Kapitel 3
Joseph und Charlie wurden einander auf der Insel Mykonos förmlich vorgestellt, an einem Strand mit zwei Tavernen, bei einem späten Mittagessen in der zweiten Augusthälfte und etwa um die Zeit, wenn die griechische Sonne am erbarmungslosesten herab brennt. Oder im Rahmen bedeutenderer politischer Ereignisse: vier Wochen nachdem israelische Flugzeuge das überfüllte Palästinenserviertel von Beirut bombardiert hatten, um, wie es hinterher hieß, die palästinensische Führung zu zerschlagen, obwohl sich keine Anführer unter den mehreren hundert Toten befanden - es sei denn, es handelte sich um die Anführer von morgen, denn es waren viele Kinder darunter.
»Charlie, sag Joseph guten Tag«, sagte jemand aufgeregt, und damit war es geschehen.
Dennoch benahmen sich beide, als ob die Vorstellung gar nicht stattgefunden hätte: sie, indem sie ihr revolutionäres Stirnrunzeln aufsetzte und wie ein englisches Schulmädchen die Hand zu einem zugleich verworfen und hochanständig anmutenden Händeschütteln ausstreckte, und er, indem er sie seltsamerweise ohne besondere Absicht mit einem gelassenen und abschätzenden Blick bedachte.
»Tag, Charlie.« So war eigentlich er es und nicht Charlie, der guten Tag sagte.
Ihr fiel auf, dass er die affektierte Art von Offizieren hatte, unmittelbar vorm Sprechen die Lippen zu spitzen. Seine Stimme klang ausländisch und sehr beherrscht und hatte etwas entmutigend Sanftes - Charlie war sich mehr all dessen bewusst, was vorenthalten als was gegeben wurde. Seine Haltung ihr gegenüber war also das Gegenteil von Aggressivität. Eigentlich hieß sie Charmian, war jedoch allen unter dem Namen ›Charlie‹ oder auch die ›Rote Charlie‹ bekannt, eine Anspielung auf ihre Haarfarbe wie auch auf ihre irgendwie verrückten radikalen Einstellungen, die ihre Art waren, die Menschheit zu lieben und mit den Ungerechtigkeiten in der Welt zurechtzukommen. Sie war die Außenseiterin in einer Gruppe von lebenslustigen jungen englischen Schauspielern, die alle demselben Ensemble angehörten, in einem baufälligen Bauernhaus schliefen, das einen Kilometer weiter landeinwärts lag, und die wie eine buntscheckige, eng zusammengehörende Familie, die nie auseinanderbrach, zum Strand herunterkamen. Wie sie zu dem Bauernhaus, ja, wie sie überhaupt auf die Insel gekommen waren, das war für sie alle ein Wunder, obwohl Wunder für sie als Schauspieler keineswegs überraschend waren. Ihr Wohltäter war eine große Londoner Firma, die wie aus heiterem Himmel auf die Idee gekommen war, den gütigen Engel für ihre Wanderbühne zu spielen. Nachdem ihre Tournee durch die Provinz zu Ende gewesen war, hatte der aus einem halben Dutzend Leuten bestehende Kern des Ensembles zu seinem Erstaunen festgestellt, dass man sie auf Kosten des Unternehmens Urlaub machen und sich erholen ließ. Eine Chartermaschine hatte sie nach Griechenland verfrachtet, das Bauernhaus hatte zum Empfang bereitgestanden, und die Frage des Taschengeldes war durch eine bescheidene Verlängerung ihrer Verträge geregelt worden. Zu freundlich, zu großzügig, zu plötzlich und zu lange her. Nur ein Pack von Faschistenschweinen - das war einhellig ihre freudige Meinung gewesen, als sie die Einladungen erhalten hatten - konnte so entwaffnend menschenfreundlich handeln. Danach hatten sie vergessen, wie sie hierhergekommen waren, bis der eine oder andere von ihnen verschlafen das Glas hob, verdrossen und halbherzig den Namen des Unternehmens murmelte und einen Toast ausbrachte.
Charlie war nicht das hübscheste von den Mädchen, ganz und gar nicht, obwohl ihre Sinnlichkeit ebenso durchschimmerte wie ihr unverbesserlicher guter Wille, den sie bei aller Radikalität nie ganz verhehlen konnte. Lucy war zwar dumm, sah aber hinreißend aus, während Charlie nach den üblichen Normen eher hausbacken wirkte: moche, mit langer kräftiger Nase und nicht mehr ganz taufrischem Gesicht, das im einen Augenblick kindlich und im nächsten so alt und verhärmt aussehen konnte, dass man sich unwillkürlich fragte, was für böse Erfahrungen sie in ihrem bisherigen Leben gemacht haben mochte und was noch aus ihr werden sollte. Manchmal war sie das Findelkind der Gruppe, manchmal ihre Mutter, diejenige, die das Geld zählte und wusste, wo das Mückenschutzmittel oder Heftpflaster für aufgeschnittene Füße lag. In dieser wie in all ihren anderen Rollen war sie unter ihnen die mit dem weitesten Herzen, überhaupt die fähigste. Gelegentlich war sie aber auch ihr gutes Gewissen, schrie sie an wegen irgendeines echten oder eingebildeten Verbrechens wie Chauvi-Verhalten, Sexismus oder westliche Gleichgültigkeit. Das Recht dazu war ihr durch ihre Herkunft gegeben, denn Charlie war die einzige von ihnen, die aus einem guten Stall kam, wie sie gern sagten: Internat und Tochter eines Börsenmaklers, selbst wenn der arme Mann - wie sie nie müde wurde, ihnen zu erzählen - seine Tage hinter Gittern beendet hatte, weil er Kunden betrogen hatte. Aber die Herkunft bricht immer wieder durch, egal, was geschieht. Und schließlich war sie auch unbestritten ihre Hauptdarstellerin. Wenn es Abend wurde und die Familie sich in ihren Strohhüten und bauschenden Strandkleidern kleine Stücke vorspielte, war es Charlie - sofern sie Lust hatte mitzumachen -, die das am besten machte. Wenn sie beschlossen, sich gegenseitig etwas vorzusingen, war es Charlie, die ein bisschen zu gut für ihre Stimmen Gitarre spielte; Charlie, die die Protestlieder kannte und sie in einem zornigen, männlichen Stil vortrug. Bei anderen Gelegenheiten räkelten sie sich in mürrischem Zusammensein, rauchten Haschisch und tranken Retsina, der halbe Liter für dreißig Drachmen. Alle bis auf Charlie, die dann ein wenig abseits von ihnen lag wie jemand, der schon vor langer Zeit so viel gehascht und getrunken hatte, wie er brauchte. »Wartet nur, bis meine Revolution kommt«, pflegte sie sie dann mit schläfriger Stimme zu warnen. »Ich scheuch’ euch Kindsköpfe allesamt noch vorm Frühstück raus zum Rübenziehen.« Dann taten sie so, als bekämen sie es mit der Angst, und fragten: »Wo soll’s denn losgehen, Chas? Wo rollt der erste Kopf?« -»In Rickmansworth«, antwortete sie dann unweigerlich und hackte damit auf ihrer sturmbewegten Kindheit in dem vornehmen Vorort herum. »Dann fahren wir all ihre Scheiß-Jaguars in ihre Scheiß-Swimmingpools.« Daraufhin stießen sie wieder klagende Angstlaute aus, obwohl sie genau wussten, dass Charlie selbst eine Schwäche für schnelle Autos hatte.
Aber sie liebten sie. Das war keine Frage. Und Charlie erwiderte ihre Liebe, so sehr sie es auch abstritt.
Joseph, wie sie ihn nannten, gehörte dagegen überhaupt nicht zu ihrer Familie, nicht einmal - wie Charlie - am Rande. Er besaß eine Selbstgenügsamkeit, die für schwächere Naturen geradezu so etwas wie Mut darstellte. Er hatte keine Freunde, beklagte sich aber nicht deswegen, war der Fremde, der niemand brauchte, nicht einmal sie. Bloß ein Handtuch, ein Buch, eine Wasserflasche und sein eigener kleiner Schützengraben im Sand. Charlie allein wusste, dass er eine Erscheinung war.
Sie bekam ihn auf der Insel zum ersten Mal an dem Vormittag nach ihrer Riesenauseinandersetzung mit Alastair zu Gesicht, die sie nach Punkten klar verloren hatte. Irgendwo in Charlie gab es eine entscheidende Schwäche, die sie mit tödlicher Sicherheit auf machos hereinfallen ließ, und der augenblickliche macho war ein baumlanger, betrunkener Schotte, der innerhalb der Familie ›Long Al‹ genannte wurde, dauernd Drohungen ausstieß und ungenau den Anarchisten Bakunin zitierte. Wie Charlie war er rothaarig und hellhäutig und hatte harte blaue Augen. Wenn sie gemeinsam schimmernd aus dem Wasser stiegen, waren sie in ihrer Umgebung wie Menschen einer anderen Rasse, und der hitzige Ausdruck auf ihren Gesichtern tat kund, dass sie sich dessen bewusst waren. Wenn sie sich von einem Augenblick auf den anderen Hand in Hand und ohne den anderen ein Wort zu sagen, aufmachten, um sich ins Bauernhaus zurückzuziehen, empfand man die Heftigkeit ihrer Begierde wie einen stechenden Schmerz, den man gespürt, aber nur selten mit einem anderen geteilt hatte. Aber wenn sie sich - wie gestern Abend - stritten, legte sich ihr Hass so bedrückend auf zartere Seelen wie Willy und Pauly, dass diese sich verdrückten, bis der Sturm vorüber war. Und bei dieser Gelegenheit hatte auch Charlie das getan: sie hatte sich in eine Ecke des Dachbodens verkrochen, um dort ihre Wunden zu lecken. Als sie jedoch Punkt sechs wach geworden war, hatte sie beschlossen, erst einmal allein baden zu gehen und hinterher in den Ort zu laufen und sich dort ein Frühstück und eine englischsprachige Zeitung zu gönnen. Und gerade als sie sich ihre Herald Tribune kaufte, kam es zu der Erscheinung: der klare Fall eines übersinnlichen Phänomens. Er war der Mann im roten Blazer. Er stand in diesem Augenblick unmittelbar hinter ihr und kaufte sich, ohne sie auch nur im geringsten zu beachten, ein Taschenbuch. Diesmal freilich nicht im roten Blazer, sondern in T-Shirt, Shorts und Sandalen. Und doch war es ohne jeden Zweifel derselbe Mann, dasselbe kurz geschnittene, an den Spitzen angegraute Haar, das in der Stirnmitte zu einer Teufelsspitze auslief; derselbe höfliche Blick aus braunen Augen, voller Achtung vor den Leidenschaften anderer Leute, mit dem er sie einen halben Tag lang wie ein trübes Licht aus der ersten Reihe des Parketts im Barrie Theatre von Nottingham angestarrt hatte: erst bei der Matinee, dann auch noch während der Abendvorstellung - Augen nur für Charlie, von der er sich nicht die kleinste Geste hatte entgehen lassen. Ein Gesicht, das die Zeit weder hart noch weich gemacht hatte, sondern das endgültig schien wie auf einem Stich. Ein Gesicht, das für Charlies Begriffe im Gegensatz zu den vielen Masken eines Schauspielers nur eine starke und beständige Wirklichkeit verriet.
