Kapitel 5

Die Fähre legte mit zweistündiger Verspätung in Piräus an, und wenn Joseph nicht schon ihr Flugticket eingesteckt hätte -Charlie hätte ihn womöglich doch noch sitzenlassen. Vielleicht aber auch nicht, denn so verrückt sie nach außen auch wirkte, innerlich litt sie unter dem Fluch der Zuverlässigkeit, die bei den Menschen, mit denen sie verkehrte, oft reinste Verschwendung war. Einerseits hatte sie zuviel Zeit zum Nachdenken gehabt, und obwohl sie sich inzwischen zu der Überzeugung durchgerungen hatte, dass es sich bei dem Geisterzuschauer von Nottingham, York und East London entweder um einen anderen Mann gehandelt oder dass sie sich das Ganze überhaupt nur eingebildet hatte, regte sich in ihrem Inneren immer noch eine beunruhigende Stimme, die sich durch nichts zum Schweigen bringen lassen wollte. Andererseits war es bei weitem schwieriger gewesen, der Familie ihre veränderten Pläne klarzumachen, als Joseph es hingestellt hatte. Lucy war sogar in Tränen ausgebrochen und hatte ihr Geld aufnötigen wollen - »Meine letzten fünfhundert Drachmen, Chas, nimm sie, sie gehören dir!« Willy und Pauly waren betrunken am Pier vor schätzungsweise Tausenden von Zuschauern vor ihr niedergekniet- »Chas, Chas, wie kannst du uns das antun?« -, und um all dem zu entkommen, hatte sie sich durch eine grinsende Menge kämpfen und die ganze Straße hinunterrennen müssen, wobei der Riemen ihrer Schultertasche gerissen war; die Gitarre hatte sie unter dem anderen Arm hängen, und alberne Tränen der Reue liefen ihr übers Gesicht. Ihre Rettung war ausgerechnet der strohblonde Hippie aus Mykonos, der auf demselben Schiff mit ihnen herübergekommen sein musste, wenngleich sie ihn auch nicht gesehen hatte. Er kam mit einem Taxi an ihr vorüber, las sie auf und setzte sie fünfzig Meter von ihrem Bestimmungsort wieder ab. Er stamme aus Schweden und heiße Raoul, sagte er. Sein Vater sei geschäftlich in Athen, und jetzt hoffe er, ein bisschen bei ihm lockermachen zu können. Sie war ein wenig überrascht, dass er sich plötzlich so vernünftig zeigte; Jesus erwähnte er auf der Fahrt kein einziges Mal. Das Diogenes-Restaurant hatte eine blaue Markise. Ein aus dicker Pappe ausgeschnittener Koch forderte sie auf, einzutreten.

Tut mir leid, Jose, falsche Zeit, falscher Ort. Tut mir wirklich leid, Jose, war ein wunderschöner Traum, aber der Urlaub istzu Ende, Chas schwirrt ab, und so bin ich bloßgekommen, um mir mein Flugticket zu holen und dann Leine zu ziehen.

Vielleicht versuchte sie es aber auch auf die einfachere Tour und machte ihm weis, ihr sei eine Rolle angeboten worden. Sie kam sich in ihren abgetragenen Jeans und den ausgelatschten Stiefeln wie eine Schlampe vor, als sie sich zwischen den Straßentischen hindurchdrängelte, bis sie die Innentür erreicht hatte. Er ist ja bestimmt sowieso abgehauen, redete sie sich ein - wer wartet heutzutage schon zwei Stunden auf ein Mädchen, mit dem er ins Bett gehen will? - Flugticket bei der Rezeption nebenan. Vielleicht ist mir das eine Lehre, dachte sie - in stockfinsterer Nacht in Athen hinter mitteleuropäischen Strand-Beaus herzulaufen. Um alles noch schwieriger zu machen, hatte Lucy ihr gestern abend noch einige von ihren Scheiß-Pillen aufgedrängt, die sie erst recht high gemacht und dann hinterher ganz tief in ein schwarzes Loch hatten sacken lassen, aus dem herauszukommen sie sich noch immer abmühte. In der Regel nahm Charlie solche Sachen nicht, aber ihr Schwanken zwischen zwei Liebhabern, wie sie es sich selbst gegenüber inzwischen darstellte, hatte sie anfällig gemacht. Sie wollte gerade das Restaurant betreten, als zwei Griechen herausgestürmt kamen und über den abgerissenen Träger ihrer Schultertasche lachten. Sie stellte sich hin, beschimpfte sie wütend und nannte sie Sexistenschweine. Zornbebend schob sie die Tür mit dem Fuß auf und trat ein. Die Luft wurde kühl, das Stimmengewirr von draußen verstummte, sie stand in einem dämmerig beleuchteten holzgetäfelten Restaurant, und dort - in seinem eigenen bisschen Dunkel saß der heilige Joseph von der Insel, der unheimliche und wohlbekannte Urheber all ihrer Schuldgefühle und des Aufruhrs in ihr, einen griechischen Kaffee neben sich und ein aufgeschlagenes Taschenbuch vor sich.

