Kapitel 17
Truppe nannte sich ›Heretics‹ , und die Tournee begann in Exeter mit einer Vorstellung vor einer Gemeinde, die geradenwegs aus der Kathedrale zu kommen schien: Frauen in malvenfarbener Halbtrauer, alte Priester, die dauernd drauf und dran waren, in Tränen auszubrechen. Wenn es keine Matinee gab, trieb das Ensemble sich gähnend in der Stadt herum, und abends, nach der Vorstellung, tranken sie mit ernsten Kunstjüngern Wein und aßen Käse, denn es gehörte einfach dazu, Glasperlen mit den Eingeborenen zu tauschen.
Von Exeter waren sie nach Plymouth weitergefahren, wo sie im Marine-Stützpunkt vor völlig verwirrten jungen Offizieren spielten, die sich mit der Frage herumquälten, ob Kulissenschiebern vorübergehend der Status von Gentlemen zuerkannt und damit Zutritt zu ihrer Messe gewährt werden könne. Doch sowohl Exeter als auch Plymouth waren Stätten der Ausgelassenheit gewesen, wo es hoch hergegangen war im Vergleich zu dieser tropfnassen, granitgrauen, tief unten in Cornwall gelegenen Bergarbeiter-Stadt mit ihren engen Gassen, durch die der von See kommende Nebel wallte und wo die verkrüppelten Bäume durch den ständigen Wind alle einen Buckel hatten. Das Ensemble war in einem halben Dutzend Privatpensionen untergebracht worden. Charlie hatte das Glück, in einer vollkommen von Hortensien umstandenen Insel mit Schiefergiebeln untergekommen zu sein, wo das Geratter der nach London fahrenden Züge ihr im Bett das Gefühl gab, eine Schiffbrüchige zu sein, die durch den Anblick in der Ferne vorüberfahrender Schiffe zur Verzweiflung getrieben wurde. Als Theater diente ihnen ein in einer Sporthalle aufgeschlagenes Gerüst, von dessen knarrender Bühne man das Chlor des Schwimmbeckens riechen und durch die Wand den schmatzenden Aufprall von Squash-Bällen hören konnte. Ihr Publikum war eine Kopftuch-und-Eintopf-Brigade, deren verschwiemelte, neidische Augen verrieten, dass sie es besser machen würden als die Schauspieler, sollten sie je so tief sinken. Ihre Garderobe schließlich war ein DamenUmkleideraum, und dorthin brachte man ihr die Orchideen - gerade als sie, zehn Minuten vor dem Auftritt, dabei war, sich zu schminken.
Zuerst erblickte sie sie in dem langen Spiegel überm Waschbecken, wie sie - bis zum Blütenansatz in feuchtes weißes Seidenpapier eingewickelt - durch die Tür hereinschwebten. Sie sah sie zögern, dann unsicher weiter auf sie zukommen. Sie jedoch fuhr fort, sich zu schminken, als hätte sie noch nie im Leben eine Orchidee gesehen. Ein Stengel, der wie ein in Papier gewickeltes Baby von einer fünfzigjährigen cornischen Vestalin namens Val mit schwarzen Zöpfen und einem flachen, von niemand bemerkten Lächeln auf dem Arm getragen wurde. Braungold.
»Sie müssen die schöne Rosalinde sein«, sagte Val schüchtern. Ein feindseliges Schweigen breitete sich aus, und die gesamte weibliche Hälfte des Ensembles genoss Vals Bedeutungslosigkeit. Es war der Zeitpunkt, da Schauspieler am allernervösesten und in sich gekehrtesten sind.
»Ich bin die Rosalinde«, bestätigte ihr Charlie, ohne ihr weiterzuhelfen. »Warum?« Und begann mit dem Eyeliner, um zu zeigen, dass es ihr recht gleichgültig sei, wie die Antwort ausfiel. Mit einer mutigen Geste legte Val die Orchideen in das Waschbecken und trippelte hinaus, während Charlie für alle, die sehen wollten, den Briefumschlag zur Hand nahm. Für Fräulein Rosalinde. Unenglische Handschrift, blauer Kugelschreiber statt schwarzer Tinte. Im Umschlag eine ganz und gar unenglische Visitenkarte auf Hochglanz. Der Name nicht gedruckt, sondern in spitzen, erhabenen, aber farblosen Kursiv-Großbuchstaben. ANTON MESTERBEIN, GENF. Darunter nur ein einziges Wort: Gerechtigkeit. Sonst keine Nachricht, kein »Johanna, Geist meiner Freiheit«. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die andere Augenbraue, war sehr sorgfältig, als ob ihre Braue das Allerwichtigste auf Erden wäre. »Wer ist es denn, Chas?« fragte eine ländliche Schäferin am Nachbarbecken. Sie kam gerade aus der Schule, geistige Reife etwa wie bei einer Fünfzehnjährigen.
Charlie konzentrierte sich ganz auf ihr Spiegelbild und betrachtete kritisch ihr Werk. »Die müssen doch ‘n Vermögen gekostet haben, Chas, oder?« sagte die Schäferin.
»‘n Vermögen gekostet haben, Chas’«, äffte Charlie nach. Von ihm!
Eine Nachricht von ihm!
Aber warum ist er dann nicht hier? Und warum trägt das Kärtchen nicht seine Handschrift?
Traue keinem, hatte Michel sie gewarnt. Sei aber besonders misstrauisch, wenn jemand behauptet, mich zu kennen.
Eine Falle! Die Bullen! Sie sind dahinter gekommen, wer den Wagen durch Jugoslawien gefahren hat. Sie benutzen mich, um meinen Geliebten in die Falle zu locken.
Michel, Michel! Geliebter, mein Leben - sag, was soll ich tun? Sie hörte, wie ihr Name aufgerufen wurde: »Rosalinde - wo, zum Teufel, steckt Charlie? Charlie, verdammt noch mal!« Auf dem Korridor machte eine Gruppe von Schwimmern mit Handtüchern um den Hals beim Anblick einer rothaarigen Dame, die in einem fadenscheinigen elisabethanischen Fummel aus dem Umkleideraum kam, ausdruckslos-starre Gesichter.
Irgendwie spielte sie. Vielleicht machte sie es sogar gut. In der Pause sah der Regisseur, ein mönchisches Wesen, das sie Bruder Mycroft nannten, sie sonderbar an und fragte, ob sie’s »nicht ein bisschen runterschrauben« könne, und sie versprach ihm betreten, es zu tun.
Doch sie hatte ihn kaum gehört: sie war vollauf damit beschäftigt, die halbleeren Sitzreihen abzusuchen in der Hoffnung, einen roten Blazer zu entdecken.
Vergebens.
Sie sah andere Gesichter: Rachels und Dimitris, zum Beispiel - erkannte sie jedoch nicht. Er ist nicht da, dachte sie verzweifelt. Das Ganze ist ein gemeiner Trick. Es ist die Polizei.
