny und seine Brüder setzten hinter ihm her und kamen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie seine gebeugte Gestalt weiter und immer weiter ins Tal vordrang, bis ihn eine Landmine in die Luft jagte. All dies berichtete Danny mit erstaunter Genauigkeit, während die anderen sein Englisch kontrollierten, ihn unterbrachen und einen Satz neu formulierten, wenn ihnen sein Satzbau oder sein Tonfall nicht gefiel, und wie alte Männer nickten, wenn sie eine Formulierung gut fanden. Als er fertig war, stellten sie ihr eine Reihe von ernsten Fragen über die Keuschheit der europäischen Frauen: sie hätten schändliche, aber auch nicht ganz uninteressante Dinge darüber gehört.
So gewann sie sie von Tag zu Tag lieber - ein Vier-TageWunder. Sie liebte ihre Schüchternheit, ihre Unberührtheit, ihre Disziplin und ihre Autorität ihr gegenüber. Sie liebte sie als Aufpasser und als Freunde. Doch trotz all ihrer Liebe gaben sie ihr nie ihren Pass zurück, und wenn sie ihren Maschinenpistolen zu nahe kam, zogen sie sich mit gefährlichen und unnachgiebigen Blicken von ihr zurück.
»Komm, bitte«, sagte Danny und klopfte leise an ihre Tür, um sie zu wecken. »Unser Captain ist bereit.« Es war drei Uhr und noch dunkel.
Später erinnerte sie sich an ungefähr zwanzig Autos, aber es hätten genauso gut fünf gewesen sein können, denn alles ging jetzt sehr schnell, ein Hin und Her von immer beunruhigenderen Fahrten quer durch die Stadt, in sandfarbenen Limousinen mit Antennen vorn und hinten und Leibwächtern, die kein Wort sprachen. Das erste Auto wartete unten vorm Haus, allerdings auf der Hofseite, wo sie bisher noch nicht gewesen war. Erst als sie den Hof verlassen hatten und eine Straße hinunterrasten, wurde ihr klar, dass sie die Jungen zurückgelassen hatte. Am Ende der Straße schien der Fahrer etwas zu sehen, was ihm nicht gefiel, denn er riss den Wagen mit quietschenden Reifen herum, so dass er fast umgekippt wäre, und als sie die Straße wieder zurückrasten, hörte sie Geratter und ganz in ihrer Nähe einen Ruf und spürte, wie eine schwere Hand ihr den Kopf nach unten drückte; offenbar war das Gewehrfeuer für sie bestimmt gewesen.
Sie jagten bei Rot über eine Kreuzung, und um Haaresbreite hätten sie einen Laster gerammt; sie fuhren nach rechts auf einen Bürgersteig hinauf und dann in weitem Bogen nach links auf einen abfallenden Parkplatz, der über einem verlassenen Strand lag. Sie sah Josephs Halbmond, der über dem Meer hing, wieder, und einen Augenblick lang war hi r, als sei sie wieder auf der Fahrt nach Delphi. Sie hielten neben einem großen Fiat und warfen sie förmlich hinein; wieder war sie unterwegs, Besitz von zwei neuen Leibwächtern, und fuhr -dicht gefolgt von zwei Scheinwerfern - eine Autostraße mit vielen Schlaglöchern hinunter; links und rechts ragten zerschossene Häuser auf. Die Berge direkt vor ihr waren schwarz, die zu ihrer Linken hingegen grau, denn ein Schimmer aus dem Tal fiel auf ihre Flanken, und jenseits des Tals war wieder das Meer. Die Tachonadel stieg auf 140, doch dann war plötzlich überhaupt nichts mehr zu sehen, weil der Fahrer die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte und der sie verfolgende Wagen ebenfalls.
Rechts von ihnen erstreckte sich eine Zeile Palmen, links der Mittelstreifen, der die beiden Fahrspuren trennte: eine knapp zwei Meter breite erhöhte Trasse, manchmal kiesbedeckt, manchmal bewachsen. Mit einem Mordsruck fuhren sie hinauf und landeten mit einem zweiten auf der Gegenfahrbahn. Entgegenkommende Fahrzeuge hupten sie an, und Charlie schrie »Himmel!«, doch der Fahrer war für Blasphemien nicht empfänglich. Er blendete die Scheinwerfer voll auf und fuhr direkt auf den entgegenkommenden Verkehr zu, ehe er unter einer kleinen Brücke den Wagen wieder nach links herumriss. Unvermittelt kamen sie schlitternd auf einem leeren Feldweg zum Stehen, wo sie in ein drittes Auto umstieg, diesmal einen fensterlosen Landrover. Es regnete. Das fiel ihr erst jetzt auf, denn als sie sie hinten im Landrover verstauten, wurde sie von einem plötzlichen Guss bis auf die Haut durchnässt, und sie sah einen weißen Blitz in den Bergen einschlagen. Aber vielleicht war es auch eine Granate.
Steil ging es eine gewundene Straße hinauf. Hinten aus dem Landrover sah sie, wie das Tal unter ihnen zurückblieb; durch die Windschutzscheibe und zwischen den Köpfen des Leibwächters und des Fahrers hindurch beobachtete sie, wie der Regen auf dem Asphalt in die Höhe sprang wie Schwärme tanzender Elritzen. Ein Wagen fuhr vor ihnen her, und an der Art, wie sie ihm folgten, erkannte Charlie, dass es einer der Ihren war; ein Auto folgte ihnen, doch weil sie sich überhaupt nicht darum kümmerten, war es ebenfalls eines der Ihren. Sie stiegen noch einmal um und möglicherweise noch einmal; sie fuhren in einen Gebäudekomplex hinein, der eine verlassene Schule zu sein schien, doch diesmal stellte der Fahrer den Motor ab, während er und der Leibwächter mit den Maschinenpistolen am Fenster saßen und abwarteten, wer sonst noch den Hügel heraufkam. Es gab Kontrollpunkte an der Straße, vor denen sie hielten, und andere, durch die sie einfach hindurch fuhren und die unbeteiligten Wachen kaum mit einem leichten Heben der Hand grüßten. Sie kamen an einen Kontrollpunkt, wo der vorn sitzende Leibwächter das Fenster herunterkurbelte und aus seiner MP einen Feuerstoß ins Dunkel abgab; die einzige Antwort war ein erschrockenes Mähen von Schafen. Ein letztes Mal schössen sie mit einem schreckenerregenden Satz ins Schwarze zwischen zwei Scheinwerferpaaren hindurch, die voll auf sie gerichtet waren, doch inzwischen war sie darüber hinaus, in Panik zu geraten; ihr zitterten die Knie, sie war fix und fertig, und ihr war alles egal. Der Wagen hielt; sie war im Vorhof einer alten Villa mit Wachen im Kindesalter, die mit ihren Maschinenpistolen wie in einem russischen Film als Silhouetten auf dem Dach posierten. Die Luft war kalt und rein und voll von all den griechischen Gerüchen, die der Regen nicht hatte vertreiben können -Zypressen und Honig und alle Wildblumen auf Erden. Der Himmel war voller Stürme und rauchender Wolken; in kleiner werdenden Lichtfeldern erstreckte sich unter ihnen das Tal. Sie führten sie durch einen Vorbau in die Halle, und dort, im Licht besonders dämmriger Deckenlampen, sah sie ihn zum ersten Mal: Unseren Captain, eine braune, zur Seite geneigte Gestalt mit einem strähnigen schwarzen Schopf wie ein Schuljunge und einem englisch aussehenden Spazierstock aus Naturesche als Stütze für seine hinkenden Beine und einem Willkommenslächeln, das sein pockennarbiges Gesicht verzog. Um ihr die Hand zu schütteln, hängte er den Spazierstock über den linken Unterarm und ließ ihn herabbaumeln, so dass sie das Gefühl hatte, ihn einen Moment stützen zu müssen, ehe er sich wieder aufrichtete.
»Miss Charlie, ich bin Captain Tayeh. Ich begrüße Sie im Namen der Revolution.«
Seine Stimme war munter und sachlich und schön - wie die Josephs. Angstmachen gehört zur Prüfung, hatte Joseph sie gewarnt. Leider kann man niemand ständig Angst machen. Aber bei Captain Tayeh, wie er sich nennt, musst du dein Bestes geben, denn Captain Tayeh ist ein kluger Mann.