Rühr mich bloß nicht an, warnte sie ihn bei sich, als er auf sie zukam. Nimm bloß keinen Zentimeter von mir für selbstverständlich. Ich bin müde und ausgehungert, könnte sein, dass ich beiße, und dem Sex hab’ ich für die nächsten zweihundert Jahre abgeschworen. Aber er nahm nur ihre Gitarre und ihre Schultertasche mit dem abgerissenen Riemen, sonst nichts. Und er gab ihr auch nur rasch und förmlich die Hand, wie man es auf der anderen Seite des Atlantiks macht. So fiel ihr nichts anderes ein, als zu sagen: »Du hast ja ein seidenes Hemd an!« Das stimmte, es war cremefarben, mit goldenen Manschettenknöpfen, so groß wie Kronenkorken. »Herrgott, Jose. Wie läufst du denn rum?« rief sie, als sie auch noch das übrige Metall an ihm in Augenschein nahm. »Goldarmband, goldene Uhr - kaum drehe ich dir den Rücken zu, reißt du eine reiche Gönnerin auf!« Das sprudelte alles in einem teils hysterischen, teils aggressiven Ton aus ihr heraus, vielleicht hatte sie instinktiv die Absicht, ihn wegen seines Aufzugs genauso verlegen zu machen, wie sie sich wegen des ihren fühlte. - Was hab’ ich denn erwartet, wie er rumläuft? fragte sie sich wütend. Vielleicht in seiner verdammten keuschen Badehose und mit seiner Feldflasche? Aber Joseph ließ ohnehin alles ungerührt über sich ergehen.

»Charlie. Hallo. Die Fähre hatte Verspätung. Du Ärmste! Aber lass nur. Hauptsache, du bist hier.« Das jedenfalls war Joseph, wie sie ihn kannte - kein Triumph, keinerlei Überraschung, nur eine ernste biblische Begrüßung und ein gebieterisches Nicken für den Kellner. »Willst du dich erst waschen oder erst einen Whisky? Die Damentoilette ist dort drüben.«

»Einen Whisky«, sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen.

Ein gutes Restaurant, das wusste sie sofort. Eines von denen, das die Griechen für sich behalten.

»Ach, und ehe ich’s vergesse.« Er griff hinter sich. Was vergesse? dachte sie, als sie ihn, das Kinn in die Hände gestützt, ansah. Komm schon, Jose. Du hast noch nie im Leben was vergessen. Joseph brachte unter der Bank eine wollene griechische Tasche von einem auffallend schmutzigen Rot zum Vorschein, die er ihr betont beiläufig reichte.

»Da wir beide zusammen in die Welt hinausziehen, ist hier dem Notgepäck. Dein Flugticket von Saloniki nach London ist darin, wenn du möchtest, kannst du immer noch umbuchen. Außerdem etwas Geld, damit du einkaufen, weglaufen oder es dir einfach anders überlegen kannst. War’s schwierig, deinen Freunden zu entkommen? Ich glaub’ schon. Wer macht Leuten gern was vor, vor allem denen, die man mag?«

Er redete, als kenne er sich mit Irreführungen aus, als praktiziere er so was täglich mit Bedauern.