Im Umkleideraum zog sie sich rasch um, band sich das weiße Kopftuch um und trödelte dort herum, bis der Hauswart sie hinauswarf. Im Foyer, wo sie wie ein weißköpfiges Gespenst unter den heimziehenden Sportlern herumstand, wartete sie weiter und drückte sich die Orchideen an die Brust. Eine alte Dame erkundigte sich bei ihr, ob sie sie selbst gezogen habe. Ein Schüler wollte ein Autogramm. Die Schäferin zupfte sie am Ärmel: »Chas - die Party, um alles auf der Welt - Val sucht dich überall.«
Der Haupteingang der Sporthalle wurde hinter ihr zugeworfen, sie trat in die Nachtluft hinaus und wäre fast umgefallen, als der Sturmwind sie mit aller Macht anfiel. Mühselig kämpfte sie sich bis zu ihrem Auto durch, schloss auf, legte die Orchideen auf den Beifahrersitz und zog dann den Wagenschlag zu. Erst wollte der Motor nicht anspringen, und als er es schließlich tat, raste er wie ein Pferd los, das in den heimatlichen Stall will. Als sie die Auffahrt zur Hauptstraße hinunter donnerte, sah sie im Spiegel die Scheinwerfer eines Wagens, der hinter ihr herausfuhr und ihr dann in gleich bleibender Entfernung bis zu ihrer Pension folgte. Sie parkte und hörte, wie derselbe Wind an den Hortensien zerrte. Sie zog den Mantel fest um sich und lief dann, die Orchideen unterm Mantel, rasch auf den Eingang zu. Vier Stufen führten hinauf, und sie zählte sie zweimal - einmal, als sie hinaufsprang, und das zweite Mal, während sie keuchend an der Rezeption stand und jemand mit einem leichten und betonten Trippelschritt hinter ihr herkam. Gäste waren nirgends zu sehen, weder im Aufenthaltsraum noch in der Halle. Der einzig Überlebende war Humphrey, ein Dickens’scher Fettsack, der den Nachtportier spielte. »Nicht sechs, Humph«, sagte sie aufgedreht, als er nach dem Schlüssel suchte. »Sechzehn, mein Bester. Oberste Reihe. Und ein Liebesbrief für mich ist auch da; nicht dass Sie ihn einer anderen geben.«
In der Hoffnung, er komme von Michel, nahm sie das zusammengefaltete Stück Papier von ihm entgegen, und ihr war die unterdrückte Enttäuschung anzumerken, als sie feststellte, dass er nur von ihrer Schwester kam und lautete: »Toi-toi-toi für die Aufführung heute abend« - Josephs Methode, ihr zuzuflüstern: »Wir sind bei dir«, aber so leise, dass sie es kaum hörte. Die Tür zur Halle öffnete sich und schloss sich hinter ihr. Über den
Teppich der Halle kamen die Schritte eines Mannes auf sie zu. Sie gestattete sich einen raschen Blick auf ihn, falls es Michel war. Doch er war es nicht, wie ihr enttäuschter Gesichtsausdruck zeigte. Er war jemand vom Rest der Welt und für sie zu nichts nutze. Ein schlanker, gefährlich-friedlicher junger Mann mit dunklen, kein Wässerchen trübenden Augen. Er trug einen braunen Gabardine-Trenchcoat mit militärischen Schulterklappen, die den Zivilisten-Schultern Breite verleihen sollten. Und einen braunen Schlips, passend zur Augenfarbe, die wiederum zum Trenchcoat passte. Durchaus nicht ein Mann der Gerechtigkeit, zu diesem Schluss kam sie - eher der verweigerten Gerechtigkeit. Ein vierzigjähriger Gabardine-Junge, der frühzeitig seiner Gerechtigkeit beraubt worden war.
»Miss Charlie?«
Und ein kleiner, überfütterter Mund in einem blassen Kinnbereich. »Ich möchte Ihnen Grüße von unserem gemeinsamen Bekannten Michel überbringen, Miss Charlie.«
Charlies Gesicht hatte sich verhärtet, wie bei jemand, der sich gegen eine Bestrafung wappnet. »Michel wer?« fragte sie -und sah, wie nichts in ihm sich rührte, was wiederum sie ganz still werden ließ, so wie wir vor Bildern und Plastiken und regungslosen Polizisten still werden.
»Michel aus Nottingham, Miss Charlie.« Der Schweizer Tonfall bekümmert und leicht anklagend. Die Stimme belegt, als ob Gerechtigkeit eine Geheimsache sei. »Michel hat mich gebeten, Ihnen goldene Orchideen zu schicken und Sie für ihn zum Essen auszuführen. Er möchte unbedingt, dass Sie mitkommen. Bitte. Ich bin Michels Freund. Kommen Sie.«
Du? dachte sie. Ein Freund? Einen Freund wie dich hätte Michel nie, nicht einmal, um sein Scheiß-Leben zu retten. Doch das sagte sie nur durch das wütende Funkeln ihrer Augen.
»Außerdem ist mir die Aufgabe übertragen worden, Michel vor Gericht zu vertreten, Miss Charlie. Michel hat ein Recht auf den vollen Schutz des Gesetzes. Kommen Sie, bitte. Jetzt.« Die Geste kostete sie große Anstrengung, doch das wollte sie auch. Die Orchideen waren schrecklich schwer, und es war ein langer Weg, sie durch die Luft von ihrer Hand in seine zu befördern. Aber sie schaffte es; sie hatte Mut und Kraft wieder gefunden, und seine Hände kamen in die Höhe, um die Blumen in Empfang zu nehmen. Außerdem traf sie den richtigen kessen Ton für die Worte, die sie beschlossen hatte zu sagen.
»Sie sind in der falschen Vorstellung«, sagte sie. »Ich kenne keinen Michel aus Nottingham, ich kenne überhaupt keinen Michel. Und ich kann mich auch nicht erinnern, Ihnen während der letzten Saison in Monte begegnet zu sein. Netter Versuch, aber ich bin müde. Bin euch alle leid.«
Während sie sich noch der Rezeption zuwandte, um ihren Schlüssel zu nehmen, ging ihr auf, dass Humphrey, der Nachtportier, sich in einer hochwichtigen Angelegenheit an sie wandte. Sein glasiertes Gesicht zuckte, und er hielt einen Bleistift schreibbereit über eine große Kladde gezückt.
»Ich habe gefragt«, blubberte er verächtlich in seiner fisteligen und gedehnten nordenglischen Sprechweise, »um welche Zeit Sie Ihren Morgentee möchten, Miss?«
»Um neun, mein Lieber. Aber keine Sekunde früher.« Abgespannt wandte sie sich zur Treppe. »Zeitung, Miss?« fragte Humphrey.
Sie drehte sich um und sah ihn missmutig an. »Himmel«, flüsterte sie.
Humphrey war plötzlich ganz aufgeregt. Er schien der Ansicht zu sein, nur sprühende Lebendigkeit könne sie aufwecken. »Morgenzeitung! Zum Lesen! Was ist Ihre Lieblingszeitung?«
»Die Times, mein Lieber«, sagte sie.
Humphrey versank wieder zufrieden in seiner Apathie. »Also Telegraph«, sagte er beim Schreiben. »Die Times gibt’s nur auf Vorbestellung.« Inzwischen hatte sie bereits begonnen, sich die Treppe zur historischen Dunkelheit des Treppenabsatzes hinaufzuschleppen. »Miss Charlie!« Wenn du mich noch einmal auf diese Weise rufst, dachte sie, könnte es sein, dass ich ein paar Stufen runterkomme, um dir eins über deinen glatten Schweizer Gebirgspass zu geben. Sie machte zwei weitere Schritte, ehe er wieder sprach. So viel Energie hatte sie ihm gar nicht zugetraut. »Michel wird sehr erfreut sein zu erfahren, dass Rosalinde heute Abend sein Armband getragen hat. Und, wie ich meine, noch trägt. Oder ist es das Geschenk eines anderen Herrn?« Erst wandte sich ihm oben von der Treppe ihr Gesicht, dann ihr ganzer Körper zu. Er hatte die Orchideen in die linke Hand genommen; der rechte Arm hing herunter wie ein leerer Ärmel. »Ich habe gesagt: fort! Gehen Sie. Bitte - einverstanden?« Aber sie sprach gegen ihre eigene Überzeugung, wie ihr Stocken schon verriet.
»Michel hat mir aufgetragen, Sie zu frischem Hummer und einer Flasche Boutaris einzuladen. Weiß und kalt, sagt er. Ich habe auch noch andere Nachrichten von ihm. Er wird außer sich sein, wenn Sie seine Einladung abschlagen, und auch verletzt.« Das war zuviel. Er war ihr eigener dunkler Engel, der die Seele forderte, die sie sorglos verpfändet hatte. Ob er log, ob er von der Polizei war oder ein gewöhnlicher Erpresser - sie würde ihm bis hinunter in die Unterwelt folgen, wenn er sie zu Michel brachte. Auf den Absätzen kehrtmachend, kam sie langsam die Treppe zur Rezeption herunter.
»Humphrey.« Sie warf den Schlüssel auf den Rezeptionstisch, nahm ihm den Bleistift aus der widerstandslosen Hand und schrieb den Namen CATHY auf den vor ihm liegenden Block. »Eine Amerikanerin. Kapiert? Eine Freundin. Wenn sie anruft, sagen Sie ihr, ich sei mit sechs Liebhabern losgezogen. Sagen Sie ihr, vielleicht käme ich morgen zum Lunch vorbei. Kapiert?« wiederholte sie.