»Verzeihen Sie«, sagte Tayeh mit fröhlicher Heuchelei. Das Haus gehörte nicht ihm, denn er konnte nichts finden. Selbst für einen Aschenbecher musste er in der Dunkelheit umhertappen und sich bei allen möglichen Dingen humorvoll fragen, ob sie wohl zu wertvoll seien, um benutzt zu werden. Dennoch gehörte das Haus jemand, den er mochte, denn sie beobachtete eine gewisse Freundlichkeit in seinem Verhalten, die besagte: Typisch für sie - ja, genau dort müssen sie ihre Getränke aufbewahren. Die Beleuchtung war immer noch äußerst schwach, doch als ihre Augen sich daran gewöhnt hatten, kam sie zu dem Schluss, dass sie sich im Haus eines Gelehrten befinden müsse oder dem eines Politikers oder Rechtsanwalts. Die Wände waren über und über mit Büchern bedeckt, die auch wirklich gelesen, durchgebogen und nicht zu ordentlich wieder ins Regal zurückgestellt worden waren; überm Kamin hing ein Bild, das eine Darstellung Jerusalems sein konnte. Alles andere war ein männliches Durcheinander vieler Geschmacksrichtungen: Ledersessel und Patchworckissen und ein kunterbuntes Durcheinander von Orientteppichen. Dazu Einzelstücke arabischen Silbers, sehr weiß und überladen, die wie Schatzkästchen aus dunklen Nischen blinkten. Zwei Stufen tiefer in einem Alkoven ein Extra-Arbeitszimmer mit einem Schreibtisch im englischen Stil und einem panoramaartigen Blick über das Tal, aus dem sie gerade heraufgekommen war, und über die im Mondlicht daliegende Küste. Sie saß dort, wo er ihr bedeutet hatte, sich hinzusetzen - auf dem Ledersofa. Tayeh selbst humpelte immer noch, ohne sich zu schonen, am Stock durch den Raum, machte alles nacheinander, während er sie aus verschiedenen Gesichtswinkeln musterte, ihr Maß nahm; jetzt die Gläser; jetzt ein Lächeln; dann - mit einem weiteren Lächeln - Wodka; und schließlich Scotch, offenbar seine Lieblingsmarke, denn er studierte anerkennend das Etikett. An jedem Ende des Raums saß - eine Maschinenpistole über den Knien - ein Junge. Ein Stoß Briefe war über den Schreibtisch verstreut; auch ohne hinzusehen, wusste sie, dass es ihre Briefe an Michel waren. Mach nicht den Fehler, Unordnung mit Inkompetenz gleichzusetzen, hatte Joseph sie gewarnt; bitte keine rassistischen Vorurteile, Araber wären etwa inferior.
Die Lampen gingen ganz aus, doch das taten sie oft, selbst unten im Tal. Von dem riesigen Fenster eingerahmt, stand er aufragend über ihr, ein wachsam lächelnder Schatten, der sich auf einen Stock stützte.
»Wissen Sie, was es für uns bedeutet, wenn wir nach Hause gehen?« fragte er, sie immer noch nicht aus den Augen lassend. Sein Stock jedoch zeigte auf das große Fenster. »Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, im eigenen Land zu sein, unter den eigenen Sternen, auf dem eigenen Grund und Boden, ein Gewehr in der Hand, zu stehen und nach dem Unterdrücker Ausschau zu halten? Fragen Sie die Jungs.«
Wie andere Stimmen, die sie kannte, hörte sich seine Stimme im Dunkeln noch schöner an.
»Sie mochten Sie«, sagte er. »Haben Sie sie auch gemocht?«
»Ja.«
»Wer hat Ihnen am besten gefallen?«
»Alle gleich«, sagte sie, und er lachte wieder. »Man behauptet, dass Sie sehr in Ihren toten Palästinenser verliebt seien. Stimmt das?«
»Ja.« Sein Stock zeigte immer noch auf das Fenster. »Früherwenn Sie den Mut dazu hätten - hätten wir Sie mitgenommen. Über die Grenze. Angriff. Rache. Wieder zurück. Feiern. Wir würden zusammen gehen. Helga sagt, Sie wollen kämpfen. Wollen Sie kämpfen?«
»Ja.«
»Gegen jeden oder nur gegen die Zionisten?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. Er trank. »Manche von dem Abschaum, den wir bekommen, möchten am liebsten die ganze Welt in die Luft jagen. Sind Sie auch so?«
»Nein.«
»Sie sind Abschaum, diese Leute. Helga - Mr. Mesterbein -notwendiger Abschaum. Ja?«
»Ich hatte nicht genug Zeit, das herauszufinden«, sagte sie.
»Gehören Sie zum Abschaum?«
»Nein.«
Das Licht ging wieder an. »Nein«, pflichtete er ihr bei und prüfte sie weiter. »Nein, ich glaube auch nicht. Aber vielleicht verändern Sie sich. Haben Sie jemals einen Menschen getötet?«
»Nein.«
»Sie sind in einer glücklichen Lage. Sie haben eine Polizei. Ihr eigenes Land. Das Parlament. Rechte. Pässe. Wo leben Sie?«
»In London.«
»Und in welchem Teil?«
Sie hatte das Gefühl, dass seine Verwundungen ihn mit ihren Antworten ungeduldig machten; dass sie seine Gedanken schon immer über sie hinausgehen ließen, zu neuen Fragen. Er hatte einen hohen Stuhl gefunden und zog ihn achtlos zu ihr hin, doch keiner der Jungen stand auf, um ihm zu helfen, und sie vermutete, dass sie es nicht wagten. Als er den Stuhl dort hatte, wo er ihn haben wollte, zog er noch einen zweiten heran, dann setzte er sich auf den einen und schwang sein Bein auf den anderen. Und als er das alles geschafft hatte, zog er eine einzelne Zigarette aus der Tasche seines Uniformrocks und steckte sie sich an.
»Sie sind die erste Engländerin, wissen Sie das? Holländer, Italiener, Franzosen, Deutsche, Schweden. Ein paar Amerikaner. Iren. Sie kommen alle, um für uns zu kämpfen. Bloß keine Engländer. Bis jetzt jedenfalls nicht. Die Engländer kommen wie immer zu spät.«
Eine Woge des Erkennens ging über sie hinweg. Wie Joseph sprach er von Schmerzen, die sie nicht kannte, von einem Standpunkt aus, den sie erst kennen lernen musste. Er war nicht alt, aber er besaß eine Weisheit, die zu früh erworben worden war. Ihr Gesicht war dicht an der kleinen Lampe. Vielleicht war das der Grund, warum er sie dorthin gesetzt hatte. Captain Tayeh ist ein sehr kluger Mann. »Wenn Sie die Welt verändern wollen - vergessen Sie’s«, meinte er. »Die Engländer haben das bereits getan. Bleiben Sie zu Hause. Spielen Sie Ihre kleinen Rollen. Bilden Sie sich in einem Vakuum weiter. Das ist sicherer.«
»Jetzt ist es das nicht«, sagte sie.
»Oh, Sie könnten zurückkehren.« Er trank etwas Whisky. »Gestehen Sie. Bessern Sie sich. Ein Jahr Gefängnis. Jeder sollte ein Jahr im Gefängnis zubringen. Warum wollen Sie sich umbringen, indem Sie für uns kämpfen?« »Für ihn«, sagte sie.
Ärgerlich fegte Tayeh ihre romantische Schwärmerei mit der Zigarette beiseite. »Sagen Sie mir, was heißt für ihn? Er ist tot. In ein, zwei Jahren werden wir alle tot sein. Was heißt für ihn?«
»Alles. Er hat es mich gelehrt.«
»Hat er Ihnen gesagt, was wir machen - Bomben legen? -schießen? - töten?..Aber ist egal.«
Eine Zeitlang beschäftigte ihn allein seine Zigarette. Er verfolgte, wie sie verglühte, inhalierte den Rauch und blickte das glimmende Ende finster an; dann drückte er sie aus und zündete sich eine neue an. Sie vermutete, dass er eigentlich nicht gern rauchte. »Was konnte er Ihnen beibringen?« wandte er ein. »Einer Frau wie Ihnen? Er war ein kleiner Junge. Er konnte niemand etwas beibringen. Er war nichts.«
»Er war alles«, wiederholte sie unergründlich, und wieder spürte sie, dass er das Interesse an ihr verlor, wie jemand, den eine dürftige Unterhaltung langweilt. Dann bemerkte sie, dass er vor allen anderen etwas gehört hatte. Er erteilte einen raschen Befehl. Einer der Jungen sprang an die Tür. Für Krüppel laufen wir schneller, dachte sie. Sie hörte, wie draußen leise gesprochen wurde.
»Hat er Sie hassen gelehrt?« fragte Tayeh, als wäre nichts geschehen.
»Er hat gesagt, Hass, das sei etwas für die Zionisten. Er hat gesagt, um zu kämpfen, müsse man lieben. Der Antisemitismus sei eine christliche Erfindung, hat er gesagt.«
Sie brach ab, als sie hörte, was Tayeh schon längst gehört hatte: ein Auto kam den Hügel herauf. Er hört wie ein Blinder, dachte sie. Es liegt an seinem Körper.
