Kapitel 4

Kurtz und Litvak statteten Ned Quilley in seinem Büro in Soho um die Mittagsstunde eines trüben, verregneten Freitags einen Besuch ab - einen zwanglosen Besuch, bei dem es letztlich jedoch um handfeste Geschäfte ging -, als sie hörten, dass die Joseph-Charlie-Angelegenheit den gewünschten Verlauf nahm. Sie waren der Verzweiflung nahe: Seit der Leidener Bombe spürten sie jede Stunde am Tag Gavrons krächzenden Atem im Nacken; im Kopf hörten sie nur noch das erbarmungslose Ticken von Kurtz’ verbeulter Uhr. Dennoch, von außen betrachtet waren sie nichts als zwei weitere ehrerbietige, sehr gegensätzliche aus Mitteleuropa stammende Amerikaner in brandneuen Burberrys. Der eine war korpulent und kräftig und hatte einen rollenden Seemannsgang fast wie ein alter Kapitän, der andere war schmächtig und jung und eher unauffällig und trug stets ein nichtssagendes Lächeln zur Schau. Sie gaben sich als Gold und Karman von der Firma GK Creations, Inc., aus, und ihr noch in letzter Minute gedrucktes Briefpapier hatte wie zum Beweis, dass es mit ihnen seine Richtigkeit habe, ein blau-goldenes Monogramm, das wie eine Krawattennadel aus den dreißiger Jahren aussah. Sie hatten den Termin von der Botschaft aus, dem Vernehmen nach jedoch aus New York, abgemacht, und zwar persönlich mit einer von Ned Quilleys Damen, und hielten ihn pünktlich ein wie die eifrigen Show-Business-Manager, die sie nicht waren.

»Wir sind Gold und Karman«, sagte Kurtz Punkt zwei Minuten vor zwölf zu Quilleys ältlicher Empfangsdame, Mrs. Longmore, als sie geradenwegs von der Straße kommend vor sie traten. »Wir haben eine Verabredung mit Mr. Quilley, um zwölf. - Nein, vielen Dank, wir wollen uns nicht erst setzen. Haben wir übrigens das Vergnügen gehabt, mit Ihnen am Telefon zu sprechen?«

Nein, das hätten sie nicht, erklärte Mrs. Longmore in einem Ton, als mache sie gute Miene zum Spiel von zwei Verrückten. Termine seien die Domäne von Mrs. Ellis, einer ganz anderen Dame. »Gewiss doch«, sagte Kurtz unverzagt.

Auf diese Weise gingen sie oft in solchen Fällen vor: irgendwie offiziell, wobei der stämmige Kurtz den Takt schlug und der überschlanke Litvak mit seinem schwelenden vertraulichen Lächeln leise hinter ihm tönte.

Die Treppe zu Ned Quilleys Büro hinauf war steil und hatte keinen Teppich, und die meisten amerikanischen Gentlemen machten nach Mrs. Longmores mehr als fünfzigjähriger Erfahrung auf diesem Posten ein paar dumme Bemerkungen darüber und blieben auf dem Treppenabsatz stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Nicht so jedoch Gold, und Karman auch nicht. Diese beiden sprangen, als sie ihnen durch ihr Fenster nachsah, behende die Stufen hinauf und waren im Nu ihren Blicken entschwunden, als ob sie noch nie einen Fahrstuhl gesehen hätten. Das muss am Jogging liegen, dachte sie, als sie sich wieder an ihre Strickerei für vier Pfund die Stunde machte. Machten sie das nicht neuerdings alle in New York? Um den Central Park herumrennen, die Ärmsten, und den Lustmördern und den Hunden ausweichen? Sie hatte gehört, dass eine Menge dabei zu Tode gekommen war.

»Sir, wir sind Gold und Karman«, sagte Kurtz ein zweites Mal, als der kleine Ned Quilley ihnen munter die Tür aufmachte. »Ich bin Gold.« Seine große Rechte war schon in der des armen alten Ned gelandet, ehe dieser auch nur eine Chance hatte, sich zu bewegen. »Mr. Quilley, Sir - Ned - es ist uns wirklich eine Ehre, Sie kennenzulernen. Sie genießen einen sehr, sehr guten Ruf in der Branche.« »Und ich bin Karman, Sir«, sagte Litvak unaufdringlich, doch nicht weniger hochachtungsvoll, und linste Kurtz über die Schulter. Doch Litvak war kein Händeschüttler: das hatte Kurtz für sie beide erledigt.

»Aber, mein lieber Mann«, wies Ned das mit seinem abwehrenden altväterischen Charme von sich, »du meine Güte, für mich ist es eine Ehre, nicht für Sie.« Mit diesen Worten führte er sie sofort an das breite Schiebefenster, das legendäre Quilley-Fenster aus der Zeit seines Vaters, vor dem man der Tradition entsprechend Platz nahm, auf den Markt von Soho blickte, den Sherry des alten Quilley kostete und die Welt unter sich vorüberziehen ließ, während man nette kleine Abmachungen traf, die sich für den alten Quilley und die Schauspieler, die er vertrat, lohnten. Denn Ned Quilley war selbst mit sechzig immer noch so etwas wie der Sohn. Er wünschte nichts mehr, als dass der angenehme Lebensstil seines Vaters weitergeführt wurde. Er war eine empfindsame kleine Seele, weißhaarig und seiner Kleidung nach so etwas wie ein élegant, wie man das häufig bei Theaterleuten erlebt. Er hatte einen pfiffigen Ausdruck in den Augen, rosige Wangen und ein Verhalten, als sei er aufgeregt und zögerlich zugleich.

»Zu nass für die Nutten, fürchte ich«, erklärte er und wedelte kühn mit der gepflegten Hand in Richtung Fenster. Unbekümmertheit war nach Neds Meinung das, worum es im Leben ging. »In der Regel haben wir um diese Jahreszeit sonst kein schlechtes Angebot. Große, Schwarze, Gelbe, jede Form und Größe, die man sich vorstellen kann. Eine alte Schnepfe haben wir da, die arbeitet hier schon länger als ich. Mein Vater pflegte ihr zu Weihnachten immer ein Pfund zu geben. Nur würd’ sie heutzutage wohl nicht mehr viel für ein Pfund bekommen, fürchte ich. O nein, wahrhaftig nicht.« Während sie pflichtschuldig lachten, holte Ned eine Karaffe mit Sherry aus seinem geliebten Bücherschrank mit den kassettierten Türen, schnupperte übertrieben am Stöpsel und schenkte dann, während sie zusahen, drei Kristallgläser bis zur Hälfte voll. Ihre Wachsamkeit war etwas, das er sofort spürte. Er hatte das Gefühl, sie taxierten ihn, taxierten die Möbel, das Büro. Und ein schrecklicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf - ein Gedanke, der ihn irgendwie beunruhigt hatte, seit er ihren Brief erhalten hatte.

»Sagen Sie, Sie haben doch nicht etwa vor, mich aufzukaufen oder irgendetwas Schreckliches, nicht wahr?« erkundigte er sich nervös.

Kurtz ließ ein lautes, tröstliches Lachen vernehmen. »Ned, Sie können ganz sicher sein - aufkaufen wollen wir Sie bestimmt nicht.« Auch Litvak lachte. »Nun ja, Gott sei Dank!« erklärte Ned mit ernster Mine und reichte ihnen die Gläser. »Heutzutage wird nämlich jeder aufgekauft, wissen Sie? Da kommen alle möglichen Leute, die ich überhaupt nicht kenne, und bieten mir am Telefon Geld. All die kleinen, alteingesessenen Firmen - solide Häuser -, die mir nichts dir nichts geschluckt werden. Schrecklich. Aber erst mal: cheers! Viel Glück! Und willkommen!« erklärte er und schüttelte immer noch missbilligend den Kopf.