Sie riss das Blatt vom Block, stopfte es ihm in die Brusttasche und gab ihm dann einen flüchtigen Kuss, während Mesterbein mit dem aufgesetzt-steinernen Unmut des Liebhabers wartete, der für heute abend Anspruch auf sie erhob. Vor der Tür holte er eine schöne Schweizer Taschenlampe hervor. In deren Lichtkegel erkannte sie den gelben Hertz-Aufkleber an der Windschutzscheibe seines Wagens. Er machte die Tür am Beifahrersitz auf und sagte »Bitte schön«, doch sie ging ungerührt an ihm vorbei auf ihren Fiat zu, stieg ein, ließ den Motor an und wartete. Zum Fahren, es fiel ihr auf, als er vor ihr herging, trug er eine schwarze Baskenmütze, deren Rand ganz gerade war wie bei einer Badekappe, nur dass seine Ohren dadurch abstanden.
Wegen der Nebelfelder fuhren sie langsam in Kolonne hintereinander her. Oder vielleicht fuhr Mesterbein immer so, denn er hatte den undurchdringlich-aggressiven Rücken des gewohnheitsmäßig vorsichtigen Fahrers. Sie fuhren einen Hügel hoch und dann in nördlicher Richtung über freies Moor. Der Nebel lichtete sich, die Telegrafenmasten standen wie eingefädelte Nadeln vorm Nachthimmel. Ein zerrissener griechischer Mond spähte kurz aus den Wolken heraus, ehe er wieder nach hinten hineingezerrt wurde. An einer Straßenkreuzung hielt Mesterbein, um auf der Karte nachzusehen. Schließlich wies er nach links, zuerst mit seiner Taschenlampe, dann mit einer kreisenden weißen Hand. Jawohl, Anton, hab’ schon verstanden. Sie folgte ihm einen Hügel hinunter und durch ein Dorf; sie kurbelte ihr Fenster herunter und ließ den Salzgeruch des Meeres herein. Der Luftzug riss ihr in einem Schrei den Mund auf. Sie folgte ihm unter einem zerfetzten Banner hindurch, auf dem stand: »East West Timesharer Chalets Ltd.«, dann eine schmale neue Straße durch die Dünen zu einer stillgelegten Zinnmine hinauf, die sich vorm Himmel abhob, wie für eine Anzeige: »Besuchen Sie Cornwall«. Links und rechts von ihr Holzbungalows; nirgends Licht. Mesterbein stellte seinen Wagen ab, sie parkte hinter ihm und ließ wegen des abschüssigen Geländes den Gang drin. Die Handbremse ächzt wieder, dachte sie; muss noch mal zu Eustace. Er stieg aus; sie tat das gleiche und verschloss ihr Auto. Der Wind hatte sich gelegt; sie befanden sich auf der windabgekehrten Seite der Halbinsel. Kreischend zogen Möwen über ihnen ihre Kreise, als hätten sie auf dem Boden etwas Wertvolles verloren. Die Taschenlampe in der Hand, griff Mesterbein nach ihrem Arm, um sie zu führen. »Lassen Sie mich«, sagte sie. Er stieß eine Pforte auf, sie quietschte. Vor ihnen ging ein Licht an. Kurzer Betonweg, blaue Tür mit dem Namen Sea-Wrack darauf. Mesterbein hielt einen Schlüssel bereit. Die Tür ging auf, er trat vor ihr ein, trat beiseite, um sie einzulassen, ein Immobilienmakler, der einem möglichen Kunden das Haus zeigt. Es gab keinen Vorbau und irgendwie keine Warnung. Sie folgte ihm hinein, er schloss die Tür hinter ihr, sie stand in einem Wohnzimmer. Sie roch feuchte Wäsche und sah schwarze Schimmelflecke an der Decke. Eine große blonde Frau in einem blauen Kordanzug steckte eine Münze in den elektrischen Zähler. Als sie eintraten, sah sie sich mit einem strahlenden Lächeln rasch um, sprang dann auf und strich dabei eine Strähne langer goldblonder Haare zurück.
»Anton: Ach, zu reizend. Sie haben mir Charlie gebracht! Charlie, willkommen. Und Sie sind mir doppelt willkommen, wenn Sie mir zeigen, wie dieser unmögliche Apparat funktioniert.« Sie packte Charlie bei den Schultern und gab ihr aufgeregt einen Kuss auf beide Wangen. »Ich meine, Charlie, hören Sie, Sie waren einfach fabelhaft in diesem Shakespeare heute abend, ja? Nicht wahr, Anton? Ich meine: hinreißend. Ich bin übrigens Helga., ja?« Ausdrücken wollte sie damit: Namen sind für mich ein Spiel. »Helga. Ja? So wie Sie Charlie sind, bin ich Helga.«
Ihre Augen waren grau und durchsichtig und wie Mesterbeins gefährlich ohne Arg. Mit kämpferischer Einfachheit blickten sie auf eine komplizierte Welt. Ehrlich zu sein bedeutet, ungezähmt zu sein, dachte Charlie und zitierte für sich aus einem von Michels Briefen. Ich fühle, also handle ich.
Aus einer Ecke des Raums gab Mesterbein eine verspätete Antwort auf Helgas Frage. Er hängte seinen Gabardine-Trenchcoat über einen Kleiderbügel. »Aber ja, sie war sehr beeindruckend, natürlich!«
Helga hatte die Hände immer noch auf Charlies Schultern liegen, und ihre kräftigen Daumen strichen ihr leicht über den Hals. »Ist es schwierig, so viel Text auswendig zu lernen, Charlie?« fragte sie und sah Charlie dabei strahlend ins Gesicht. »Ich habe damit keine Schwierigkeiten«, sagte sie und löste sich von Helgas Griff.
»Sie lernen also leicht auswendig?« Sie nahm Charlies Hand und drückte ihr ein Fünfzig-Pence-Stück hinein. »Kommen Sie! Zeigen Sie mir, wie diese phantastische englische Erfindung, genannt Feuer, funktioniert.«
Charlie hockte sich vor den Automaten, drehte den Hebel zur Seite, steckte die Münze hinein, drehte den Hebel zur anderen Seite, und klirrend fiel die Münze hinein. Mit einem protestierenden Zischen ging das Feuer an.
»Unglaublich! Ach, Charlie! Aber sehen Sie, das ist typisch für mich. Nicht so viel technischen Verstand!« erklärte Helga augenblicklich, als sei dies etwas Wichtiges, das eine neue Freundin von ihr wissen müsse. »Ich bin gegen jeden Besitz, und wenn ich nichts besitze, wie soll ich dann wissen, wie etwas funktioniert? Anton, bitte übersetz das für mich. Ich glaube an Sein, nicht Haben.« Das war ein Befehl, von einer Kinderzimmer-Autokratin. Ihr Englisch war auch ohne seine Hilfe recht gut. »Haben Sie Erich Fromm gelesen, Charlie?«
»Sie meint sein, nicht besitzen«, sagte Mesterbein trübsinnig, während er die beiden Frauen betrachtete. »Das ist der Kern von Fräulein Helgas Einstellung. Sie glaubt an das grundsätzlich Gute und an die Überlegenheit der Natur über die Wissenschaft. Das tun wir beide«, setzte er dann noch hinzu, als wollte er sich zwischen sie beide stellen.
»Haben Sie Erich Fromm gelesen?« wiederholte Helga, strich sich wieder das blonde Haar aus dem Gesicht und dachte bereits an etwas ganz anderes. »Ich bin ganz verliebt in ihn.« Die Hände vorgestreckt, hockte sie sich vor das Feuer. »Wenn ich einen Philosophen bewundere, liebe ich ihn. Das ist typisch für mich.« Ihre Bewegungen waren von einer unaufrichtigen Anmut und ungelenk wie bei einem Teenager. Sie trug flache Schuhe, um ihre Größe auszugleichen.
»Wo ist Michel?« fragte Charlie.
»Fräulein Helga weiß nicht, wo Michel ist«, wandte Mesterbein aus seiner Ecke scharf ein. »Sie ist keine Anwältin und ist nur wegen der Reise und der Gerechtigkeit mitgekommen. Fräulein Helga hat keine Ahnung von Michels Aktivitäten oder Aufenthalt. Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Charlie blieb stehen, doch Mesterbein selbst setzte sich auf einen Stuhl und faltete die sauberen weißen Hände auf dem Schoß. Nachdem er den Trenchcoat abgelegt hatte, stellte er seinen neuen braunen Anzug zur Schau, als wäre es ein Geburtstagsgeschenk von seiner Mutter.