Sie hatte die Heilige Johanna gespielt und war über den Dauphin fast wahnsinnig geworden, der wer weiß wie eingebildet war und bei jeder Szene versuchte, sie einfach an die Wand zu spielen. Deshalb war ihr erst bei der dramatischen Schlussszene bewusst geworden, dass er mitten unter den Schulkindern in der ersten Reihe des halbleeren Zuschauerraums saß. Wäre die Beleuchtung nicht so schwach gewesen, hätte sie ihn wahrscheinlich nicht einmal dann bemerkt, nur war ihre Beleuchtungsanlage in Derby hängen geblieben und musste noch nachgeschickt werden, und so gab es nicht das übliche blendende Licht, das ihr normalerweise den Blick aufs Publikum verwehrte. Zuerst hatte sie ihn für einen Lehrer gehalten, doch als die Schüler hinausgegangen waren, hatte er sich nicht von seinem Platz gerührt, sondern dagesessen und gelesen - den Text oder vielleicht auch die Einführung, wie sie annahm. Und als der Vorhang zur Abendvorstellung in die Höhe gegangen war, hatte er noch auf demselben Platz in der Mitte gesessen, sie wieder mit diesem friedlichen und nichts verratenden Blick verfolgt wie zuvor, und als der letzte Vorhang fiel, hatte sie das geärgert, weil er ihn ihr entzog.
Ein paar Tage später, in York- sie hatte ihn schon vergessen -, hätte sie schwören mögen, ihn wieder gesehen zu haben, doch war sie sich nicht ganz sicher gewesen; dazu war die Bühnenbeleuchtung zu gut gewesen, hatte sie den Lichtschleier nicht durchdringen lassen. Der Fremde war diesmal auch nicht zwischen den Vorstellungen auf seinem Platz sitzen geblieben. Trotzdem hätte sie schwören mögen, dass es dasselbe Gesicht war, erste Reihe Parkett, genau in der Mitte, das da hingerissen zu ihr hinaufstarrte, und auch derselbe rote Blazer. War er ein Kritiker? Ein Produzent? Ein Agent? Ein Filmregisseur? Oder vielleicht von der großen Londoner Firma, die vom Arts Council die Patenschaft für ihre Truppe übernommen hatte? Doch für einen reinen Finanzprofi, der überprüfte, ob die Investition sich für seine Firma auch lohnte, war er zu hager und zu wachsam in seiner Unbeweglichkeit. Und was Kritiker, Agenten und so weiter betraf, so war es schon ein Wunder, wenn sie einen ganzen Akt über blieben - ganz zu schweigen von zwei aufeinander folgenden Vorstellungen. Als sie ihn dann ein drittes Mal kurz vor dem Abflug in den Urlaub, ja, nach der letzten Vorstellung ihrer Tournee, nahe am Bühneneingang des kleinen East End-Theaters stehen sah - oder stehen zu sehen glaubte -, hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre auf ihn zugegangen und hätte ihn gefragt, was er hier zu suchen habe - ob er ein angehender Ripper oder Autogrammjäger oder einfach ein normaler Lustmolch sei wie wir anderen auch. Nur sein betont rechtschaffenes Aussehen hatte sie davon abgehalten. Als sie ihn daher jetzt wiedersah - wie er kaum einen Schritt hinter ihr stand, sich ihrer Anwesenheit anscheinend nicht bewusst war und mit demselben ernsten Interesse, das er vor nur wenigen Tagen ihr hatte zuteilwerden lassen, die Buchauslage betrachtete - stürzte sie das in allergrößte Au fregung. Sie drehte sich nach ihm um, sie begegnete seinem völlig ruhig bleibenden Blick, und eine Sekunde starrte sie ihn weit eindringlicher an, als er sie jemals angestarrt hatte. Sie hatte dabei den Vorteil, eine dunkle Sonnenbrille zu tragen, die sie aufgesetzt hatte, um ihr blaues Auge zu verbergen.
Aus der Nähe gesehen, schien er älter, als sie gedacht hatte, viel ausgemergelter und markanter. Sie fand, er müsse sich mal richtig ausschlafen, und überlegte, ob er aufgrund des Fluges unter der Zeitverschiebung litt, denn seine Augenränder hatten etwas Müdes und Erschlafftes. Er jedoch verriet nicht das kleinste Zeichen von Wiedererkennen oder Erregung. Charlie steckte die Herald Tribune heftig wieder in den Ständer und machte, dass sie in die Geborgenheit einer Taverne unten am Strand zurückkam. Ich bin verrückt, dachte sie, und hob zitternd die Kaffeetasse an die Lippen. Ich bilde mir das alles ein. Das ist sein Doppelgänger. Ich hätte nicht diesen Scheiß-Muntermacher nehmen sollen, den Lucy mir zum Aufmöbeln gegeben hat, nachdem Long AI mich fertiggemacht hatte. Irgendwo hatte sie gelesen, das Gefühl des déjà vu sei die Folge einer Kommunikationsstörung zwischen Auge und Gehirn. Aber als sie die Straße in die Richtung hinunterblickte, aus der sie gerade gekommen war, saß er leibhaftig da, für Auge und Verstand gleichermaßen wahrnehmbar, und zwar in der nächsten Taverne etwas weiter oben, trug eine weiße Golfkappe mit Schirm, die er sich des Schattens wegen tief über die Augen gezogen hatte, und las in seinem englischen Taschenbuch: Conversations with Allende von Debray. Erst gestern hatte sie selbst damit geliebäugelt,.sich das Buch zu kaufen.
Er ist gekommen, um sich meine Seele zu holen, dachte sie, als sie flott an ihm vorbeiflanierte, um zu zeigen, dass sie immun sei. Aber wann um alles auf der Welt hab’ ich sie ihm denn jemals versprochen?
Und tatsächlich, am Nachmittag bezog er seinen Posten am Strand, keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo die Familie ihr Lager aufgeschlagen hatte. Er trug eine sittsame schwarze Mönchsbadehose mit langen Beinen und hatte eine Aluminium-Feldflasche dabei, aus der er sich ab und zu einen kleinen Schluck genehmigte, als ob die nächste Oase einen ganzen Tagesmarsch entfernt sei. Kein einziges Mal blickte er zu ihnen herüber, kümmerte sich nicht im geringsten um sie, sondern las im Schatten seiner ziemlich weit geschnittenen Golfkappe seinen Debray. Und ließ sich doch keine einzige ihrer Bewegungen entgehen - da war sie sich ganz sicher, wenn auch nur aufgrund der Art, wie er regungslos den schönen Kopf geneigt hielt. Es gab so viele Strande auf Mykonos, aber ausgerechnet ihren hatte er sich aussuchen müssen. Und von allen Plätzen an ihrem Strand hatte er sich ausgerechnet auf der einzigen hochgelegenen Stelle zwischen den Dünen niedergelassen, von der aus man alles mitbekam, ob sie nun schwimmen ging oder Al eine neue Flasche Retsina aus der Taverne holte. Von seinem Horst aus konnte er sie mühelos im Auge behalten, während sie keinerlei Möglichkeit hatte, ihn von dort wegzulocken. Wenn sie es Long Al sagte, hieß das, sich der Lächerlichkeit und Schlimmerem auszusetzen, und sie hatte nicht im mindesten die Absicht, Al die Chance zu geben - auf die er sich mit Freuden stürzen würde -, sie erneut wegen ihrer Phantastereien mit Hohn und Spott zu überhäufen. Und wenn sie es einem von den anderen anvertraute, könnte sie es genausogut gleich Al erzählen: er würde es noch am selben Tag erfahren. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr Geheimnis für sich zu behalten, und genau das nahm sie sich vor. Folglich tat sie nichts und er auch nicht; trotzdem wusste sie, dass er wartete; sie spürte förmlich die Geduld und die Selbstzucht, mit der er die Stunden zählte. Selbst als er sich ausstreckte und wie tot dalag, schien eine geheimnisvolle Wachsamkeit von seinem geschmeidigen braunen Körper auszugehen, die ihr von der Sonne zugetragen wurde. Manchmal schien die Spannung in ihm unerträglich; dann sprang er auf, nahm die Kappe ab und schlenderte ernst seine Düne hinunter wie ein Eingeborener ohne Speer und machte lautlos einen Kopfsprung, bei dem das Wasser kaum aufspritzte. Sie wartete - und wartete immer noch. Kein Zweifel, er musste ertrunken sein. Bis er schließlich, nachdem sie ihn endgültig aufgegeben hatte, weit draußen in der Bucht auftauchte und gemächlich im Freistil crawlend weiterschwamm, als hätte er noch Kilometer vor sich; sein kurzgeschnittenes schwarzes Haar schimmerte wie das Fell einer Robbe. Zwar flitzten Motorboote hin und her, doch er kümmerte sich nicht um sie. Da waren auch Mädchen, doch drehte er sich nie nach einer um - darauf achtete sie ganz besonders. Und nach dem Schwimmen wieder die langsame methodische Abfolge von Freiübungen, bis er sich schließlich die Golfkappe tief ins Gesicht zog und sich wieder Allende und Debray zuwandte.
