Kapitel 8
Falls sie geträumt hatte, konnte sie sich beim Aufwachen nicht mehr daran erinnern. Oder vielleicht erging es ihr wie Adam, sie wachte auf und stellte fest, dass der Traum Wirklichkeit war, denn das erste, was sie sah, war ein Glas frischen Orangensafts neben ihrem Bett, und das zweite Joseph, der zielstrebig im Zimmer hin und her lief, Schränke aufriss und die Vorhänge zurückzog, um den Sonnenschein hereinzulassen. Charlie stellte sich schlafend und beobachtete ihn durch halbgeschlossene Augen, so wie sie ihn auch am Strand beobachtet hatte. Die Linie seines Rückens mit den Narben. Der erste helle Anflug des Alters, der seine sonst schwarzen Schläfen melierte. Wieder das Seidenhemd mit den goldenen Klunkern.
»Wie spät haben wir es denn?« fragte sie.
»Drei Uhr.« Er zerrte einmal am Vorhang. »Drei Uhr nachmittags. Du hast lange genug geschlafen. Wir müssen los.« Und eine goldene Halskette mit dem Medaillon unterm Hemd.
»Was macht der Mund?« »Ach, ich werde wohl nie wieder singen können.« Er ging zu einem alten bemalten Kleiderschrank und holte einen blauen Kaftan heraus, den er über den Stuhl legte. Sie sah keinerlei Spuren auf seinem Gesicht, nur dunkle Ringe unter den Augen, die Müdigkeit verrieten. Er ist aufgeblieben, dachte sie, und ihr fiel ein, wie vertieft er in die Papiere auf seinem Tisch gewesen war; er hat seine Hausaufgaben gemacht.
»Du erinnerst dich noch an unsere Unterhaltung, ehe du heute Morgen zu Bett gingst, Charlie? Wenn du aufstehst, möchte ich dich bitten, dieses Kleid anzuziehen und auch die neue Unterwäsche, die du hier in dieser Schachtel findest. Am liebsten sehe ich dich heute in Blau und das Haar lang und offen - keine Knoten.« »Zöpfe.«
Er überging die Berichtigung. »Diese Kleider sind ein Geschenk von mir für dich; und es ist mir ein Vergnügen, dich zu beraten, was du anziehst und wie du aussehen sollst. Setz dich bitte auf und sieh dir das Zimmer gründlich an.«
Sie war nackt. Sie zog sich die Bettdecke bis unters Kinn und setzte sich vorsichtig auf. Vor einer Woche, am Strand, hätte er ihren Körper nach Herzenslust betrachten können. Doch das war vor einer Woche gewesen.
»Präg dir alles genau ein, alles um dich herum. Wir sind ein heimliches Liebespaar, und wir haben hier die Nacht verbracht. Es geschah alles, wie es geschah. In Athen trafen wir uns wieder, kamen hier in dieses Haus und fanden es leer vor. Kein Marty, kein Mike, niemand - nur wir.«
»Und wer bist du?«
»Wir haben den Wagen geparkt, wo wir ihn geparkt haben. Als wir ankamen, brannte die Lampe im Eingang. Ich schloss die Vordertür auf, und zusammen sind wir Hand in Hand die breite Treppe rauf gelaufen.«
»Und was ist mit dem Gepäck?«
»Zwei Stück. Meine Reisetasche, deine Schultertasche. Ich habe beide getragen.« »Aber wie hast du dann meine Hand gehalten?« Sie dachte, sie übertrumpfte ihn mit ihren Mutmaßungen, doch er freute sich über ihre Genauigkeit.
»Die Schultertasche mit dem gerissenen Henkel hatte ich mir unter den rechten Arm geklemmt. Den Griff meiner Tasche hatte ich in der rechten Hand. Ich lief an deiner rechten Seite, meine Linke war frei. Das Zimmer haben wir genau so vorgefunden, wie es jetzt ist, alles war vorbereitet. Wir waren kaum durch die Tür, da sind wir uns schon in die Arme gefallen. Wir konnten unsere Begierde keine Sekunde länger zügeln.«
Mit zwei Schritten war er am Bett, suchte unter den auf dem Boden durcheinander liegenden Bettüchern, bis er ihre Bluse fand, die er ihr hinhielt, damit sie sie ansah. Sie war an jedem Knopfloch eingerissen; zwei Knöpfe fehlten.
»Unsere Raserei«, erklärte er mit einer Entschiedenheit, als ob Raserei das Normalste sei. »Ist Raserei das richtige Wort?« »Eines davon.« »Dann also Raserei.«
Er warf die Bluse beiseite und gestattete sich ein knappes Lächeln. »Möchtest du Kaffee?«
»Kaffee wäre phantastisch.«
»Brot? Joghurt? Oliven?«
»Nur Kaffee.« Er war schon an der Tür, als sie mit lauterer Stimme hinter ihm herrief: »Tut mir leid, dass ich dir eine gelangt hab’, Jose. Du hättest zu einem von diesen israelischen Gegenschlägen ausholen und mich zu Boden strecken sollen, ehe ich mich versah.«
Die Tür schloss sich, und sie hörte ihn den Korridor hinuntergehen. Sie fragte sich, ob er wohl je wiederkommen würde. Mit einem Gefühl der Unwirklichkeit stieg sie munter aus dem Bett. Eine Pantomime, dachte sie - Goldhaar im Bärenhaus. Die Beweise ihrer imaginären Orgie lagen überall um sie verstreut: eine Wodkaflasche, noch dreiviertel voll, schwamm im Sektkühler. Zwei benutzte Gläser. Eine Schale mit Obst, zwei Teller samt Apfelschalen und Traubenkernen. Der rote Blazer über eine Stuhllehne gehängt. Die elegante schwarze Ledertasche mit Seitentaschen, wie sie zur Männlichkeitsausstattung eines jeden leitenden Angestellten gehört. An der Tür hing ein kurzer Kimono, wie ein Karateanzug geschnitten, Hermes de Paris - gehörte ihm ebenfalls, schwere schwarze Seide. Im Badezimmer ihr eigener Schulmädchen-Schwammbeutel gegen seinen kalbsledernen Kulturbeutel gelehnt. Zwei Handtücher lagen da, sie benutzte das trockene. Als sie sich den blauen Kaftan genauer ansah, stellte sich heraus, dass er recht hübsch war: schwere Baumwolle mit hohem, züchtigem Stehkragen, das Seidenpapier des Ladens steckte noch darin: Zelide, Rome and London. Die Unterwäsche war teures Nuttenzeug: schwarz, genau ihre Größe. Auf dem Boden eine funkelnagelneue Schultertasche aus Leder sowie ein Paar schicke, flache Sandalen. Sie probierte eine an. Passte. Sie zog sich an und bürstete sich das Haar aus, als Joseph mit einem Tablett mit Kaffee zurückkam. Er konnte schwerfällig sein und so leicht und behende, dass man meinen konnte, der Soundtrack wäre abhanden gekommen. Er war jemand, der über eine ganze Skala von geheimen Listen verfügte.
»Du siehst exzellent aus, würde ich sagen«, bemerkte er und stellte das Tablett auf dem Tisch ab.