»Sie haben gesagt, Sie hätten Nachrichten von ihm«, sagte Charlie. Ihre Stimme zitterte, und ihre Lippen fühlten sich ganz steif an. Helga, die immer noch auf dem Boden hockte, hatte sich umgedreht und sah sie an. Nachdenklich hatte sie einen Daumennagel gegen die kräftigen Vorderzähne gepresst.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?« fragte Mesterbein. Sie wusste nicht mehr, wen von beiden sie ansehen sollte. »In Salzburg«, sagte sie.
»Salzburg ist kein Datum, oder?« wandte Helga vom Boden her ein.
»Vor fünf, sechs Wochen. Wo ist er?«
»Und das letzte Mal von ihm gehört haben Sie wann?« fragte Mesterbein.
»Sagen Sie mir doch bloß, wo er ist! Was ist ihm passiert?« Sie wandte sich wieder an Helga. »Wo ist er?«
»Ist niemand zu Ihnen gekommen?« fragte Mesterbein. »Keiner seiner Freunde? Keine Polizei?«
»Vielleicht ist Ihr Gedächtnis doch nicht so gut, wie Sie behaupten, Charlie«, meinte Helga.
»Bitte, sagen Sie uns, mit wem Sie Kontakt hatten, Miss Charlie«, sagte Mesterbein. »Sofort. Das ist von höchster Wichtigkeit. Wir sind wegen dringender Dinge hier.«
»Eigentlich könnte sie ja leicht lügen, solch eine Schauspielerin«, sagte Helga und hatte dabei die großen Augen unverhüllt fragend auf Charlie gerichtet. »Eine Frau, die darin ausgebildet ist, zu tun, als ob - wie kann man der überhaupt irgendetwas glauben?« »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, pflichtete Mesterbein ihr bei, als müsse er sich das für die Zukunft merken.
Ihr Zusammenspiel hatte etwas Sadistisches; sie trieben ihr Spiel mit einem Schmerz, den sie noch gar nicht fühlte. Erst sah sie Helga an, dann Mesterbein. Die Worte entfuhren ihr. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. »Er ist tot, nicht wahr?« flüsterte sie.
Helga schien sie nicht zu hören. Sie war ganz davon in Anspruch genommen, sie zu beobachten.
»Oh ja, Michel ist tot«, sagte Mesterbein düster. »Das tut mir natürlich leid. Und Fräulein Helga auch. Es tut uns beiden sehr leid. Und nach den Briefen, die Sie ihm geschrieben haben, nehmen wir an, dass es Ihnen auch leid tut.«
»Aber vielleicht sind die Briefe auch nur vorgetäuscht, Anton«, erinnerte Helga ihn. Das war ihr schon einmal im Leben passiert, in der Schule. Dreihundert Mädchen, an den Wänden der Turnhalle aufgereiht, die Direktorin in der Mitte, und jede wartete darauf, dass die Schuldige gestand. Mit den besten von ihnen hatte Charlie sich verstohlen umgeblickt, nach der Schuldigen Ausschau gehalten - ist sie es? Ich wette, die da -, sie errötete nicht, sondern sah ernst und unschuldig drein und hatte - das stimmte wirklich und erwies sich später auch als wahr - überhaupt niemand etwas gestohlen. Trotzdem gaben ihre Knie plötzlich nach, und sie fiel einfach hin, fühlte sich von der Taille aufwärts völlig in Ordnung, nur unten gelähmt. Genau das gleiche tat sie jetzt, durchaus nichts Einstudiertes - sie tat es, ehe sie selbst merkte, was mit ihr geschah, noch ehe sie sich auch nur halb über die Ungeheuerlichkeit dessen klar geworden war, was man ihr da gesagt hatte, und noch ehe Helga eine Hand ausstrecken konnte, um sie aufzufangen. Sie stürzte hin und fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden, dass die Deckenbeleuchtung an der Strippe auf und ab sprang. Helga kniete augenblicklich neben ihr, murmelte etwas auf Deutsch und legte ihr tröstend die Hand einer Frau auf die Schulter - eine gütige, spontane Gebärde. Mesterbein bückte sich, um auf sie hernieder zu starren, doch er berührte sie nicht. Er interessierte sich mehr dafür, wie sie weinte. Sie hatte den Kopf auf die Seite gelegt, und ihre Wange ruhte auf der geballten Faust, so dass die Tränen ihr quer übers Gesicht strömten und nicht daran hinunter. Je länger er sie beobachtete, desto froher schienen ihre Tränen ihn zu machen. Er nickte leise, was vielleicht anerkennend gemeint war; er blieb nahe bei ihnen, während Helga ihr aufs Sofa half, wo sie -das Gesicht in den kratzenden Kissen verborgen und die Hände vors Gesicht geschlagen - dalag und weinte, wie es nur Kinder können - und jene, denen das Liebste genommen worden ist. Aufruhr, Zorn, Schuld, Reue, Schrecken: jedes einzelne dieser Gefühle wurde von ihr wahrgenommen wie die Phasen einer beherrschten, gleichwohl jedoch tief empfundenen Darbietung. Ich wusste es, hab’s nicht gewusst, hab’ mir nicht erlaubt, diesen Gedanken zu denken. Ihr Betrüger, ihr mörderischen Betrüger, ihr habt im Theater des Wirklichen meinen heißgeliebten Liebsten umgebracht!
Irgendetwas davon musste sie laut gesagt haben. Ja, sie wusste, dass sie es getan hatte. Sie hatte ihre abgerissenen Sätze ausgewählt und kontrolliert, noch während der Schmerz sie zerriss. Ihr Hunde, Faschistenschweine, ach, Himmel, Michel!
Eine Pause, dann hörte sie Mesterbeins unveränderte Stimme sie auffordern, sich doch genauer darüber auszulassen, doch sie ignorierte ihn und fuhr fort, den Kopf hinter den Händen hin und her zu rollen. Sie erstickte, sie würgte, und ihre Worte blieben ihr im Hals stecken und kamen ihr nur stotternd über die Lippen. Die Tränen, der Schmerz, die wiederholten Schluchzer waren kein Problem für sie - die Ursachen ihres Kummers und ihrer Empörung waren ihr äußerst bewusst. Sie brauchte nicht an ihren verstorbenen Vater zu denken, den die Schande ihres Hinauswurfs aus der Schule beschleunigt ins Grab gebracht hatte, noch sich als das tragische Kind in der Wildnis des Erwachsenendaseins zu sehen, wie sie es für gewöhnlich tat. Sie brauchte nur an den halb gefügig gemachten jungen Araber zu denken, der ihre Liebesfähigkeit wiederhergestellt, der ihrem Leben jene Richtung gegeben hatte, um die es ihr schon immer gegangen war, und der jetzt tot war, dass ihre Tränen auf Kommando flössen.
»Sie sagt, es waren die Zionisten«, wandte Mesterbein Helga gegenüber auf Englisch ein. »Wieso behauptet sie, dass es die Zionisten waren, wenn es doch ein Unfall war? Die Polizei hat uns versichert, dass es ein Unfall war. Warum behauptet sie etwas anderes als die Polizei? Es ist sehr gefährlich, etwas anderes zu behaupten als die Polizei.«
Doch entweder hatte Helga es selbst bereits gehört, oder es war ihr egal. Sie hatte einen Kaffeetopf auf dem Elektrokocher aufgesetzt. Sie kniete neben Charlies Kopf, strich ihr mit ihrer kräftigen Hand nachdenklich das rote Haar aus dem Gesicht und wartete, dass ihre Tränen versiegten und sie mit ihren Erklärungen beginnen konnte. Der Kaffeetopf sprudelte plötzlich. Helga stand auf, um danach zu sehen. Charlie saß auf dem Sofa, hielt den Becher zwischen beiden Händen und neigte den Kopf darüber, als inhaliere sie den daraus aufsteigenden Dampf, während ihr die Tränen unentwegt die Wangen hinunterliefen. Helga hatte Charlie den Arm um die Schultern gelegt, und Mesterbein saß ihr gegenüber und betrachtete aus dem Schatten seiner eigenen dunklen Welt heraus die beiden Frauen. »Es war eine Explosion, ein Unfall«, sagte er. »Auf der Autobahn
Salzburg-München. Laut Polizei war sein Wagen voller Sprengstoff. Riesige Mengen. Warum? Warum sollte Sprengstoff plötzlich auf einer flachen Autobahn detonieren?«
»Ihre Briefe sind in Sicherheit«, flüsterte Helga, strich Charlie noch eine Strähne aus dem Gesicht und steckte sie ihr liebevoll hinters Ohr.