Wessen Geschöpf ist er? überlegte sie hilflos. Wer schreibt ihm seinen Text und gibt ihm die Bühnenanweisungen? Denn für sie stand er auf der Bühne wie sie für ihn in England. Er gehörte zu einem Ensemble, genau wie sie. In der sengenden Sonne, die zwischen Himmel und Sand zitterte, konnte sie minutenlang aufgerichtet seinen glatten reifen Körper beobachten und benutzte ihn als Ziel ihrer erregten Spekulationen. Du zu mir, dachte sie; ich zu dir; diese Kindsköpfe kapieren das nicht. Aber als es Zeit war, Mittag zu essen, und sie alle hintereinander an seiner Sandburg vorbei zur Taverne vorübergingen, ärgerte sich Charlie, als sie sah, dass Lucy Robert losließ, mit den Hüften wackelte und ihm zuwinkte wie eine Nutte.
»Ist er nicht sagenhaft!« sagte Lucy laut. »Den würde ich jederzeit vernaschen.«
»Ich auch«, erklärte Willy, noch lauter. »Meinst du nicht auch, Pauly?«
Doch er beachtete sie nicht. Am Nachmittag nahm Al sie ins Bauernhaus mit, wo sie hemmungslos und lieblos miteinander schliefen. Als sie am frühen Abend an den Strand zurückkehrten und er nicht mehr da war, war sie unglücklich, weil sie ihrem heimlichen Geliebten untreu gewesen war. Sie überlegte, ob sie wohl die Nachtlokale nach ihm abklappern sollte. Da es ihr nicht gelungen war, tagsüber mit ihm in Kontakt zu kommen, kam sie zu dem Schluss, dass er ein ausgiebiges Nachtleben führen müsse.
Am nächsten Morgen wollte sie nicht an den Strand. In der Nacht hatte die Stärke ihrer Fixierung sie erst belustigt und ihr dann Angst gemacht, und beim Aufwachen war sie entschlossen, Schluss damit zu machen. Neben der unförmigen Masse des schlafenden Al liegend hatte sie sich eingebildet, bis über beide Ohren in jemand verliebt zu sein, mit dem sie nie ein Wort gewechselt hatte, hatte ihn auf alle möglichen phantasievollen Arten genommen und Al fallenlassen, um für immer mit dem Unbekannten fortzulaufen. Mit sechzehn mochten solche Albernheiten zulässig sein; mit sechsundzwanzig waren sie unanständig. Al sitzen zu lassen war eine Sache; das musste ohnehin geschehen, je früher, desto besser. Aber einem Traum in einer weißen Golfkappe nachzujagen, war doch etwas anderes, selbst im Urlaub auf Mykonos. Folglich tat sie dasselbe wie gestern, doch diesmal tauchte er - zu ihrer Enttäuschung - weder im Buchladen hinter ihr auf, noch trank er in der Taverne nebenan Kaffee; auch tauchte sein Spiegelbild beim Schaufensterbummel unten am Hafen nicht in einem der Boutiquefenster auf, wie sie immer wieder hoffte. Als sie sich zum Mittagessen in der Taverne wieder zur Familie gesellte, erfuhr sie, dass sie ihn während ihrer Abwesenheit Joseph getauft hatten.
Daran war nichts Besonderes; die Familie gab jedem einen Namen, der ihr auffiel, gewöhnlich Namen aus Theaterstücken oder Filmen, und der Gruppencodex verlangte, dass er - fand er Billigung -allgemein verwendet wurde. Ihr Bosola aus der Herzogin von Malfi zum Beispiel war ein schwedischer Großreeder mit fahrigen Bewegungen und verstohlenen Blicken für Mädchen, ihre Ophelia ein Gebirge von einer Frankfurter Hausfrau, die eine rosageblümte Badehaube und sonst kaum etwas trug. Joseph jedoch, erklärten sie jetzt, solle diesen Namen wegen seines semitischen Aussehens bekommen und wegen des buntgestreiften Bademantels, den er über der schwarzen Badehose trug, wenn er mit weitausholenden Schritten an ihren Strand kam oder ihn verließ. Joseph aber auch wegen seiner überheblichen Haltung den übrigen Sterblichen gegenüber und weil er den Eindruck hervorkehre, dass er zum Nachteil anderer, weniger Begünstigter auserwählt sei. Joseph, der von seinen Brüdern Verachtete, abseits mit seiner Feldflasche und seinem Buch.
Charlie machte an ihrem Platz am Tisch weiter ein grimmiges Gesicht, als sie sich immer rücksichtsloser etwas aneigneten, was sie insgeheim als ihr Eigentum betrachtet hatte. Alastair, der sich jedesmal bedroht fühlte, sobald jemand ohne seinen Segen gepriesen wurde, war gerade dabei, sich aus Roberts Krug einzuschenken. »Joseph, dieser Arsch!« verkündete er mutig. »Eine gottverdammte Schwuchtel ist er, genauso wie Willy und Pauly. Und er ist auf Männerfang aus, glaubt mir. Der mit seinen Schlafzimmeraugen. Dem würd’ ich gern mal die Fresse polieren. Und tu’s auch noch.« Doch Charlie hatte Alastair an diesem Tag bereits bis obenhin satt und war es leid, faschistische Leibsklavin und Erdmutter zugleich für ihn zu spielen. Für gewöhnlich war sie nicht so schneidend wie jetzt, aber ihre wachsende Abneigung Alastair gegenüber lag im Widerstreit mit ihren Schuldgefühlen wegen Joseph.
»Wenn er schwul ist, warum sollte er dann hier auf Männerfang gehen, du Schwachkopf?« fragte sie wütend, fuhr zu ihm herum und verzerrte hässlich den Mund. »Zwei Scheiß-Strände weiter kann er doch nach Herzenslust unter allen Queens von Griechenland wählen. Und du auch!«
Als Anerkennung für diesen höchst unvorsichtigen Ratschlag versetzte Alastair ihr eine schallende Ohrfeige, so dass sich eine Seite ihres Gesichts erst weiß und dann scharlachrot färbte. Sie trieben ihr Spiel der Mutmaßungen bis in den Nachmittag hinein weiter. Joseph war ein Voyeur; er war ein Schleicher, ein Spanner, ein Mörder, ein Schnüffler, ein Fummel-Designer, ein Tory. Wie gewöhnlich blieb es jedoch Alastair überlassen, mit dem endgültigen Ritterschlag aufzuwarten: »Ein Scheiß-Wichser ist er!« blubberte er voller Verachtung aus einem Mundwinkel heraus; dann saugte er vernehmlich die Luft durch die Vorderzähne ein, um zu unterstreichen, was für ein toller Beobachter er doch sei. Doch Joseph selber verhielt sich diesen Beleidigungen gegenüber so gleichgültig, wie es sich auch Charlie gewünscht hätte; er tat das so sehr, dass sie am späten Nachmittag, als die Sonne und der Hasch alle - wieder bis auf Charlie - fast bis zum Stumpfsinn benebelt hatten, zu dem Schluss kamen, er sei cool, was für sie das größte Kompliment war. Und auch bei diesem dramatischen Wandel war es wieder Alastair, der das Rudel anführte. Joseph lasse sich weder von ihnen vergraulen noch anmachen - von Lucy nicht und von den beiden lover-boys auch nicht. Ergo cool, wie Alastair selbst. Joseph habe sein Territorium, und sein ganzes Verhalten verkünde: kein Mensch sitzt mir im Nacken, hier habe ich mein Lager aufgeschlagen. Cool. Bakunin hätte ihm höchstes Lob gezollt. »Er ist cool, und ich liebe ihn«, zu diesem Schluss kam Alastair, während er Lucy liebkosend bis hinunter zum Gummizug des Bikinis über den seidigen Rücken strich und dann wieder von oben anfing.
»Wäre er eine Frau, ich wüsste genau, was ich mit ihm machen würde, oder, Luce?«
Gleich darauf erhob Lucy sich und war damit in der Hitze der einzige Mensch, der auf dem flirrenden Strand aufrecht stand. »Wer behauptet denn, ich kann ihn nicht anmachen?« sagte sie und stieg aus ihrem Badeanzug.
Nun war Lucy blond, breithüftig und verführerisch wie ein Apfel. Sie spielte Animierdamen, Nutten und Jungen-Hauptrollen, doch ihre Spezialität waren mannstolle Teenager, und sie verstand es, einen Mann allein durch ihren Augenaufschlag rumzukriegen. Sie verknotete locker einen weißen Bademantel unter den Brüsten, hob einen Weinkrug samt Plastikbecher auf und schritt - den Krug auf dem Kopf -, hüftschwenkend und die Oberschenkel schön zur Geltung bringend, zum Fuß der Düne hinüber, nach Kräften bemüht, satirisch eine griechische Göttin à la Hollywood darzustellen. Nachdem sie die kleine Anhöhe zu ihm hinaufgestiegen war, ließ sie sich neben ihm auf ein Knie nieder, schenkte von hoch oben den Wein ein und ließ dabei den Bademantel aufgehen. Dann reichte sie ihm den Becher und beschloss, ihn auf französisch anzureden, soweit ihre Kenntnisse dieser Sprache das erlaubten. »Aimez-vous?« fragte Lucy.
Joseph gab durch nichts zu erkennen, dass er sie bemerkt hatte. Er blätterte um, beobachtete darauf ihren Schatten, und erst dann wälzte er sich auf die Seite, betrachtete sie kritisch mit seinen dunklen Augen unter dem Schatten seiner Golfkappe, nahm den Becher an und trank ihr mit ernster Miene zu, während zwanzig Schritt weiter ihr Fan-Club klatschte oder albern zustimmende Laute ausstieß wie die Abgeordneten im Unterhaus. »Du musst Hera sein«, sagte Joseph zu Lucy mit genauso viel Gefühl, als ob er eine Landkarte studierte. Das war der Augenblick, als sie die dramatische Entdeckung machte: Er hatte diese Narben! Lucy konnte kaum an sich halten. Am reizvollsten von allen war ein säuberliches Bohrloch von der Größe eines Fünf-Pence-Stückes, wie einer von den Einschussloch-Aufklebern, die Pauly und Willy an ihrem Mini-Morris hatten, nur befand dieses hier sich auf der linken Seite seines Bauches! Aus der Ferne konnte man die Narbe nicht erkennen, doch als sie sie berührte, fühlte sie sich glatt und hart an.