»Exzellent?«
»Wunderschön. Bezaubernd. Strahlend. Hast du die Orchideen gesehen?«
Sie hatte sie nicht gesehen, doch sah sie jetzt, und ihr Magen verkrampfte sich wie auf der Akropolis: ein Stengel aus Gold und Rostrot mit einem kleinen weißen Umschlag, der gegen die Vase gelehnt war. Absichtlich bürstete sie erst ihr Haar zu Ende, griff erst dann nach dem kleinen Umschlag und trug ihn zur Chaiselongue, auf die sie sich setzte. Joseph blieb stehen. Sie hob die Umschlagklappe hoch und zog eine schlichte Karte heraus, auf der die Worte standen: ›Ich liebe Dich‹ , mit abfallenden, unenglischen Schriftzügen geschrieben und der vertrauten Unterschrift: ›M.‹ »Nun? Woran erinnert dich das?« »Du weißt verdammt gut, woran mich das erinnert«, sagte sie schnippisch, als ihr - viel zu spät - die Verbindung aufging.
»Dann sag’s mir.«
»Nottingham, Barrie Theatre. York, das Phoenix. Stratford East, das Cockpit. Und du vorn in der ersten Reihe, wie du Glubschaugen nach mir machst.«
»Dieselbe Handschrift?«
»Dieselbe Handschrift, derselbe Text, die gleichen Blumen.«
»Du kennst mich als Michel. ›M‹ für Michel.« Er machte seine elegante schwarze Reisetasche auf und packte rasch seine Kleider ein. »Ich bin alles, was du dir jemals ersehnt hast«, sagte er, ohne sie auch nur anzublicken. »Wenn du deinen Auftrag erfüllen willst, genügt es nicht, dass du dich nur daran erinnerst; du musst es glauben, musst es fühlen und davon träumen. Wir bauen eine neue Wirklichkeit auf, eine bessere.«
Sie legte die Karte beiseite, schenkte sich Kaffee ein und tat das angesichts seiner Eile mit betonter Langsamkeit. »Wer sagt, dass es eine bessere ist?« fragte sie.
»Du hast zwar deinen Urlaub zusammen mit Alastair auf Mykonos verbracht, aber im tiefsten Herzensgrund hast du verzweifelt auf mich, Michel, gewartet.« Er schoss ins Bad hinüber und kehrte mit seinem Kulturbeutel zurück. »Nicht auf Joseph - auf Michel. Sobald die Ferien vorüber waren, hast du gemacht, dass du nach Athen kamst. Auf dem Schiff hast du deinen Freunden weisgemacht, du wolltest ein paar Tage allein sein. Eine Lüge. Du hattest eine Verabredung mit Michel. Nicht mit Joseph - mit Michel.« Er warf den Kulturbeutel in die Reisetasche. »Du hast ein Taxi genommen und bist in das Restaurant gefahren, wo du mich trafst. Michel. In meinem seidenen Hemd. Mit der goldenen Uhr. Hummer wurde bestellt. Alles, was du gesehen hast. Ich hatte Prospekte mitgebracht, um sie dir zu zeigen. Wir haben gegessen, was wir gegessen haben, redeten über aufregende süße Nichtigkeiten, wie eben ein heimliches Liebespaar, das sich nach langer Zeit wiedersieht.« Er nahm die schwarze Kimonojacke vom Haken an der Tür. »Ich habe ein großzügiges Trinkgeld gegeben und, wie du ja bemerkt hast, die Rechnung eingesteckt. Dann habe ich dich zur Akropolis hinaufgefahren, eine verbotene Fahrt, einzigartig. Ein besonderes Taxi, mein eigenes, wartete. Den Fahrer redete ich mit Dimitri an....«
Sie unterbrach ihn. »Das war also der einzige Grund, warum du mich zur Akropolis hinaufgebracht hast«, erklärte sie nachdrücklich.
»Nicht ich habe dich hinaufgebracht - Michel. Michel ist stolz auf seine Sprachkenntnisse und sein Können als Verführer. Er liebt große, romantische Gesten, plötzliche Sprünge. Er ist dein Zauberer.«
»Ich mag aber keine Zauberer.«
»Außerdem interessiert er sich, wie du ja bemerkt hast, ehrlich, wenn auch oberflächlich für Archäologie.«
»Und wer hat mich geküsst?«
Sorgfältig legte er die Kimonojacke zusammen und verstaute sie in der Tasche. Er war der erste Mann, den sie kannte, der eine Tasche zu packen verstand.
»Der mehr praktische Grund für die Tatsache, dass er dich zur Akropolis hinaufgebracht hat, bestand darin, unauffällig den Mercedes zu übernehmen, den er aus bestimmten Gründen nicht während der Hauptverkehrszeit in die Stadt hinunterbringen wollte. Du stellst wegen des Mercedes keine Fragen; für dich gehört das zu dem Zauber, mit mir zusammen zu sein, genauso, wie du bei allem, was wir tun, eine gewisse Heimlichkeit akzeptierst. Du akzeptierst alles. Bitte, beeil dich! Wir müssen noch weit fahren und viel miteinander reden.«
»Und was ist mit dir?« fragte sie. »Bist du auch in mich verliebt, oder ist für dich alles nur Spiel?«
Während sie noch darauf wartete, dass er antwortete, sah sie ihn in ihrer Vorstellung, wie er tatsächlich zur Seite trat, um den Pfeil unbeschadet an sich vorbei auf die im Schatten stehende Gestalt Michels zufliegen zu lassen.
»Du liebst Michel, du glaubst, dass Michel dich liebt.«
»Aber stimmt das?« »Er behauptet, dich zu lieben, und gibt dir ja auch greifbare Beweise dafür. Was kann ein Mann mehr tun, um dich zu überzeugen; schließlich kannst du dich doch nicht in seinem Kopf einnisten.« Er drehte wieder seine Runden im Zimmer und schob Sachen hin und her. Jetzt blieb er vor der Karte stehen, die zusammen mit den Orchideen gekommen war.
»Wessen Haus ist das?« fragte sie.
»Auf solche Fragen gebe ich nie eine Antwort. Mein Leben ist ein Rätsel für dich. Das ist so gewesen, seit wir uns kennengelernt haben, und ich möchte, dass es so bleibt.« Er nahm die Karte und reichte sie ihr. »Verwahr die jetzt in deiner neuen Handtasche. Von jetzt an erwarte ich, dass du diese kleinen Erinnerungen an mich liebevoll aufhebst. Sieh mal hier!«
Er hatte die Wodkaflasche halb aus dem Sektkühler herausgehoben. »Da ich ein Mann bin, trinke ich selbstverständlich mehr als du. Trinken bekommt mir nicht; ich bekomme Kopfschmerzen vom Alkohol, und gelegentlich wird mir sogar schlecht davon. Aber wenn schon, dann mag ich Wodka.« Er ließ die Flasche in den Kühler zurücksinken. »Was dich betrifft, so bekommst du ein kleines Gläschen, denn schließlich bin ich nicht von vorgestern, aber grundsätzlich habe ich was dagegen, dass Frauen trinken.« Er hob einen schmutzigen Teller hoch und zeigte ihn ihr. »Ich nasche gern -esse gern Schokolade, Kekse und Obst. Besonders Obst. Trauben, aber es müssen grüne sein, wie sie auch in meinem Heimatdorf wachsen. Was hat Charlie also gestern abend gegessen?«
»Gar nichts. Nicht nach so was. Ich rauche immer nur meine Post-Koitus-Zigarette.«
»Nur erlaube ich leider nicht, dass im Schlafzimmer geraucht wird. Im Restaurant in Athen habe ich es geduldet, denn schließlich bin ich ein aufgeklärter, moderner Mann. Sogar im Mercedes darfst du gelegentlich eine rauchen. Aber im Schlafzimmer: nie. Wenn du nachts Durst hast, trinkst du Wasser aus dem Wasserhahn.« Er zog den roten Blazer über. »Ist dir aufgefallen, wie der Wasserhahn gegluckert hat?«
»Nein.«
»Dann hat er nicht gegluckert. Manchmal tut er das, manchmal nicht.«
»Er ist Araber, nicht wahr?« sagte sie und ließ ihn immer noch nicht aus den Augen. »Er ist der Prototyp eines arabischen Chauvis. Und ihr habt seinen Wagen geklaut.«
Er machte den Verschluss zu. Richtete sich auf, sah sie einen Augenblick an, teils berechnend und teils - sie konnte nicht gegen dieses Gefühl an - zurückweisend.