»Mögen Sie Amerika?« wollte er wissen.
»Nein.«
»Jemals dort gewesen?«
»Nein.«
»Wie können Sie dann sagen, dass Sie es nicht mögen, wenn Sie noch nicht dort gewesen sind?« fragte er.
Doch wieder war es nur eine rhetorische Frage, wies er sich selbst in dem Dialog, den er um sie herum führte, auf etwas hin. Das Auto fuhr in den Vorhof. Sie hörte Schritte und gedämpfte Stimmen und sah die Strahlen des Scheinwerfers durch den Raum gleiten, ehe sie ausgemacht wurden.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, befahl er.
Noch zwei Jungen erschienen. Der eine trug eine Plastiktüte, der andere eine Maschinenpistole. Sie standen still da und warteten respektvoll darauf, dass Tayeh sie anredete. Die Briefe lagen zwischen ihnen auf dem Tisch, und als sie daran dachte, wie wichtig sie gewesen waren, war diese Unordnung erhaben.
»Sie werden nicht verfolgt, und Sie fahren in den Süden«, sagte Tayeh zu ihr. »Trinken Sie Ihren Wodka aus und gehen Sie mit den Jungens. Vielleicht glaube ich Ihnen, vielleicht tu’ ich’s nicht. Vielleicht ist es aber auch gar nicht so wichtig. Sie haben Kleider für Sie dabei.«
Es war kein normales Auto, sondern ein schmutzig-weißer Krankenwagen mit grünen Halbmonden an den Seiten, einer Menge roten Staubs auf der Kühlerhaube und einem zerzausten Jungen mit dunkler Brille am Steuer. Auf den zerschlissenen Pritschen hinten drin hockten noch zwei Jungen, die in der Enge nicht wussten, wohin mit ihren Maschinenpistolen, doch Charlie in grauer Schwesternuniform und Kopftuch setzte sich neben den Fahrer. Es war nicht mehr Nacht; ein heiterer Morgen mit einer schweren roten Sonne zu ihrer Linken, die immer wieder verschwand, während sie sich vorsichtig den Hügel hinabschraubten. Sie versuchte, unbefangen mit dem Fahrer englisch zu plaudern, doch der wurde wütend. Daraufhin bedachte sie die Jungs hinten mit einem fröhlichen »Hi, boys«, doch der eine machte ein brummiges Gesicht, und der andere blitzte sie zornig an, und so dachte sie: Macht doch eure Scheiß-Revolution allein, und betrachtete die Landschaft. Nach Süden, dachte sie. Für wie lange? Und wozu? Aber es gab so etwas wie ein ehernes Gesetz, keine Fragen zu stellen, und ihr
Stolz und ihr Überlebensinstinkt forderten, dass sie sich ihm unterwarf.
Den ersten Kontrollpunkt passierten sie, als sie in die Stadt hinein fuhren; es kamen noch vier weitere, ehe sie die Stadt auf der nach Süden führenden Straße wieder verließen, und am vierten Kontrollpunkt wurde ein toter Junge von zwei Männern in ein Taxi geladen, während Frauen schrieen und auf das Dach hämmerten. Er lag auf der Seite, und eine leere Hand, die immer noch nach etwas zu greifen schien, zeigte nach unten. Nach dem ersten Tod gibt es keinen weiteren, rezitierte Charlie für sich selbst und dachte an den ermordeten Michel. Zu ihrer Rechten tat sich das blaue Meer auf, und wieder bekam die Landschaft etwas Absurdes. Es war, als ob an der englischen Küste ein Bürgerkrieg ausgebrochen wäre. Autowracks und zerschossene Villen säumten die Straße; auf einem Sportplatz kickten zwei Kinder sich über einen Granattrichter einen Fußball zu. Die kleinen Anlegestege für die Yachten waren zertrümmert und lagen halb unter Wasser; selbst die nach Norden fahrenden, mit Obst und Gemüse beladenen Lastwagen, die sie fast von der Fahrbahn drängten, hatten etwas von der Verzweiflung der Flüchtlinge.
Wieder hielten sie vor einer Straßensperre. Syrer. Aber für deutsche Krankenschwestern in palästinensischen Krankenwagen interessierte sich niemand. Sie hörte ein Motorrad aufjaulen und wandte den Blick ohne jede Neugier dorthin. Eine verstaubte Honda, die Seitentaschen mit grünen Bananen vollgestopft. Ein lebendes Huhn, an den Beinen zusammengebunden, hing vom Lenker herab. Und auf dem Sattel Dimitri, der voller Ernst auf das Motorengeräusch horchte. Er trug die Halbuniform eines palästinensischen Soldaten und um den Hals eine rote Kaffiyeh. Durch das Achselstück seines Khakihemds hatte er sich, als war’s ein Unterpfand von einem Mädchen, einen Zweig weißblühender Heide gesteckt, um ihr zu sagen: »Wir sind bei dir«, denn weiße Heide war das Zeichen, nach dem sie während der letzten vier Tage Ausschau gehalten hatte.
Von jetzt an findet das Pferd seinen Weg selbst, hatte Joseph ihr gesagt; deine Aufgabe ist es, im Sattel zu bleiben.
Und wieder bildeten sie eine Familie und warteten.
Ihr Zuhause war diesmal ein kleines Haus in der Nähe von Sidon mit einer Betonveranda, die eine Granate von einem israelischen Kriegsschiff in zwei Teile gerissen hatte; und nun ragten verrostete Enden der Eisenmatte wie die Fühler eines Rieseninsekts daraus hervor. Der Garten hinten war ein Mandarinenhain, in dem eine alte Gans an heruntergefallenen Früchten herumpickte; der Vorgarten war eine Halde aus Schlamm und Metall und während der letzten oder fünftletzten Invasion eine berühmte Feuerstellung gewesen. Auf der Wiese daneben stand das Wrack eines Panzerwagens, in dem eine Schar gelber Hühner und ein Flüchtlingsspaniel mit vier dicken Welpen wohnten. Hinter dem Panzerwagen lag das blaue christliche Meer von Sidon mit seiner Kreuzfahrerburg, die wie eine Strandburg aus dem Hafenviertel herausragte. Charlie hatte aus Tayehs offenbar unerschöpflichem Vorrat an Jungen zwei neue bekommen: Kareem und Yasir. Kareem war pummelig, spielte ständig den Clown und zog immer eine Schau ab, als ob seine Maschinenpistole verdammt schwer sei; er blähte jedes Mal die Backen auf und verzerrte das Gesicht, wenn er gezwungen war, sie zu schultern. Wenn sie ihn jedoch voller Mitgefühl anlächelte, wurde er verlegen und eilte davon, um sich Yasir anzuschließen. Er hatte den Ehrgeiz, Ingenieur zu werden. Er war neunzehn und kämpfte seit sechs Jahren. Englisch sprach er immer nur im Flüsterton und flocht an den passendsten und unpassendsten Stellen ein ›mal‹ ein. »Wenn Palästina mal frei ist, studiere ich mal in Jerusalem«, sagte Kareem. »Bis es soweit ist« - er legte die ausgestreckte Hand schief und seufzte angesichts dieser schrecklichen Aussicht -»vielleicht Leningrad, vielleicht Detroit.«
Ja, bestätigte Kareem höflich, er habe mal einen Bruder und eine Schwester gehabt, doch seine Schwester sei bei einem zionistischen Luftangriff auf das Lager in Nabatiyeh ums Leben gekommen. Sein Bruder war nach Rashidiyeh verlegt und dort drei Tage später bei einer Beschießung von See her getötet worden. Er beschrieb diese Verluste sehr bescheiden, als ob sie in der allgemeinen Tragödie nicht viel zählten.
»Palästina ist mal eine kleine Katze«, erzählte er Charlie eines Morgens geheimnisvoll, als sie geduldig in einem sich bauschenden weißen Nachthemd am Schlafzimmerfenster stand, während er seine Maschinenpistole schussbereit hielt. »Sie muss mal viel gestreichelt werden, sonst dreht sie durch.«
Er habe einen böse aussehenden Mann auf der Straße gesehen, erklärte er, und sei heraufgekommen, um nachzusehen, ob er ihn umbringen solle.
Yasir mit den tiefen Brauenwülsten eines Boxers und einem stechenden, flackernden Blick konnte sich überhaupt nicht mit ihr verständigen. Er trug ein rotkariertes Hemd und eine schwarze Kordel um die Schulter geschlungen, um seine Zugehörigkeit zum Militärischen Abwehrdienst kundzutun, und wenn es dunkelte, stand er im Garten und suchte das Meer nach zionistischen Angreifern ab. Er sei ein großer Kommunist, erklärte Kareem verständnisvoll, und er werde den Kolonialismus überall in der Welt vernichten. Yasir hasse Europäer und Amerikaner, selbst wenn sie behaupteten, Palästina zu lieben, sagte Kareem. Seine Mutter und seine ganze Familie seien in Tal al-Zataar umgekommen. Durch was? fragte Charlie.