»Und du bist Joseph«, erwiderte Lucy ein wenig verwirrt, denn sie hatte keine Ahnung, wer Hera war.
Wieder wehte Applaus über den Sand herüber, als Alastair sein Glas hob und ihm zuprostete: »Joseph! Mr. Joseph, Sir! Viel Glück, und ihre neidischen Brüder zum Arsch!«
»Kommen Sie doch rüber zu uns, Mr. Joseph!« rief Robert, worauf Charlie ihm wütend über den Mund fuhr, er solle doch die Klappe halten.
Doch Joseph kam nicht zu ihnen herüber. Er hob den Becher, und Charlie wollte es in ihrer rasenden Phantasie vorkommen, als trinke er insbesondere ihr zu; doch wie wollte sie das bei einer Entfernung von zwanzig Schritt so genau feststellen, wenn ein Mann einer ganzen Gruppe zutrank? Dann wandte er sich wieder seinem Buch zu. Nicht, dass er sie vor den Kopf stieß; er habe weder positiv noch negativ reagiert, wie Lucy es hinterher ausdrückte, sondern habe sich bloß wieder auf den Bauch gewälzt und weiter gelesen, und - du meine Güte! - es sei wirklich die Narbe von einer Kugel; die Ausschussnarbe, groß wie von einer MP, habe er auf dem Rücken! Während Lucy sich nicht von diesem Anblick losreißen konnte, ging ihr auf, dass es sich nicht nur um eine einzelne Wunde handelte, sondern um eine ganze Menge: die Arme seien unten am Ellbogen ganz vernarbt; hinten am Bizeps kleine Inseln von haarloser und unnatürlicher Haut; und das Rückgrat geradezu durchgescheuert, sagte sie - »als ob jemand ihn mit glühender Stahlwolle bearbeitet hätte« -, wer weiß, vielleicht hatte ihn sogar jemand kielgeholt? Lucy blieb noch ein Weilchen, tat so, als werfe sie über seine Schulter einen Blick in sein Buch, während er umblätterte, doch in Wirklichkeit wollte sie ihm gern mal über das Rückgrat streichen, denn abgesehen davon, dass es narbig war, war es auch noch behaart und lag tief zwischen zwei Muskelwülsten: ein Rückgrat, wie sie es besonders gern hatte. Aber sie tat es nicht, denn, erklärte sie Charlie hinterher, wenn sie ihn einmal gestreichelt hätte, wisse sie nicht, ob sie es dann jemals wieder tun dürfe. Sie habe sich gefragt - erklärte Lucy in einer seltenen Aufwallung von Bescheidenheit -, ob sie nicht zumindest erst mal anklopfen solle; ein Satz, der Charlie hinterher nicht mehr aus dem Sinn ging. Lucy hatte überlegt, ob sie nicht seine Feldflasche ausgießen und mit Wein füllen sollte, doch habe er am Wein kaum genippt, und vielleicht trank er Wasser lieber? Schließlich hatte sie sich den Weinkrug wieder auf den Kopf gesetzt und war lässig tänzelnd zur Familie zurückgekehrt, wo sie ziemlich atemlos Bericht erstattete, bis sie bei irgend jemand - auf dem Schoß einschlief. Joseph galt fortan cooler denn je. Der Vorfall, durch den die beiden förmlich miteinander bekannt gemacht wurden, ereignete sich am nächsten Nachmittag, und den Anstoß dazu gab Alastair. Long Al sollte abreisen. Sein Agent hatte ihm ein Telegramm geschickt, und das war schon ein Wunder an sich. Bis zu diesem Tag hatte man nicht ohne Grund angenommen, dass sein Agent diese kostspielige Form der Kommunikation einfach nicht kenne. Das Telegramm war morgens um zehn mit einer Lambretta zum Bauernhaus hinausgekommen und dann von Pauly und Willy, die sich einen langen Morgen im Bett gegönnt hatten, zum Strand hinuntergebracht worden. Es enthielt ein Angebot, was mit möglicherweise größere Filmrolle‹ umschrieben war, und das wieder war eine große Sache innerhalb der Familie, denn Alastair hatte nur den einen Ehrgeiz, die Hauptrolle in großen, aufwendigen Filmen zu spielen oder, wie sie es nannten, das Kinopublikum so weit zu bringen, dass es Rotz und Wasser weinte. »Ich bin einfach zu stark für sie«, erklärte er jedes Mal, wenn er sich im Filmgewerbe eine Absage holte. »Er muss sich eine Besetzung suchen, die es mit mir aufnehmen kann, und das weiß das Schwein natürlich.« Daher freuten sie sich alle für Alastair, als das Telegramm kam, insgeheim aber noch mehr für sich selbst, denn mit seiner Gewalttätigkeit begann er sie ganz krank zu machen. Vor allem aber machte es sie Charlies wegen ganz krank, die mittlerweile am ganzen Körper mit blauen Flecken übersät war, so dass sie schon um ihren Aufenthalt auf der Insel fürchteten. Nur Charlie war über die Aussicht, dass er abreiste, ganz durcheinander, wenn sie auch vor allem um ihrer selbst willen traurig war. Wie die anderen, hatte sie tagelang gewünscht, dass er endgültig aus ihrem Leben verschwand. Doch jetzt, wo ihre Gebete durch das Telegramm erhört worden waren, bedrückten sie Schuldgefühle und Angst davor, daß wieder einmal eines ihrer Leben zu Ende war.
Die Familie begleitete Alastair hinunter zum Büro der Olympic Airways in der Stadt, sobald es nach der Siesta wieder aufmachte, um dafür zu sorgen, dass er auch wirklich einen Platz in der nächsten Morgenmaschine nach Athen bekam. Charlie ging zwar auch mit, war aber weiß und schwindlig und hielt die Arme vor der Brust verschränkt, als ob sie fröre. »Ihr könnt Gift darauf nehmen, dass die Maschine ausgebucht ist«, warnte sie sie. »Bestimmt müssen wir es noch wochenlang mit dem Scheißkerl aushalten.«
Aber sie sollte sich irren. Es war nicht nur ein Platz für Long Al frei, sondern schon vor drei Tagen per Telex auf seinen vollen Namen reserviert und die Buchung gestern bestätigt worden. Diese Entdeckung nahm ihnen alle noch verbliebenen Zweifel. Long Al sollte ganz groß herauskommen. So etwas war noch keinem von ihnen jemals passiert. Daneben verblasste sogar die Menschenfreundlichkeit ihrer Gönner. Ein Agent - und dazu auch noch Als Agent, nach einhelliger Meinung der größte Banause auf dem gesamten Viehmarkt - reservierte per Telex so etwas wie Flugtickets für ihn! »Dem kürz’ ich seine Kommission, verlasst euch drauf«, erklärte Al ihnen bei etlichen Ouzos, während sie auf den Bus warteten, der sie an ihren Strand zurückbringen sollte. »Ich lass’ mir doch nicht für den Rest meines Lebens von einem solchen Parasiten zehn Prozent abknöpfen! Das könnt ihr mir glauben!«
Ein strohblonder Hippie, ein verrückter Typ, der sich ihnen manchmal anschloss, erinnerte sie daran, dass alles Eigentum Diebstahl sei.
Ganz anders als Alastair machte Charlie, die sich nach ihm sehnte, ein finsteres Gesicht und trank überhaupt nichts. »Al«, flüsterte sie einmal und griff nach seiner Hand. Aber Long Al war im Erfolg nicht zartfühlender als im Misserfolg oder in der Liebe, und Charlie hatte an diesem Morgen als Beweis eine aufgeplatzte Lippe, die sie immer wieder gedankenverloren mit den Fingerspitzen abtastete. Am Strand setzte er seinen Monolog genauso unerbittlich fort, wie die Sonne weiter herabsengte. Er werde erst einmal feststellen müssen, ob er mit dem Regisseur auch einverstanden sei, bevor er unterschreibe, verkündete er.
»Keine alten englischen Tunten für mich, nein, vielen Dank, Mädchen; und was das Drehbuch betrifft, ich bin auf keinen Fall einer von ihren gelehrigen Laien-Schauspielern, der einfach auf seinem Arsch rumsitzt und die Textzeilen, die ihm zugeworfen werden, runterleiert wie ein Papagei. Du kennst mich, Charlie. Und wenn
sie mich kennenlernen wollen, so, wie ich wirklich bin, dann fangen sie besser gleich damit an, Charlie-Baby, sonst kommt es zwischen ihnen und mir zu einem erbitterten Kampf, bei dem kein Pardon gegeben wird, das werden die schon noch merken.« In der Taverne setzte sich Long Al, damit auch keiner vergaß, wer hier den Ton angab, ans Kopfende, und das war der Augenblick, als sie merkten, dass er seinen Pass und seine Brieftasche samt Kreditkarte der Barclay-Bank und sein Flugticket sowie fast alles sonst verloren hatte, was ein guter Anarchist vernünftigerweise als den überflüssigen Plunder unserer Sklavengesellschaft bezeichnete.
Zunächst einmal kapierte der Rest der Familie nicht, worum es ging, doch das passierte dem Rest der Familie häufiger. Sie dachten nur, es braue sich wieder einer von den unbegreiflichen Krächen zwischen Alastair und Charlie zusammen. Alastair hatte sie am Handgelenk gepackt und drückte es ihr mit Gewalt gegen die Schulter, und Charlie schnitt Grimassen, während er sie, das Gesicht dicht vor ihrem, unflätigst beschimpfte. Sie stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus, und in dem Schweigen, das unmittelbar folgte, begriffen sie, was er ihr seit einiger Zeit auf die eine oder andere Weise vorgeworfen hatte.