Neds Rituale des Courmachens gingen weiter. Er erkundigte sich, wo sie abgestiegen seien - im Connaught, sagte Kurtz, und, Ned, sie fänden es ganz wunderbar, fühlten sich dort wie zu Hause, vom ersten Augenblick an. Was übrigens der Wahrheit entsprach; sie waren mit Absicht dort abgestiegen, und Misha Gavron bekam bestimmt den Veitstanz, wenn er die Rechnung sah. Ned fragte, ob sie denn auch Gelegenheit hätten, sich zu amüsieren, und Kurtz erwiderte aus tiefstem Herzen, sie genössen jeden Augenblick in London. Morgen würden sie nach München weiterfliegen.

»Nach München? Du meine Güte, was wollen Sie denn dort?« fragte Ned und spielte sein Alter für sie aus, spielte den anachronistischen Dandy, der keine Ahnung hat, was in der Welt gespielt wurde. »Ihr Amerikaner macht wirklich nichts halb, das muss ich schon sagen!«

»Ko-Produktions-Geld!«, erwiderte Kurtz, als ob damit alles gesagt sei.

»Und zwar eine ganze Menge«, sagte Litvak mit einer Stimme, die ebenso sanft war wie sein Lächeln. »Der deutsche Markt ist heute nicht zu verachten. Das ganz, ganz große Geschäft, Mr. Quilley.«

»Oh, davon bin ich überzeugt. Ja, ich habe davon gehört«, sagte Ned entrüstet. »Sie stellen einen großen Machtfaktor da, das muss man zugeben. In allem. Der Krieg ist längst vergessen und ganz weit unter den Teppich gekehrt.«

Anscheinend unter dem geheimnisvollen Zwang, etwas Unsinniges zu tun, schickte Ned sich an, ihnen Sherry nachzuschenken, und tat so, als habe er nicht bemerkt, dass die Gläser buchstäblich unberührt waren. Dann kicherte er und stellte die Karaffe wieder hin. Es war eine Schiffskaraffe, achtzehntes Jahrhundert, mit breiter Standfläche, damit sie bei bewegter See nicht vom Tisch rutschte. Häufig legte Ned Ausländern gegenüber Wert darauf, das zu erklären, um es ihnen behaglich zu machen. Doch diesmal hielt ihn irgend etwas an ihrer spürbaren Wachsamkeit davon ab, und so gab es statt dessen nur eine kleine Pause; die Stühle knarrten. Draußen vorm Fenster hatte der Regen sich zu Nebelschwaden verdichtet.

»Ned«, sagte Kurtz und wählte genau den richtigen Augenblick für seinen Auftritt, »Ned, ich möchte Ihnen ein bisschen erzählen, wer wir sind, warum wir Ihnen geschrieben haben und warum wir Ihre wertvolle Zeit stehlen.«

»Bitte, mein Lieber, nur zu! Es ist mir ein Vergnügen«, sagte Ned, kam sich plötzlich wie jemand ganz anderes vor, schlug die kurzen Beine übereinander und setzte ein aufmerksames Lächeln auf, während Kurtz geschickt in seine Überzeugungsmasche einstieg.

Mit seinem breiten, zurückgekämmten Haaransatz hielt Ned ihn für einen Ungarn; er hätte aber genausogut Tscheche sein oder irgendwo sonst aus der Gegend stammen können. Er sprach mit volltönender, natürlich lauter Stimme und einem mitteleuropäischen Akzent, den der Atlantik noch nicht aufgeweicht hatte. Dabei redete er genauso rasch und geläufig wie der Werbefunk, und seine leuchtenden schmalen Augen schienen auf alles zu hören, was er sagte, während sein rechter Unterarm alles mit kleinen, entschiedenen Schlägen in Stücke hackte. Er, Gold, sei der Jurist des Unternehmens, erklärte Kurtz; Karman hingegen widme sich mehr dem Kreativen und komme vom Schriftstellerischen und der Agenten- und Produzententätigkeit her, vornehmlich in Kanada und dem Mittleren Westen. Vor kurzem hätten sie auch in New York ein Büro aufgemacht, und woran sie im Augenblick besonders interessiert seien, sei unabhängige Programmgestaltung fürs Fernsehen. »Unsere schöpferische Rolle, Ned, beschränkt sich zu neunzig Prozent darauf, ein Konzept zu finden, das sowohl für die Sender als auch für die Geldgeber annehmbar ist. Das Konzept, nun, das verkaufen wir an die Geldgeber, und die Produktion überlassen wir den Produzenten. Das wär’s.«

Er hatte ausgeredet, mit einer abwesenden Geste einen Blick auf die Uhr geworfen, und jetzt war es an Ned, etwas Intelligentes zu sagen, was er, das musste man ihm lassen, gar nicht so schlecht machte. Er runzelte die Stirn, hielt sein Glas fast auf Armeslänge von sich und vollführte mit den Füßen absichtsvoll eine langsame Pirouette, womit er instinktiv auf Kurtz’ Posse reagierte. »Aber, mein Lieber, wenn Sie Programmgestalter sind - was wollen Sie da von uns Agenten?« wandte er ein. »Ich meine, warum mich zum Lunch einladen, ja? Verstehen Sie, was ich meine? Warum mit mir Essen gehen, wenn Sie sich doch mit Programmgestaltung beschäftigen?«

Da brach Kurtz zu Neds Verblüffung in ein unbekümmertes und ansteckendes Lachen aus. Ned meinte, ehrlich gesagt, selbst auch ziemlich geistreich und mit den Füßen nicht schlecht gewesen zu sein; doch das war für Kurtz’ Begriffe offenbar nichts. Er kniff die schmalen Augen zusammen, die breiten Schultern hoben sich, und ehe Ned sich versah, war das ganze Zimmer von seinem warmherzigen slawischen Gelächter erfüllt. Gleichzeitig zersprang sein Gesicht in tausend beunruhigende Runzeln. Bis zu diesem Augenblick war Kurtz nach Neds Einschätzung höchstens achtundvierzig gewesen. Plötzlich war er genauso alt wie er, sahen seine Stirn, seine Backen und sein Hals wie zerknülltes Papier aus, mit Falten, als hätte ihm jemand das Gesicht mit einem Messer zerschlitzt. Diese Veränderung beunruhigte Ned, und er kam sich irgendwie betrogen vor. »Eine Art menschliches trojanisches Pferd«, beschwerte er sich hinterher bei seiner Frau Marjory. »Da empfängt man einen energiegeladenen Showbusiness-Fritzen von vierzig, und plötzlich steht eine Art sechzigjähriger Kasper vor einem. Schon verdammt komisch.«

Doch diesmal war es Litvak, der die entscheidende, lang geprobte Antwort auf Neds Frage gab - die Antwort, von der alles Weitere abhing. Er beugte seinen eckigen langen Oberkörper über die Knie, öffnete die rechte Hand, streckte fächerförmig die Finger aus, umfasste mit der Linken einen Finger, und an diesen richtete er in einer leicht gedehnten Bostoner Sprechweise, Ergebnis bienenfleißigen Bemühens zu Füßen jüdisch-amerikanischer Lehrer, das Wort.

»Mr. Quilley, Sir«, begann er so inbrünstig, als vertraue er ihm ein mystisches Geheimnis an. »Wir denken dabei an ein vollkommen originelles Projekt. So etwas hat es noch nicht gegeben, wird es hinterher auch nicht wieder geben. Wir kaufen jeweils sechzehn Stunden sehr guter Sendezeit - sagen wir im Herbst und im Winter. Wir gründen eine Matinee-Theatergruppe von Wanderschauspielern. Eine Gruppe von sehr talentierten Repertoire-Schauspielern, gemischt aus Briten und Amerikanern, mit einer großen Vielfalt an Rassen, Persönlichkeiten und zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit dieser Truppe ziehen wir von einer Stadt zur anderen, jeder Schauspieler spielt die verschiedensten Rollen, mal Haupt-, mal Nebenrollen. Dabei sollen ihre Lebensgeschichten und Beziehungen untereinander eine hübsche Dimension eröffnen und für das Publikum einen zusätzlichen Reiz darstellen. Live Shows in jeder Stadt.«

Misstrauisch blickte er auf, als ob er meinte, Quilley habe etwas gesagt, doch das hatte Quilley ausdrücklich nicht getan.