Durst, sagte Kareem und erklärte ihr ein kleines Stück Zeitgeschichte: Tal al-Zataar - Thymian-Hügel - sei ein Flüchtlingslager in Beirut. Hütten mit Blechdächern, oft elf Menschen in einem Raum. Dreißigtausend Palästinenser und arme Libanesen hätten dort siebzehn Monate lang bei ununterbrochener Beschießung ausgehalten. Wer denn geschossen habe, wollte Charlie wissen. Diese Frage verwirrte Kareem. Die von der Kata’ib, sagte er, als ob das doch auf der Hand liege. Faschistische maronitische Freischärler, die von den Syrern und zweifellos auch von den Zionisten unterstützt würden. Tausende seien dabei umgekommen, doch wie viel genau, wisse niemand, sagte er; weil nur so wenige übrig geblieben seien, denen sie gefehlt hätten. Als die Angreifer ins Lager eingedrungen seien, hätten sie auch die letzten Überlebenden niedergemacht. Ärzte und Schwestern seien herausgeholt, in einer Reihe aufgestellt und dann gleichfalls erschossen worden, was nur logisch gewesen sei, denn schließlich hätten sie keine Medikamente, kein Wasser und keine Patienten mehr gehabt. »Warst du dabei?« fragte Charlie Kareem. Nein, entgegnete er; aber Yasir.
»In Zukunft legen Sie sich nicht mehr in die Sonne«, befahl Tayeh, als er am nächsten Abend kam, um sie abzuholen. »Wir sind hier nicht an der Riviera.«
Sie sollte Kareem und Yasir nie wiedersehen. Nach und nach geriet sie genau in jenen Zustand, den Joseph vorhergesagt hatte. Sie wurde an die Tragödie gewöhnt, und die Tragödie befreite sie von der Notwendigkeit, sich zu erklären. Sie war eine Reiterin mit Scheuklappen, die durch Ereignisse und Emotionen geleitet wurde, die zu groß waren, als dass sie sie in ihrem ganzen Ausmaß hätte begreifen können, die in ein Land geführt wurde, in dem die Tatsache, anwesend zu sein, bereits Teil einer ungeheueren Ungerechtigkeit war. Sie hatte sich den Opfern angeschlossen und fand sich schließlich mit ihrem Verrat ab. Mit jedem Tag, der verging, wurde die Fiktion ihrer vorgeblichen Treue zu Michel fester in den Tatsachen verankert, wohingegen ihre Treue zu Joseph - falls die keine Fiktion war - nur als ein heimliches Zeichen auf ihrer Seele überlebte. »Bald werden wir alle mal tot sein«, sagte Kareem, wie ein Echo auf Tayehs Ausspruch. »Die Zionisten werden uns alle zu Tode Völkermorden, du wirst mal sehen.«
Das alte Gefängnis lag in der Mitte der Stadt, und es sei, hatte Tayeh dunkel gesagt, die Stätte, an der die Unschuldigen ihr Lebenslänglich absäßen. Um hinzukommen, mussten sie das Auto auf dem Hauptplatz abstellen und ein Gewirr von alten Gassen betreten, die zwar zum Himmel offen waren, jedoch mit plastikgeschützten Spruchbändern vollhingen, die sie zuerst für trocknende Wäsche gehalten hatte. Es war die Abendstunde, wo man kaufte und verkaufte; Läden und Stände waren voll. Die Straßenlampen leuchteten tief in den alten Marmor der Hauswände hinein, so dass es aussah, als wären sie von innen beleuchtet. Der Lärm in den Gassen war zerrissen und verstummte manchmal, wenn sie um eine Ecke bogen, so dass sie dann nur noch ihre eigenen Schritte auf dem glänzenden Straßenpflaster klicken und schlurfen hörten. Ein feindselig blickender Mann in ausgebeulten Hosen führte sie. »Ich habe dem Verwalter gesagt, Sie seien eine Journalistin aus Europa«, erklärte ihr Tayeh, während er neben ihr her humpelte.
»Sein Benehmen Ihnen gegenüber ist nicht gerade freundlich, denn er hat etwas gegen diejenigen, die herkommen, um ihr zoologisches Wissen zu vergrößern.«
Der zerrissene Mond hielt Schritt mit ihnen; der Abend war sehr heiß. Sie betraten einen anderen Platz, und ein Schwall arabischer Musik aus Lautsprechern, die provisorisch auf Pfählen installiert waren, begrüßte sie. Das hohe Tor stand offen und ging auf einen hell erleuchteten Hof, von dem aus eine Steintreppe zu übereinander hängenden Laubengängen nach oben führte. Die Musik war noch lauter.
»Wer sind sie denn?« fragte Charlie. »Was haben sie getan?«
»Nichts. Darin besteht ihr Verbrechen. Es sind die Flüchtlinge, die aus den Flüchtlingslagern hierher geflüchtet sind«, erwiderte Tayeh. »Das Gefängnis hat dicke Mauern und stand leer, daher haben wir es in Besitz genommen, um sie zu beschützen. Grüßen Sie die Leute ernst«, fügte er hinzu. »Lächeln Sie nicht allzu bereitwillig, sonst glauben sie, Sie machten sich über ihr Elend lustig.«
Ein alter Mann saß auf einem Küchenstuhl und sah sie blicklos an. Tayeh und der Verwalter traten auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Charlie sah sich um. So was bekomme ich alle Tage zu sehen. Ich bin eine abgebrühte europäische Journalistin, die denen, die alles haben und trotzdem unglücklich sind, klarmacht, was Elend und Mangel wirklich bedeuten.
Sie stand in der Mitte eines riesigen Steinsilos, dessen uralte Mauern bis zum Himmel hinauf mit Käfigtüren und Laubengängen bepflastert waren. Frisch aufgetragene weiße Tünche bedeckte alles und erweckte die Illusion von Hygiene. Die Zellen zu ebener Erde waren Gewölbenischen. Die Türen standen wie einladend auf, die Gestalten darin schienen zuerst vollkommen regungslos. Selbst die Kinder bewegten sich, als dürften sie keine überflüssige Bewegung machen. Vor jeder Zelle hingen Wäscheleinen; ihre Symmetrie vermittelte den stolzen Wettstreit dörflichen Lebens. Charlie hatte den Geruch von Kaffee, offenen Abflussrohren und großer Wäsche in der Nase. Tayeh und der Verwalter kehrten zurück. »Warten Sie ab, bis man Sie anspricht«, riet Tayeh ihr nochmals. »Gehen Sie nicht unbekümmert auf diese Menschen zu, das verstehen sie nicht. Was Sie hier sehen, ist eine schon halb ausgestorbene Spezies.« Sie stiegen eine Marmortreppe hinauf. Die Zellen dieses Stockwerks hatten dicke Türen mit Gucklöchern für die Wärter. Der Lärm schien mit der Hitze größer zu werden. Eine Frau, die ganz in bäuerliche Tracht gekleidet war, ging an ihnen vorüber. Der Verwalter sprach sie an, und sie zeigte den offenen Gang entlang auf ein handgemaltes Zeichen in arabischer Schrift, das wie ein primitiver Pfeil aussah. Als Charlie in das Brunnenloch hinunterspähte, sah sie, dass der alte Mann wieder auf seinem Stuhl saß und ms Nichts starrte. Er hat sein Tagewerk vollbracht, dachte sie. Er hat uns gesagt: »Geht hinauf!« Sie kamen bei dem Pfeil an, folgten der angegebenen Richtung, stießen wieder auf einen Pfeil und gelangten bald in den eigentlichen Mittelpunkt des Gefängnisses. Um hier wieder herauszufinden, brauche ich einen Faden, dachte sie. Sie sah Tayeh an, doch er wollte sie nicht ansehen. Legen Sie sich in Zukunft nicht mehr in die Sonne. Sie betraten einen ehemaligen Aufenthaltsraum für die Wächter oder eine Kantine. In der Mitte stand ein mit Plastikstoff bespannter Untersuchungstisch und daneben, auf einem neuen Rolltisch, Medikamente, Behälter mit Tupfern und Spritzen. Ein Mann und eine Frau behandelten; die schwarzgekleidete Frau tupfte einem Baby gerade mit einem Wattebausch die Augen ab. Die wartenden Mütter saßen geduldig an den Wänden; ihre Kinder dösten und quengelten. »Bleiben Sie hier stehen«, befahl Tayeh, ging diesmal selbst vor und ließ den Verwalter und Charlie stehen. Doch die Frau hatte ihn bereits hereinkommen sehen; ihre Augen blickten zu ihm auf, dann richtete sie den Blick auf Charlie und ließ ihn bedeutsam und fragend zugleich auf ihr ruhen. Sie trat ans Waschbecken, wusch sich systematisch die Hände und studierte Charlie dabei im Spiegel. »Folgen Sie uns«, sagte Tayeh.