»Es war ein Mercedes«, sagte Mesterbein. »Mit Münchener Kennzeichen. Doch die Polizei sagt, es waren falsche. Auch die Papiere. Fälschungen. Warum sollte mein Klient mit falschen Papieren einen mit Sprengstoff vollgestopften Wagen fahren? Er war schließlich Student und kein Bombenleger. Das Ganze ist eine Verschwörung. Jedenfalls glaube ich das.« »Kennen Sie dieses Auto, Charlie?« flüsterte Helga ihr ins Ohr und drückte sie nochmals liebevoll an sich, in dem Bemühen, eine Antwort aus ihr herauszuholen. Doch alles, was Charlie in Gedanken sehen konnte, war ihr von zwei Zentnern russischem Plastik-Sprengstoff, die im Volant, den Verstrebungen, unter der Deckenverkleidung und in den Sitzen versteckt gewesen waren, in Stücke gerissener Geliebter: ein Inferno, das den von ihr ach so geliebten Körper zerfetzt hatte. Und alles, was sie hören konnte, war die Stimme ihres anderen namenlosen Mentors, die da sagte: traue ihnen nicht, lüg ihnen was vor, streite alles ab, weise es zurück, weigere dich.
»Sie hat etwas gesagt«, sagte Mesterbein vorwurfsvoll. »Sie hat ›Michel‹ gesagt«, sagte Helga und wischte einen neuerlichen Tränenausbruch mit einem mitfühlenden Taschentuch aus ihrer vernünftigen Handtasche fort.
»Und ein Mädchen ist auch dabei umgekommen«, sagte Mesterbein. »Sie war mit ihm im Auto, behaupten sie.« »Eine Holländerin«, sagte Helga leise und so nahe, dass Charlie ihren Atem am Ohr spürte. »Eine richtige Schönheit. Eine Blonde.«
«Offenbar sind sie zusammen ums Leben gekommen«, fuhr Mesterbein mit erhobener Stimme fort.
»Sie waren nicht die einzige, Charlie«, erklärte Helga vertraulich. »Sie hatten nicht den Exklusiv-Gebrauch unseres kleinen Palästinensers, wissen Sie?«
Zum ersten Mal, seit sie es ihr mitgeteilt hatten, sprach Charlie einen zusammenhängenden Satz. »Das habe ich nie verlangt«, flüsterte sie.
»Die Polizei sagt, die Holländerin sei eine Terroristin gewesen«, jammerte Mesterbein.
»Sie behaupten auch, dass Michel ein Terrorist war«, sagte Helga. »Sie behaupten, die Holländerin habe für Michel schon mehrere Male Bomben gelegt«, sagte Mesterbein. »Sie behaupten, Michel und das Mädchen hätten noch ein weiteres Attentat geplant gehabt und im Auto hätten sie eine Straßenkarte von München gefunden, in der Michel handschriftlich das Israelische Handelszentrum eingezeichnet hätte. An der Isar«, fügte er dann noch hinzu. »Im ersten Stock gelegen - wirklich ein sehr schwieriges Ziel. Hat er Ihnen gegenüber von diesem Unternehmen gesprochen, Miss Charlie?« Charlie zitterte und schlürfte ein bisschen Kaffee, was Helga als Antwort ebenso gut zu gefallen schien. »Na, sie wacht endlich auf. Möchten Sie noch mehr Kaffee, Charlie? Soll ich welchen heiß machen? Oder was zu essen? Wir haben Käse hier, Eier, Wurst - alles.«
Charlie schüttelte den Kopf und ließ sich von Helga auf die Toilette führen, wo sie lange blieb, sich Wasser ins Gesicht klatschte, würgte und dabei wünschte, sie hätte genug Ahnung vom Deutschen, um etwas von der beunruhigenden und stakkatohaften Unterhaltung mitzubekommen, die durch die papierdünne Tür an ihr Ohr drang. Als sie zurückkam, fand sie Mesterbein in seinem braunen Gabardine - Trenchcoat an der Haustür stehen.
»Miss Charlie, lassen Sie es sich von mir gesagt sein: Fräulein Helga steht voll und ganz unter dem Schutz des Gesetzes«, sagte er und schritt zur Tür hinaus.
Endlich allein! Zwei Frauen unter sich!
»Anton ist ein Genie«, verkündete Helga lachend. »Er ist unser Schutzengel. Er hasst das Gesetz, aber natürlich verliebt er sich in das, was er hasst. Stimmen Sie mir zu? …Charlie, Sie müssen mir immer zustimmen, sonst bin ich enttäuscht.« Sie kam näher. »Gewalt ist nicht das Problem«, sagte sie und nahm eine Unterhaltung
wieder auf, die sie noch gar nicht geführt hatten. »Niemals: Wir machen eine Gewaltaktion, wir machen eine friedliche Aktion, es ist egal. Für uns ist das große Problem, logisch zu sein, nicht beiseite zu stehen, wahrend die Welt ihren Lauf nimmt, Meinung in Überzeugung zu verwandeln und Überzeugung in Handeln.« Sie hielt inne, beobachtete die Wirkung ihrer Aussage auf ihre Schülerin. Ihre Köpfe waren sehr nahe beieinander. »Handeln ist Selbstverwirklichung und außerdem objektiv, ja?« Wieder eine Pause, aber immer noch keine Antwort. »Und wissen Sie noch was, was Sie völlig überraschen wird? Ich habe eine ausgezeichnete Beziehung zu meinen Eltern. Bei Ihnen ist das ganz anders. Das sieht man aus Ihren Briefen. Bei Anton auch. Natürlich ist meine Mutter die Intelligentere, aber mein Vater…« Sie sprach nicht weiter, doch diesmal ärgerte sie sich über Charlies Schweigen und darüber, dass sie wieder weinte.
»Charlie, hören Sie jetzt auf. Aufhören, okay? Wir sind schließlich keine alten Weiber. Sie haben ihn geliebt, das akzeptieren wir als logisch, aber er ist tot.« Ihre Stimme war erstaunlich hart geworden. »Er ist tot, aber wir sind keine Individualisten, denen es nur um das persönliche, das private Erleben geht, sondern wir sind Kämpfer und Arbeiter. Hören Sie mit der Heulerei auf!«
Helga packte Charlie beim Ellbogen und schob sie buchstäblich hoch, um sie durch die ganze Länge des Raums zu führen. »Hören Sie mir zu. Sofort! Ich hatte mal einen sehr reichen Freund. Kurt. Faschistisch bis in die Knochen, sehr primitiv. Ich brauchte ihn für den Sex, so wie ich jetzt Anton brauche, aber außerdem habe ich versucht, ihn zu erziehen. Eines Tages wurde der deutsche Botschafter in Bolivien, ein Graf Soundso, von den Freiheitskämpfern hingerichtet. Erinnern Sie sich an diese Aktion? Kurt, der ihn nicht einmal kannte, war sofort voller Empörung: ›Diese Schweine! Diese Terroristen! Eine Schande ist das!‹ Ich sagte zu ihm: ›Kurt‹ - so hieß er - ›um wen trauerst du eigentlich? Jeden Tag verhungern Menschen in Bolivien. Wieso sich da über einen toten Grafen aufregen?‹ Stimmen Sie mir in dieser Beurteilung zu, Charlie? Ja?« Charlie zuckte kaum merklich mit den Achseln. Helga drehte sie zu sich um und ging endlich auf ihr Ziel los. »Nehmen wir ein stichhaltigeres Argument. Michel ist ein Märtyrer, aber Tote können nicht kämpfen, und es gibt noch viele andere Märtyrer. Ein Soldat ist tot. Die Revolution geht weiter. Ja?«
»Ja«, flüsterte Charlie.
Sie hatten das Sofa erreicht. Helga nahm ihre vernünftige Handtasche und holte eine flache halbe Flasche Whisky heraus, auf der Charlie das Etikett des Duty-free-Shops erkannte. Sie schraubte den Verschluss auf und reichte ihr die Flasche. »Auf Michel«, erklärte sie. »Wir trinken auf ihn. Auf Michel! Sagen Sie es!«
Charlie nahm einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht. Helga nahm ihr die Flasche wieder ab.