»Mr. Quilley, wir reisen mit dieser Truppe«, nahm Litvak seinen Faden wieder auf, um gleich darauf langsamer zu werden und fast innezuhalten, als seine Begeisterung zunahm. »Wir reisen in den Bussen der Truppe mit. Wir helfen beim Kulissentragen und -aufbauen. Wir, das Publikum, teilen ihre Probleme, die abscheulichen Hotels, in denen sie absteigen, beschäftigen uns mit ihren Streitereien und Liebesgeschichten. Wir, das Publikum, proben mit ihnen. Wir zittern mit ihnen bei der Premiere, lesen am nächsten Morgen die Kritiken mit ihnen, frohlocken über ihre Erfolge und trauern über die Verrisse und schreiben Briefe an ihre Angehörigen. Wir geben dem Theater zurück, was es an Abenteuer eingebüßt hat. Den Pioniergeist. Die Schauspieler-Publikum-Beziehung.« Einen Augenblick meinte Quilley, Litvak sei fertig. Aber er wählte nur einen anderen Finger, um sich daran festzuhalten.

»Wir greifen dabei auf klassische Theaterstücke zurück, Mr. Quilley, kein Copyright, durchweg niedrige Kosten. Wir spielen auf dem flachen Land, in Scheunen, nehmen neue, ziemlich unbekannte Schauspieler und Schauspielerinnen, ab und zu einen Gaststar, um mehr Schwung reinzubringen, aber grundsätzlich fördern wir neue Talente und geben einem neuen Talent die Chance, in mindestens vier Monaten die ganze Bandbreite seines Könnens und seiner Wandlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, wobei das Engagement hoffentlich immer wieder verlängert werden kann. Für die Schauspieler bedeutet das, dass sie viel auf der Bühne stehen, viel Publicity haben, nette Stücke, an denen nichts auszusetzen ist, kein Schund, mal sehen, ob das geht. So sieht unser Konzept aus. Mr. Quilley, und unseren Geldgebern scheint es sehr zu gefallen.«

Dann - Quilley hatte nicht einmal Zeit, ihnen zu gratulieren, etwas, was er immer gern tat, wenn jemand ihm eine neue Idee entwickelte - stürmte Kurtz wieder auf die Bühne.

»Ned, wir möchten Ihre Charlie unter Vertrag nehmen«, verkündete er und schwenkte mit der Begeisterung eines Shakespeareschen Boten, der eine Siegesmeldung überbringt, den ganzen rechten Arm in die Höhe und behielt ihn dort.

Ned wollte ganz aufgeregt etwas sagen, musste jedoch erleben, dass Kurtz ihn gar nicht zu Wort kommen ließ.

»Ned, wir sind der Meinung, dass Ihre Charlie über sehr viel Witz, eine große Wandlungsfähigkeit und eine sehr große Bandbreite verfügt. Wenn Sie uns in ein paar ein bisschen heiklen Punkten beruhigen könnten, die es da gibt - nun ja, ich glaube, wir können ihr die Gelegenheit bieten, sich einen Platz am Theaterhimmel zu erobern, was sicherlich weder Sie noch Charlie bedauern werden.« Und wieder setzte Ned zum Sprechen an, doch diesmal war es Litvak, der noch vor ihm loslegte: »Wir sind entschlossen, auf sie zu setzen, Mr. Quilley. Beantworten Sie uns ein paar Fragen, und Charlie hat es geschafft, zählt zu den Großen.« Plötzlich herrschte Schweigen, und das einzige, was Ned hörte, war das Lied in seinem Herzen. Er blies die Backen auf, bemühte sich, ganz geschäftsmäßig auszusehen, und zupfte abwechselnd an seinen eleganten Manschetten. Er rückte die Rose zurecht, die Marjory ihm heute Morgen mit den üblichen Ermahnungen, beim Lunch nicht zuviel zu trinken, ins Knopfloch gesteckt hatte. Freilich hätte Marjory ganz anders gedacht, hätte sie gewusst, dass die beiden Besucher keineswegs vorhatten, Ned aufzukaufen, sondern ihm vielmehr vorschlugen, ihrer geliebten Charlie zum langerwarteten Durchbruch zu verhelfen. Wenn sie das gewusst hätte, die alte Marge hätte alle Einschränkungen aufgehoben; ganz gewiss hätte sie das getan.

Kurtz und Litvak tranken Tee, doch in The Ivy nimmt man derlei Exzentrizitäten mit Gelassenheit, und Ned musste kaum dazu überredet werden, sich eine sehr ordentliche halbe Flasche von der Weinliste auszusuchen und, da sie nun einmal darauf zu bestehen schienen, zum Räucherlachs erst einmal ein großes, beschlagenes

Glas vom Chablis des Hauses. Im Taxi, das sie nahmen, um dem Regen zu entgehen, hatte Ned angefangen, ihnen die amüsante Geschichte zu erzählen, wie er Charlie als Klientin gewonnen hatte. In The Ivy nahm er den Faden wieder auf.

»Ich biss gleich im ersten Augenblick bei ihr an, schluckte sie mit allem Drum und Dran. So was war mir noch nie passiert. Alter Tor, der ich war - zwar noch nicht so alt wie heute, aber immerhin ein Tor. An dem Stück selbst war nicht viel dran. Eigentlich mehr eine kleine altmodische Revue, modern aufgemotzt. Aber Charlie war hinreißend. Die verfolgte Unschuld- nach solchen Mädchen bin ich immer auf der Suche.« Der Ausdruck war in Wirklichkeit ein Erbe seines Vaters. »Gleich nachdem der Vorhang gefallen war, bin ich in ihre Garderobe - falls man so was Garderobe nennen will -, spulte meine Pygmalionrolle ab und nahm sie auf der Stelle unter Vertrag. Erst wollte sie mir nicht glauben. Hielt mich für einen schmutzigen alten Bock. Musste doch tatsächlich nach Hause und Marjory zu Hilfe holen, um sie zu überreden. Ha!«

»Und was geschah danach?« erkundigte sich Kurtz höflich und reichte ihm noch etwas Roggenbrot und Butter. »Alles Jubel, Trubel, Heiterkeit?«

»Oh, keineswegs!« wehrte Ned arglos ab. »Mit ihr war es genauso wie mit vielen anderen in ihrem Alter. Kommen frisch und blauäugig und viel versprechend aus der Schauspielschule, bekommen ein paar Rollen, fangen an, sich eine Wohnung oder sonst was Dummes zu kaufen, und dann hört bei ihnen plötzlich alles auf. Zwielicht-Zeit nennen wir das. Manche stehen sie durch und schaffen es, andere nicht. Cheers

»Charlie aber wohl«, soufflierte Litvak und trank einen Schluck Tee.

»Sie gab nicht auf. Hielt durch. Leicht war es nicht, aber das ist es nie. In ihrem Fall hat es Jahre gedauert - zu viele Jahre.« Er war überrascht, als er entdeckte, wie gerührt er war. Und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, waren sie es auch. »Wie dem auch sei - jetzt hat sie es jedenfalls geschafft, nicht wahr? Ac h, wie mich das für sie freut. Wirklich. Ja, bestimmt.«

Und dann sei noch etwas merkwürdig gewesen, erzählte Ned Marjory hinterher. Vielleicht habe aber auch nur alles wieder von vorn angefangen. Er sprach von der Art und Weise, wie die beiden Männer im Verlauf des Tages die Charaktere geändert hätten. Zuerst, im Büro, sei er kaum zu Wort gekommen. In The Ivy jedoch hätten sie ihn ins Rampenlicht gestellt, hätten ihn aufmunternd nickend seine Verse aufsagen lassen, fast ohne je ein Wort unter sich zu wechseln. Und hinterher - nun hinterher, das sei, verflixt noch mal, etwas ganz anderes gewesen.