Jedes Gefängnis hat so einen kleinen hellen Raum mit Plastikblumen und einem Foto aus der Schweiz, einen Raum, in dem man Leute empfangen kann, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Der Verwalter war gegangen. Tayeh und die junge Frau hatten Charlie in die Mitte genommen, die junge Frau saß kerzengerade wie eine Nonne, und Tayeh war schräg nach vorn gerutscht, das eine Bein steif zur einen Seite ausgestreckt und den Stock wie eine Zeltstange in der Mitte: Der Schweiß lief ihm über das pockennarbige Gesicht, während er rauchte und unruhig hin und her rutschte und die Stirn runzelte. Die Geräusche aus dem Gefängnis waren nicht verstummt, sondern zu einem einzigen Ton aus Musik und menschlichen Lauten verschmolzen. Gelegentlich hörte Charlie zu ihrer Verwunderung Lachen. Die junge Frau war schön und streng und in ihrem schwarzen Gewand ein wenig Furcht einflößend. Sie hatte kräftige klare Züge, einen dunklen, aufrechten Blick und schien nicht im geringsten daran interessiert, sich zu verstellen. Sie trug ihr Haar kurz geschnitten. Die Tür stand auf. Die üblichen beiden Jungen bewachten sie.
»Sie wissen, wer sie ist?« fragte Tayeh und drückte bereits seine erste Zigarette aus. »Kommt Ihnen an dem Gesicht etwas bekannt vor? Schauen Sie genau hin!«
Das brauchte Charlie nicht. »Fatmeh«, sagte sie.
»Sie ist nach Sidon zurückgekehrt, um bei ihrem Volk zu sein. Sie spricht kein Englisch, aber sie weiß, wer Sie sind. Sie hat Ihre Briefe an Michel gelesen, und auch die von Michel an Sie. Übersetzt. Natürlich interessiert sie sich für Sie.«
Tayeh rutschte unter Schmerzen auf seinem Stuhl hin und her, fischte eine schweißgetränkte Zigarette aus der Tasche und zündete sie sich an.
»Sie ist in Trauer, aber das sind wir alle. Wenn Sie mit ihr reden, werden Sie bitte nicht sentimental. Sie hat bereits drei Brüder und eine Schwester verloren. Sie weiß, wie man damit fertig wird.« Sehr ruhig begann Fatmeh zu sprechen. Als sie aufhörte, übersetzte Tayeh - irgendwie geringschätzig, das war nun mal seine Art heute Abend.
»Zunächst möchte sie sich bei Ihnen bedanken für die große Unterstützung, die Sie ihrem Bruder Salim in seinem Kampf gegen den Zionismus geschenkt haben - aber auch dafür, dass Sie selbst sich dem Kampf gegen die Ungerechtigkeit angeschlossen haben.« Er wartete, und Fatmeh sprach weiter. »Sie sagt, ihr seid letzt Schwestern. Beide habt ihr Michel geliebt, beide seid ihr stolz auf seinen Heldentod. Sie fragt Sie...« und abermals hielt er inne, um sie sprechen zu lassen. »Sie fragt, ob auch Sie bereit seien, lieber den Tod hinzunehmen, als eine Sklavin des Imperialismus zu werden. Sie ist sehr politisch. Sagen sie ihr: Ja.«
»Ja.«
»Sie möchte gern von Ihnen hören, wie Michel über seine Familie und über Palästina gesprochen hat. Machen Sie ihr nichts vor. Sie spürt so was sofort.«
Tayeh war nicht länger gleichgültig. Er raffte sich mühsam auf und ging langsam im Raum umher, dolmetschte und warf gelegentlich zusätzliche Fragen ein.
Charlie redete geradeheraus, sprach aus dem Herzen, aus ihrer verletzten Erinnerung. Sie machte keinem Menschen etwas vor, nicht einmal sich selbst. Anfangs, sagte sie, habe Michel überhaupt nicht von seinen Brüdern erzählt; nur einmal beiläufig von seiner geliebten Fatmeh. Dann, eines Tages - in Griechenland -, habe er angefangen, sehr liebevoll in Erinnerungen zu schwelgen und von ihnen zu reden; er habe gesagt, nach dem Tod ihrer Mutter habe Fatmeh für die ganze Familie die Mutterrolle übernommen. Tayeh übersetzte in schroffem Ton. Die junge Frau zeigte keinerlei Reaktion, aber ihre Augen ruhten die ganze Zeit auf Charlies Gesicht, sie beobachtete es, vertiefte sich in ihre Züge, stellte in Frage.
»Was hat er von ihnen erzählt - von den Brüdern«, befahl Tayeh ungeduldig. »Wiederholen Sie es für sie.«
»Er hat gesagt, seine ganze Kindheit hindurch seien seine älteren Brüder sein leuchtendes Vorbild gewesen. In Jordanien, in ihrem ersten Lager, als er noch zu jung zum Kämpfen war, wären die Brüder manchmal verschwunden, ohne zu sagen, wohin sie gingen. Dann sei Fatmeh an sein Bett gekommen und habe ihm zugeflüstert, sie hätten wieder einen Angriff gegen die Zionisten unternommen…« Tayeh fiel ihr mit einer raschen Übersetzung ins Wort. Fatmehs Fragen verloren den wehmütigen Ton und wurden hart wie beim Verhör. Was ihre Brüder studiert hätten? Welche Berufe und Neigungen sie gehabt hätten und wie sie umgekommen seien? Charlie stand ihr Rede und Antwort, wo sie konnte - lückenhaft also: Salim - Michel - hatte ihr nicht alles erzählt. Fawaz sei ein großer Anwalt gewesen oder habe vorgehabt, es zu werden. In Amman habe er sich in eine Studentin verliebt - sie war in der Kindheit seine beste Freundin in ihrem Dorf in Palästina. Die Zionisten hätten ihn niedergeschossen, als er eines Morgens früh aus ihrem Haus herausgekommen sei. »Laut Fatmeh...« begann sie.
»Was laut Fatmeh?« wollte Tayeh wissen.
»Laut Fatmeh hätten die Jordanier den Zionisten ihre Adresse verraten.«
Fatmeh stellte eine Frage. Aufgebracht. Wieder dolmetschte Tayeh: »In einem seiner Briefe erwähnte Michel, er sei stolz darauf, mit seinem großen Bruder gemeinsam die Folter durchlitten zu haben«, sagte Tayeh. »Er schreibt, in Bezug auf diesen Zwischenfall, seine Schwester Fatmeh sei außer Ihnen die einzige Frau auf Erden, die er voll und ganz lieben könne. Erklären Sie Fatmeh bitte, was das bedeutet. Welchen Bruder hat er gemeint?« »Khalil«, sagte Charlie.
»Beschreiben Sie ausführlich, worum es ging«, befahl Tayeh.
»Das war in Jordanien.«
»Wo? Was? Beschreiben Sie es genau.«
»Es war Abend. Eine Kolonne von jordanischen Jeeps kam ins Lager - sechs Wagen. Sie griffen sich Khalil und Michel -Salim - und befahlen Michel, ein paar Ruten vom Granatapfelbaum zu schneiden« - sie streckte die Hände vor, genauso, wie Michel es an jenem Abend in Delphi getan hatte -, »sechs junge Triebe, jeder einen Meter lang. Dann zwangen sie Khalil, die Schuhe auszuziehen, und Salim, sich hinzuknien und Khalil die Füße festzuhalten, während sie ihn mit den Ruten des Granatapfelbaums schlugen. Dann mussten sie die Plätze tauschen. Khalil hält Salim fest. Ihre Füße sind keine Füße mehr, sie sind nicht mehr wieder zu erkennen. Doch die Jordanier bringen sie trotzdem zum Laufen, indem sie hinter ihnen in den Boden schießen.«
»Und?« sagte Tayeh voller Ungeduld.
»Was und?«
»Warum ist Fatmeh so wichtig in dieser Sache?«
»Sie hat sie gepflegt. Tag und Nacht. Hat ihnen die Füße gebadet. Ihnen Mut eingeflößt. Ihnen aus den großen arabischen Schriftstellern vorgelesen. Sie dazu gebracht, neue Angriffe zu planen. ›Fatmeh ist unser Herz‹ , hat er gesagt. ›Sie ist unser Palästina. Ich muss von ihrem Mut und ihrer Stärke lernen.‹ Das hat er gesagt.«
»Sogar geschrieben hat er es, dieser Narr«, sagte Tayeh und hängte seinen Stock über die Stuhllehne, dass es knallte. Er zündete sich eine neue Zigarette an.