»Kein Fallschirm«, beschwerte sie sich und spähte in die Tasche hinein. »Danke, Jose.« Das sagte sie noch ein zweites Mal. »Sehr passend. Vielen Dank.« Aber sie hatte das Gefühl, dass sie sich selbst nicht mehr glaubte. Mussten Lucys Pillen sein, dachte sie. Die Fahrt mit dem Schiff hat mich ganz durcheinander gebracht.

»Also, wie steht’s mit einem Hummer? Auf Mykonos hast du mir gesagt, Hummer wäre dein Leibgericht. Stimmt das auch? Der Koch hat für dich einen aufgehoben und wartet nur auf deinen Befehl, um ihn zu schlachten. Warum nicht?«

Das Kinn immer noch in die Handfläche gestützt, ließ Charlie ihren Humor die Oberhand gewinnen. Mit müdem Lächeln hob sie die andere Hand, ballte sie zur Faust und zeigte mit caesarischem Daumen nach unten, dass der Hummer des Todes sei.

»Sag ihnen, ich möchte, dass sie so wenig Gewalt wie möglich anwenden«, sagte sie. Dann ergriff sie eine seiner Hände und drückte sie zwischen ihren beiden, um sich für ihre trübsinnige Stimmung zu entschuldigen. Er lächelte und überließ ihr seine Hand, so dass sie damit spielen konnte. Es war eine schöne Hand mit schlanken, harten Fingern und sehr kräftigen Muskeln.

»Und den Wein, den du magst«, sagte Joseph. »Boutaris, weiß und kalt. Hast du das nicht immer gesagt?«

Ja, dachte sie und ließ seine Hand nicht aus den Augen, wie sie ihre einsame Reise zurück über den Tisch machte. Das habe ich immer gesagt. Vor zehn Jahren, als wir uns auf dieser komischen kleinen griechischen Insel trafen. »Und nach dem Essen möchte ich Mephisto für dich spielen, dich auf einen Berg hinaufführen und dir das zweitbeste Fleckchen auf der Welt zeigen. Einverstanden? Ein Ausflug zu den Mysterien?«

»Ich will aber das beste«, sagte sie und trank ihren Whisky.

»Und ich verleihe nie erste Preise«, erwiderte er seelenruhig.

Lass mich hier raus! dachte sie. Jag den Autor zum Teufel! Gib mir ein neues Drehbuch! Sie versuchte es mit einem Party-Gambit direkt aus Rickmansworth.

»So, was hast du denn in den letzten Tagen angestellt, Jose? Natürlich abgesehen davon, dass du dich nach mir verzehrt hast.« Er ging nicht direkt darauf ein, sondern fragte sie nach ihrer eigenen Warterei, nach der Fahrt und nach der Familie. Er lächelte, als sie von der Vorsehung in Gestalt des Hippies erzählte, der sie im Taxi mitgenommen und Jesus kein einziges Mal erwähnt hatte. Er erkundigte sich, ob sie etwas von Alastair gehört habe, und war höflich enttäuscht, als er erfuhr, dass das nicht der Fall sei. »Ach, der schreibt nie«, sagte sie mit einen unbekümmerten Lachen. Er fragte, was für eine Filmrolle er denn ihrer Meinung nach angeboten bekommen habe; sie vermutete, einen Spaghetti-Western, und er fand das lustig: diesen Ausdruck hatte er noch nie gehört und bestand darauf, dass sie ihm ihn erklärte. Als sie ihren Whisky ausgetrunken hatte, fand sie allmählich, dass sie vielleicht doch attraktiv für ihn war. Sie redete mit ihm über Al und war beeindruckt davon, wie sie mit eigenen Worten Raum für einen neuen Mann in ihrem Leben machte.

»Aber wie auch immer, ich hoffe nur, er hat wirklich Erfolg, das ist alles«, sagte sie und ließ durchblicken, dass Erfolg ihn für andere Enttäuschungen entschädigen könnte.