»Setzen Sie sich, Charlie. Ich möchte, dass Sie sich hinsetzen. Jetzt, sofort!«
Schwunglos nahm sie auf dem Sofa Platz. Wieder stand Helga über ihr.
»Sie hören mir zu, und Sie antworten, okay? Ich bin nicht zum Spaß hierhergekommen, verstehen Sie? Und auch nicht, um zu diskutieren. Ich diskutiere gern, aber nicht jetzt. Sagen Sie: ›Ja.‹ «
»Ja«, sagte Charlie erschöpft.
»Er fühlte sich von Ihnen angezogen. Das ist eine wissenschaftliche Tatsache. War wirklich bis über beide Ohren in Sie verknallt. Auf dem Schreibtisch in seiner Wohnung lag ein nicht zu Ende geschriebener Brief an Sie, voll mit phantastischen Äußerungen über Liebe und Sex. Alles für Sie. Und auch über Politik.« Langsam, als ob das, was da gesagt worden war, erst nach und nach bis zu ihr durchgedrungen sei, schien Charlie mit ihrem verquollenen und zuckenden Gesicht aufzuhorchen. »Wo ist er?« sagte sie. »Geben Sie ihn mir!«
»Er wird bearbeitet. Bei den Unternehmungen muss alles ausgewertet, muss alles objektiv untersucht werden.«
Charlie starrte auf ihre Füße. »Er gehört mir! Geben Sie ihn mir!« »Der Brief ist Eigentum der Revolution. Vielleicht bekommen Sie ihn später. Man wird sehen.« Nicht sonderlich sanft stieß Helga sie aufs Sofa zurück. »Dieser Wagen. Der Mercedes, der jetzt ein Trümmerhaufen ist. Sie haben ihn über die Grenze nach Deutschland gebracht? Für Michel? Ein Auftrag? Antworten Sie!« »Nach Österreich«, murmelte sie.
»Von wo?«
»Durch Jugoslawien.« »Charlie, was die Genauigkeit betrifft, scheinen Sie mir ehrlich ziemlich schlecht zu sein: von wo?«
»Saloniki.«
»Und Michel hat Sie auf dieser Fahrt begleitet, natürlich hat er das getan. Das war normal bei ihm, meine ich.« »Nein.«
»Wieso nein? Sie sind allein gefahren? Eine so weite Strecke? Lächerlich! Eine solche Verantwortung hätte er Ihnen nie aufgebürdet. Ich glaube Ihnen kein Wort. Das Ganze ist eine Lügengeschichte.«
»Wen interessiert das schon?« sagte Charlie und verfiel wieder in ihre Apathie.
Helga interessierte es sehr wohl. Sie war bereits außer sich. »Selbstverständlich interessiert es Sie nicht! Wieso sollte es eine Spionin auch interessieren? Mir ist schon klar, was passiert ist. Ich brauche keine Fragen mehr zu stellen, das ist reine Formsache. Michel hat Sie angeworben, hat Sie zu seiner heimlichen Geliebten gemacht, und bei der ersten besten Gelegenheit sind Sie zur Polizei gelaufen, um sich zu schützen und eine goldene Nase zu verdienen. Sie sind ein Polizeispitzel. Ich werde das einigen sehr einflussreichen Leuten stecken, mit denen wir in Kontakt stehen, und man wird sich Ihrer annehmen - und wenn es zwanzig Jahre dauern sollte. Hingerichtet.«
»Toll!« sagte Charlie. »Phantastisch!« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Tun Sie das, Helga. Das ist genau das, was ich brauche. Schicken Sie sie vorbei, ja? Zimmer sechzehn, im Hotel.« Helga war ans Fenster getreten und hatte den Vorhang zurückgezogen, offenbar in der Absicht, Mesterbein zurückzurufen. An ihr vorbei erkannte Charlie, dass die Innenbeleuchtung seines blauen Mietwagens angeknipst war und Mesterbeins Silhouette mit der Baskenmütze auf dem Kopf unbeweglich auf dem Fahrersitz saß. Helga klopfte ans Fenster. »Anton? Anton, komm sofort her, wir haben es mit einem ausgebufften Spitzel zu tun.« Aber ihre Stimme war, wie beabsichtigt, zu leise für ihn. »Warum hat Michel uns nicht von Ihnen erzählt?« wollte sie wissen, zog den Vorhang wieder zu und drehte sich um, um sie anzusehen. »Warum hat er Sie nicht mit uns geteilt? Sie - die Sie so viele Monate sein Geheimnis gewesen sind? Zu lachhaft!«
»Er hat mich geliebt.«
»Quatsch! Benutzt hat er Sie. Sie haben doch noch seine Briefe - oder?«
»Er hat mir befohlen, sie zu vernichten.«
»Aber Sie haben es nicht getan. Selbstverständlich nicht. Wie sollten Sie auch? Sie sind ein einfältiges Bündel von Gefühlen, das erkennt man doch sofort aus Ihren Briefen an ihn. Sie haben ihn ausgebeutet, er hat Geld für Sie hinausgeworfen: Kleider, Schmuck, Hotels, und Sie - Sie gehen hin und verkaufen ihn an die Polizei. Natürlich haben Sie das getan!«
Helga stand nahe bei Charlies Handtasche, hob sie auf und entleerte den Inhalt impulsiv auf den Esstisch. Doch die Hinweise, die für sie darin untergebracht worden waren - der Taschenkalender mit den Tagebucheintragungen, der Kugelschreiber aus Nottingham, die Streichhölzer aus dem Diogenes in Athen - waren in ihrer augenblicklichen Stimmung zu feinsinnig für sie. Sie suchte nach Schuldbeweisen für Charlies Verrat, nicht nach Liebesbeweisen. »Dieses Radio.« Ihr kleiner japanischer Transistor mit dem eingebauten Wecker für die Proben.
»Was ist das? Ein Gerät für Spione. Woher kommt es? Wieso trägt eine Frau wie Sie in ihrer Handtasche ein Radio mit sich herum?« Charlie überließ Helga ihren eigenen Sorgen, wandte sich von ihr ab und starrte, ohne etwas wahrzunehmen, ins Feuer. Helga fummelte an den Knöpfen des Radios herum und bekam Musik herein. Sie stellte es ab und legte das Gerät gereizt beiseite. »In Michels letztem Brief - dem, den er nicht an Sie abgeschickt hat - schreibt er. Sie hätten die Pistole geküsst. Was bedeutet das?« »Das bedeutet, dass ich seine Pistole geküsst habe.« Sie verbesserte sich. »Die Pistole seines Bruders.«
Helgas Stimme wurde unversehens lauter. »Seines Bruders? Was für eines Bruders?« »Er hatte einen älteren Bruder. Sein großes Vorbild. Ein großer Kämpfer. Der Bruder hat ihm die Pistole gegeben, und zum Schwur musste ich sie küssen.«
Fassungslos starrte Helga sie an. »Das hat Michel Ihnen erzählt?«
»Nein, ich hab’s in der Zeitung gelesen - wo denn sonst?« »Wann hat er Ihnen das erzählt?« »Auf einer Hügelkuppe in Griechenland.« »Was noch von seinem Bruder - rasch!« Sie schrie fast. »Michel hat ihn angebetet. Habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
»Handfeste Fakten. Nur handfeste Fakten. Was hat er Ihnen sonst noch von seinem Bruder erzählt?«
Doch die verborgene Stimme in Charlie sagte ihr, dass sie bereits weit genug gegangen sei. »Er ist ein militärisches Geheimnis«, sagte sie und nahm sich wieder eine Zigarette.