»Schaurige Kindheit, versteht sich«, erzählte Ned stolz. »Das ist bei vielen von den Mädchen der Fall, wie mir aufgefallen ist. Das bringt sie ja vor allem dazu, sich der Phantasie zuzuwenden. Sich nichts anmerken lassen. Gefühle verbergen. Menschen nachmachen, die glücklicher aussehen als man selbst. Oder noch unglücklicher. Ihnen ein bisschen was stehlen - darum geht es doch zur Hälfte bei der ganzen Schauspielerei. Elend. Diebstahl. Ich rede zuviel. Nochmals -cheers!«

»Schaurig in welcher Beziehung, Mr. Quilley?« fragte Litvak respektvoll wie jemand, der das ganze Problem der Schauerlichkeit untersucht. »Charlies Kindheit. Wieso schaurig, Sir?« Ohne auf das zu achten, was er später als zunehmenden Ernst nicht nur in Litvaks Benehmen, sondern auch in Kurtz’ Blick bemerkte, vertraute Ned ihnen an, was er zufällig im Verlauf von kleinen Essenseinladungen oben im Bianchi’s erfahren hatte, wo sie ihm ihr Herz ausschüttete und wohin er sie alle ausführte. Die Mutter eine dumme Pute, sagte er. Der Vater eine Art Obergauner, ein Börsenmakler, mit dem es immer weiter bergab gegangen und der jetzt glücklicherweise tot sei, einer von diesen abgefeimten Lügnern, die sich einbilden, der liebe Gott hätte ihnen die Asse dutzendweise in den Ärmel gesteckt. Sei ins Kittchen gewandert und dort gestorben. Erschreckend.«

Wieder war es Litvak, der mit einer ganz harmlosen Zwischenfrage kam: »Im Gefängnis gestorben, haben Sie gesagt, Sir?«

»Und dort sogar begraben! Die Mutter war so verbittert, dass sie kein Geld dafür verschwenden wollte, ihn draußen anständig unter die Erde zu bringen.«

»Hat Ihnen das Charlie selbst erzählt, Sir?« Quilley wusste nicht, was er von dieser Frage halten sollte. »Ja, wer sonst sollte es mir erzählt haben?«

»Nichts um die Richtigkeit zu bestätigen, Sir? Von unbeteiligter Seite? Bei Schauspielerinnen weiß man nie...« Doch Kurtz kam ihm mit einem väterlichen Lächeln zu Hilfe.

»Ned, hören Sie einfach nicht auf ihn«, riet er ihm. »Mike hat nun mal eine sehr misstrauische Ader - nicht wahr, Mike?«

»Vielleicht hab’ ich das wirklich«, räumte Litvak mit einer Stimme ein, die nicht lauter war als ein Seufzer.

Erst da dachte Ned daran, sie danach zu fragen, worin sie sie denn gesehen hätten, und zu seiner freudigen Überraschung stellte sich heraus, dass sie bei ihren Erkundungen wirklich sehr gründlich vorgegangen waren. So hatten sie sich nicht nur Mitschnitte von jedem einzelnen ihrer kleineren Fernsehauftritte besorgt, die sie gehabt hatte, nein, sie hatten sich sogar die Mühe gemacht, bei einem früheren Englandaufenthalt ins scheußliche Nottingham hinaufzufahren, um sie als Heilige Johanna zu sehen.

»Nun, ich muss schon sagen, Sie haben es faustdick hinter den Ohren!« rief Ned, als der Kellner die Teller abräumte und den Tisch für den Entenbraten deckte. »Wenn Sie mich angerufen hätten, ich hätte Sie persönlich hingefahren, oder Marjory. Sind Sie denn hinterher zu ihr gegangen und haben sie zum Essen ausgeführt? Nein? Nun, da laust mich doch der Affe!«

Kurtz gestattete sich ein kurzes Zögern, doch dann wurde seine Stimme sehr ernst. Er warf seinem Partner - Litvak -einen fragenden Blick zu, der ihm kaum merklich ermutigend zunickte. »Ned«, sagte er, »ehrlich gesagt hielten wir das unter den gegebenen Umständen für nicht recht angemessen.«

»Was für Umständen denn?« wollte Ned wissen, der annahm, es gehe um etwas, das mit dem Ehrenkodex von Agenten zu tun habe. »Du liebe Güte, so sind wir hier drüben doch nicht! Wenn Sie ihr ein Angebot machen wollen - tun Sie’s! Dazu brauchen Sie doch nicht erst mein Einverständnis! Ich komm’ schon eines Tages zu meiner Kommission, nur keine Sorge!«

Dann verstummte Ned, weil die beiden so verdammt ernste Mienen machten, wie er Marjory erzählte. Als ob sie verdorbene Austern geschluckt hätten. Mit Schale.

Litvak tupfte sich sorgfältig die Lippen ab. »Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen, Sir?«

»Aber, mein lieber Junge, warum nicht?« sagte Ned, der überhaupt nicht mehr wusste, was er von alldem halten sollte.

»Würden Sie uns bitte - nach Ihrer eigenen Einschätzung -sagen, wie Charlie sich bei Interviews macht?« Ned setzte das Rotweinglas ab. »Bei Interviews? Ah, falls Sie da Bedenken haben - da kann ich Sie beruhigen. Glauben Sie mir, sie gibt sich ganz natürlich. Erstklassig. Weiß genau, was die Leute von der Presse wollen, und wenn es im Bereich ihrer Möglichkeiten liegt, bekommen sie es auch von ihr. Sie ist ein regelrechtes Chamäleon. Hat in letzter Zeit zwar nicht viel Gelegenheit gehabt, interviewt zu werden, das will ich gern zugeben, doch das holt sie schnell wieder auf. Was das betrifft, brauchen Sie wirklich keine Angst zu haben.« Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, um es auf sie wirken zu lassen. »Nein, wirklich nicht.«

Doch Litvak schien nicht, wie Ned gehofft hatte, ein Stein vom Herzen gefallen zu sein. Missbilligend und besorgt schürzte er die Lippen wie zu einem Kuss und fing an, mit seinen langen Fingern Krumen auf dem Tischtuch zusammenzufegen. So dass Ned sich veranlasst sah, den Kopf zu senken und auf die Seite zu legen, um ihn aus seinem Trübsinn herauszuholen: »Aber mein lieber Freund«, protestierte er unsicher. »Machen Sie doch nicht so ein Gesicht! Was soll denn daran auszusetzen sein, dass sie sich bei Interviews gut macht? Mädchen, die so was jedes Mal verpatzen, laufen genug herum! Wenn es das ist, was Sie suchen, davon kann ich Ihnen jede Menge liefern.«

Doch damit konnte er Litvaks Wohlwollen nicht gewinnen. Seine einzige Reaktion bestand dann, dass er flüchtig den Blick zu Kurtz hob, als wollte er sagen ›Ihr Zeuge‹ , um ihn gleich darauf wieder aufs Tischtuch zu senken. »Ein reines Zwei-Personen-Stück«, sagte Ned hinterher kläglich zu Marjory. »Man hatte das Gefühl, sie könnten im Handumdrehen die Rollen tauschen.« »Ned«, sagte Kurtz, »wenn wir Ihre Charlie für dieses Projekt unter Vertrag nehmen, dann wird sie wahnsinnig viel im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen, das kann ich Ihnen flüstern. Wenn sie erstmal dabei ist, dann wird sie mit ihrem ganzen Leben konfrontiert werden. Nicht nur mit ihrem Liebesleben, ihrer Familie, ihrem Geschmack, ihren Lieblings-Pop-Stars und Lieblings-Dichtern. Und nicht nur mit der Geschichte ihres Vaters. Sondern auch mit Religion, ihren Einstellungen und Meinungen.« »Auch ihren politischen Einstellungen«, flüsterte Litvak und schob eine letzte Krume auf den kleinen Haufen. Ned verging daraufhin leicht, aber unmissverständlich ein wenig der Appetit, so dass er Messer und Gabel hinlegte, während Kurtz nicht zu bremsen war: »Ned, bei den Geldgebern, die sich für unser Projekt interessieren, handelt es sich um Amerikaner - schlichte Gemüter aus dem Mittleren Westen. Tugendhafter geht’s gar nicht. Sie haben zuviel Geld, undankbare Kinder, zweiten Wohnsitz in Florida und gesunde Wertvorstellungen. Vor allem letzteres - gesunde Wertvorstellungen. Und die soll unsere Produktion widerspiegeln, von vorn bis hinten. Wir können ein bisschen darüber lachen und ein bisschen darüber weinen, aber so ist nun mal die Wirklichkeit, das ist das Fernsehen und außerdem das, wo das Geld steckt...«

»Und es ist Amerika«, hauchte Litvak patriotisch seinen Krumen zu.