Doch noch während sie auf ihn zuging, überkam sie erneut das Gefühl, dass alles nicht stimmte. Dieses Gefühl hatte sie auch manchmal auf der Bühne, wenn eine Szene nicht lief: dass die Ereignisse zusammenhanglos und in hölzerner Folge abliefen, dass der Dialog zu dünn war, zu direkt. Jetzt, dachte sie. Sie kramte in ihrer Schultertasche, brachte ein Olivenholzkästchen zum Vorschein und reichte es ihm über den Tisch hinweg. Er nahm es, weil es ihm gereicht wurde, erkannte es jedoch nicht gleich als Geschenk. Es amüsierte sie, für einen Augenblick so etwas wie Angst, ja Argwohn in seinem Gesicht zu entdecken, als ob ein unerwarteter Umstand seine Pläne zu durchkreuzen drohe.

»Mach’s schon auf«, ermunterte sie ihn.

»Aber was ist es?« Er spielte ein wenig den Clown für sie, schüttelte das Kästchen leicht und hielt es ans Ohr. »Muss ich einen Eimer Wasser bestellen?« fragte er. Aufseufzend, als ob nichts Gutes herauskommen könne, hob er den Deckel und betrachtete nachdenklich die Päckchen aus Seidenpapier, die darin steckten. »Charlie, was ist das? Ich bin völlig durcheinander. Bring sie sofort wieder dorthin zurück, wo du sie gefunden hast.« »Mach schon! Wickle sie aus.«

Er hob eine Hand. Sie beobachtete sie, als verharre sie unsicher über ihrem eigenen Körper, dann senkte sie sich auf das erste Päckchen nieder, eine große rosa Muschel, die Charlie am Tag seiner Abreise am Strand gefunden und aufgehoben hatte. Feierlich legte er sie auf den Tisch und holte das nächste Angebinde heraus, ein geschnitztes griechisches Eselchen made in Taiwan, das sie im Andenkenladen gekauft und auf dem Bauch eigenhändig mit ›Joseph‹ beschriftet hatte. Er hielt es in beiden Händen und drehte es hin und her, während er es betrachtete.

»Es ist ein Junge«, sagte sie, brachte es jedoch nicht fertig, den ernsten Ausdruck auf seinem Gesicht zu verscheuchen. »Und das hier bin ich - schmollend«, erklärte sie, als er das gerahmte Foto herausholte, das, mit Roberts Polaroid-Kamera aufgenommen, Charlies Rückenansicht mit Strohhut und Strandkleid zeigte. »Ich war gerade wütend und wollte nicht posieren. Ich dachte, du würdest das zu schätzen wissen.«

Seine Dankbarkeit schmeckte nach nüchterner Überlegung, die sie eisig berührte. Danke, aber nein, schien er zu sagen; danke, aber ein andermal. Pauly nicht, Lucy nicht, du aber auch nicht. Sie zögerte, dann sagte sie es ihm - freundlich und gütig direkt ins Gesicht.

»Jose, wir brauchen das nicht unbedingt weiterzumachen, verstehst du? Ich schaff das Flugzeug immer noch, wenn dir das lieber ist. Ich wollte dich nicht auf...«

»Was?«

»Ich wollte dich nicht auf ein unüberlegtes Versprechen festnageln. Das ist alles.«

»Aber es war nicht unüberlegt. Ich habe es sehr ernst gemeint.« Jetzt war er an der Reihe. Er holte einen Packen Reiseprospekte hervor. Ohne dass er sie dazu aufgefordert hatte, kam sie herum, setzte sich neben ihn und legte ihm sorglos den Arm um die Schulter, damit sie sie gemeinsam ansehen konnten. Seine Schulter war hart wie Fels und in etwa auch so innig, trotzdem nahm sie den Arm nicht wieder weg. Delphi, Jose: fabelhaft, toll. Ihr Haar lag an seiner Wange. Sie hatte es gestern abend eigens für ihn gewaschen. Olymp: hinreißend. Meteora: nie gehört. Sie berührten sich mit der Stirn. Saloniki: wow. Die Hotels, in denen sie übernachten sollten, alle Zimmer vorbestellt. Sie gab ihm einen Kuss auf den Jochbogen, gleich neben dem Auge, ein flüchtiger Kuss auf ein vorüberziehendes Ziel gedrückt. Er lächelte und drückte ihr onkelhaft die Hand, bis sie fast aufhörte, sich zu fragen, was an ihm - oder ihr - es war, das ihm das Recht gab, sie kampflos, ja ohne dass sie überhaupt die Waffen gestreckt hatte, für sich zu beanspruchen; oder woher das Wiedererkennen kam - das ›Tag, Charlie‹ -, das ihre erste Begegnung zu einem Wiedersehen alter Freunde gemacht hatte und diese hier zu einer Unterhaltung über ihre Flitterwochen. Vergiss es, dachte sie. »Du trägst nie einen roten Blazer, oder, Jose?« fragte sie, ehe sie die Frage nur richtig überlegt hatte. »Weinrot, Messingknöpfe, im Schnitt ein Hauch zwanziger Jahre?« Langsam hob er den Kopf; er wandte sich um und erwiderte ihren Blick. »Soll das ein Witz sein?« »Nein. Nur eine Frage ohne Hintergedanken.« »Einen roten Blazer? Aber warum denn um Himmels willen? Möchtest du, dass ich für deine Fußballmannschaft Reklame mache oder so etwas Ähnliches?«