»Oh, er ist mehr als nur ein Araber, würde ich sagen. Er ist mehr als nur ein Chauvi. Er hat überhaupt nichts Gewöhnliches, schon gar nicht in deinen Augen. Geh bitte rüber zum Bett.« Er wartete, während sie das tat, und beobachtete sie gespannt. »Fühl unter mein Kopfkissen! Langsam - Vorsicht! Ich schlafe auf der rechten Seite. So.«
Tastend, wie befohlen, ließ sie die Hand unter das kalte Kissen gleiten und stellte sich dabei das Gewicht von Josephs schlafendem Kopf vor, wie er es zusammendrückte. »Hast du sie? Ich hab’ gesagt: vorsichtig!«
Ja, Jose, sie hatte sie gefunden.
»Hol sie behutsam heraus. Sie ist nicht gesichert. Michel hat nicht die Gewohnheit zu warnen, ehe er schießt. Die Pistole ist wie ein Kind für uns. Sie teilt jedes Bett mit uns. Wir nennen sie ›unser Kind‹. Selbst, wenn wir uns leidenschaftlich lieben -dieses Kissen berühren wir nie, und wir vergessen keinen Augenblick, was darunter liegt. So leben wir. Siehst du jetzt, dass bei mir nichts gewöhnlich ist?«
Sie betrachtete sie, wie sie da so glatt auf ihrer Handfläche lag. Klein. Braun und wohlproportioniert.
»Bist du jemals mit so einer Pistole umgegangen?« fragte Joseph.
»Schon oft.«
»Wo? Und gegen wen?« »Auf der Bühne. Abend für Abend.«
Sie reichte sie ihm und sah zu, wie er sie genauso selbstverständlich in den Blazer steckte, als verstaue er seine Brieftasche. Sie folgte ihm nach unten. Das Haus war leer und unerwartet kalt. Der Mercedes wartete draußen im Vorhof. Zuerst wollte sie nur fort: irgendwohin, nur raus hier, auf die offene Straße, und nur wir beide allein. Die Pistole hatte ihr Angst gemacht, und sie brauchte Bewegung. Doch als er den Motor anließ und der Wagen langsam die Auffahrt hinunterrollte, ließ irgendetwas sie den Kopf drehen und zurückblicken auf den abbröckelnden gelben Putz, die roten Blumen, die Fenster mit den geschlossenen Läden und die roten Ziegel. Zu spät ging ihr auf, wie schön das alles war, wie willkommen heißend ausgerechnet in dem Augenblick, da sie wieder fort fuhr. Es ist das Haus meiner Jugend, beschloss sie: einer der vielen Jugenden, die ich nie gehabt habe. Es ist das Haus, aus dem mich nie jemand herausholte, um mich zu heiraten; Charlie nicht in Blau, sondern in Weiß, meine Scheiß-Mutter in Tränen aufgelöst. Ade, all dies!
»Existieren wir eigentlich auch?« fragte sie ihn, als sie sich in den abendlichen Verkehr einreihten. »Oder tun das bloß die beiden anderen?«
Wieder die Drei-Minuten-Warnung, ehe er antwortete.
»Selbstverständlich existieren wir. Warum nicht?« Dann das bezaubernde Lächeln, das Lächeln, für das sie sich hätte in Ketten legen lassen. »Wir sind Berkeleyaner, verstehst du. Wenn wir nicht existieren - wie könnten denn sie existieren?«
Was ist ein Berkeleyaner? überlegte sie. Aber sie war zu stolz zu fragen.
Nach der Quarzuhr am Armaturenbrett hatte Joseph zwanzig Minuten hindurch kaum ein Wort gesprochen. Trotzdem hatte sie gespürt, wie er sich entspannte; oder vielmehr, wie er sich methodisch auf den Angriff vorbereitete. »So, Charlie«, sagte er plötzlich. »Bist du jetzt bereit?«
Jose, ich bin bereit. »Am sechsundzwanzigsten Juni, einem Freitag, spielst du im Barrie Theatre, Nottingham, die Heilige Johanna. Eigentlich gehörst du gar nicht zum Ensemble, sondern bist in letzter Minute dazu gestoßen, um für eine Schauspielerin einzuspringen, die ihren Vertrag nicht eingehalten hat. Die Situation ist folgende: Du kommst spät im Theater an, die Beleuchtung wird noch ausprobiert, du hast den ganzen Tag über geprobt, und zwei Ensemblemitglieder haben die Grippe. Soweit alles klar in deiner Erinnerung?«
»Klar und lebendig.«
Argwöhnisch gegenüber ihrer Sorglosigkeit, warf er ihr einen fragenden Blick zu, fand offenbar jedoch nichts, wogegen er hätte Einwände erheben können. Es war früher Abend. Die Dämmerung senkte sich rasch nieder, doch Josephs Konzentration hatte die Unmittelbarkeit von Sonnenlicht. Er ist in seinem Element, dachte sie; das hier kann er am besten im Leben; dieser unerbittliche Schwung ist die Erklärung für das, was bisher noch fehlte. »Kurz vor Beginn der Vorstellung wird am Bühneneingang ein Stengel gold-brauner Orchideen für dich abgegeben. Dazu ein an Johanna adressierter Umschlag: Johanna, ich liebe Dich unendlich.‹ «
»Kein Bühneneingang.«
»Es gibt einen Hintereingang für Bühnenmaterial. Dein Verehrer - wer immer es war - klingelte und drückte dem Hausverwalter, einem Mr. Lemon, die Orchideen zusammen mit einer Fünf-Pfund-Note in die Hand. Das reichliche Trinkgeld machte entsprechend Eindruck auf Mr. Lemon, so dass er versprach, sie dir augenblicklich zu bringen - hat er das getan?«
»Unangemeldet in die Garderoben von Schauspielerinnen zu platzen, ist Lemons Glanznummer.«
»Also schön. Nun sag mir, was du machtest, als du die Orchideen bekamst.«
Sie zögerte. »Die Unterschrift lautete ›M‹.« »M stimmt. Was hast du getan?«
»Nichts.« »Unsinn.«
Das kränkte sie: »Was sollte ich denn tun? Mir blieben doch kaum zehn Sekunden, ehe ich auf die Bühne musste.«
Ein mit Müll beladener Lastwagen kam auf der falschen Straßenseite auf sie zugebraust. Überwältigend ungerührt lenkte Joseph den Mercedes auf den unbefestigten Randstreifen und beschleunigte, um von der Böschung wegzukommen. »Du hast also die Orchideen, die ein Vermögen gekostet haben müssen, einfach in den Papierkorb geschmissen und bist achselzuckend auf die Bühne. Das hast du toll gemacht! Herzlichen Glückwunsch!«
»Ich hab’ sie in Wasser gestellt.«
»Und worein hast du das Wasser getan?«
Die unerwartete Frage schärfte ihre Erinnerung. »In einen Farbtopf. Vormittags dient das Barrie nämlich als Kunstschule.«
»Du hast ein Gefäß gefunden, es mit Wasser gefüllt, die Orchideen ins Wasser gestellt. Gut. Und was für Gefühle haben dich dabei bewegt? Warst du beeindruckt? Aufgeregt?«
Irgendwie bekam sie seine Frage in den falschen Hals. »Ich habe einfach weitergespielt«, sagte sie und kicherte, ohne dass sie es wollte. »Wartete einfach ab, wer aufkreuzen würde.« Sie waren an einer Ampel stehen geblieben. Die Stille schuf ein neues Vertrautsein.