»Ned, wir wollen Ihnen gegenüber offen sein. Wir schenken Ihnen reinen Wein ein. Als wir uns schließlich entschlossen, Ihnen zu schreiben, waren wir bereit - vorausgesetzt, wir erhielten auch noch andere Zusagen, um die wir uns bemühten -, Ihre Charlie von allen Verpflichtungen freizukaufen und sie ganz groß rauszubringen. Aber wir wollen Ihnen auch nicht verhehlen, dass Karman und ich in den letzten paar Tagen in Theaterkreisen Dinge zu hören bekamen, die uns aufschreckten und uns fragen ließen, ob wir nicht im Begriff sind, eine große Dummheit zu begehen. Ihr Talent steht außer Frage - Charlie ist eine sehr, sehr begabte Schauspielerin, die bisher nur viel zuwenig gefordert worden ist, aber fleißig und entschlossen, sich durchzusetzen. Doch ob sie innerhalb unseres Gesamtprojekts diskontierbar ist, ob man sie bedenkenlos herausstellen kann - Ned, da brauchen wir von Ihnen die Zusicherung, dass an der ganzen Sache nichts Ernstes dran ist.« Und wieder war es Litvak, der den entscheidenden Stoß führte. Er hatte sich endlich von seinen Krumen losgerissen, hatte den rechten Zeigefinger angewinkelt ans Kinn gelegt und starrte Ned durch seine schwarzgefasste Brille bekümmert an.

»Wie wir hören, ist sie in letzter Zeit unter die Radikalen gegangen«, sagte er. »Wie wir hören, hat sie sich für ihre politischen Ansichten ganz, ganz weit vorgewagt. Militant. Wie wir hören, ist sie im Augenblick mit einem windigen Anarchisten zusammen, der irgendwie verrückt sein soll. Wir möchten selbstverständlich niemand aufgrund von läppischen Gerüchten verurteilen - aber diese Dinge sind uns nun mal zugetragen worden, Mr. Quilley, und das alles hört sich ganz so an, als ob sie Fidel Castros Mutter und Arafats Schwester zusammen und dann noch eine Hure ist.« Ned starrte von einem zum anderen, und einen Moment lang hatte er das unheimliche Gefühl, dass ihre vier Augen von ein und demselben optischen Muskel kontrolliert wurden. Er wollte etwas sagen, doch kam er sich ganz unwirklich vor. Er überlegte, ob er den Chablis wohl doch schneller getrunken hatte, als klug gewesen war. Ihm fiel nichts weiter ein als Marjorys Lieblingsaphorismus: So etwas wie ein vorteilhaftes Geschäft gibt es im Leben nicht. Der Schrecken, der Ned in die Glieder gefahren war, hatte etwas von der Panik der Alten und Hilflosen. Er fühlte sich der Aufgabe physisch nicht gewachsen, zu schwach dafür, zu ausgelaugt. Amerikaner brachten ihn immer ganz durcheinander; die meisten machten ihm Angst, entweder durch ihr Wissen oder durch ihre Ahnungslosigkeit oder durch beides. Aber diese beiden, die ihn ausdruckslos ansahen, während er herum zappelte und nach einer Antwort suchte, versetzten ihm einen heftigen Schrecken, der größer war als alles, was er für möglich gehalten hätte. Außerdem war er, und es nutzte gar nichts, sehr ärgerlich. Er verabscheute Klatsch. Jeden Klatsch. Er betrachtete Klatsch als verheerend für seinen Beruf. Er hatte erlebt, dass Klatsch Karrieren ruiniert hatte; Klatsch erboste ihn und konnte ihn fuchsteufelswild machen und dazu bringen, dass er ausfallend wurde, wenn er ihm von Leuten zugetragen wurde, die seine Gefühle nicht kannten. Wenn Ned über andere redete, tat er das offen und liebevoll, genauso, wie er vor zehn Minuten noch über Charlie geredet hatte. Verflixt, er liebte das Mädchen. Einen Moment dachte er sogar daran, Kurtz das anzudeuten, ein für Ned wirklich kühner Schritt; und dieser Gedanke musste sich flüchtig auch auf seinem Gesicht gezeigt haben, denn er meinte zu erkennen, dass Litvak schon anfing, das Gesagte zu bedauern, und im Begriff war, ein wenig davon zurückzunehmen - und dass Kurtz’ außerordentlich bewegliches Gesicht sich zu einer Art ›Na-na-Ned‹ -Lächeln verzog. Aber wie immer hielt ihn unheilbare Höflichkeit zurück. Er war ihr Gast. Außerdem waren sie Ausländer und hatten völlig andere Normen. Und er musste auch - widerstrebend -zugeben, dass sie schließlich einen Auftrag hatten, den sie ausführen, Geldgeber, auf deren Eigenheiten sie Rücksicht nehmen mussten, und dass sie in einer gewissen, schrecklichen Hinsicht sogar recht hatten und er, Ned, entweder ihren Verdacht entkräften musste, oder aber er riskierte, dass das ganze Geschäft in die Brüche ging und damit alle seine Hoffnungen für Charlie zum Teufel waren. Denn da war noch etwas, was Ned mit seiner fatalen Vernünftigkeit auch nicht übersehen durfte - nämlich, dass, selbst wenn ihr Projekt sich als schrecklich entpuppen sollte, was, wie er annahm, wohl der Fall sein würde; selbst wenn Charlie jeden Vers verpatzte, den man ihr zu sprechen gab; selbst wenn sie sternhagelvoll auf die Bühne kam oder dem Regisseur Glasscherben in die Badewanne schmuggelte - etwas, woran sie nicht im Traum dachte, weil sie ihren Beruf viel zu ernst nahm -, ihre Karriere schließlich, ihr Ansehen, ja, selbst ihr Marktwert endlich jenen sehnlichst erhofften Aufstieg nehmen würde, von dem sie ernstlich nicht wieder herunter musste.

Kurtz hatte die ganze Zeit über unbeirrt weitergeredet. »Was raten Sie uns, Ned«, beschwor er ihn ernst. »Wir brauchen ihre Hilfe. Wir möchten wissen, ob diese ganze Geschichte nicht schon am zweiten Tag platzt - der Schuss hinten rausgeht. Denn ich will Ihnen eins sagen.« Ein kurzer, kräftiger Finger zeigte auf ihn wie ein Pistolenlauf. »Kein Mensch im Staate Minnesota ist bereit, einer rot angehauchten Feindin der Demokratie - falls sie das wirklich ist - eine Viertelmillion Dollar zu zahlen. Und kein Mensch bei GK wird ihnen raten, das zu tun und damit Harakiri zu begehen.«

Um es gleich zu sagen: Ned fing sich schließlich nicht schlecht. Er entschuldigte sich für nichts. Ohne auch nur den geringsten Rückzieher zu machen, erinnerte er sie nochmals an das, was er über Charlies Kindheit gesagt hatte, und wies darauf hin, dass sie normalerweise unter diesen Umständen ganz der Jugendkriminalität hätte

verfallen oder - wie ihr Vater - im Gefängnis enden müssen. Was nun ihre politischen Aktivitäten oder Einstellungen oder wie man es sonst nennen wolle, betreffe, so sagte er, in den rund neun Jahren, die er und Marjory sie jetzt kennten, sei Charlie eine leidenschaftliche Gegnerin der Apartheid gewesen - »Nun, und daran kann doch niemand was auszusetzen haben, oder?« (obwohl sie zu denken schienen, man könne das durchaus) -, eine militante Pazifistin, Sufistin, Anti-Kernwaffen-Demonstrantin, Gegnerin von Vivisektion und - bis zu dem Augenblick, da sie selbst wieder angefangen habe zu rauchen - eine Verfechterin des Rauchverbots in Kinos und in der Untergrundbahn. Außerdem hege er nicht den geringsten Zweifel, dass Charlie, ehe der Sensenmann sie hole, noch eine ganze Menge ähnlich unterschiedlicher Angelegenheiten finden werde, denen sie ihre romantische, wenn auch kurze Unterstützung zuteil werden lasse.