»Er würde dir stehen. Das ist alles.« Er wartete immer noch auf ihre Erklärung. »Ach, so sehe ich Leute eben manchmal«, sagte sie, schon auf dem Rückzug. »Wie im Theater. In meiner Phantasie. Du kennst keine Schauspielerinnen, nicht wahr? Ich staffier’ die Leute aus - mit Bärten - allem möglichen. Du würdest dich wundern. Und kostümiere sie. Steck’ sie in Knickerbocker. Oder Uniform. In meiner Vorstellung. Es ist eine Angewohnheit von mir.«

»Möchtest du etwa, dass ich mir für dich einen Bart stehen lasse?«

»Wenn ja, lass es mich rechtzeitig wissen.«

Er lächelte, sie erwiderte das Lächeln - noch eine Begegnung übers Rampenlicht hinweg -, sein Blick ließ von ihr ab, und sie ging auf die Toilette und funkelte sich wuterfüllt im Spiegel an, während sie versuchte, ihm auf die Schliche zu kommen. Kein Wunder, dass er diese Scheiß-Schussnarben hat, dachte sie. Das müssen Frauen gewesen sein.

Sie hatten gegessen, sie hatten sich mit der Ernsthaftigkeit von Fremden unterhalten, er hatte aus einer Krokodilleder-Brieftasche die Rechnung bezahlt, die die Hälfte der Staatsschulden betragen haben musste, in welches Land auch immer er gehörte.

»Setzt du mich auf Spesen, Jose?« fragte sie ihn, als sie zusah, wie er die Quittung zusammenfaltete und einsteckte. Die Frage wurde nicht beantwortet, denn Gott sei Dank brach sein vertrautes Organisationstalent plötzlich wieder durch, und es stellte sich heraus, dass sie nur noch schrecklich wenig Zeit hatten.

»Bitte, halt nach einem müden alten Opel mit eingebeulten Kotflügeln und einem zehn Jahre alten Fahrer Ausschau«, sagte er, als er sie - ihr Gepäck über dem Arm - durch einen engen Küchenkorridor trieb. »Wird gemacht«, sagte sie.

Der Wagen wartete am Seiteneingang und hatte wie versprochen eingebeulte Kotflügel. Der Fahrer nahm ihm ihr Gepäck ab und verstaute es im Kofferraum, was sehr rasch ging. Er war sommersprossig und blond und gesund aussehend, hatte ein breites, einfältiges Grinsen aufgesetzt und sah in der Tat, wenn nicht wie zehn, so doch höchstens wie fünfzehn aus. Die heiße Nacht ließ den üblichen gemächlichen Regen niedergehen.

»Charlie, das ist Dimitri«, sagte Joseph, als er sie auf den Rücksitz verfrachtete. »Seine Mutter hat ihm heute ausnahmsweise mal erlaubt, länger aufzubleiben. Dimitri, bitte, sei so gut und bring uns zum zweitbesten Fleck auf der Welt.« Er hatte sich neben sie gesetzt. Der Motor sprang sofort an, und gleichzeitig damit begann er seinen witzigen Fremdenführermonolog. »So, Charlie, das hier ist die Heimat der modernen griechischen Demokratie, der Platz der Verfassung; versäumen Sie nicht zu bemerken, wie viele Demokraten ihre Freiheit im Freien vor den Restaurants genießen. Zu unserer Linken sehen Sie das Olympieion und das Hadrianstor. Ehe Sie auf falsche Gedanken kommen, muss ich Sie freilich darauf aufmerksam machen, dass es sich um einen anderen Hadrian handelt als den, der Ihren berühmten Wall gebaut hat. Bei dem Athener handelt es sich um einen wesentlich phantasievolleren Mann, finden Sie nicht auch? Künstlerischer, würde ich sagen.«

»Viel künstlerischer«, sagte sie.