»Und das ›Ich liebe Dich‹?« wollte er wissen.
»Das ist doch Theater, oder? Jeder liebt jeden, allerdings, zwischendurch hat mir das ›unendlich‹ gefallen. Das verriet Klasse.« Es wurde grün, und sie fuhren weiter.
»Und du hast nicht daran gedacht, dir das Publikum anzusehen, ob da jemand war, den du erkanntest?«
»Dazu war keine Zeit.« »Und in der Pause?«
»Da habe ich raus gelinst, aber niemand entdeckt, den ich kannte.« »Und nach der Vorstellung, was hast du da gemacht?« »Da bin ich in meine Garderobe zurückgekehrt, hab’ mich umgezogen, ein bisschen getrödelt. Dachte: hol’s doch der Geier; und bin nach Hause.«
»Nach Hause - das heißt, ins Astral Commercial Hotel in der Nähe vom Bahnhof.«
Sie hatte es sich längst abgewöhnt, noch über irgend etwas erstaunt zu sein, was er sagte. »Ja, das Astral Commercial and Private Hotel«, stimmte sie zu. »In der Nähe vom Bahnhof.«
»Und die Orchideen?«
»Hab’ ich mit ins Hotel genommen.«
»Aber den Hausverwalter, Mr. Lemon, hast du nicht nach einer Beschreibung des Überbringers gefragt?«
»Das habe ich erst am nächsten Tag getan. Am selben Abend nicht mehr, nein.«
»Und was für eine Antwort hast du von Lemon bekommen, als du ihn fragtest?«
»Er sagte, ein Ausländer, aber was Solides. Ich erkundigte mich, wie alt etwa; er feixte und sagte, genau passend. Ich zerbrach mir den Kopf, ob ich einen Ausländer mit dem Anfangsbuchstaben M kannte, aber es fiel mir keiner ein.«
»In deiner ganzen privaten Menagerie kein einziger Ausländer mit dem Anfangsbuchstaben M? Da enttäuschst du mich aber.«
»Kein einziger.«
Beide lächelten flüchtig, sahen sich dabei aber nicht an. »So, Charlie, damit kommen wir zum zweiten Tag; eine Samstags-Matinee mit nachfolgender Abendvorstellung, wie üblich…«
»Und du warst da, nicht wahr, mein Lieber? Genau in der Mitte der ersten Reihe, in deinem hübschen roten Blazer, umgeben von lauter ungewaschenen Schulkindern, die dauernd husteten und aufs Klo wollten.«
Da ihr leichtfertiger Ton ihn irritierte, wandte er seine Aufmerksamkeit eine Zeitlang ganz der Straße zu, und als er seine Fragen wieder aufnahm, hatten die etwas so Ernstes, dass sich seine Augenbrauen zusammen schoben wie bei einem stirnrunzelnden Lehrer. »Mir wäre es lieb, wenn du mir mal genau die Gefühle beschreiben würdest, die dich bewegten, Charlie. Es ist Nachmittag. Der Zuschauerraum ist wegen der kümmerlichen Vorhänge halb in Tageslicht getaucht; wir haben weniger das Gefühl, im Theater zu sitzen als in einem großen Klassenzimmer, würde ich sagen. Ich sitze in der ersten Reihe; ich sehe durchaus ausländisch aus, benehme mich irgendwie auch wie ein Ausländer und trage ausländische Kleidung; inmitten der Kinder eine außerordentlich auffällige Erscheinung. Du hast Lemons Beschreibung, und außerdem lasse ich dich keinen Moment aus den Augen. Kommt dir nicht irgendwann der Verdacht, ich könnte dir die Orchideen geschickt haben, könnte der
sonderbare Fremde sein, der mit M unterschreibt und behauptet, dich unendlich zu lieben?«
»Selbstverständlich habe ich das getan. Ich wusste Bescheid.«
»Wieso? Hast du bei Lemon nachgefragt?«
»Das brauchte ich gar nicht. Ich wusste es einfach. Ich sah dich ja dasitzen und mich anhimmeln, und da dachte ich: ›Hallo, du bist es also. Wer immer du auch sein magst.‹ Und als dann nach der Matinee der Vorhang runterging und du auf deinem Platz sitzen bliebst und auch noch die Karte für die nächste Vorstellung vorzeigtest…«
»Woher weißt du, dass ich das getan habe? Wer hat dir das gesagt?«
Ach du, du bist doch genauso einer, dachte sie und verleibte ihrer Sammlung wieder eine hart erworbene Erkenntnis ein: wenn du kriegst, was du willst, bist du auf einmal ganz Mann und Misstrauen.
»Du hast das selbst gesagt. Die Welt ist klein an einem solchen Provinztheater. Da kriegt man nicht viele Orchideen -im Schnitt alle zehn Jahre einen Strauß -, und es gibt auch nicht viele Pfeffersäcke, die sich eine Vorstellung ein zweites Mal ansehen.« Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, und so fragte sie ihn: »War es langweilig, Joseph? Das Stück -meine ich? Es sich zweimal hintereinander anzusehen? Oder hat es dir zwischendurch sogar gefallen?«
»Es war der eintönigste Tag meines Lebens«, erwiderte er, ohne im geringsten zu zögern. Dann veränderte sich sein unbewegtes Gesicht und verzog sich zu seinem bisher schönsten Lächeln, so dass er für einen Augenblick wirklich so aussah, als sei er durch die Gitterstäbe geschlüpft, worin auch immer er gefangen war. »Allerdings, dich fand ich schon exzellent«, sagte er.
Diesmal erhob sie keinen Einwand gegen das Adjektiv, das er gewählt hatte. »Würdest du jetzt bitte den Wagen zu Schrott fahren, Joseph? Das wird mir gut tun. Hier will ich sterben.« Und noch ehe er sie davon abhalten konnte, hatte sie seine Hand ergriffen und drückte einen heftigen Kuss auf den Daumenknöchel.
Die Straße war gerade, aber voller Schlaglöcher; auf beiden Seiten waren Hügel und Bäume mit Mondstaub von einer Zementfabrik gepudert. Sie saßen in ihrer eigenen Kapsel, und die Nähe anderer sich bewegender Dinge machte ihre Welt nur um so inniger. Wieder kam sie überall zu ihm, in ihren Gedanken und in seiner Geschichte. Sie war ein Soldatenmädchen, das lernte, Soldat zu sein.
»Bitte, sag mir: abgesehen von den Orchideen - hast du noch andere Geschenke bekommen, als du am Barrie Theatre spieltest?«
»Die Schachtel«, sagte sie und erschauerte, bevor sie auch nur so getan hatte, als müsse sie überlegen.