Während er wie erstarrt die leere Wand anblickte, als hinge ein Spiegel daran, lehnte Tayeh sich zurück und trocknete sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. Fatmeh stand auf, trat wortlos ans Waschbecken und holte ihm ein Glas Wasser. Tayeh zog eine halbe Flasche Whisky aus der Tasche und schenkte sich etwas ein. Nicht zum ersten Mal kam Charlie der Gedanke, dass sie einander sehr gut kannten, wie Menschen, die eng zusammenarbeiten, vielleicht sogar ein Liebespaar sind. Einen Moment redeten sie miteinander; dann wandte Fatmeh sich wieder Charlie zu, und Tayeh stellte Fatmehs letzte Frage.
»Um was geht es, wenn er in seinem Brief schreibt: ›Der Plan, auf den wir uns am Grab meines Vaters geeinigt haben.‹ Erklären Sie uns bitte auch das. Was für einen Plan meint er?«
Sie fing an, die Umstände des Todes genau zu schildern, doch Tayeh unterbrach sie.
»Wir wissen, wie er gestorben ist. Aus Verzweiflung. Erzählen Sie von der Beerdigung.« »Er wollte in Hebron - in El Khalil - begraben werden, und so brachten sie ihn zur Allenby-Brücke. Die Zionisten wollten ihn nicht hinüberlassen. Daher trugen Michel und Fatmeh und zwei Freunde den Sarg einen hohen Hügel hinauf, und als es Abend wurde, hoben sie an einer Stelle ein Grab aus, von der aus er in das Land hinunterblicken konnte, das die Zionisten ihm gestohlen hatten.«
»Wo ist Khalil, während sie dies tun?«
»Nicht da. Er ist schon seit Jahren fort. Nicht zu erreichen. Er kämpft. Doch an diesem Abend, während sie dabei waren, das Grab zuzuschaufeln, tauchte er plötzlich auf.«
»Und?«
»Er half, das Grab zuzuschaufeln. Dann forderte er Michel auf, mitzukommen und zu kämpfen.«
»Mitzukommen und zu kämpfen?« wiederholte Tayeh.
»Er sagte, es sei an der Zeit, das ganze Judentum anzugreifen. Überall. Es dürfe kein Unterschied mehr zwischen Juden und Israelis geben. Er sagte, das gesamte Judentum sei eine zionistische Machtbasis, und die Zionisten würden nie Ruhe geben, bis sie nicht unser Volk vernichtet hätten. Unsere einzige Chance sei, die Welt an den Ohren zu packen und zu zwingen zuzuhören. Wieder und wieder. Wenn das Leben Unschuldiger vernichtet werden müsse, warum solle es dann immer nur das von Palästinensern sein? Die Palästinenser würden es nicht den Juden nachmachen und zweitausend Jahre warten, ehe sie ihre Heimat zurückbekämen.«
»Also was für ein Plan?« beharrte Tayeh unbeeindruckt.
»Michel sollte nach Europa kommen. Khalil würde das in die Wege leiten. Student werden, aber auch ein Kämpfer.«
Fatmeh sprach, nicht sehr lange.
»Sie sagt, ihr kleiner Bruder habe ein großes Maul gehabt und Gott habe recht daran getan, es ihm zu schließen«, sagte Tayeh, winkte den Jungen und humpelte rasch vor ihr die Treppe hinunter. Doch Fatmeh legte Charlie die Hand auf den Arm, hielt sie zurück und starrte sie wieder mit unverhohlener, aber freundlicher Neugier an. Seite an Seite kehrten die beiden Frauen über den Gang zurück. An der Tür zur Krankenstation starrte Fatmeh sie nochmals an, diesmal offensichtlich verwirrt. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Wange. Das letzte, was Charlie von ihr sah, war, dass sie sich wieder das Baby vorgenommen hatte und ihm die Augen abtupfte. Wenn Tayeh sie nicht gerufen und zur Eile angetrieben hätte, wäre sie geblieben und hätte Fatmeh für den Rest ihres Lebens geholfen.
»Sie müssen abwarten«, sagte Tayeh zu ihr, als er sie ins Lager fuhr. »Wir haben Sie nicht erwartet. Wir haben Sie schließlich nicht eingeladen.«
Auf den ersten Blick meinte sie, er hätte sie in ein Dorf gebracht, denn die sich über Terrassen den Hügel hinunterziehenden weißen Hütten sahen im Licht der Scheinwerfer recht ansprechend aus.
Doch beim Weiterfahren zeigte sich, wie weit sich dieser Ort ausdehnte, und als sie die Hügelkuppe erreicht hatten, befand sie sich in einer Notlager-Stadt, die für Tausende, nicht für Hunderte errichtet worden war. Ein würdiger, grauhaariger Mann empfing sie, doch er begrüßte nur Tayeh mit überströmender Herzlichkeit. Er hatte blankgeputzte schwarze Schuhe an und eine Khakiuniform mit rasiermesserscharfen Bügelfalten. Offensichtlich hatte er Tayeh zu Ehren seine beste Kleidung angelegt.
»Er ist hier unser Lagervorsteher«, sagte Tayeh einfach, als er ihn vorstellte. »Er weiß, dass Sie Engländerin sind, sonst nichts. Er wird keine Fragen stellen.«
Sie folgten ihm in einen kargen Raum, an dessen Wänden in Vitrinen Sportpokale standen. Auf einem Kaffeetisch in der Mitte lag ein Tablett, auf dem sich Schachteln von Zigaretten aller möglichen Marken türmten. Eine sehr große junge Frau brachte süßen Tee und Gebäck, doch niemand sprach Charlie an. Die Frau hatte ein Kopftuch auf, trug den traditionellen weiten Rock und flache Schuhe. Frau? Schwester? Charlie kam nicht dahinter, wer sie sein mochte. Sie hatte Kummerflecken unter den Augen und schien sich in einem Bereich persönlicher Traurigkeit zu bewegen. Nachdem sie den Raum verlassen hatte, richtete der Lagervorsteher den Blick starr und wildfunkelnd auf Charlie und hielt eine düstere Ansprache mit einem deutlichen schottischen Akzent. Ohne jedes Lächeln erklärte er, dass er während der Mandatszeit bei der palästinensischen Polizei gedient habe und noch heute eine britische Pension beziehe. Der Geist seines Volkes, erklärte er, sei durch seine Leiden sehr gestärkt worden. Er wartete mit Statistiken auf. In den vergangenen zwölf Jahren sei das Lager siebenhundertmal bombardiert worden. Er nannte ihr die Zahl der Todesopfer und befasste sich mit dem Anteil der toten Frauen und Kinder. Die wirkungsvollsten Waffen seien die in Amerika hergestellten Streubomben; die Zionisten hätten auch als Kinderspielzeug getarnte Sprengladungen abgeworfen. Er gab einen Befehl, und ein Junge verschwand und kam gleich darauf mit einem völlig verbeulten Spielzeug-Rennwagen wieder. Er nahm das Chassis ab und zeigte Drähte und Sprengstoff darin. Möglich, dachte Charlie. Aber auch nicht möglich. Er berichtete über die Vielfalt politischer Theorien unter den Palästinensern, versicherte ihr aber ernsthaft, dass im Kampf gegen den Zionismus solche Unterschiede verschwänden. »Sie werfen ihre Bomben auf uns alle«, erklärte er.
Er redete sie mit »Genossin Leila« an - so hatte Tayeh sie vorgestellt -, und als er geendet hatte, hieß er sie willkommen und übergab sie dankbar an die großgewachsene traurige Frau. »Für die Gerechtigkeit«, sagte er, wie man ›gute Nacht‹ sagt.
»Für die Gerechtigkeit«, erwiderte Charlie.
Tayeh sah ihr nach, als sie ging.
Die schmalen Straßen lagen in kerzenerhellter Dunkelheit da. Offene Abzugsrinnen verliefen in der Mitte. Ein Dreiviertelmond zog über die Hügel. Die große junge Frau ging voran, die Jungen folgten mit Maschinenpistolen und Charlies Schultertasche. Sie gingen an einem schlammigen Sportplatz und niedrigen Hütten vorüber, die eine Schule hätten sein können. Charlie erinnerte sich an Michels Fußballspiel und fragte sich zu spät, ob er irgendwelche Silberpokale für die Vitrinen des Lagervorstehers gewonnen hatte. Blassblaue Birnen brannten über den rostigen Türen der Luftschutzbunker. Was man hörte, waren die Nachtgeräusche von Exilanten. Rock und patriotische Musik mischten sich mit dem zeitlosen Gemurmel alter Männer. Irgendwo stritt ein junges Paar. Ihre Stimmen entluden sich in einer Explosion aufgestauter Wut. »Mein Vater entschuldigt sich für die dürftige Unterkunft. Aber es ist eine Regel des Lagers, dass die Häuser nicht für die Dauer gebaut werden, um uns nicht vergessen zu lassen, wo unsere eigentliche Heimat ist. Wenn es einen Luftangriff gibt, warten Sie bitte nicht auf die Sirenen, sondern laufen Sie in dieselbe Richtung wie alle anderen. Und achten Sie bitte darauf, dass Sie nach einem Angriff nichts berühren, was auf der Erde liegt. Federhalter, Flaschen, Radios - nichts.«
Sie heiße Salma, sagte sie mit ihrem traurigen Lächeln; und ihr Vater sei Lagervorsteher.