»Hat er Ihnen gesagt, wo er ist? Was er macht? Charlie, ich befehle Ihnen, es mir zu sagen!« Sie rückte ein Stück näher. »Polizei. Geheimdienst, vielleicht sogar die Zionisten - alle halten Ausschau nach Ihnen. Wir haben ausgezeichnete Beziehungen zu bestimmten Bereichen der deutschen Polizei. Sie wissen bereits, dass es nicht die Holländerin war, die den Mercedes durch Jugoslawien gefahren hat. Sie haben Beschreibungen. Sie haben überhaupt eine Menge Sie belastendes Material. Wenn wir wollen, können wir Ihnen helfen. Aber nicht, ehe Sie uns nicht alles gesagt haben, was Michel Ihnen über seinen Bruder anvertraut hat.« Sie lehnte sich vor, bis ihre großen blassen Augen nur noch eine Handbreit von Charlies Augen entfernt waren. »Er hat kein Recht dazu gehabt, Ihnen von ihm zu erzählen. Sie haben kein Recht auf diese Information. Geben Sie sie mir!«
Charlie erwog Helgas Ersuchen, doch nachdem sie gebührend darüber nachgedacht hatte, lehnte sie es ab. »Nein«, sagte sie. Sie hatte vorgehabt, ein: Ich hab’s versprochen, und dabei bleibt’s, folgen zu lassen, ein: Ich traue Ihnen nicht - lassen Sie mich in Ruhe! Doch nachdem sie ihrem schlichten »Nein« eine Zeitlang nachgelauscht hatte, fand sie, es sei doch besser, dem nichts hinzuzufügen.
Deine Aufgabe ist es, sie dazu zu bringen, dass sie dich brauchen, hatte Joseph zu ihr gesagt. Betrachte es als eine Art Liebeswerben. Am höchsten schätzen sie, was sie nicht bekommen können.
Helga hatte eine überirdische Fassung gewonnen. Die Zeit der Schmierenkomödiantin war vorbei. Jetzt war sie in eine Phase eiskalter Distanziertheit eingetreten, die Charlie instinktiv begriff, denn das war etwas, wozu sie auch in der Lage war.
»So. Sie haben den Wagen nach Österreich gefahren. Und dann?«
»Ich hab’ ihn abgestellt, wo er es mir gesagt hatte, dann trafen wir uns und fuhren nach Salzburg.«
»Wie?«
»Flugzeug und Auto.« »Und? In Salzburg?« »Gingen wir in ein Hotel.« »Wie hieß das Hotel, bitte?« »Weiß ich nicht mehr. Ist mir nicht aufgefallen.« »Dann beschreiben Sie es.«
»Es war alt und groß und lag an einem Fluss. Und schön war es«, setzte sie noch hinzu.
»Und Sie haben miteinander geschlafen, er war potent und hatte viele Orgasmen, wie immer.«
»Wir haben einen Spaziergang gemacht.«
»Und nach dem Spaziergang haben Sie miteinander geschlafen. Seien Sie doch bitte nicht albern.«
Und wieder ließ Charlie sie warten. »Das hatten wir zwar vor, aber nachdem wir erst mal zu Abend gegessen hatten, bin ich einfach eingeschlafen. Ich war nach der Fahrt völlig erschöpft. Er hat ein paar Mal versucht, mich zu wecken, es dann jedoch aufgegeben.
Und als ich morgens aufwachte, war er bereits angezogen.«
»Und dann sind Sie mit ihm nach München gefahren - ja?«
»Nein.«
»Ja, was haben Sie denn gemacht?«
»Die Nachmittagsmaschine nach London genommen.«
»Was für ein Auto hatte er?«
»Einen Mietwagen.«
»Welche Marke?«
Sie gab vor, sich nicht mehr zu erinnern.
»Warum sind Sie nicht mit ihm nach München gefahren?«
»Er wollte nicht, dass wir zusammen über die Grenze gingen. Er hat gesagt, er hätte zu arbeiten.«
»Das hat er Ihnen gesagt? Zu arbeiten? Unsinn! Was für Arbeit? Kein Wunder, dass Sie imstande waren, ihn zu verraten.« »Er sagte, er habe Befehle, den Mercedes abzuholen und ihn für seinen Bruder irgendwohin zu bringen.«
Diesmal zeigte sich Helga über das Ausmaß von Michels abgrundtiefer Indiskretion nicht mehr überrascht, nicht einmal ungehalten. Sie hatte sich auf Handeln eingestellt, und ans Handeln glaubte sie. Mit wenigen ausgreifenden Schritten war sie an der Tür, riss sie auf und winkte Mesterbein herrisch, wieder hereinzukommen. Die Hände auf den Hüften, drehte sie ein paar Runden im Zimmer, starrte Charlie mit gefährlichen und erschreckend leeren großen Augen an.
»Sie sind plötzlich wie Rom, Charlie«, erklärte sie. »Alle Wege führen zu Ihnen. Es ist zu vertrackt! Sie sind sein heimliches Liebchen, Sie fahren seinen Wagen, Sie verbringen seine letzte Nacht auf Erden mit ihm! Wussten Sie, was in dem Wagen war, als Sie ihn fuhren?«
»Sprengstoff.«
»Unsinn! Was für Sprengstoff denn?«
»Russischer Plastik-Sprengstoff, zweihundert Pfund.« »Das hat Ihnen die Polizei erzählt! Das ist deren Lüge. Die Polizei lügt immer.«
»Michel hat es mir erzählt.«
Helga stieß ein erbostes falsches Lachen aus. »Ach, Charlie! Jetzt glaube ich Ihnen kein Wort. Jetzt lügen Sie mich von vorn bis hinten an.« Mesterbein, der lautlos hereingekommen war, tauchte drohend hinter ihr auf. »Anton, es ist alles bekannt. Unsere kleine Witwe lügt wie gedruckt, davon bin ich überzeugt. Wir werden nichts unternehmen, um ihr zu helfen. Wir fahren sofort ab.« Mesterbein starrte sie an, Helga starrte sie an. Weder er noch sie schienen auch nur halb so sicher, wie Helgas Worte sie glauben machen wollten. Nicht, dass es Charlie nun so oder so etwas ausgemacht hätte. Sie saß da wie eine in sich zusammengesunkene Puppe, erneut für nichts mehr zugänglich als für ihren Kummer. Helga setzte sich wieder neben Charlie und legte ihr den Arm um die unempfänglichen Schultern. »Wie hieß der Bruder?« sagte sie. »Kommen Sie.« Sie gab ihr einen flüchtigen Kuss aufs Jochbein.
»Vielleicht werden wir Ihre Freunde. Wir müssen vorsichtig sein, müssen ein bisschen bluffen. Das ist natürlich. Na schön, sagen Sie mir erst mal, wie Michel hieß.«
»Salim. Aber ich habe schworen müssen, ihn nie so zu nennen.«
»Und der Name des Bruders?« »Khalil«, murmelte sie. Dann fing sie wieder an zu weinen. »Michel hat ihn angebetet«, sagte sie.
»Und sein Deckname?«
Sie verstand nicht, es war ihr auch egal. »Der war ein militärisches Geheimnis«, sagte sie.
Sie hatte beschlossen, zu fahren, bis sie umfiel - noch mal so was wie Jugoslawien. Ich steige aus dem Stück aus, ich fahre nach Nottingham und bring’ mich in unserem Motelbett um. Sie war wieder auf dem Moor, allein, fuhr fast hundertdreißig, bis sie ums Haar von der Fahrbahn abgekommen wäre. Sie hielt an und nahm die Hände abrupt vom Steuer. Ihre Nackenmuskeln zuckten, als wären es heiße Drähte, und ihr war übel.
Sie saß auf dem Randstreifen, streckte den Kopf vor, bis sie ihn zwischen den Knien hatte. Zwei Wildponies waren herangekommen und starrten sie an. Das Gras war lang und schwer vom Frühtau. Sie ließ die Hände darüber hinfahren und drückte sie zur Kühlung ans Gesicht. Langsam fuhr ein Motorrad vorbei, und sie bemerkte einen jungen Mann, der sie anstarrte, offenbar unsicher, ob er nun anhalten und helfen solle oder nicht. Zwischen den Fingern sah sie ihn hinter dem Horizont verschwinden. Einer von uns, einer von ihnen? Sie stieg wieder ein und notierte sich die Nummer; dies eine Mal traute sie ihrem Gedächtnis nicht. Michels Orchideen lagen neben ihr auf dem Beifahrersitz; sie hatte darauf bestanden, sie mitzunehmen, als sie sich verabschiedet hatte. »Aber, Charlie, das ist doch wirklich zu albern!« hatte Helga protestiert. »Das ist doch reine Gefühlsduselei bei Ihnen!« Du kannst mich mal, Helga! Sie gehören mir! Sie fuhr über ein baumloses Hochplateau in Rosa-, Braun- und Grautönen. Im Rückspiegel hatte sie den Sonnenaufgang. Aus dem Autoradio kam nichts als Französisch. Es klang wie Fragen und Antworten zu Jungmädchenproblemen, aber sie konnte die Worte nicht verstehen.