»Und das alles haben Sie mit ihr durchgestanden, ohne sie fallenzulassen, Ned?« Kurtz war voller Bewunderung. »Ich muss schon sagen, das finde ich großartig von Ihnen, Ned.«

»So würde ich das bei allen machen!« erklärte Ned in einer begeisterten Aufwallung. »Was soll’s, sie ist schließlich eine Schauspielerin. Nehmen Sie sie doch nicht so ernst. Schauspieler haben keine Meinungen, mein Lieber, von Schauspielerinnen ganz zu schweigen. Sie haben Stimmungen. Marotten. Setzen sich in Positur. Haben Leidenschaften, die nur einen Tag dauern. Es ist doch weiß Gott mit der Welt nicht alles in Ordnung, verflixt noch mal. Schauspieler fliegen auf dramatische Lösungen. Wenn Sie mich fragen, sobald Sie sie erstmal drüben haben, wird sie wie neugeboren sein!«

»Nein, politisch bestimmt nicht«, erklärte Litvak leise und niederträchtig.

Unter dem hilfreichen Einfluss des Rotweins verfolgte Ned seinen kühnen Kurs noch ein paar Augenblicke weiter. Er wurde von einer Art Schwindel erfasst. Er hörte die Worte im Kopf; wiederholte sie und fühlte sich wieder jung und vollkommen losgelöst vom eigenen Handeln. Er sprach von Schauspielern ganz allgemein und davon, dass ›das Schreckgespenst des Unwirklichen‹ sie einfach nie loslasse. Dass sie auf der Bühne sämtliche Qualen des Menschseins verkörperten und durchlitten, wenn sie jedoch nicht auf der Bühne stünden, hohle Gefäße seien, die darauf warteten, gefüllt zu werden. Er redete von ihrer Schüchternheit, ihrer Beschränktheit, ihrer Verwundbarkeit und ihrer Angewohnheit, diese Schwächen hinter hart und abgebrüht vertretenen Anliegen zu verstecken, die sie der Erwachsenenwelt entliehen hätten. Er sprach von ihrer Selbstbesessenheit, erklärte, daß sie sich selbst vierundzwanzig Stunden am Tag auf der Bühne sähen - beim Gebären, unterm Messer, bei der Liebe. Dann versiegte sein Redestrom, etwas, was ihm neuerdings viel zu oft passierte. Er verlor den Faden, sein Schwung verebbte. Der Weinkellner rollte den Barwagen heran, und unter den kalten und nüchternen Augen seiner Gastgeber wählte Ned verzweifelt einen Marc de Champagne aus und ließ sich vom Kellner ein großes Glas davon einschenken, ehe er ihm übertrieben entrüstet Einhalt gebot. Inzwischen hatte Litvak sich wieder so weit gefasst, dass er erneut mit einer guten Idee aufwarten konnte. Mit langen Fingern suchte er in der Innentasche seines Jacketts herum und zog eines von jenen Notizbüchern hervor, die aussehen wie ein leeres Bild, mit einer Unterlage aus unechtem Krokodilleder und kleinen Messingblechen an den Ecken, mit denen die Zettel festgehalten werden.

»Gehen wir es doch mal der Reihe nach durch«, schlug er -mehr für Kurtz als für Ned bestimmt - sanft vor. »Wann, wo, mit wem und wie lange.« Dann zog er einen Rand, offenbar für die Daten. »Versammlungen, die sie mitgemacht hat. Demonstrationen. Bittgesuche und Protestmärsche. Alles, wo sie in der Öffentlichkeit aufgefallen sein könnte. Liegt das erst mal alles auf dem Tisch, können wir zu einer sachlich begründeten Einschränkung kommen. Entweder wir gehen das Risiko ein, oder wir machen, dass wir durch die Hintertür rauskommen. Ned, wann hat sie Ihres Wissens zum ersten Mal bei so was mitgemacht?«

»Das gefällt mir«, sagte Kurtz. »Ja, die Methode hat was für sich. Und ich meine, damit werden wir auch Charlie am besten gerecht.« Er brachte es tatsächlich fertig, so zu tun, als komme Litvaks Vorschlag für ihn wie aus heiterem Himmel; dabei war er das Ergebnis stundenlanger vorbereitender Diskussionen. So sagte ihnen Ned das auch noch. Wo er konnte, beschönigte er, was vorgegangen war, und ein- oder zweimal erzählte er auch eine

kleine Lüge, doch im großen und ganzen sagte er ihnen, was er wusste. Selbstverständlich beschlichen ihn auch böse Ahnungen, doch das war erst später. Sie hätten ihn in der Situation einfach mitgerissen, so stellte er es Marjory gegenüber dar. Nicht, dass er besonders viel gewusst hätte. Das von der Anti-Apartheid und den Anti-Kernwaffen-Demonstrationen natürlich - das sei aber ohnehin allgemein bekannt. Dann waren da noch die Leute vom Theater der radikalen Reform, denen sie sich gelegentlich anschloss und die eine ziemliche Plage außerhalb der Schauspielergewerkschaft waren und Aufführungen blockierten. Und dann noch diese Verrückten von der Alternativen Aktion in Islington, einer aus fünfzehn Leuten bestehenden Splittergruppe, die sich nur lächerlich machte. Und so ein grauenhaftes Frauen-Forum, bei dem sie in der St. Pancras Town Hall aufgetreten war und wozu sie eigens Marjory mitgeschleift hatte, um ihr die Augen zu öffnen. Und dann hatte sie noch einmal vor zwei oder drei Jahren mitten in der Nacht von der Polizeiwache in Durham angerufen und Ned angefleht, zu kommen und für sie zu bürgen, damit sie rauskam, nachdem sie bei irgendeiner Anti-Nazi-Veranstaltung, auf die sie sich eingelassen hatte, verhaftet worden war.

»War das die Sache, die so viel Aufsehen erregte und bei der ihr Bild in den Zeitungen erschien, Mr. Quilley?« »Nein, das war Reading«, sagte Ned. »Das war später.«

»Um was ging’s denn in Durham?«

»Nun, genau weiß ich das auch nicht. Offen gestanden lasse ich nicht zu, dass das Thema in meiner Gegenwart diskutiert wird. Ich weiß nur, was man so aus Zufall erfährt. Ging es dabei nicht um irgendein Atomkraftwerk, das dort oben gebaut werden sollte? Ich hab’s vergessen. So was vergisst man einfach. Wissen Sie, sie ist in letzter Zeit viel gemäßigter geworden, längst nicht mehr die Rakete, die zu sein sie vorgab, das kann ich Ihnen versichern. Wesentlich reifer! Oh, ja.«

»Zu sein vorgab, Ned?« meldete Kurtz wie ein Echo seine Zweifel an.

»Erzählen Sie uns von Reading, Mr. Quilley«, sagte Litvak. »Was ist dort passiert?«

»Ach, praktisch auch nichts anderes. Irgendjemand hat einen Bus in Brand gesteckt, und folglich hat man sie alle angeklagt. Ich glaube, sie protestierten dagegen, dass den Alten die Renten gekürzt werden sollten. Oder dagegen, dass Farbige nicht mehr als Busfahrer eingesetzt werden sollten. Der Bus war natürlich leer«, beeilte er sich, noch hinzuzufügen. »Verletzt wurde niemand.«

»Himmel!« sagte Litvak und sah Kurtz an, dessen Befragung jetzt volltönend wurde wie ein rührseliges Gerichtsverhör. »Ned, Sie haben eben gerade angedeutet, dass Charlie vielleicht doch ein wenig von ihren radikalen Ansichten abgekommen ist. Wollten Sie das sagen?«

»Ja, ich denke schon. Falls ihre Überzeugungen überhaupt jemals radikal gewesen sind. Das ist zwar nur ein Eindruck, aber meine Marjory meint das auch, ist sich dessen sogar sicher…« »Hat Charlie Ihnen solch einen Sinneswandel anvertraut, Ned?« fiel Kurtz ihm ziemlich scharf ins Wort.