Charlie ließ sich hineinbitten. Die Hütte war winzig und sauber wie ein Zimmer im Krankenhaus. Sie hatte ein Waschbecken, eine Toilette und einen nach hinten hinausgehenden Garten von der Größe eines Taschentuchs. »Was machen Sie hier, Salma?«
Die Frage schien sie im Moment zu verwirren. Hierzusein war schon eine Aufgabe.
»Also, wo haben Sie Ihr Englisch gelernt?« fragte Charlie.
In Amerika, erwiderte Salma; sie habe an der Universität von Minnesota ihr Examen als Biochemikerin gemacht.
Es gibt einen schrecklichen, dennoch wohltuenden Frieden, wenn man lange Zeit unter den wahren Opfern dieser Welt lebt. Im Lager lernte Charlie endlich jenes Mitgefühl kennen, das das Leben ihr bisher vorenthalten hatte. Während sie wartete, reihte sie sich in das Heer jener ein, die ihr Leben lang gewartet hatten. Und da sie ihre Gefangenschaft teilte, träumte sie, sie habe sich aus der eigenen befreit. Dadurch, dass sie sie liebte, hatte sie die Vorstellung, all die vielen Täuschungen, die sie hierher gebracht hatten, von ihnen vergeben zu bekommen. Sie bekam keine Bewacher zugeteilt, und gleich am ersten Morgen, sobald sie aufgewacht war, machte sie sich vorsichtig daran, die Grenzen ihrer Freiheit herauszufinden. Es schien keine Grenzen zu geben. Sie ging rund um die Sportplätze herum und sah kleinen Jungen zu, die sich mit hochgezogenen Schultern verbissen bemühten, die Körperkraft von Erwachsenen zu erringen. Sie fand das Krankenhaus und die Schulen und die winzigen Läden, in denen alles verkauft wurde, von Orangen bis zu Familienflaschen Haarshampoo. Im Krankenhaus sprach eine alte Schwedin zufrieden über Gottes Willen mit ihr.
»Die armen Juden finden keine Ruhe, solange sie uns auf dem Gewissen haben«, setzte sie Charlie verträumt auseinander. »Gott hat ihnen ein so schweres Los auferlegt. Warum lehrt er sie nicht, wie man liebt?«
Mittags brachte Salma ihr eine flache Käsepastete und eine Kanne Tee, und nachdem sie in ihrer Hütte zu Mittag gegessen hatten, stiegen sie durch einen Orangenhain zu einer Hügelkuppe hinauf, die jener sehr ähnlich war, auf der Michel ihr beigebracht hatte, mit der Pistole seines Bruders zu schießen. Braune Bergketten zogen sich im Westen und Süden am Horizont entlang. »Die Berge im Osten - das ist Syrien«, sagte Salma und zeigte übers Tal. »Aber die dort« - sie schwenkte den Arm in Richtung Süden und ließ ihn dann in plötzlich aufwallender Verzweiflung sinken -, »das sind unsere Berge, und von dort werden die Zionisten kommen, um uns zu töten.«
Auf dem Rückweg sah Charlie flüchtig Militär-Lastwagen, die unter Tarnnetzen abgestellt waren, und in einem Zedernhain den matten Glanz von nach Süden gerichteten Geschützrohren. Ihr Vater komme aus Haifa, nicht einmal siebzig Kilometer von hier, sagte Salma. Ihre Mutter sei tot, beim Verlassen des Bunkers von der Maschinengewehrsalve eines israelischen Jagdflugzeugs niedergemäht. Sie habe einen Bruder, der ein erfolgreicher Bankier in Kuwait sei. Nein, antwortete sie lächelnd auf die auf der Hand liegende Frage: Männer fänden sie zu groß und zu intelligent. Am Abend nahm Salma Charlie zu einem Kinderkonzert mit. Hinterher gingen sie in ein Klassenzimmer und klebten mit zwanzig anderen Frauen aufwieglerische Aufkleber für die große Demonstration auf Kinder-T-Shirts, sie benutzten dazu einen Apparat, der aussah wie ein großes Waffeleisen und dauernd durchbrannte. Einige von den Aufklebern trugen in arabischer Schrift Parolen, die den totalen Sieg versprachen; auf anderen war das Bild von Yasir Arafat zu sehen, den die Frauen Abu Ammar nannten. Charlie blieb fast die ganze Nacht mit ihnen auf und schaffte am meisten. Zweitausend Hemden in der richtigen Größe und genau zur richtigen Zeit, dank Genossin Leila.
Bald war ihre Hütte von früh bis spät voller Kinder; einige kamen, um englisch mit ihr zu reden, einige, um ihr ihre Tänze und Lieder beizubringen; und einige auch, um an ihrer Hand die Straße auf und ab zu gehen, denn es erhöhte das Ansehen, mit ihr zusammen zu sein. Und die Mütter dieser Kinder brachten ihr so viel Zuckergebäck und Käsepasteten, dass sie hier für alle Ewigkeit hätte bleiben können, und das wollte sie auch.
Wer ist sie nur? fragte sich Charlie und wandte ihre Phantasie einer weiteren nicht zu Ende geschriebenen Kurzgeschichte zu, während sie beobachtete, wie Salma sich traurig und isoliert unter ihren Leuten bewegte. Erst nach und nach stellte sich eine Erklärung ein. Salma war draußen in der Welt gewesen. Sie wusste, wie Europäer und Amerikaner über Palästina redeten. Und sie hatte deutlicher als ihr Vater erkannt, wie weit die Berge ihrer Heimat entfernt waren.
Die große Demonstration fand drei Tage später statt. Der Zug setzte sich in der Hitze des Vormittags vom Sportplatz aus in Bewegung und führte langsam um das Lager herum, durch Straßen, die überfüllt waren und geschmückt mit handgestickten Bannern, die der Stolz einer jeden englischen Frauenvereinigung gewesen wären. Charlie stand auf der Schwelle ihrer Hütte und hielt ein kleines Mädchen in die Höhe, das noch zu klein war, um mitzumarschieren, und der Luftangriff begann ein paar Minuten nachdem ein Dutzend Halbwüchsige das Modell von Jerusalem in Schulterhöhe an ihr vorüber getragen hatten. Erst kam Jerusalem, versinnbildlicht -so erklärte Salma - durch die Omar-Mosche aus Goldpapier und Muscheln. Dann kamen die Kinder der Märtyrer, von denen ein jedes einen Ölzweig in der Hand hielt und eines der T-Shirts trug, die eine ganze Nacht über bedruckt worden waren. Dann, wie die Fortsetzung der Festlichkeiten, ertönte ein lustiger kleiner Zapfenstreich von Kanonenschüssen aus den Bergen. Aber niemand schrie oder wollte fortlaufen. Noch nicht. Salma, die neben ihr stand, hob nicht einmal den Kopf.
Bis dahin hatte Charlie eigentlich noch nie richtig über Flugzeuge nachgedacht. Sie hatte ein paar bemerkt, die hoch oben flogen, hatte die weißen Kondensstreifen bewundert, als sie träge im Himmelsblau kreisten. Aber nie war es ihr in ihrer Ahnungslosigkeit in den Sinn gekommen, dass die Palästinenser vielleicht keine Flugzeuge haben könnten oder dass die israelische Luftwaffe gegenüber leidenschaftlich vorgebrachten Ansprüchen auf Land, das von ihrer Grenze zu Fuß aus zu erreichen war, vielleicht eine Ausnahme machte. Charlie hatte viel mehr Augen für die uniformtragenden Mädchen gehabt, die auf den traktorgezogenen Festwagen miteinander tanzten und zum rhythmischen Händeklatschen der Zuschauer ihre Maschinenpistolen hin und her schwenkten; und für die jugendlichen Kämpfer, die sich Streifen ihrer roten Kaffiyehs wie Apachen um die Stirn gebunden hatten und mit ihren Maschinenpistolen hinten auf den Lastwagen posierten; und Ohren für das unablässige, von einem Ende des Lagers bis zum anderen ertönende Wehklagen aus so vielen Kehlen -wurden sie denn nie heiser? Außerdem war sie genau in diesem Augenblick von einer Nebenhandlung abgelenkt worden, die sich unmittelbar vor ihr und Salma abspielte: Ein Kind wurde von einem Wachsoldaten gezüchtigt. Der Soldat hatte seinen Gürtel abgenommen, ihn zusammengelegt und schlug das Kind mit dieser Schlaufe ins Gesicht, und eine Sekunde lang, während sie noch überlegte, ob sie dazwischentreten sollte, erlag Charlie inmitten des allgemeinen, aus so viel unterschiedlichen Tönen bestehenden Getöses der Illusion, dass der Gürtel die Explosionen hervorrief.