Nun reiß dich doch endlich zusammen, sagte sie sich zornig. Lass alle Bedenken fahren. Es ist eine Gratisreise, ein neuer toller Mann, das antike Griechenland, und es nennt sich Spaß. Sie fuhren langsamer. Zu ihrer Rechten sah sie kurz ein paar Ruinen, doch gleich darauf waren sie wieder hinter hohen Büschen verborgen. Sie kamen zu einem Kreisverkehr, rollten langsam einen gepflasterten Hügel hinauf und hielten dann. Joseph sprang raus, hielt ihr den Wagenschlag auf, ergriff ihre Hand und führte sie schnell, verschwörerisch fast, eine schmale Steintreppe zwischen überhängenden Bäumen hinauf. »Wir sprechen nur im Flüsterton, und dann auch nur einen höchst komplizierten Code«, warnte er sie leise murmelnd wie auf der Bühne, und sie erwiderte etwas ähnlich Bedeutungsloses. Sein Griff war wie ein Stromstoß. Ihre Finger schienen bei seiner Berührung zu brennen. Sie folgten einem Waldpfad, mal gepflastert, mal trockene Erde, doch die ganze Zeit über ging es bergauf. Der Mond war verschwunden, und es war sehr dunkel, doch Joseph stürmte unbeirrt vor ihr her, als wäre es hellichter Tag. Einmal ging es über eine Steinbrücke, einmal über einen wesentlich breiteren Weg, doch er war nicht der Mann, der die leichteren Pfade einschlug. Die Bäume lichteten sich, und zu ihrer Rechten sah sie die Lichter der Stadt bereits tief unter sich. Zu ihrer Linken, immer noch weit oben, stand eine Art Bergspitze schwarz vor dem orangefarbenen Horizont. Sie hörte Schritte hinter sich und Lachen, aber es waren nur zwei junge Leute, die über etwas kicherten.

»Du hast doch nichts gegen einen Fußmarsch?« fragte er sie, ohne im Tempo nachzulassen.

»Und ob!« antwortete sie.

Eine Josephs-Pause.

»Möchtest du, dass ich dich trage?«

»Ja.«

»Leider hab’ ich eine Muskelzerrung im Rücken.«

»Hab’ ich gesehen«, sagte sie und packte seine Hand fester. Sie schaute wieder nach rechts und erkannte etwas, das aussah wie die Ruinen einer alten englischen Mühle, ein Bogenfenster über dem anderen und dahinter die erleuchtete Stadt. Sie schaute nach links, und die Bergspitze war zu den schwarzen rechteckigen Umrissen eines Gebäudes geworden, bei dem am einen Ende so etwas wie ein Schornstein aufzuragen schien. Dann waren sie wieder unter Bäumen mit dem ohrenbetäubenden Zirpen der Zikaden und dem Geruch der Tannen, der so stark war, dass ihre Augen anfingen zu brennen. »Es ist ein Zelt«, flüsterte sie und bat ihn dann, einen Augenblick stehenzubleiben. »Stimmt’s? Sex auf dem Süd-Pass. Wie hast du meine geheimsten Gelüste erraten?«