Sie fuhr an einem schlafenden, in einem Feld abgestellten Wohnwagen vorüber. Daneben stand ein leerer Landrover, und neben dem Landrover hing an einer teleskopartig auseinandergezogenen Wäscheleine Babywäsche. Wo hatte sie so eine Wäscheleine schon einmal gesehen? Nirgends. Wirklich nirgends. Sie lag auf ihrem Bett in der Pension, verfolgte, wie der Tag an der Decke heller wurde, lauschte dem Getrippel der Tauben auf ihrer Fensterbank. Am allergefährlichsten ist es, wenn du vom Berg wieder runterkommst, hatte Joseph ihr eingeschärft. Wiederholt hörte sie Schritte draußen auf dem Korridor. Das sind sie. Aber welche sind es? Immer dieselbe Frage. Ein roter? Nein, Officer, ich habe nie im Leben einen roten Mercedes gefahren, um aus meinem Schlafzimmer rauszukommen. Ein Rinnsal kalter Schweiß lief ihr über den nackten Magen. In Gedanken verfolgte sie seinen Lauf vom Nabel zu den Rippen und von da aus hinunter zum Laken. Knackende Dielenbretter, unterdrücktes Aufstöhnen vor Anspannung: Jetzt späht er durchs Schlüsselloch. Die Ecke weißen Papiers tauchte unter der Tür auf. Und wackelte hin und her. Wurde größer. Der Fettsack Humphrey brachte ihr ihren Daily Telegraph.
Sie hatte gebadet und sich angezogen. Jetzt fuhr sie langsam, nahm weniger befahrene Straßen, hielt unterwegs ein paar Mal vor Läden, so wie er es ihr gesagt hatte. Sie hatte sich schlampig angezogen; mit ihrem Haar war ohnehin kein Staat zu machen. Niemand, der ihre Benommenheit und ihre nachlässige Aufmachung beobachtet hätte, hätte an ihrem Kummer gezweifelt. Die Straße wurde dunkler; kränkelnde Ulmen schlössen sich über ihr, eine alte cornische Kirche duckte sich dazwischen. Sie hielt den Wagen wieder an und stieß das Eisentor auf. Die Gräber waren sehr alt. Nur wenige trugen eine Inschrift. Sie fand ein Grab, das abseits von den anderen lag. Ein Selbstmörder? Ein Mörder? Falsch: ein Revolutionär. Sie kniete nieder und legte ehrfürchtig die Orchideen an jene Stelle, an der ihrer Meinung nach sein Kopf liegen musste. Antrieb: Trauer, dachte sie, als sie in die abgestandene, eiskalte Luft der Kirche trat.
Etwas, was Charlie unter diesen Umständen getan hätte, im Theater der Wirklichkeit.
Auf diese ziellose Art machte sie noch eine Stunde weiter, hielt aus keinem ersichtlichen Grund, höchstens, um sich an ein Gatter zu lehnen und auf ein Feld hinauszublicken. Oder um sich an ein Gatter zu lehnen und ins Leere zu starren. Erst nach zwölf Uhr war sie sicher, dass der Motorradfahrer endlich aufgehört hatte, hinter ihr herzufahren. Und selbst dann machte sie noch etliche vage Umwege und saß noch in zwei weiteren Kirchen, ehe sie in die nach Falmouth führende Hauptstraße einbog.
Das Hotel war eine pfannengedeckte Ranch an der Helford-Mündung, hatte ein Hallenbad und eine Sauna und einen Neun- Loch-Golfplatz mit Gästen, die selbst wie Hotelbesitzer aussahen. In den anderen Hotels war sie bereits gewesen, in diesem bis jetzt noch nicht. Er hatte sich als deutscher Verleger eingetragen und als Beweis einen Stapel unlesbarer Bücher mitgebracht. Die Damen an der Telefonvermittlung hatte er reichlich mit Trinkgeldern versehen und erklärt, er habe internationale Kontakte, die keinerlei Rücksicht auf seinen Schlaf nähmen. Die Kellner und Hoteldiener kannten ihn als großzügigen Gast, der die ganze Nacht über auf zu sein pflegte. Auf diese Weise hatte er unter verschiedenen Namen und Vorwänden die letzten beiden Wochen gelebt, während er Charlies Vorrücken die Halbinsel hinunter auf seiner einsamen Safari verfolgte. Er hatte auf Betten gelegen und an die Decke gestarrt, genauso wie Charlie. Er hatte mit Kurtz telefoniert und war Litvaks Unternehmungen draußen immer um eine Stunde voraus gewesen. Mit Charlie hatte er sehr sparsam geredet, ab und zu eine Kleinigkeit mit ihr gegessen und ihr noch weitere Tricks über Geheimschriften und Kommunikation beigebracht. Er war ebenso sehr ihr Gefangener gewesen wie sie der seine.
Er machte ihr die Tür auf, und sie ging stirnrunzelnd und wie abwesend an ihm vorüber und wusste nicht, was für Gefühle sie eigentlich haben sollte. Mörder. Schinder. Betrüger. Aber sie hatte keine Lust zu den obligaten Szenen; sie hatte sie alle gespielt, sie war eine ausgebrannte Trauernde. Er hatte sich bereits erhoben, als sie kam, und eigentlich erwartete sie, dass er auf sie zukam und sie in die Arme schloss, doch er versagte sich das. Nie hatte sie ihn so ernst, so beherrscht gesehen. Tiefe Schatten der Besorgnis lagen um seine Augen. Er trug ein weißes, bis zu den Ellbogen aufgekrempeltes Hemd -Baumwolle, keine Seide. Sie starrte es an - war sich endlich bewusst, was sie empfand. Keine Manschettenknöpfe. Kein Amulett um den Hals. Keine Gucci-Schuhe. »Du bist also ganz du selbst«, sagte sie. Er wusste nicht, was sie damit meinte.
»Du kannst den roten Blazer jetzt also vergessen, oder? Du bist du und niemand sonst. Du hast deinen eigenen Doppelgänger umgebracht. Keiner mehr da, hinter dem du dich verstecken könntest.« Sie machte die Handtasche auf und reichte ihm ihren kleinen Radiowecker. Er nahm das Gerät, das ursprünglich ihr gehört hatte, vom Tisch und steckte es ihr in die Handtasche. »Oh ja, weiß Gott«, sagte er lachend und machte ihre Handtasche zu. »Von jetzt an, meine ich, werden wir in unserer Beziehung auf jeden Mittelsmann verzichten können.«
»Wie hat es sich angehört?« fragte Charlie und setzte sich. »Ich fand, es war die beste Leistung seit Sarah Bernhardt.« »Noch besser. Laut Marty war es das Tollste, seit Moses vom Berg Sinai heruntergekommen ist. Vielleicht sogar, bevor er hinaufgestiegen ist. Wenn du wolltest, könntest du jetzt in Ehren aufhören. Sie verdanken dir genug. Mehr als genug.«
Sie, dachte sie. Niemals wir. »Und nach Josephs Ansicht?«
»Das sind große Leute, Charlie. Große kleine Leute aus dem Zentrum. Die große Sache.«
»Habe ich sie hinters Licht geführt?«
Er trat zu ihr und setzte sich neben sie. Um nahe zu sein, nicht, um sie zu berühren. »Da du noch lebst, müssen wir davon ausgehen, dass du sie bis jetzt hinters Licht geführt hast, Charlie«, sagte er.
»Fangen wir an«, sagte sie. Ein raffiniertes kleines Bandgerät lag auf dem Tisch bereit. Sie griff an ihm vorüber und drehte es an. Ohne weitere Vorreden, wie ein altes Ehepaar, das sie jetzt waren, gingen sie zur Einsatzbesprechung über. Denn obwohl Litvaks Funkwagen jedes Wort der Unterhaltung von gestern Nacht aufgefangen hatte, das von dem raffiniert frisierten Radiowecker in Charlies Handtasche gesendet worden war -das pure Gold ihrer eigenen Beobachtungen musste noch ausgegraben und gesiebt werden.