»Ich hab’ dir doch gesagt, du sollst die Sachen in deine Scheiß-Tasche stecken, du blöde Kuh. Sie haben doch dagelegen, auf der Theke in der Ticket-Verkaufsstelle. Und ich hab’s dir aufgetragen, hab’s dir gesagt, ja, dir befohlen: ›Nimm sie an dich und steck sie in deine Schultertasche, Charlie!‹ Denn die boys, wenn sie nicht gerade dreckige kleine Tunten mit einer dreckigen Phantasie sind wie Willy und Pauly, sind nämlich keine Handtaschenträger, Darling, stimmt’s nicht, Darling? Wo bist du also hin, und wo hast du sie hin, Mädchen, wo? Damit hältst du einen Mann wie mich nicht davon ab, seinem Schicksal entgegenzufliegen, glaub mir! Damit kannst du einen Scheiß-Chauvi nicht bremsen, und wenn du noch so eifersüchtig bist, dass mich armes Schwein das Glück getroffen hat. Ich muss zu Hause nämlich arbeiten, mein Täubchen, muss gewisse Hochburgen einnehmen und so.« Gerade als ihr Streit auf dem Höhepunkt war, hatte Joseph seinen Auftritt. Von woher eigentlich, schien keiner zu wissen - jemand sei einfach unauffällig ins Licht getreten, wie Pauly es ausdrückte. Soweit sich hinterher feststellen ließ, trat er von links auf - oder in anderen Worten vom Strand her. Jedenfalls stand er plötzlich da, in seinem bunten Bademantel und die Golfkappe ins Gesicht gezogen, hielt in der Hand Alastairs Pass, Alastairs Brieftasche und Alastairs nagelneues Flugticket, die er offenbar alle unten am Fuß der Tavernentreppe vom Sand aufgehoben hatte. Ausdruckslos und höchstens ein wenig verdattert betrachtete er die Szene zwischen den streitenden Liebenden und wartete wie ein vornehmer Bote, bis er ihre Aufmerksamkeit erregte. Dann legte er seine Funde auf den Tisch, einen nach dem anderen. Kein Laut plötzlich in der ganzen Taverne, außer dem leisen Knall, den es jedesmal gab, als er sie nacheinander auf den Tisch fallen ließ. Schließlich sprach er. »Entschuldigt, aber ich hab’ so eine Ahnung, als ob jemand dies hier bald vermissen könnte. Eigentlich sollte man ja ohne diese Sachen im Leben auskommen, finde ich, aber ich fürchte, das könnte zu beträchtlichen Schwierigkeiten führen.«
Keiner außer Lucy hatte seine Stimme bisher gehört, und Lucy war zu bedudelt gewesen, um die Betonung oder irgend etwas sonst daran zu bemerken. Folglich hatten sie keine Ahnung von seinem tadellosen, wenn auch etwas umständlichen Englisch gehabt, aus dem auch noch der letzte kleine ausländische Knitter herausgebügelt war. Hätten sie eine Ahnung davon gehabt, sie hätten ihn bestimmt nachgeäfft. Erst waren sie verwundert, dann lachten sie, dann waren sie dankbar. Sie baten ihn, sich zu ihnen zu setzen. Joseph wehrte ab, und sie gerieten ins Kreischen. Er war Mark Anton vor der lärmenden Menge: Sie brachten ihn dazu, sich zu setzen. Er betrachtete sie eingehend; sein Blick erfasste Charlie, wanderte dann weiter und kehrte zu Charlie zurück. Schließlich streckte er mit einwilligendem Lächeln die Waffen. »Nun, wenn ihr unbedingt wollt«, sagte er. Lucy, die ja schon eine alte Freundin von ihm war, umarmte ihn. Pauly und Willy teilten sich in die Honneurs. Jedes Familienmitglied war nacheinander seinem klaren Blick ausgesetzt, und plötzlich begegneten Charlies harte blaue Augen Josephs braunen, stand Charlies wütende Verwirrung gegen Josephs vollkommene Gefasstheit, die nicht den geringsten Triumph durchschimmern ließ - von der nur sie allein wusste, dass sie eine Maske war, hinter der er ganz andere Gedanken und Beweggründe verbarg.
»Tag, Charlie, wie geht’s?« sagte er ruhig, und sie gaben sich die Hand.
Kurzes Schweigen wie auf der Bühne, dann - als wäre es endlich aus der Gefangenschaft entlassen und schwinge sich zum erstenmal zu freiem Flug auf - ein breites Lächeln, jung wie das eines Schuljungen und doppelt so ansteckend. »Und ich hab’ gedacht, Charlie sei ein Jungenname«, wandte er ein.
»Ich bin aber ein Mädchen«, sagte Charlie, und alle einschließlich Charlie lachten, ehe sich sein strahlendes Lächeln ebenso plötzlich wieder hinter die Linien seines Eingesperrtseins zurückzog, wie es ausgebrochen war.
Für die Tage, die der Familie noch blieben, wurde Joseph zu ihrem Maskottchen. In ihrer Erleichterung über Alastairs Abflug nahmen sie ihn von ganzem Herzen in ihrem Kreis auf. Lucy gab ihm zu verstehen, dass sie zu haben sei, doch er lehnte höflich, sogar mit Bedauern ab. Sie gab die traurige Nachricht an Pauly weiter, der sich eine womöglich noch entschiedenere Abfuhr holte: ein weiterer Beweis dafür, dass er Keuschheit geschworen hatte. Bis zu Alastairs Abflug hatte die Familie erwogen, ihr gemeinsames Leben etwas abzubauen. Ihre kleinen Ehen brachen auseinander, und frische Kombinationen retteten sie nicht; Lucy hatte den Verdacht, schwanger zu sein, doch diesen Verdacht hatte sie öfters, und das mit Grund. Die großen politischen Streitgespräche waren mangels irgendwelcher Impulse eingeschlafen, denn das Äußerste, was sie wirklich wussten, war, dass das System gegen sie war und sie gegen das System; nur lässt sich das System auf Mykonos nicht so ohne weiteres dingfest machen, zumal, wenn es einen auf seine Kosten dorthin geflogen hat. Abends im Bauernhaus hatten sie bei Brot und Tomaten, Olivenöl und Retsina angefangen, wehmütig von Regen und kalten Tagen in London zu reden und von Straßen, wo man am Sonntagmorgen den Geruch von Frühstücksspeck in der Nase hatte. Und nun unvermittelt Abtritt Alastair und Auftritt Joseph, um alles durcheinander zu bringen und eine neue Perspektive zu schaffen. Sie nahmen ihn vollkommen in Beschlag, als hätten sie nur auf ihn gewartet. Nicht zufrieden damit, ihn praktisch zu zwingen, ihnen am Strand und in der Taverne Gesellschaft zu leisten, veranstalteten sie im Bauernhaus auch noch einen Abend für ihn, einen Josephabend, wie sie es nannten, und Lucy in ihrer Rolle als werdende Mutter deckte den Tisch mit Papptellern, Taramsalata, Obst und Käse. Da sich Charlie durch Alastairs Abreise ihm gegenüber ausgeliefert vorkam und durch ihre verwirrten Gefühle verängstigt war, war sie die einzige, die sich zurückhielt. »Er ist ein vierzig Jahre alter Schwindler, ihr Idioten. Seht ihr das denn nicht? Nein, das tut ihr nicht, oder? Ihr seid selbst solch eine Bande von ausgeflippten Schwindlern, dass ihr dazu buchstäblich nicht in der Lage seid!«
Sie brachte sie völlig durcheinander. Wo war denn bloß ihre alte großzügige Denkweise geblieben? Wie könne er denn ein Schwindler sein, hielten sie ihr entgegen, wo er doch überhaupt nicht behauptete, irgendetwas zu sein? Komm schon, Chas, gib ihm eine Chance! Aber sie wollte nicht. In der Taverne entwickelte sich eine natürliche Sitzordnung an dem langen Tisch, an dem Joseph auf allgemeinen Wunsch still in der Mitte den Vorsitz führte, sich voller Feingefühl einfügte, mit den Augen zuhörte und bemerkenswert wenig sagte. Charlie jedoch, sofern sie überhaupt kam, setzte sich verdrießlich oder herumalbernd so weit wie möglich von ihm entfernt bin und verachtete ihn dafür, dass er sich so zugänglich zeigte. Joseph erinnere sie an ihren Vater, vertraute sie Pauly an, und das war, wie sich später herausstellen sollte, eine dramatische Erkenntnis. Er habe genau den gleichen unheimlichen Charme; nur unterdrückt, Pauly, ganz einfach vollkommen unterdrückt; sie habe das auf einen Blick erkannt, doch sag nichts. Pauly schwor, er werde nichts sagen.
Charlie nähre nur eins von ihren Vorurteilen Männern gegenüber, erklärte Pauly Joseph an diesem Abend; das sei bei ihr nicht persönlich zu nehmen, sondern politisch - ihre Scheiß-Mutter sei eine dieser hirnlosen Konformistinnen und ihr Vater ein unglaublicher Gauner, sagte er. »Der Vater ein Gauner?« sagte Joseph mit einem Lächeln, das zu verraten schien, diesen Typ kenne er genau. »Wie bezaubernd! Das musst du mir unbedingt erzählen.«
Das machte Pauly und genoss das Vergnügen, Joseph ein Geheimnis anzuvertrauen. Damit war er nicht allein, denn nach dem Mittag- oder Abendessen blieben immer zwei oder drei von ihnen zusammen sitzen, um mit ihrem neuen Freund über ihr schauspielerisches Können, ihre Liebschaften oder darüber zu reden, wie sehr es mit den Lebensbedingungen für Schauspieler abwärts gehe. Wenn es ihren Vertraulichkeiten an der rechten Würze zu mangeln schien, dichteten sie noch ein bisschen dazu, bloß, um in seinen Augen nicht als Langweiler da zu stehen. Joseph hörte sich das alles mit ernster Miene bis zu Ende an, nickte ernst dazu oder stieß ein kleines ernstes Lachen darüber aus; nie jedoch erteilte er ihnen irgendeinen Ratschlag oder erzählte, wie sie zu ihrer großen Überraschung und Bewunderung bald entdeckten, irgendetwas weiter: Was er anvertraut bekam, behielt er für sich. Ja, noch besser: Er versuchte nie, es ihnen mit ihren Monologen gleichzutun, sondern zog es vor, sie hinten herum durch taktvolle Fragen nach ihrer eigenen Person oder nach Charlie, die ja so häufig ihre Gedanken beschäftigte, auszuquetschen.