Aber er schritt kraftvoll vor ihr her. Sie war außer Atem, aber wenn ihr danach war, konnte sie einen ganzen Tag lang laufen; folglich musste ihre Atemnot von etwas anderem kommen. Sie hatten einen breiten Weg erreicht. Vor ihnen standen zwei graue Gestalten in Uniform vor einer kleinen Steinhütte Wache, auf der im Inneren eines Drahtkäfigs eine Glühbirne brannte. Joseph ging auf die Männer zu, und sie hörte, wie sie leise zurückgrüßten. Die Hütte stand zwischen zwei Eisentoren. Hinter dem einen lag wieder die Stadt, jetzt ein fernes Meer blinkender Lichter; doch hinter dem anderen herrschte nur pechschwarze Dunkelheit, und in dieses Dunkel sollten sie eingelassen werden, denn sie hörte das Klirren von Schlüsseln und das Knirschen von Eisen, als der Torflügel sich langsam in den Angeln drehte. Einen Moment packte sie Panik. Was mache ich hier? Wo bin ich? Mach, dass du wegkommst, Schwachkopf, mach, dass du wegkommst! Bei den beiden Männern handelte es sich um städtische Angestellte oder Polizisten, und sie schloss aus ihrer Einfältigkeit, dass Joseph sie bestochen hatte. Sie sahen alle auf die Uhr, und als er das Handgelenk hob, sah sie einen Schimmer von seinem auffälligen cremefarbenen Hemd und den Manschettenknöpfen. Jetzt winkte Joseph sie vorwärts. Sie warf einen Blick zurück und sah zwei Mädchen unter ihr auf dem Weg stehen und heraufblicken. Er rief sie. Sie ging auf das offen stehende Tor zu. Sie spürte, wie die Polizisten sie mit den Augen auszogen, und ihr ging durch den Kopf, dass Joseph sie bis jetzt noch nie so angesehen hatte; er hatte noch nicht den plumpen Beweis geliefert, sie zu begehren. In ihrer Unsicherheit wünschte sie nichts sehnlicher, als dass er das tun würde.

Das Tor schloss sich hinter ihr. Da waren Stufen, und nach den Stufen kam ein Weg über glatte Felsen. Sie hörte, dass er ihr riet, vorsichtig zu sein. Sie hätte gern den Arm um ihn gelegt, doch er dirigierte sie so, dass sie vor ihm herging, sagte, der Blick dürfe durch ihn nicht versperrt werden. Es geht also um einen Blick, dachte sie. Den zweitbesten Blick auf Erden. Der Felsen musste Marmor sein, denn er glänzte selbst im Dunkeln, und ihre Ledersohlen rutschten gefährlich darauf. Einmal wäre sie ums Haar hingefallen, doch seine Hand fing sie mit einer Schnelligkeit und einer Kraft auf, mit der verglichen Al ihr schwächlich vorkommen musste. Einmal drückte sie seinen Arm an ihre Seite, so dass seine Fingerknöchel sich gegen ihre Brust pressten. Fühl doch, forderte sie ihn verzweifelt in Gedanken auf. Die gehört mir, die erste von zweien; die linke ist ein kleines bisschen erogener als die rechte, aber wen kümmert’s? Der Pfad verlief im Zickzack, das Dunkel lichtete sich und fühlte sich für sie heiß an, als hätte es die Tageshitze aufgesaugt. Unter ihr, zwischen den Bäumen, fiel die Stadt zurück wie ein entschwindender Planet; über ihr war sie sich nur des zackigen Dunkels von Türmen und Gerüsten bewusst. Der Verkehrslärm legte sich und überließ die Nacht den Zikaden.

»Jetzt geh bitte langsam.«

An seinem Ton erkannte sie, dass - was immer es sein mochte - nahe war. Wieder verlief der Pfad im Zickzack; sie kamen zu einer Holztreppe. Stufen und ein Treppenabsatz, wieder Stufen. Joseph schlug hier einen leichten Schritt an, und sie folgte seinem Beispiel, so dass sie erneut in ihrem heimlichen Tun vereint waren. Seite an Seite schritten sie durch ein breites Tor, so überwältigend groß, dass sie unwillkürlich den Kopf hob. Und als sie das tat, sah sie, wie ein roter Halbmond zwischen den Sternen herunterrutschte und seinen Platz zwischen den Säulen des Parthenons einnahm.