»Was für eine Schachtel, bitte?«
Sie hatte die Frage erwartet, und schon spielte sie ihm die Angewiderte vor, weil sie annahm, dass er das von ihr erwartete. »Das war irgendso ein schlechter Spaß. Irgendso ein Lump schickte mir eine Schachtel ins Theater. Per Eilboten und Einschreiben.«
»Wann war das?« »Samstag. Am selben Tag, als du zur Matinee gekommen und bis zur Abendvorstellung geblieben bist.«
»Und was war in der Schachtel?«
»Nichts. Nur ein leeres Etui vom Juwelier. Einschreiben und dann leer.«
»Wie merkwürdig, sehr merkwürdig. Und die Anschrift - die Anschrift auf dem Päckchen? Hast du sie dir genauer angesehen?«
»Die war mit blauem Kugelschreiber geschrieben. In Blockbuchstaben.«
»Aber wenn es ein Einschreibepäckchen war, muss doch auch ein Absender draufgestanden haben.«
»Unleserlich. Sah aus wie Marden. Könnte aber auch Hordern gewesen sein. Irgendein Nottinghamer Hotel.« »Wo hast du es aufgemacht?«
»In meiner Garderobe - zwischen den Auftritten.«
»Allein?«
»Ja.«
»Und was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich dachte, jemand müsste einen Pik auf mich haben, wegen meiner politischen Ansichten. So was hatte ich ja schon öfter erlebt. Unflätige Briefe. Nigger-lover. Rote Pazifistensau, ‘ne Stinkbombe, die mir durchs Garderobenfenster reingeschmissen wurde. Ich dachte, sie käme von denen.«
»Hast du denn die leere Schachtel nicht in irgendeiner Weise mit den Orchideen in Verbindung gebracht?«
»Joseph, die Orchideen haben mir gefallen, du hast mir gefallen.«
Er hatte den Wagen zum Stehen gebracht. Auf irgendeinem Rastplatz mitten in einem Industriegebiet. Laster donnerten vorüber. Einen Moment dachte sie, er würde plötzlich alles auf den Kopf stellen und sich auf sie stürzen, so widersprüchlich und schwankend war die Spannung in ihr. Doch das tat er nicht. Statt dessen griff er in die Seitentasche an der Tür neben sich und reichte ihr einen dicken, eingeschriebenen Brief mit Siegellack auf der Verschlussklappe und etwas Hartem, Rechteckigem darin, so, wie sie ihn an jenem Tag erhalten hatte. Poststempel Nottingham, 25. Juni. Vorn ihr Name und die Adresse des Barrie Theatre, mit einem blauen Kugelschreiber geschrieben. Und hinten der unleserliche Krakel des Absenders, genauso wie damals.
»So, und jetzt machen wir die Fiktion daraus«, verkündete Joseph still, während sie den Umschlag umdrehte. »Auf die alte Realität stülpen wir die neue Fiktion.«
Sie war ihm zu nahe, um sich selbst zu trauen, und so würdigte sie ihn keiner Antwort.
»Der Tag ist hektisch verlaufen, wie es nun mal war. Du sitzt in der Garderobe, zwischen zwei Auftritten. Das Päckchen -noch ungeöffnet - wartet auf dich. Wie viel Zeit hast du noch, bis zu deinem Auftritt?« »Zehn Minuten. Vielleicht auch weniger.« »Sehr gut. Und jetzt mach das Päckchen auf.«
Sie sah ihn verstohlen an, doch er starrte unbewegt geradeaus, hinüber zum feindlichen Horizont. Sie senkte den Blick auf den Umschlag, sah Joseph nochmals an, schob einen Finger unter die Lasche und riss sie auf. Das gleiche rote Schmuckkästchen von einem Juwelier, aber schwerer. Der kleine weiße Umschlag, unverschlossen, eine schlichte weiße Karte darin. Für Johanna, den Geist meiner Freiheit, las sie. Du bist phantastisch. Ich liebe Dich! Die Handschrift unverkennbar. Doch anstelle von M diesmal die Unterschrift Michel in großen Buchstaben und die l-Schleife am Ende zurückgebogen, wie um die Bedeutung des Namens zu unterstreichen. Sie nahm das Etui und spürte, wie sich sanft und aufmunternd etwas darin bewegte.
»Meine Fresse!« sagte sie witzig, doch gelang es ihr nicht, die Spannung in ihr oder in ihm zu vertreiben. »Soll ich’s aufmachen? Was ist es denn?«
»Woher soll ich das wissen? Tu, was du tun würdest.« Sie klappte den Deckel hoch. Ein schweres goldenes Armband, das mit blauen Steinen besetzt war, lag auf dem Seidenfutter. »Himmel!« entfuhr es ihr leise. Dann ließ sie den Deckel mit einem kleinen Laut wieder zuschnappen. »Was muss ich denn tun, um das zu verdienen?«
»Na schön, das ist also deine erste Reaktion«, sagte Joseph augenblicklich. »Du wirfst einen Blick drauf, stößt einen Fluch aus und klappst das Etui wieder zu. Präg dir das ein! Und zwar genau. So hast du reagiert, von jetzt an, immer.«
Sie öffnete das Kästchen wieder, nahm das Armband vorsichtig heraus und wog es auf ihrer Handfläche. Freilich hatte sie keinerlei Erfahrung mit Schmuck, außer mit dem Talmi, den sie manchmal auf der Bühne trug. »Ist es echt?« fragte sie.
»Leider hast du im Moment keine Fachleute bei dir, die dich beraten könnten. Entscheide selbst.« »Es ist alt«, erklärte sie schließlich.
»Sehr gut, du bist zu dem Schluss gekommen, dass es alt ist.«
»Und schwer.«
»Alt und schwer. Jedenfalls nicht aus einem Knallbonbon, auch kein Kinderkram, sondern ein solides Schmuckstück. Was tust du jetzt?«
Seine Ungeduld war wie ein kleiner Keil zwischen ihnen: sie so nachdenklich und verstört, er so praktisch. Sie besah sich eingehend die Fassungen und den Goldstempel, doch auch von Goldstempeln verstand sie nichts. Sie kratzte leicht mit dem Fingernagel am Metall. Es fühlte sich ölig und weich an.