Selbst was für ein Landsmann er war, blieb ein Rätsel. Robert erklärte ihn aus irgendeinem Grunde zu einem Portugiesen. Jemand anders behauptete steif und fest, er sei Armenier, einer, der den Völkermord in der Türkei überlebt habe - er habe vor kurzem einen Dokumentarfilm darüber gesehen. Pauly, der Jude war, behauptete, er sei Einer Von Uns, doch das behauptete Pauly von jedem, und so kamen sie eine Zeitlang überein, dass er Araber sei, bloß, um Pauly zu ärgern.
Aber sie fragten Joseph nicht, was er war, und als sie versuchten, ihm seines Berufes wegen zuzusetzen, erwiderte er nur, er reise viel, sei aber in letzter Zeit ziemlich sesshaft geworden, was sich aus seinem Mund fast so anhörte, als habe er sich zur Ruhe gesetzt. »Was ist das denn für eine Firma, Jose?« fragte Pauly, der mutiger war als die anderen. »Du verstehst, ich meine, für wen arbeitest du denn?«
Nun, er fände eigentlich, dass er gar keine richtige Firma habe, entgegnete er vorsichtig und berührte dabei nachdenklich den Schirmrand seiner Golfkappe. Jedenfalls nicht mehr. Er lese ein bisschen, treibe ein bisschen Handel, habe in letzter Zeit ein bisschen was geerbt, und so sei er, technisch gesehen, bei sich angestellt. Ja, er sei sein eigener Angestellter, so nenne man das wohl. Sein eigener Angestellter.
Nur Charlie gab sich damit nicht zufrieden: »Dann sind wir also ein Schmarotzer, was, Jose?« fragte sie und errötete. »Wir lesen, wir treiben Handel, wir geben unser Geld aus, und von Zeit zu Zeit verpulvern wir es auf einer kleinen griechischen Sexinsel zu unserem Vergnügen? Stimmt’s?«
Ohne eine Miene zu verziehen, erklärte Joseph sich mit dieser Beschreibung einverstanden. Nicht jedoch Charlie. Charlie verlor die Fassung, und ihr Temperament ging mit ihr durch.
»Ja, was lesen wir denn, um alles in der Welt? Mehr will ich ja gar nicht wissen? Womit treiben wir Handel? Ich darf doch wohl fragen, oder?« Sein freundliches Schweigen provozierte sie nur noch mehr. Er war für ihre Sticheleien einfach zu alt. »Bist du Buchhändler? Was für ein Gewerbe treibst du?«
Er nahm sich Zeit. Darauf verstand er sich. Seine Perioden ausgedehnten Nachdenkens waren innerhalb der Familie bereits als Josephs Drei-Minuten-Warnungen bekannt. »Gewerbe?« wiederholte er verwirrt-nachdrücklich. »Gewerbe? Mag sein, dass ich alles Mögliche bin, Charlie, aber ein Einbrecher bin ich nicht!«
Wütend schrie Charlie ihr Gelächter nieder und appellierte verzweifelt an die anderen: »Er kann doch nicht einfach im luftleeren Raum sitzen und Handel treiben, ihr Spatzengehirne! Was macht er? In welcher Branche ist er?« Sie ließ sich auf ihrem Stuhl zurücksinken. »Himmel«, sagte sie. »Trottel!« Und gab es auf und sah ausgelaugt und wie fünfzig aus, was sie von einem Augenblick auf den anderen schaffte.
»Meinst du nicht, es ist viel zu langweilig, lange darüber zu reden?« fragte Joseph sehr liebenswürdig, als ihr immer noch keiner zu Hilfe kam. »Ich würde sagen, Geld und Arbeit, das sind die Dinge, denen man hier auf Mykonos entfliehen möchte, findest du nicht auch, Charlie?«
»Ich meine allerdings, es ist so, als unterhielte man sich mit jemand, der auf jede Frage von mir nur in sich reingrinst«, fauchte Charlie ihn an.
Plötzlich ging etwas in ihr vollkommen in die Brüche. Sie stand auf, stieß einen zischenden Laut aus, gab sich einen Ruck, um jede Unsicherheit zu vertreiben, und hieb mit der Faust auf den Tisch. Es war derselbe Tisch, an dem sie gesessen hatten, als Joseph wie durch ein Wunder mit Als Pass aufgekreuzt war. Die Plastik-Tischdecke geriet ins Rutschen, und eine leere Limonaden-Flasche, ihre Wespenfalle, fiel Pauly buchstäblich in den Schoß. Charlie stieß einen Schwall von Flüchen aus, was ihnen peinlich war, weil sie sich bemühten, in Josephs Gegenwart keine Schimpfworte zu gebrauchen; sie beschuldigte ihn, ein abgefeimter Lüstling zu sein, der den Strand abklappere und seine Muskeln vor Mädchen spielen lasse, die halb so alt seien wie er. Sie wollte sagen, und auf leisen Sohlen auch noch durch Nottingham und York und London herumschleichen, aber während sie redete, kamen ihr Zweifel, und sie hatte panische Angst davor, von ihnen ausgelacht zu werden, und so schluckte sie es herunter. Wieviel er von der ersten gegen ihn abgefeuerten Salve mitbekommen hatte, wussten sie nicht recht. Ihre Stimme war erstickt und wütend, und sie hatte ihren Fischmarkt-Ton eingesetzt. Wenn sie überhaupt sahen, dass sich in Josephs Gesicht etwas zeigte, dann war es die große Aufmerksamkeit, mit der er Charlie beobachtete.
»Also, was genau möchtest du wissen, Charlie?« fragte er sie nach dem üblichen nachdenklichen Abwarten. »Erst einmal wirst du ja wohl einen Namen haben, oder?«
»Ihr habt mir einen gegeben. Joseph.« »Und wie heißt du richtig?«
Bestürztes Schweigen hatte sich über das ganze Restaurant gelegt, und selbst diejenigen, die Charlie vorbehaltlos liebten wie Willy und Pauly, fanden, dass ihre Treue zu ihr überbeansprucht wurde.
»Richthoven«, erwiderte er schließlich, als ob er aus einer ganzen Reihe von Möglichkeiten wählte. »Wie der Flieger, nur mit v: Richthoven«, wiederholte er geradezu genüsslich, als finde er Geschmack an der Vorstellung. »Macht mich das jetzt zu einem anderen Menschen? Wenn ich so ein verruchter Kerl bin, wie du meinst, warum solltest du mir dann jetzt glauben?«
»Richthoven - und? Wie heißt du mit Vornamen?« Wieder eine Pause, ehe er sich entschloss.
»Peter. Aber Joseph ist mir lieber. Wo ich wohne? In Wien. Aber ich reise viel. Willst du meine Adresse? Ich geb’ sie dir. Leider wirst du mich nicht im Telefonbuch finden.«
»Du bist also Österreicher.«
»Charlie. Bitte. Sagen wir, ich bin eine Promenadenmischung mit europäischem und nahöstlichen Einschlag. Stellt dich das zufrieden?«
Mittlerweile ging die Gruppe unter peinlich berührtem Gemurmel zu Joseph über: »Aber, Charlie, um Himmels willen -lass doch, Chas, du stehst nicht auf dem Trafalger Square, Chas, ehrlich.« Doch Charlie blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Sie warf den Arm über den Tisch und schnippte mit den Fingern sehr laut vor Josephs Nase. Einmal und dann noch einmal, so dass mittlerweile jeder Kellner und jeder Gast in der Taverne sich umgedreht hatte und beobachtete, was dort los war.
»Deinen Pass, bitte! Los, schick ihn mal rüber. Erst hast du Als für ihn aufgetrieben, jetzt lass uns deinen sehen. Geburtstag, Augenfarbe, Staatsangehörigkeit. Gib schon her!«
Erst blickte er auf ihre ausgestreckten Finger herunter, die in diesem Winkel etwas hässlich Zudringliches hatten. Dann hinauf in ihr gerötetes Gesicht, wie um sich zu vergewissern, worauf sie eigentlich hinauswollte. Schließlich lächelte er, und für Charlie war dieses Lächeln wie ein leichter, gemächlicher Tanz auf der Oberfläche eines tiefen Geheimnisses, der sie mit seinen Anmaßungen und Auslassungen verspottete.
»Tut mir leid, Charlie. Ich finde, wir Bastarde haben eine tiefsitzende - ich würde sagen, eine historisch bedingte -Abneigung dagegen, unsere Identität durch ein Stück Papier definieren zu lassen. Aber als jemand, der so progressiv ist wie du, verstehst du doch meine Einstellung?«
Er nahm ihre Hand in die seine und schob sie - nachdem er die Finger vorsichtig mit der anderen Hand in die Handfläche gebogen hatte - zurück auf ihre Seite.
Charlie und Joseph traten ihre Reise durch Griechenland in der Woche darauf an. Wie andere erfolgreiche Anträge war auch dies einer, der genau genommen nie gemacht wurde. Sie löste sich vollständig von der Gruppe, und machte es sich zur Gewohnheit, schon früh in die Stadt hinunterzugehen, solange es noch kühl war, und den Tag in zwei oder drei Tavernen zu vertrödeln, griechischen Kaffee zu trinken und ihren Text von Wie es euch gefällt zu lernen, mit dem sie im Herbst im Westen Englands auf Tournee gehen sollte. Als sie merkte, dass sie angestarrt wurde, blickte sie auf, und da stand, direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, Joseph, war gerade eben aus der Pension getreten, in der er, wie sie entdeckt hatte, wohnte: Richthoven, Peter, Zimmer 18, allein. Es war, wie sie sich hinterher einredete, reiner Zufall, dass sie sich genau zu der Stunde, da er herauskommen musste, um zum Strand hinunterzugehen, ausgerechnet diese Taverne ausgesucht und sich dort niedergelassen hatte. Als er sie sah, kam er herüber und setzte sich neben sie.
»Hau ab!« sagte sie.