Dann kam das Aufheulen einer unter größter Beanspruchung abbiegenden Maschine sowie der Einsatz von noch mehr Bodenfeuer, obwohl das gewiss zu leicht und zu unbedeutend war, um etwas so schnell und so hoch Fliegendes zu beeindrucken. Die erste Bombe war, als sie explodierte, fast eine Enttäuschung; denn wenn man sie hört, ist man nicht tot. Sie sah den grellen Blitz ein paar hundert Meter weiter am Berghang und dann - während der Knall der Detonation und die Druckwelle gleichzeitig über sie dahingingen - eine Zwiebel aus Rauch aufsteigen. Sie wandte sich zu Salma um, schrie ihr etwas zu, hob die Stimme, als ob ein Sturm toste, obwohl es inzwischen erstaunlich ruhig geworden war; aber Salmas Gesicht war erstarrt vor Hass, während sie zum Himmel hinaufstarrte. »Wenn sie uns treffen wollen, treffen sie uns«, sagte sie. »Heute spielen sie nur mit uns. Du musst uns Glück gebracht haben.« Die tiefere Bedeutung, die in diesen Worten lag, war zuviel für Charlie, und sie wies sie sofort weit von sich. Die zweite Bombe fiel, und sie schien weiter entfernt zu sein, doch vielleicht war Charlie auch nicht mehr so zu beeindrucken: mochte sie fallen, wo sie wollte, nur nicht in diesen überfüllten Gassen mit den Kolonnen geduldiger Kinder, die wie kleine Schildwachen, deren Schicksal bereits besiegelt ist, nur darauf warteten, dass der Lavastrom sich den Berg herunterwälzte. Die Kapelle setzte wieder ein, viel lauter als zuvor; der Demonstrationszug ging los, doppelt so strahlend wie zuvor. Die Kapelle spielte einen Marsch, und die Menge klatschte dazu. In Charlies Hände kam wieder Leben, sie setzte das kleine Mädchen ab und begann gleichfalls zu klatschen. Ihre Hände brannten, und die Schultern taten ihr weh, trotzdem klatschte sie unermüdlich weiter. Der Demonstrationszug drängte sich an die Seite; ein Jeep mit blitzendem Blaulicht raste vorüber; ihm folgten Ambulanzen und ein Feuerwehrauto. Wie Pulverdampf vom Schlachtfeld flatterte ein Leichentuch aus gelbem Staub hinter ihnen her. Eine Brise trieb es auseinander, die Kapelle spielte weiter, und jetzt war die Gruppe der Fischer an der Reihe. Sie waren durch einen langsamen Kastenwagen vertreten, der über und über mit Arafat-Bildern bedeckt war und einen riesigen, in Weiß, Rot und Schwarz gemalten Papierfisch auf dem Dach trug. Dann folgte - von einer Flötenkapelle angeführt - noch ein Strom von Kindern mit Holzgewehren, die den Text zum Marschlied sangen. Der Gesang schwoll an, alle hatten eingestimmt, und auch Charlie sang aus vollem Herzen mit, ob sie nun den Text kannte oder nicht. Die Flugzeuge verschwanden. Palästina hatte wieder einen Sieg errungen.
»Morgen wirst du woandershin gebracht«, sagte Salma an diesem Abend, als sie am Hang entlanggingen. »Ich gehe nicht«, sagte Charlie.
Zwei Stunden später, kurz vor Einbruch der Dunkelheit - sie war gerade in ihrer Hütte zurück -, waren die Flugzeuge wieder da. Die Sirene ging zu spät los, und Charlie hatte die Bunker noch nicht erreicht, als die erste Welle über sie herfiel - zwei Maschinen, wie bei einer Luftfahrtschau, die mit ihrem Motorenlärm die Menge taub machte - ob die Piloten die Maschinen wohl jemals abfingen und hochrissen? Sie taten es, und die Druckwelle, die durch die Explosion der ersten Bombe ausgelöst wurde, schleuderte sie gegen die Stahltür; der Krach war weniger schlimm als das Erdbeben, das ihn begleitete, und die hysterischen Schwimmbad-Schreie, die den aufsteigenden schwarzen Rauch auf der anderen Seite des Sportplatzes erfüllten. Der dumpfe Aufprall ihres Körpers alarmierte innen jemand, die Tür ging auf, kräftige Frauenhände zogen sie ins Dunkel und zwangen sie auf eine Holzbank. Zuerst war sie vollkommen taub, doch dann hörte sie nach und nach das Wimmern verängstigter Kinder und die ruhigeren, dennoch leidenschaftlichen Stimmen ihrer Mütter. Jemand steckte eine Ölfunzel an und hängte sie an einen Haken in der Mitte der Decke, und eine ganze Zeit lang kam es Charlie mit ihrem Schwindelgefühl vor, als lebte sie in einem falsch herum aufgehängten Stich von Hogarth. Dann bemerkte sie, dass Salma neben ihr saß, und ihr fiel wieder ein, dass sie seit Beginn des Fliegeralarms mit ihr zusammengewesen war. Ein weiteres Paar von Flugzeugen folgte - oder waren es die beiden ersten, die eine zweite Runde drehten -, die Ölfunzel schwankte hin und her, und Charlies Sehvermögen stellte sich wieder auf eine normale Sehweise ein, als in sorgfältig anschwellendem Crescendo eine Bombenkette näher kam. Die beiden ersten spürte sie wie körperliche Schläge - nein, nicht noch einmal, nicht noch einmal, oh, bitte! Die dritte war die lauteste und brachte sie regelrecht um; die vierte und fünfte verrieten ihr, dass sie noch lebte.
»Amerika!« schrie plötzlich eine Frau voller Hysterie und Schmerz Charlie an. »Amerika! Amerika! Amerika!« Sie versuchte, die anderen Frauen mitzureißen, Charlie ebenfalls anzugreifen, doch Salma gebot ihr sanft, still zu sein.
Charlie wartete eine Stunde; wahrscheinlich waren es nur zwei Minuten. Und als danach immer noch nichts passierte, sah sie Salma an und sagte: »Komm, lass uns gehen«, denn sie war überzeugt, dass es im Bunker schlimmer war als irgendwo sonst. Salma schüttelte den Kopf.
»Sie warten nur darauf, dass wir rauskommen«, erklärte sie ihr ruhig und dachte dabei vielleicht an ihre Mutter. »Wir können nicht raus, bevor es dunkel ist.«
Es wurde dunkel, und Charlie kehrte allein in ihre Hütte zurück. Sie zündete eine Kerze an, denn die Stromversorgung war ausgefallen, und das letzte, das sie überhaupt im ganzen Raum sah, war ein Zweig weißer Heide, der in einem Zahnputzglas über dem Waschbecken stand. Sie betrachtete eingehend das kitschige kleine Bild des Palästinenserkinds; sie trat auf den Hof hinaus, wo immer noch ihre Wäsche auf der Leine hing - hurra, sie ist trocken. Da sie keine Möglichkeit hatte, etwas zu bügeln, zog sie die Schublade ihrer winzigen Kommode auf und ordnete die Wäsche mit der Entschlossenheit des Lagerbewohners ein, keine Unordnung aufkommen zu lassen. Eines meiner Kinder wird sie dorthin gesteckt haben, sagte sie sich fröhlich, als sich die weiße Heide nochmals in ihr Blickfeld drängte. Der Lustige mit den Goldzähnen, den ich Aladin getauft habe. Ein Abschiedsgeschenk von Salma, weil dies doch meine letzte Nacht ist. Wie lieb von ihr. Von ihm. »Wir sind eine Liebesgeschichte», hatte Salma beim Abschied gesagt. »Du fährst jetzt fort, und sobald du fort bist, sind wir ein Traum.«
Ihr Hunde, dachte sie. Ihr verdammten zionistischen Mordhunde. Wäre ich nicht hiergewesen, ihr hättet sie bestimmt ins Jenseits gebombt.
»Unsere Treue besteht darin, hier zu sein«, hatte Salma gesagt.