»Du hast sehr wenig Zeit, Charlie. In einer Minute und dreißig Sekunden musst du auf der Bühne stehen. Was machst du? Lässt du es in deiner Garderobe liegen?«
»Du lieber Gott, nein.«
»Du wirst schon aufgerufen. Du musst dich auf die Socken machen, Charlie. Du musst zu einem Entschluss kommen.« »Hör auf, mich zu drängeln. Ich geb es Millie, um es für mich aufzuheben. Millie ist meine Ersatzspielerin, die auch souffliert.«
Dieser Vorschlag passte ihm gar nicht. »Du hast aber kein Vertrauen zu ihr.«
Sie war der Verzweiflung nahe. »Ich verstecke es im Klo«, sagte sie. »Hinter dem Wasserkasten.«
»Das ist zu nahe liegend.«
»Im Papierkorb. Lege etwas darüber.«
»Jemand könnte reinkommen und ihn leeren. Überleg doch!«
»Joseph, lass mich... Ich versteck’ es hinter den Malsachen! Ja, das ist richtig. Oben auf einem der Regalbretter. Da hat seit Jahren keiner mehr Staub gewischt.«
»Ausgezeichnet. Du legst es ganz hinten auf eines der Regale, und dann machst du, dass du rauskommst, um deinen Platz einzunehmen. In allerletzter Minute. Charlie, Charlie, wo hast du gesteckt? Der Vorhang geht auf. Ja?«
»Okay «, sagte sie und stieß eine ungeheure Menge Puste aus. »Was für Gefühle bewegen dich? Jetzt. Was dieses Armband betrifft - und denjenigen, der es dir geschenkt hat.«
»Nun ja - ich bin erschrocken - stimmt’s nicht?«
»Warum solltest du erschrocken sein?«
»Hm, ich kann es nicht annehmen - ich meine, das kostet -es ist wertvoll.«
»Aber du hast es angenommen. Du hast den Empfang durch deine Unterschrift bestätigt, und jetzt hast du es versteckt.«
»Aber bloß bis nach der Vorstellung.«
»Und dann?«
»Na ja, ich geb’s zurück. Das würde ich doch tun, oder?«
Seine Anspannung ließ etwas nach, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ob er endlich seine These bewiesen hätte. »Und bis dahin - wie kommst du dir da vor?«
»Überwältigt. Erschüttert. Was willst du denn, wie ich mir vorkomme?« »Er ist nur wenige Meter von dir entfernt, Charlie. Er hält die Augen leidenschaftlich auf dich gerichtet. Jetzt sieht er sich die Vorstellung schon zum dritten Mal an. Er hat dir Orchideen und Schmuck geschickt und dir zweimal gesagt, dass er dich liebt. Einmal normal, einmal unendlich. Er ist schön, viel schöner als ich.«
In ihrer Verwirrung übersah sie vorläufig, wie er von Mal zu Mal mit größerer Intensität ihren Freier beschrieb. »Dann spiele ich eben, was das Zeug hält, und gebe mein Bestes«, sagte sie und kam sich dabei ebenso gefangen wie töricht vor. »Aber das bedeutet noch lange nicht, dass er Satz und Partie gewonnen hätte«, fauchte sie.
Vorsichtig, als wolle er sie nicht stören, ließ Joseph den Motor wieder an. Die Helligkeit war geschwunden, der Verkehr hatte sich gelichtet und setzte sich nur noch aus gelegentlichen Nachzüglern zusammen. Sie fuhren am Rand des Golfs von Korinth entlang. Eine Reihe von schäbigen Tankern strebte -wie vom Nachglühen der untergegangenen Sonne magnetisch angezogen - in westlicher Richtung. Über ihnen kam dunkel im Zwielicht eine Bergkette zum Vorschein. Die Straße gabelte sich, sie begannen die lange, sich Haarnadelkurve um Haarnadelkurve hinziehende Fahrt hinauf in den immer leerer werdenden Himmel.
»Weißt du noch, wie ich für dich geklatscht habe?« fragte Joseph. »Weißt du noch, wie ich dagestanden und einen Vorhang nach dem anderen für dich applaudiert habe?«
»Ja, Joseph, ich erinnere mich.« Aber sie traute sich nicht, es laut zu sagen.
»Nun denn - dann erinnere dich jetzt auch an das Armband.« Sie tat es. Ein Akt der Phantasie, nur für ihn - eine Gegengabe für ihren unbekannten schönen Wohltäter. Der Epilog war gesprochen, sie trat immer wieder vor den Vorhang, doch sobald sie nicht mehr anwesend sein musste, eilte sie in ihre Garderobe, holte das Armband aus dem Versteck, schminkte sich in Rekordzeit ab und schlüpfte in ihre normale Kleidung, um so schnell wie möglich zu ihm zu kommen. Doch nachdem sie sich bislang stillschweigend mit Josephs Version des Geschehens einverstanden erklärt hatte, zuckte Charlie jetzt zurück als ihr verspätet plötzlich einfiel, was sich gehörte. »Moment mal - bleib dran - warte doch - wieso kommt er eigentlich nicht zu mir? Er macht doch den ganzen Trubel. Warum bleibe ich nicht einfach in meiner Garderobe sitzen und warte darauf, dass er aufkreuzt, statt hier draußen im Gebüsch rumzulaufen und ihn zu suchen?«
»Vielleicht hat er nicht den Mut dazu. Du flößt ihm zuviel Hochachtung, zuviel Ehrfurcht ein - warum nicht? Du hast ihn schließlich umgehauen.«
»Trotzdem - warum bleibe ich nicht sitzen und warte ab? Jedenfalls eine Zeitlang?«
»Charlie, was hast du vor? Könntest du mir bitte sagen, was du in Gedanken zu ihm sagst?«
»Ich sage: ›Nimm das zurück - ich kann es nicht annehmen‹ «, erwiderte sie tugendhaft.
»Na schön. Dann riskierst du aber ernstlich, dass er auf Nimmerwiedersehen in der Nacht verschwindet - und du sitzt mit seinem wertvollen Geschenk da, das du in aller Aufrichtigkeit nicht annehmen möchtest.«
Widerwillig erklärte sie sich bereit loszugehen und ihn zu suchen.
»Aber wie - wo willst du ihn finden? Wo suchst du zuerst?« wollte Joseph wissen.
Die Straße war leer, doch er fuhr gemächlich, um zu gewährleisten, dass die Gegenwart sich so wenig wie möglich in die Rekonstruktion der Vergangenheit einmischte.
»Ich würde hintenrum laufen«, sagte sie, ehe sie es sich richtig überlegt hatte. »Durch den Hintereingang, auf die Straße, um die Ecke vom Theater und auf das Foyer zu. Ich erwische ihn auf dem Fußweg, gerade, wie er herauskommt.«
»Warum nicht durch das Theater?« »Weil ich mich dort durch die Menschenrassen kämpfen müsste, deshalb. Bis ich endlich zu ihm durchgedrungen wäre, wäre er längst fort.«
Er dachte darüber nach. »Dann brauchst du deinen Regenmantel«, sagte er.
Wieder hatte er recht. Sie hatte vergessen, wie es an diesem Abend in Nottingham gegossen hatte, ein Wolkenbruch nach dem anderen, die ganze Vorstellung über. Sie begann noch einmal von vorn. Nachdem sie sich wie der Blitz umgezogen hatte, schlüpfte sie in ihren neuen Regenmantel - den langen französischen, aus dem Ausverkauf von Liberty - verknotete den Gürtel, schoss in den strömenden Regen hinaus, die Straße hinunter, um die Ecke herum auf den Haupteingang des Theaters zu...
»Nur um festzustellen, dass die Hälfte der Zuschauer sich unter dem Vordach drängt und darauf wartet, dass der Regen nachlässt«, unterbrach Joseph. »Warum lachst du?«
»Weil ich auch noch mein gelbes seidenes Kopftuch umbinden muss. Du erinnerst dich doch - das von Jaeger, das ich durch den Werbespot im Fernsehen bekommen habe.«
»Wir halten also außerdem fest, dass du selbst in der Eile, ihn loszuwerden, nicht dein gelbes Kopftuch vergisst. Also schön. In Regenmantel und gelbem Seidenkopftuch sprintet Charlie auf der Suche nach ihrem feurigen Liebhaber durch den Regen. Sie erreicht das überfüllte Foyer - vielleicht ruft sie: ›Michel! Michel!‹ Ja? Wunderschön. Nur ruft sie vergeblich. Michel ist nicht da. Was tust du jetzt?«
»Stammt der Text von dir, Joseph?«
»Ist doch egal.«
»Kehre ich in meine Garderobe zurück?«
»Kommst du denn gar nicht auf die Idee, im Zuschauerraum nachzusehen?«
»Aber natürlich, verdammt - ja, natürlich.«
»Welchen Eingang benutzt du?« »Den Eingang vom Parkett. Da hast du schließlich gesessen.«
»Wo Michel gesessen hat. Du betrittst den Zuschauerraum also durch den Eingang zum Parkett, versetzt der Querstange der Tür einen Stoß. Hurra, sie gibt nach. Mr. Lemon hat noch nicht abgeschlossen. Du betrittst den leeren Zuschauerraum, schreitest langsam den Gang hinab.«
»Und da ist er«, sagte sie leise. »Himmel, ist das kitschig!«
»Aber es haut hin.«
»Oh ja, hinhauen tut es schon.«
»Denn er ist da, sitzt immer noch auf demselben Platz, erste Reihe Mitte. Und starrt auf den Vorhang, als ob er ihn dadurch bewegen könnte, nochmals aufzugehen und ihm den Blick auf die Erscheinung seiner Johanna freizugeben, den Geist seiner Freiheit, die Frau, die er unendlich liebt.«
»Ich finde das schrecklich«, brummte Charlie, doch er ging nicht darauf ein.