Lächelnd bestellte er sich einen Kaffee. »Ich fürchte, ab und zu sind deine Freunde etwas schwer zu verknusen«, gestand er. »Es bleibt einem nichts anderes übrig, als in der Namenlosigkeit der Menge unterzutauchen.«
»Das kann man wohl sagen«, erklärte Charlie. Er sah nach, was sie las, und ehe sie sich’s versah, unterhielten sie sich angeregt über die Rolle der Rosalinde, gingen sie praktisch Szene für Szene durch; nur, dass Joseph beide Teile der Unterhaltung bestritt. »Sie ist so viele Menschen in einer Gestalt, würde ich sagen. Wenn man verfolgt, wie sie sich im Lauf des Stückes entfaltet, hat man das Gefühl, es mit einer Person zu tun zu haben, in der ein ganzes Regiment widerstreitender Charaktere stecken. Sie ist gut, sie ist klug, ist irgendwie verloren, sie begreift zuviel, verspürt sogar etwas wie eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber. Ich würde sagen, dass dir diese Rolle wie auf den Leib geschrieben ist.« Sie konnte nicht anders. »Jemals in Nottingham gewesen, Jose?« wollte sie wissen und starrte ihn offen an, gab sich nicht die Mühe zu lächeln.
»Nottingham? Ich fürchte, nein. Sollte ich das? Ist Nottingham etwas, was man gesehen haben muss? Warum fragst du?«
In ihren Lippen kribbelte es. »Ach, nur, dass ich letzten Monat dort gespielt habe. Ich hoffte, du hättest mich vielleicht gesehen.«
»Wie wahnsinnig interessant! Worin hätte ich dich sehen sollen? In was für einem Stück?«
»In der Heiligen Johanna. Shaws Heiliger Johanna. Ich habe die Johanna gespielt.«
»Aber das ist eines meiner Lieblingsstücke! Es vergeht bestimmt kein Jahr, ohne dass ich nicht die Einleitung zur Heiligen Johanna lese. Spielst du sie wieder? Vielleicht bietet sich mir nochmals die Gelegenheit.« »In York haben wir auch gespielt«, sagte sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Wirklich? Dann seid ihr also damit auf Tournee gegangen. Wie schön.«
»Ja, nicht wahr? Bist du auf deinen Reisen nicht mal nach York gekommen?»
»Ach, leider bin ich nie weiter nach Norden raufgekommen als nach Hampstead, London. Aber ich habe gehört, dass York sehr schön ist.«
»Ach, York ist phantastisch. Besonders das Münster.«
Sie starrte ihn weiter an, solange sie es aushielt, das Gesicht in der ersten Reihe Parkett. Sie forschte in seinen dunklen Augen und in der glatten Haut, die sie umgab, nach dem kleinsten Zucken von Komplizenschaft, Lachen, doch alles blieb unbewegt, verriet nichts.
Er leidet unter Gedächtnisschwund, zu diesem Schluss kam sie.
Oder ich. Du meine Güte!
Er lud sie nicht zum Frühstück ein; sie hätte bestimmt abgelehnt. Er rief einfach nach dem Kellner und fragte auf Griechisch, welcher Fisch heute frisch sei. Tat das mit Autorität, weil er wusste, dass sie gern Fisch aß, hielt den Arm in die Höhe gereckt wie ein Dirigent, der Einhalt gebietet. Schickte den Kellner dann fort und redete
weiter mit ihr übers Theater, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, um neun Uhr morgens an einem Sommertag Fisch zu essen und Wein zu trinken - obwohl er für sich selbst Coca-Cola bestellte. Er wusste, worüber er redete. Mochte er auch nicht weiter oben im Norden gewesen sein, so besaß er doch eine eingehende
Kenntnis der Londoner Theaterwelt, etwas, was er sonst keinem der Gruppe enthüllt hatte. Und während er redete, befiel sie das verunsichernde Gefühl, das sie von Anfang an bei ihm gehabt hatte: dass seine äußere Erscheinung wie auch sein Aufenthalt hier ein Vorwand waren - er hatte die Aufgabe, eine Bresche zu schlagen, durch die er sein anderes, sein durch und durch diebisches Wesen wie durch Zauberhand hinauslassen konnte. Sie fragte ihn, ob er oft nach London komme. Er beteuerte, nach Wien sei London die einzige Stadt in der Welt, die es lohne.
»Wenn sich die kleinste Gelegenheit ergibt - pack’ ich sie beim Schöpfe«, erklärte er. Manchmal machte selbst das Englisch, das er sprach, den Eindruck, als habe er es sich auf unredliche Weise angeeignet. Sie dachte an gestohlene Stunden nächtlichen Lesens in einem Buch mit Redewendungen - soundso viele idiomatische Wendungen, die pro Woche zu lernen waren.
»Wir haben die Heilige Johanna aber auch in London aufgeführt - gerade erst, weißt du -, so vor ein paar Wochen.« »Im West-End? Aber das ist ja jammerschade, Charlie! Warum hab’ ich nur nichts davon gelesen? Warum bin ich nicht sofort hingegangen?«
»Im East-End«, berichtigte sie ihn mit umdüsterter Miene. Am nächsten Tag trafen sie sich in einer anderen Taverne wieder, ob zufällig, konnte sie nicht sagen, instinktiv zweifelte sie daran - und diesmal fragte er sie beiläufig, wann sie glaube, dass die Proben für Wie es euch gefällt losgehen würde, und sie antwortete, ohne über etwas anderes als über Alltägliches plaudern zu wollen, nicht vor Oktober, was - da sie ihr Theater kenne - bedeuten könne, selbst dann noch nicht; im übrigen sehe es so aus, als würde ohnehin nur eine Drei-Wochen-Tournee daraus. Das Arts Council habe letztes Jahr ihr Budget überzogen, erklärte sie, und jetzt sei die Rede davon, dass sie ihnen die Zuschüsse für die Tournee vielleicht ganz strichen. Um Eindruck auf ihn zu machen, schmückte sie das Ganze noch ein wenig aus.
»Ich meine, verstehst du, sie hatten geschworen, unser Stück wäre das letzte, dem sie die Unterstützung entziehen würden, und wir haben ja auch noch diese phantastische Rückenstärkung durch die Kritik im Guardian bekommen, und abgesehen davon, die ganze Geschichte kostet den Steuerzahler nur rund ein Dreihundertstel dessen, was man für einen Panzer bezahlen muss - aber was will man machen?«
Ja, was sie denn bis dahin vorhabe? Joseph fragte das hinreißend desinteressiert. Und merkwürdig - sie dachte hinterher viel darüber nach -, weil er behauptete, sie nicht als Heilige Johanna gesehen zu haben, schien es jetzt das selbstverständlichste von der Welt, dass sie es sich nun schuldig waren, das, was ihnen entgangen war, durch anderes wiedergutzumachen.
Charlie antwortete unbekümmert, dass sie vermutlich als Bardame die Runde durch die Theater mache. Als Kellnerin arbeite. Ihre Wohnung neu streiche. Warum?
Joseph gab sich schrecklich bekümmert. »Aber, Charlie, das ist doch nichts für dich. Bei deinem Talent verdienst du doch wohl was Besseres, als Bardame zu spielen? Wie steht’s denn mit Unterrichten oder mit Politik, berufsmäßig, meine ich? Wäre das denn nicht interessanter für dich?«
Da sie nervös war, lachte sie ziemlich verletzend über seinen Mangel an Weltkenntnis. »In England? Bei der Arbeitslosigkeit, die wir haben? Na, das schmink dir mal ab. Wer will mir denn fünftausend pro Jahr zahlen, um die vorhandene Ordnung umzustürzen? Ich gelte als subversiv, verdammt noch mal!«
Er lächelte. Er schien überrascht und nicht recht überzeugt. Mit seinem Lachen machte er ihr höflich Vorhaltungen. »Aber nein, Charlie, komm! Was bedeutet das?«
Darauf eingestellt, sich zu ärgern, hielt sie - den Kopf wie ein Hindernis vorgestreckt - wieder sein Starren aus. »Es bedeutet, dass sich jeder, wenn er mich sieht, sagt: ›Hände weg!‹ «
»Aber wem gegenüber bist du denn subversiv?« wandte er ernst ein. »Du kommst mir wie ein stinknormaler Mensch vor, wirklich!« Was immer sie an diesem Tag auch glauben mochte, sie hatte instinktiv das unbehagliche Gefühl, er sei drauf und dran, sie in der Auseinandersetzung zu überflügeln. Aus Selbstschutz zog sie sich daher auf eine plötzliche Mattigkeit im Verhalten zurück. »Lass mich doch in Ruhe, Jose, ja?« legte sie ihm müde nahe. »Wir sind hier auf einer griechischen Insel, stimmt’s? Machen Urlaub, ja? Du lässt die Finger von meiner Politik und ich sie von deinem Pass, einverstanden?«
Der Hinweis genügte. Sie war überrascht und beeindruckt von der Macht, die sie in diesem Augenblick über ihn hatte; dabei hatte sie gefürchtet, überhaupt keine zu haben. Die Getränke kamen, und als er seine Limonade trank, fragte er Charlie, ob sie während ihres Aufenthaltes hier schon viele griechische Altertümer gesehen habe. Diese Frage verriet ein ganz allgemeines Interesse, und Charlie ging in entsprechend unbekümmertem Ton darauf ein. Sie sei für einen Tag mit Long Al nach Delos gefahren, um sich den Apollon-Tempel dort anzusehen, sagte sie; aber weiter habe sie in der Beziehung nichts unternommen. Sie vermied es, ihm zu erzählen, dass Alastair sich an diesem Tag auf dem Schiff so hatte volllaufen lassen, dass er streitsüchtig geworden war und dass es überhaupt ein verlorener Tag gewesen war und sie hinterher ganze Stunden in den Papierwarenhandlungen der Stadt verbracht hatte, um in Fremdenführern über das wenige nachzulesen, was sie gesehen hatte. Nur hatte sie sehr zutreffend den Verdacht, dass er das ohnehin wusste. Aber erst als er die Sprache auf ihr Rückflug-Ticket nach England brachte, begann sie, eine taktische Absicht hinter seiner Neugier zu wittern. Joseph fragte, ob er es sehen könne, und sie fischte es darauf mit einem gleichgültigen Achselzucken aus der Tasche. Er nahm es, blätterte es durch und vertiefte sich ernsthaft in die Einzelheiten. »Tja, damit könntest du ja genauso gut von Saloniki aus fliegen«, verkündete er schließlich. »Warum lässt du mich nicht einfach einen Freund von mir anrufen, der bei einem Reisebüro arbeitet, damit er das Ticket umschreibt? Dann könnten wir zusammen reisen«, erklärte er, als wäre das die Lösung, auf die sie beide aus gewesen wären.