»Ich glaube, wenn sie mal eine echte Chance bekommt wie diese...«

Kurtz ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Oder Ihrer Frau?«

»Hm, nein, nicht ausdrücklich.«

»Gibt es noch jemand, dem sie sich vielleicht anvertraut hätte? Etwa diesem Anarchisten-Freund, mit dem sie geht?«

»O nein, er wäre der letzte, der so was erfahren würde.« »Ned, gibt es außer Ihnen jemand - bitte, denken Sie genau nach: eine Freundin oder einen Freund, vielleicht eine ältere Person, einen Freund der Familie - jemand, dem Charlie einen solchen Sinneswandel anvertrauen würde? Eine Abwendung vom Radikalismus? Ned?«

»Nicht, dass ich wüsste - nein. Nein, mir fällt wirklich keiner ein. Sie ist in vieler Hinsicht verschlossen. Verschlossener, als man meinen möchte.«

Und dann geschah etwas ganz Erstaunliches. Ned lieferte Marjory später eine genaue Beschreibung dieses Vorgangs. Um dem unangenehmen und - für Neds Begriffe - geradezu bühnenreifen Kreuzfeuer der Blicke, dem er sich von beiden Augenpaaren ausgesetzt sah, zu entkommen, hatte Ned mit seinem Glas gespielt, hineingeguckt und den Marc de Champagne herumgewirbelt. Als er jetzt spürte, dass Kurtz die Sache offenbar nicht weiterverfolgte, sah er auf und bekam gerade noch den Ausdruck offenkundiger Erleichterung auf Kurtz’ Gesicht mit, die dieser Litvak gerade mitteilen wollte: Kurtz freute sich unverhohlen darüber, dass Charlie ihren Überzeugungen nicht untreu geworden war - oder, wenn sie es doch getan hatte, es jedenfalls keiner Menschenseele anvertraut hatte. Er schaute noch einmal genauer hin, doch da war der Ausdruck schon verschwunden. Nicht einmal Marjory konnte ihn hinterher davon abbringen, dass er vorher dagewesen war. Litvak, der Juniorpartner des großen Juristen, übernahm das Kreuzverhör, knapper in den Formulierungen, gleichsam als sollte der Fall endlich abgeschlossen werden. »Mr. Quilley, Sir, sammeln Sie in Ihrem Büro Material über Ihre einzelnen Klienten? Unterlagen?«

»Nun, Mrs. Ellis tut das, da bin ich sicher«, sagte Ned. »Irgendwo.«

»Und nimmt Mrs. Ellis diese Aufgabe schon seit längerer Zeit wahr, Sir?«

»Mein Gott, ja. Sie war schon zu meines Vaters Zeiten da.«

»Und was ist das für Material, das sie sammelt? Gagenabrechnungen - Spesen - Kommissionen, die abgezogen werden - solche Sachen? Handelt es sich bei diesen Unterlagen um reine trockene Geschäftsunterlagen?«

»Du liebe Güte, nein, sie sammelt alles und hält alles fest. Geburtstage, welche Blumen sie mögen, welche Restaurants. Einmal haben wir sogar einen alten Ballschuh darunter gefunden. Wie die Kinder heißen. Ob sie einen Hund haben. Presseausschnitte. Wirklich alles Mögliche.«

»Auch persönliche Briefe?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Handschriftliches von ihr? Die Briefe, die sie Ihnen im Laufe der Jahre geschrieben hat?«

Kurtz war das peinlich; seine slawischen Augenbrauen, die sich gequält über dem Nasenrücken zusammenschoben, verrieten es. »Karman, ich finde, Mr. Quilley hat uns schon genug von seiner Zeit geopfert und uns von seinen Erfahrungen profitieren lassen«, sagte er schroff zu Litvak. »Falls wir noch weitere Informationen brauchen, wird Mr. Quilley sie uns bestimmt nachliefern. Besser noch: Falls Charlie bereit ist, sich mit uns über diesen Punkt auseinanderzusetzen, können wir sie direkt von ihr bekommen. Ned, es war wunderbar, Sie kennenzulernen; ich werde das nie vergessen. Vielen Dank, Sir.«

Doch so leicht sollte Litvak sich nicht abhängen lassen. Er besaß den Eigensinn des jungen Mannes: »Mr. Quilley hat doch keine Geheimnisse vor uns«, rief er aus. »Himmel, Mr. Gold, ich frage doch nur, was ohnehin die ganze Welt weiß und was unsere Visa-Leute in Null Komma nichts mit ihrem Computer rausfinden. Uns eilt es doch damit, das wissen Sie doch. Falls es Unterlagen gibt, eigenhändige Briefe von ihr, in denen sie es mit ihren eigenen Worten erklärt, mildernde Umstände, möglicherweise einen Sinneswandel - warum lassen wir sie uns dann nicht von Mr. Quilley zeigen? Sofern er dazu bereit ist. Wenn nicht - nun, das wäre etwas anderes«, fügte er mit einer unangenehmen Anspielung hinzu.

»Karman, ich bin ganz sicher, dass Ned nichts dagegen hat«, erklärte Kurtz streng, als ob es darum gar nicht ginge. Und schüttelte den Kopf, als werde er sich nie daran gewöhnen, wie aufdringlich die jungen Leute heutzutage waren.

Der Regen hatte aufgehört. Sie nahmen den kleinen Quilley in die Mitte und passten ihren eigenen flotten Gang seinen unsicheren Schritten an. Er war doch ziemlich angesäuselt, war bekümmert und litt unter dem Gefühl, nicht mehr ganz nüchtern zu sein, das auch Feuchtigkeit und Abgase auf der Straße nicht vertreiben wollten. Was, zum Teufel, wollen sie? fragte er sich immer wieder. Eben noch bieten sie an, Charlie die Sterne vom Himmel zu holen, um gleich darauf Bedenken wegen ihrer albernen politischen Einstellung zu haben. Und jetzt wollten sie auch noch aus Gründen, an die er sich nicht mehr erinnerte, Einsicht in ihre Unterlagen haben, die eigentlich gar keine richtigen Unterlagen waren, sondern ein kunterbuntes Durcheinander zufällig aufgehobener Dinge, für das eine Angestellte zuständig war, die eigentlich längst hätte pensioniert werden müssen. Mrs. Longmore, die Empfangsdame, beobachtete ihre Ankunft, und ihrem missbilligenden Blick entnahm Ned sofort, dass er beim Lunch des Guten zuviel getan hatte. Sollte sie ihm doch den Buckel runterrutschen! Kurtz bestand darauf, dass er vor ihnen die Treppe hinaufging.

Während sie ihm praktisch die Pistole an die Schläfe hielten, rief er von seinem Schreibtisch aus Mrs. Ellis an und bat sie, Charlies Unterlagen ins Wartezimmer zu bringen und sie dort zu lassen. »Sollen wir bei Ihnen klopfen, wenn wir durch sind, Mr. Quilley?« fragte Litvak wie jemand, der im Begriff steht, ein Kind auf die Welt zu bringen.

Als letztes sah er von ihnen, wie sie im Wartezimmer an dem Trommeltisch aus Rosenholz saßen, umgeben von etwa sechs von Mrs. Ellis’ ziemlich abgegriffenen braunen Kartons, die aussahen, als hätte man sie aus der Zeit der deutschen Bombenangriffe herübergerettet. Die beiden Amerikaner wirkten wie zwei Steuerfahnder, die über die gleichen verdächtigen Zahlenreihen gebeugt dahockten und Bleistift und Papier neben sich liegen hatten; Gold, der Breitschultrige, hatte sogar das Jackett ausgezogen und seine verbeulte Uhr neben sich gelegt, als ob er bei seinen tückischen Rechnungen die Zeit stoppte. Danach musste Quilley eingenickt sein. Als er um fünf aus dem Schlaf hochfuhr, war der Warteraum leer. Und als er nach Mrs. Longmore klingelte, erwiderte diese spitz, seine Gäste hätten ihn nicht stören wollen.