»Sitzt auf demselben Platz, auf dem er nun schon seit sieben Stunden gesessen hat.«
Ich möchte nach Hause, dachte sie. Lange schlafen, ganz allein, im Astral Commercial and Private. Wie vielen Schicksalen kann ein Mädchen an einem einzigen Tag begegnen? Denn sie konnte nicht mehr länger jenen Unterton von Selbstsicherheit und wachsender Zudringlichkeit überhören, den er hatte, wenn er ihren neuen Verehrer beschrieb.
»Du zauderst, dann rufst du seinen Namen. ›Michel!‹ Einen anderen Namen kennst du ja nicht. Er dreht sich um und sieht dich an, aber er steht nicht auf. Weder lächelt er, noch begrüßt er dich oder entfaltet auf irgendeine Weise seinen umwerfenden Charme.«
»Was tut er dann, der Lump?«
»Nichts. Er starrt dich mit seinen tiefen leidenschaftlichen Augen an, fordert dich heraus zu sprechen. Vielleicht hältst du ihn für arrogant, vielleicht auch für romantisch, aber er hat nichts Gewöhnliches, ist auf keinen Fall schüchtern oder bringt irgendwelche Entschuldigungen vor. Er ist gekommen, weil er Anspruch auf dich erhebt. Er ist jung, kosmopolitisch, gut angezogen. Ein Mann, mit Geld, der viel unterwegs ist, jemand, der keinerlei Verlegenheit kennt. Schön.« Er ging zur ersten Person über. »Du kommst den Mittelgang herunter auf mich zu, merkst schon, dass die Szene sich nicht so entwickelt, wie du erwartet hast. Anscheinend hast du die Erklärungen abzugeben, nicht ich. Du holst das Armband aus der Tasche. Du reichst es mir. Ich mache keine Bewegung. Steht dir gut, wie der Regen von dir runtertropft.«
Die gewundene Straße führte sie hügelan. Seine gebieterische Stimme in Verbindung mit dem elektrisierenden Rhythmus der ständig aufeinander folgenden Kurven trieb sie weiter und immer weiter ins Labyrinth seiner Geschichte hinein.
»Du sagst etwas. Was sagst du?« Da von ihr nichts kam, antwortete er an ihrer Stelle. »›Ich kenne dich nicht. Danke, Michel, ich fühle mich geehrt. Aber ich kenne dich nicht und kann dieses Geschenk unmöglich annehmen.‹ Würdest du das sagen; Ja, das würdest du wohl. Nur vielleicht besser.«
Sie hörte ihn kaum. Sie stand im Zuschauerraum vor ihm, hielt ihm das Etui hin, blickte ihm in die dunklen Augen. Und meine neuen Stiefel, dachte sie; die langen braunen, die ich mir zu Weihnachten gekauft habe. Vom Regen ruiniert, aber was soll’s? Joseph spann sein Märchen weiter aus. »Ich sage immer noch kein Wort. Deine Bühnenerfahrung sagt dir, dass nichts besser geeignet ist, eine Beziehung herzustellen, als Schweigen. Wenn der unselige Kerl nicht den Mund aufmacht, was sollst du tun? Dir bleibt gar nichts anderes übrig, als deinerseits wieder das Wort zu ergreifen. Erzähl mir, was du diesmal zu mir sagst.«
Eine gewöhnliche Schüchternheit lag im Widerstreit mit ihrer sich regenden Phantasie. »Ich frage ihn, wer er ist.«
»Ich heiße Michel.«
»Das weiß ich ja schon. Michel und?«
»Keine Antwort.« »Ich frage dich, was du in Nottingham machst.«
»Mich in dich verlieben. Weiter.«
»Himmel, Joseph...«
»Weiter!«
»Das kann er doch nicht zu mir sagen!«
»Dann sag ihm das.«
»Ich dringe in ihn. Flehe ihn an.«
»Dann lass hören, wie du das machst - er wartet auf dich, Charlie! Sprich mit ihm.« »Ich würde sagen…« »Ja?«
»›Hör zu Michel…das ist zwar sehr nett von dir…und ich fühle mich auch geehrt. Aber tut mir leid - es ist einfach zuviel.‹ «
Er war enttäuscht. »Aber Charlie, das musst du schon besser machen«, hielt er ihr streng vor. »Er ist Araber- auch, wenn du das bis jetzt noch nicht weißt, du ahnst es doch -, und du weist sein Geschenk zurück. Da musst du dich schon ein bisschen mehr anstrengen.«
»›Es wäre dir gegenüber nicht fair, Michel. Es kommt öfter vor, dass Menschen sich wegen Schauspielerinnen - oder Schauspielern - in was hineinsteigern. So was kommt alle Tage vor. Aber das ist doch noch kein Grund, sich zu ruinieren…nur für eine…Illusion‹ «
»Gut. Weiter!«
Es ging ihr jetzt leichter von den Lippen. Sie hasste, dass er sie einschüchterte und tyrannisierte, so wie sie das bei jedem Regisseur hasste; allerdings, die Wirkung war nicht zu leugnen. »›Bei der Schauspielerei geht es doch um nichts anderes, Michel. Illusionen. Die Zuschauer sitzen unten und möchten sich verzaubern lassen. Und wir Schauspieler stehen oben und möchten euch verzaubern. Diesmal ist es gelungen. Aber deshalb kann ich dies noch lange nicht annehmen. Es ist wunderschön.‹ « Sie meinte das Armband. »›Viel zu schön. Ich kann überhaupt nichts annehmen. Wir haben euch genarrt. Weiter ist doch nichts geschehen. Theater ist ein großer Schwindel, Michel. Verstehst du, was das bedeutet? Schwindel? Es wird dir was vorgemacht.‹ «
»Ich sage immer noch nichts.«
»Dann bring ihn eben dazu.«
»Warum? Geht dir jetzt schon die Überzeugungskraft aus? Fühlst du dich denn nicht für mich verantwortlich? Ein junger Mann - ein so hübscher Kerl -, der Geld für Orchideen und teuren Schmuck rauswirft?«
»Selbstverständlich tu’ ich das. Das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Dann bewahre mich davor.« Er war ungeduldig, ließ sich nicht davon abbringen. »Rette mich vor meiner Verblendung.«
»Das versuche ich ja!«
»Dieses Armband hat mich viele hundert Pfund gekostet -sogar du kannst dir das denken. Vielleicht sogar Tausende. Vielleicht habe ich es auch für dich gestohlen. Jemand dafür umgebracht. Mein Erbe verpfändet. Alles für dich. Ich bin wie berauscht, Charlie! Erbarm dich! Üb deine Macht aus.«
Im Geiste hatte Charlie sich auf den Platz neben Michel gesetzt. Die Hände im Schoß gefaltet, lehnte sie sich vor, um ihm ernst ins Gewissen zu reden. Sie war wie eine Krankenschwester zu ihm, wie eine Mutter. Eine Freundin.