Sie sagte überhaupt nichts. In ihrem Inneren lag jeder Teil ihres Wesens mit dem anderen im Widerstreit: Das Kind kämpfte gegen die Mutter, die Nutte gegen die Nonne. Ihre Sachen fühlten sich rau auf der Haut an, und der Rücken brannte; trotzdem hatte sie immer noch nichts dazu zu sagen. »Ich muss heute in einer Woche in Saloniki sein«, erklärte er. »Wir könnten uns in Athen einen Leihwagen nehmen, Delphi mitnehmen und für ein paar Tage nach Norden fahren - warum nicht?« Ihr Schweigen machte ihm überhaupt nichts aus. »Wenn wir es richtig planen, dürften uns die Touristenströme nicht allzusehr stören, falls es das ist, was du fürchtest. Und wenn wir nach Saloniki kommen, nimmst du die Maschine nach London. Wir könnten uns auch beim Fahren abwechseln, wenn du gern möchtest. Ich hab’ von allen Seiten gehört, was für eine gute Autofahrerin du bist. Und selbstverständlich würdest du mein Gast sein.«
»Selbstverständlich«, sagte sie.
»Warum also nicht?«
Sie dachte an all die Gründe, die sie sich genau für diesen Augenblick oder einen ähnlichen zurechtgelegt hatte und die sie vorbringen könnte, an all die markigen Sätze, auf die sie zurückgriff, wenn ältere Männer sich an sie heranmachten. Sie dachte an Alastair, daran, wie langweilig es mit ihm überall war außer im Bett und in jüngster Zeit sogar dort. An das neue Kapitel in ihrem Leben, das sie sich selbst versprochen hatte. Sie dachte an den freudlosen Weg, auf dem sie jeden Penny umdrehen und für Kollegen einspringen musste und der sie erwartete, wenn sie ohne irgendwelche Ersparnisse nach England zurückkehrte; Joseph hatte sie zufällig oder hellsichtig daran erinnert. Sie blickte ihn wieder von der Seite an und entdeckte nirgends auch nur das geringste, was man als inständiges Bitten auslegen konnte: warum nicht? - und damit hatte sich’s. Sie dachte an seinen glatten und kraftvollen Körper, wie er einsam durchs Wasser eine Furche zog: warum nicht? Sie dachte daran, wie seine Hand sie gestreift hatte, dachte an den ängstlichen Ton des Erkennens in seiner Stimme: ›Tag, Charlie‹ - und das bezaubernde Lächeln, das sie seither kaum jemals wieder bei ihm gesehen hatte. Und sie dachte daran, wie oft es ihr durch den Kopf gegangen war, dass, wenn er jemals alle Hemmungen fahren ließ, der Knall ohrenbetäubend sein würde, und schließlich war es ja das gewesen, wie sie sich sagte, was sie vor allem zu ihm hingezogen hatte.
»Aber die anderen dürfen nichts davon erfahren«, brummte sie, den Kopf über ihr Glas gebeugt. »Das musst du irgendwie deichseln. Die würden sich sonst ausschütten vor Lachen.«
Daraufhin erklärte er munter, er werde morgen früh abreisen und alles in die Wege leiten: »Und natürlich, wenn du deine Freunde wirklich im dunkeln lassen willst...«
Ja, das wolle sie, verdammt noch mal!
Dann, sagte Joseph im selben praktischen Tonfall, schlage er folgendes vor. Ob er den Plan im Voraus vorbereitet hatte oder ob das nur seine Art zu denken war, vermochte sie nicht zu sagen. So oder so, sie war dankbar für seine Präzision, wenn ihr auch hinterher aufging, dass sie damit gerechnet hatte.
»Du fährst zusammen mit deinen Freunden nach Piräus. Das Schiff legt dort normalerweise am späten Nachmittag an; könnte aber sein, dass es in dieser Woche durch Streiks später wird als sonst. Kurz bevor das Schiff in den Hafen einläuft, sagst du ihnen dann, du hättest vor, dich noch für ein paar Tage allein auf dem Festland umzusehen. Einer dieser spontanen Entschlüsse, für die du berühmt bist. Bind es ihnen nicht zu früh auf die Nase, sonst versuchen sie die ganze Überfahrt über, es dir auszureden. Und sag ihnen nicht zuviel, das ist ein Zeichen für ein schlechtes Gewissen«, fügte er noch mit der Autorität dessen hinzu, der mal eins hatte. »Und was ist, wenn ich pleite bin?« sagte sie, ehe sie Zeit hatte, darüber nachzudenken, denn wie gewöhnlich hatte Alastair nicht nur von seinem, sondern auch noch von ihrem Geld gelebt. Trotzdem hätte sie sich die Zunge abbeißen mögen; hätte er ihr in diesem Augenblick Geld angeboten, sie hätte es ihm ins Gesicht geschleudert. Doch das schien er zu spüren.
»Wissen sie denn, dass du pleite bist?«
»Natürlich wissen sie das nicht.«
»Dann, würde ich meinen, haut das mit deiner Tarngeschichte hin.« Und als ob damit alles klar sei, ließ er ihr Flugticket in der Innentasche seiner Jacke verschwinden. Hey, gib das zurück! schrie sie plötzlich wie wachgerüttelt -allerdings nicht wirklich, wenn sie es auch fast getan hätte. »Sobald du deine Freunde abgehängt hast, nimm ein Taxi zum Koloktroni-Platz.« Er buchstabierte das für sie. »Die Fahrt kostet dich so an die zweihundert Drachmen.« Er wartete, um zu erfahren, ob das ein Problem war, doch das war es offenbar nicht; sie hatte noch achthundert, was sie ihm freilich nicht sagte. Er wiederholte den Namen des Platzes noch einmal und vergewisserte sich, dass sie ihn sich fest eingeprägt hatte. Es war eine wahre Wonne, sich seiner militärischen Tüchtigkeit unterzuordnen. Gleich hinter dem Platz, so sagte er, sei ein Straßenrestaurant. Er nannte ihr auch den Namen - Diogenes -und gestattete sich einen humoristischen Schlenker: ein schöner Name, sagte er, einer der besten in der ganzen Geschichte; die Welt brauche mehr von seiner Art und weniger Alexanders. Er werde im Diogenes warten. Nicht draußen, sondern drin im Gastzimmer, wo es kühl und intim sei. Wiederhol noch mal, Charlie: Diogenes. Unsinnigerweise tat sie es widerstandslos.
»Direkt neben dem Diogenes liegt das Hotel Paris. Sollte ich zufällig aufgehalten werden, lass ich eine Nachricht für dich an der Hotelrezeption zurück. Frag nach Mr. Larkos. Larkos ist ein guter Freund von mir. Wenn du irgendwas brauchst, Geld oder was auch immer, zeig ihm dies hier, und er wird es dir geben.« Er reichte ihr eine Visitenkarte. »Kannst du das alles behalten? Aber selbstverständlich, du bist ja schließlich Schauspielerin. Du kannst Worte, Gesten, Zahlen, Farben behalten - alles.«
Richthoven-Export, las sie, und darunter eine Wiener Postfachnummer.
Sie kam an einem Kiosk vorüber, fühlte sich wunderbar, ja geradezu gefährlich lebendig und kaufte ihrer Scheiß-Mutter eine geklöppelte Tischdecke und für ihren Neffen Kevin, der ihr so auf die Nerven gehen konnte, eine griechische Mütze mit Troddel daran. Das vollbracht, suchte sie ein Dutzend Postkarten aus, von denen sie die meisten an den alten Ned Quilley, ihren nutzlosen Londoner Agenten, adressierte und mit lustigen Botschaften vollschrieb, die ihn vor den affektierten Damen in seinem Büro in Verlegenheit bringen sollten. »Ned, Ned«, schrieb sie auf einer, »bewahr all Deine Glieder für mich auf«, und auf einer anderen: »Ned, Ned, kann eine gefallene Frau noch tiefer sinken?« Aber bei einer weiteren beschloss sie dann doch, ihrer Phantasie Zügel anzulegen und ihm mitzuteilen, dass sie daran denke, ihre Rückkehr etwas hinauszuschieben, damit sie auf dem Festland noch was zu sehen bekomme. »Es wird Zeit, dass Deine Chas ihre Kenntnisse in Kulturgeschichte ein wenig aufpoliert, Ned«, erklärte sie und ignorierte damit Josephs Anweisung, nicht zuviel zu sagen. Als sie sich anschickte, über die Straße zu gehen und die Ansichtskarten einzustecken, hatte Charlie das Gefühl, beobachtet zu werden, doch als sie herumfuhr und sich dabei selbst vormachte, dass sie Joseph treffen würde, sah sie nur den strohblonden Hippie-Jungen wieder, dem es gefiel, der Familie nachzuschleichen, und der bei Alastairs Abreise dabei gewesen war. Er schlenderte wie benebelt hinter ihr den Bürgersteig entlang und ließ die Arme baumeln wie ein Affe. Als er sie sah, hob er langsam mit einer Geste wie Christus die Hand zum Gruß. Lachend winkte sie zurück. Der verrückte Hund muss einen schlechten Trip gehabt haben und kommt nicht wieder auf den Boden, dachte sie nachsichtig, als sie die Karten nacheinander in den Briefkasten warf. Vielleicht sollte ich seinetwegen was unternehmen.
Die letzte Karte war an Alastair gerichtet, voll von verlogenem Gefühl, doch sie las sie nicht noch einmal durch. Manchmal, besonders in Augenblicken der Unsicherheit oder Veränderung oder wenn sie im Begriff stand, etwas zu wagen, gefiel sie sich in der Überzeugung, ihr lieber, hoffnungsloser, dem Alkohol ergebener Ned Quilley, der beim nächsten Geburtstag hundertvierzig wurde, sei der einzige Mann, den sie jemals wirklich geliebt habe.