Ned erzählte es Marjory nicht sofort. »Ach die«, sagte er, als sie ihn noch am selben Abend danach fragte. »Nur ein Gespann langweiliger Programmgestalter, die auf dem Weg nach München hier Zwischenstation gemacht haben. Jedenfalls nichts, worüber man sich Sorgen zu machen brauchte.« »Juden?«

»Ja - hm, wohl Juden, wie ich annehme. Doch, bestimmt.« Marjory nickte, als hätte sie das die ganze Zeit über gewusst. »Aber ich muss schon sagen, wirklich nette«, sagte Ned ein wenig hoffnungslos.

Marjory betreute in ihrer Freizeit Gefangene in den Gefängnissen, und auf Neds Flunkereien fiel sie schon lange nicht mehr herein. Aber sie wartete ihre Zeit ab. Bill Lochheim war Neds Vertreter in New York, sein einziger amerikanischer Freund. Am nächsten Nachmittag rief Ned ihn an. Zwar hatte Loch nichts von ihnen gehört, rief aber pflichtschuldigst zurück und berichtete, was Ned bereits wusste: die Agentur GK sei neu in der Branche, solle finanziell auf soliden Füßen stehen, doch seien diese unabhängigen Agenten ein ausgesprochner Störfaktor auf dem Markt. Der Ton, in dem Loch sprach, gefiel Quilley nicht. Es klang, als sei er von jemand angespitzt worden - nicht von Quilley, der nie in seinem Leben jemand angespitzt hatte, sondern von jemand anders, einem dritten, bei dem er sich informiert hatte.

Quilley konnte sich sogar des sonderbaren Gefühls nicht erwehren, dass er und Loch auf eine merkwürdige Weise im selben Boot säßen. Mit erstaunlichem Mut rief Quilley daraufhin unter einem Vorwand die New Yorker Nummer von GK an, doch dabei stellte sich heraus, dass er an einen Telefonservice für Firmen geriet, die kein eigenes Büro in der City unterhielten: sie erteilten keine Auskünfte über ihre Kunden. Von Stund an konnte Ned an nichts weiter denken als an seine beiden Besucher und den Lunch. Hätte er ihnen doch bloß die Tür gewiesen! Er rief sogar das Münchener Hotel an, das sie erwähnt hatten, und bekam einen wenig zuvorkommenden Manager an den Apparat. Die Herren Gold und Karman seien eine Nacht geblieben, dann jedoch am nächsten Morgen unerwartet in geschäftlichen Dingen weitergereist, sagte er säuerlich - warum also erzählte er es ihm überhaupt? Überall ein wenig zuviel Information, dachte Ned. Oder zu wenig. Und überall das Gefühl, jemand an der Strippe zu haben, der das, was er tat, wider besseres Wissen tat. Ein deutscher Produzent, den Kurtz erwähnt hatte, sagte, sie seien »gute Leute, sehr respektabel, oh, sehr gut«. Doch als Ned fragte, ob sie kürzlich in München gewesen seien und mit welchen Projekten sie zu tun hätten, wurde der Produzent feindselig und legte praktisch den Hörer auf.

Blieben nur noch Neds Berufskollegen im Agentengeschäft. An die wandte Ned sich nur widerstrebend und ungeheuer beiläufig: er streute seine Nachforschungen breit, doch wo er auch anfragte: nichts.

»Hab’ neulich zwei schrecklich nette Amerikaner kennengelernt«, vertraute er sich schließlich Herb Nolan von den Lomax Stars an, als er an Herbs Tisch im Garrick stehenblieb. »Waren rübergekommen, um Abschlüsse wegen irgendwelcher hochgestochenen Fernseh-Serien zu machen. Gold und noch was. Sind die Ihnen auch über den Weg gelaufen?«

Nolan lachte. »Ich bin es doch, der sie zu Ihnen geschickt hat, alter Junge. Erkundigten sich nach ein paar von meinen Vogelscheuchen und wollten dann alles über Ihre Charlie wissen. Ob ich meinte, dass sie auch in Amerika wirklich ankommen würde. Ich hab’s ihnen gesagt, Ned. Hab’s ihnen gesagt.«

»Und was haben Sie ihnen gesagt?« »Dass sie uns höchstwahrscheinlich eher alle in die Luft jagen würde, hab’ ich gesagt. Warum?«

Deprimiert über die Gewöhnlichkeit von Herbs Humor, fragte Ned nicht weiter. Doch am selben Abend, nachdem Marjory ihm sein unvermeidliches Geständnis entlockt hatte, war er auch bereit, seine Ängste mit ihr zu teilen.

»Sie hatten es so verflixt eilig«, sagte er. »Sie hatten zu viel Energie, selbst für Amerikaner. Wie ein Paar Polizisten sind sie über mich hergefallen. Erst der eine, dann der andere. Ein Paar Bluthunde«, fügte er den Vergleich wechselnd noch hinzu. »Ich überlege immer noch, ob ich nicht doch zur Polizei gehen sollte«, sagte er.

»Aber, Liebling«, sagte Marjory schließlich, »ich fürchte, nach dem, was du erzählt hast, waren sie von der Polizei.«

»Ich werde ihr schreiben«, erklärte Ned mit großer Entschiedenheit. »Ich habe nicht übel Lust, ihr zu schreiben und sie zu warnen, für alle Fälle. Wer weiß, in was sie da hineingerät.« Doch selbst wenn er das getan hätte, wäre er zu spät gekommen. Denn keine achtundvierzig Stunden später dampfte Charlie nach Athen ab, um ihr Rendezvous mit Joseph einzuhalten.

Sie hatten es also wieder einmal geschafft; oberflächlich gesehen und verglichen mit der Hauptstoßrichtung des Unternehmens, quasi nur eine Nebenhandlung; aber eine höchst riskante, wie Kurtz noch am selben Abend als erster zugab, als er Misha Gavron bescheiden seinen Triumph meldete. Aber was hätten wir sonst machen sollen, Misha -können Sie mir das sagen? Wo sonst lag denn ein so kostbarer, über einen so langen Zeitraum gehender

Schatz an Korrespondenz, den wir uns hätten holen können? Sie seien anderen Empfängern von Charlies Briefen nachgejagt

- Freunden, Freundinnen, ihrer dummen Pute von Mutter und einer ehemaligen Lehrerin; ein paarmal hätten sie sich als Vertreter einer Firma ausgegeben, die daran interessiert sei, Manuskripte und Autographen der Großen von morgen zu erwerben. Bis Kurtz mit Gavrons widerwillig erteiltem Einverständnis die ganze Sache abgeblasen hatte. Besser ein großer Schlag, hatte er erklärt, als so viele gefährliche kleine.

Außerdem brauchte Kurtz das Ungreifbare. Er musste die Temperatur und die Struktur des Steinbruchs, in dem er arbeitete, genau fühlen. Wer war folglich besser geeignet, ihm dazu zu verhelfen, als Quilley, der sie nun schon so lange kannte und unschuldig seine Erfahrungen mit ihr gemacht hatte? So hatte Kurtz es mit seiner Entschlossenheit durchgeboxt. Und danach flog er am nächsten Morgen, wie er Quilley erzählt hatte, nach München, selbst wenn die Produktion, um die es ihm ging, ganz anders geartet war, als er ihm weisgemacht hatte. Er suchte seine beiden sicheren Wohnungen auf, er flößte seinen Leuten neuen Mut ein. Außerdem arrangierte er auch noch ein freundschaftliches Treffen mit dem guten Dr. Alexis: wieder ein ausgedehntes Mittagessen, bei dem fast nichts von Belang besprochen wurde

- doch was brauchen alte Freunde mehr als einander?

Und von München aus setzte Kurtz seine Reise in südlicher Richtung fort. Er flog nach Athen.


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