»Ich erkläre ihm, dass er enttäuscht wäre, wenn er mich in Wirklichkeit kennen würde.«
»Die genauen Worte, bitte.«
Sie holte tief Atem und wagte den Sprung: »›Schau, Michel, ich bin ein ganz gewöhnliches Mädchen. Ich hab’ zerrissene Schlüpfer an, und mein Bankkonto ist überzogen, vor allem aber bin ich keine Jeanne d’Arc, glaub mir. Ich bin weder Jungfrau noch Soldat, und der liebe Gott und ich haben kein Wort mehr miteinander gewechselt, seit sie mich aus der Schule geworfen haben, weil‹ - das werde ich jetzt nicht sagen - ›ich Charlie bin, ein nichtswürdiges kleines europäisches Luder.‹ «
»Ausgezeichnet. Weiter!«
»›Michel, du musst dir das aus dem Kopf schlagen. Ich meine, ich tu’, was ich kann, um dir dabei zu helfen, einverstanden? Also, nimm dies hier zurück, behalt dein Geld und deine Illusionen - und vielen Dank. Ehrlich, vielen, vielen Dank. Aus und Abgang.‹ «
»Aber du willst doch gar nicht, dass er seine Illusionen behält«, wandte Joseph trocken ein. »Oder doch?« »Schön, soll er seine Scheiß-Illusionen aufgeben!«
»Und wie geht es nun zu Ende?«
»So wie eben. Ich hab’ das Armband auf den Sitz neben ihm gelegt und bin raus. Vielen Dank, Welt, und Wiedersehn! Wenn ich mich beeile, erwische ich vielleicht noch den Bus und komme gerade noch rechtzeitig zum Gummi-Huhn im Astral.«
Joseph war erschrocken. Sein Gesichtsausdruck verriet das, und seine Linke ließ in einer unbezahlbaren, wenn auch knappen, flehentlichen Geste das Lenkrad los.
»Aber Charlie, wie kannst du nur? Bist du dir denn nicht darüber im klaren, dass du mich vielleicht dazu bringst, Selbstmord zu begehen? Oder die ganze Nacht durch die verregneten Nottinghamer Straßen zu irren? Allein? Während du neben meinen Orchideen und meinem Briefchen in der Wärme deines eleganten Hotels liegst?«
»Elegant! Himmel, selbst die Scheiß-Flöhe sind klamm.«
»Hast du denn überhaupt kein Verantwortungsbewusstsein? Ausgerechnet du, die du immer für underdogs eintrittst -, zeigst keine Verantwortung einem Mann gegenüber, den du mit deiner Schönheit, deiner Begabung und deiner revolutionären Leidenschaft becircst hast?«
Sie versuchte, ihn zu zügeln, doch er gab ihr keine Gelegenheit dazu.
»Du hast kein Herz, Charlie. Andere könnten in diesem Augenblick eine Art von raffiniertem Verführer in Michel sehen. Du nicht. Du glaubst an den Menschen. Und genau das tust du auch heute abend bei Michel. Ohne, dass du an dich selbst denkst, hat er es dir aufrichtig angetan.«
Am Horizont vor ihnen war bei ihrer Fahrt hinauf ein kleines Dorf auf einer Anhöhe zu erkennen. Sie sah die Glühlampen einer Taverne neben der Straße baumeln.
»Aber egal, was du auch in diesem Augenblick sagst, ist bedeutungslos, weil Michel sich endlich einen Ruck gibt und dich anspricht«, nahm Joseph mit einem raschen, abschätzenden Seitenblick den Faden wieder auf. »Alles andere als schüchtern oder gehemmt, spricht er dich mit seiner weichen und reizvollen ausländischen Aussprache - halb französisch, halb etwas anderes - an. Er will sich nicht mit dir streiten, sagt er, du bist alles, was er sich je erträumt hat, er möchte dein Geliebter werden, möglichst noch heute nacht, und er nennt dich Johanna, obwohl du ihm sagst, dass du Charlie bist. Wenn du mit ihm essen gingst und wenn du ihn nach dem Essen immer noch nicht wolltest, werde er es sich überlegen, ob er das Armband zurücknehme. Nein, sagst du, er müsse es jetzt gleich zurücknehmen; du hättest schon einen Liebhaber, und außerdem, sei doch nicht lächerlich - wo will man denn in Nottingham an einem völlig verregneten Samstag abend um halb elf noch was zu essen bekommen? …Das würdest du doch sagen, oder? Es stimmt schließlich, oder?«
»Nottingham ist das letzte Kaff«, räumte sie ein, weigerte sich jedoch, ihn anzusehen.
»Und ein richtiges Abendessen - du würdest noch ausdrücklich sagen, dass sei ein unmöglicher Traum?« »Entweder chinesisch oder fish and chips.«
»Trotzdem hast du ihm ein gefährliches Zugeständnis gemacht.« »Wieso?« wollte sie wissen. Sie war gekränkt.
»Du hast einen praktischen Einwand erhoben. ›Wir können nicht zusammen zu Abend essen, weil es kein Restaurant gibt.‹ Da könntest du genauso gut sagen, ihr könntet nicht miteinander schlafen, weil du kein Bett hast. Michel spürt das. Er fegt dein Zögern beiseite. Er kennt ein Lokal, hat schon alles arrangiert. Also. Wir können essen. Warum nicht?«
Er war von der Straße abgebogen und hatte den Wagen vor der Taverne auf einem Parkplatz zum Stehen gebracht. Wie benommen von seinem bewussten Sprung aus der erdichteten Vergangenheit in die Gegenwart, widersinnigerweise freudig davon bewegt, dass er ihr so zugesetzt hatte, und darüber erleichtert, dass Michel sie schließlich doch nicht hatte gehen lassen, blieb Charlie sitzen. Und Joseph auch. Sie wandte sich zu ihm, und durch das bunte Märchenlicht, das von draußen hereinfiel, konnte sie erkennen, worauf sein Blick gerichtet war. Er ruhte auf ihren Händen, die sie immer noch übereinander gelegt im Schoß liegen hatte, die Rechte oben. Soweit sie es in der Märchenbeleuchtung erkennen konnte, war sein Gesicht unbewegt und ohne jeden Ausdruck. Er streckte die Hand aus, packte blitzschnell und mit geradezu chirurgenhafter Sicherheit ihr rechtes Handgelenk, hob es in die Höhe, enthüllte das Gelenk darunter und das goldene Armband, das im Dunkeln daran blinkte.
»Nun, nun, ich muss dir gratulieren«, meinte er ungerührt. »Ihr Engländerinnen verliert keine Zeit.«
Zornig entriss sie ihm die Hand. »Was hast du denn?« versetzte sie bissig. »Wir sind wohl eifersüchtig, was?«
Aber sie konnte ihn nicht treffen. Er hatte so ein Gesicht, auf dem man keine Spuren hinterlassen konnte. »Wer bist du?« fragte sie hoffnungslos, als sie ihm hineinfolgte. Ihm? Oder dir? Oder niemandem?