»Mein Gott!« flüsterte sie. Sie kam sich fehl am Platz vor und einen Augenblick lang mutterseelenallein. Langsam ging sie voran, wie jemand, der auf eine Fata Morgana zugeht, jeden Augenblick darauf gefasst, dass sie sich in nichts auflöst, doch sie tat es nicht. Sie schritt die ganze Länge des Parthenons ab und hielt nach einer Stelle Ausschau, wo man hinaufsteigen konnte, doch an der ersten Treppe verkündete ein korrektes Schild: BETRETEN VERBOTEN! Plötzlich, aus einem unerfindlichen Grund, lief sie. Sie lief zwischen den Felsen himmelwärts auf den dunklen Rand dieser unirdischen Stadt zu und war sich nur halb bewusst, dass Joseph in seinem Seidenhemd mühelos neben ihr her trabte. Sie lachte und redete zur gleichen Zeit, sagte die Dinge, die sie, wie man ihr erzählt hatte, im Bett von sich gab - alles, was ihr in den Sinn kam. Sie hatte das Gefühl, sie könne ihren Körper hinter sich lassen und, ohne zu stürzen, in den Himmel hineinlaufen. Allmählich in Schritttempo fallend, erreichte sie die Brüstung, warf sich darauf und schaute hinunter auf die erleuchtete, vom Schwarzen Meer der Attischen Ebene umgebene Insel. Sie blickte zurück und sah ihn, wie er ein paar Schritte hinter ihr stand und sie beobachtete.

»Danke«, sagte sie schließlich.

Dann ging sie zu ihm, packte seinen Kopf mit beiden Händen und küsste ihn auf den Mund mit einem Kuss, der fünf Jahre dauerte, erst ohne Zunge, dann mit Zunge, sie drehte seinen Kopf hierher und dorthin und betrachtete zwischendurch seine Züge, als gelte es, die Wirkung ihrer Mühen abzumessen, und diesmal hielten sie einander lange genug umfasst, dass sie sich absolut sicher sein konnte: Ja, es funktioniert.

»Danke, Jose«, wiederholte sie, merkte jedoch nur, dass er sich von ihr löste. Sein Kopf entglitt ihrem Griff, seine Hände gaben ihre Arme frei und schoben sie zurück an ihre Seite. Sie stand - erstaunlich - mit leeren Händen da.

Verdattert, wütend fast starrte sie im Mondschein in sein loses Wachtposten-Gesicht. Sie ging davon aus, dass sie sie mit der Zeit alle kennengelernt hatte: die heimlichen Schwulen, die so lange blufften, bis sie anfingen zu weinen, die von dem eingebildeten Schreckgespenst der Impotenz Verfolgten zu alten Jungfrauen, die Möchtegern-Don-Juans und legendären Beschäler, die im letzten Augenblick aus Scheu oder schlechtem Gewissen einen Rückzieher machten. Und sie hatte in der Regel immer genügend aufrichtiges Zartgefühl besessen, Mutter oder Schwester oder das andere zu spielen und mit jedem von ihnen so etwas wie eine bleibende Beziehung herzustellen. Doch in Joseph spürte sie, als sie in seine im Dunkeln liegenden Augenhöhlen hineinsah, ein Widerstreben, wie es ihr bisher noch nie begegnet war. Nicht, dass er sie nicht begehrt oder nicht gekonnt hätte. Sie war auf diesem Gebiet viel zu erfahren, als dass sie sich, was die Spannung und die Selbstsicherheit seiner Umarmung betraf, hätte irren können. Vielmehr war es so, als läge sein Ziel irgendwo jenseits von ihr und als versuche er, ihr das durch seine Zurückhaltung zu verstehen zu geben.

»Soll ich dir noch mal danken?« fragte sie.

Schweigend sah er sie einen Augenblick länger an. Dann hob er den Arm und warf im Mondlicht einen Blick auf seine goldene Uhr.

»Ich meine, da uns ohnehin schon zu wenig Zeit bleibt, sollte ich dir ein paar von den Tempeln hier zeigen. Gestattest du, dass ich dich langweile?«

In der außerordentlichen Distanz, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte, verließ er sich darauf, dass sie ihn in seinem Keuschheitsgelübde unterstützte.

»Jose, ich möchte sie alle kennenlernen«, erklärte sie, hakte sich bei ihm unter und schob mit ihm ab wie mit einer Trophäe. »Wer hat ihn gebaut, wie viel hat er gekostet, was hat man hier angebetet, und hat es was genützt? Du darfst mich langweilen, bis dass das Leben uns scheidet.«

Sie wäre nie drauf gekommen, dass er etwa nicht alle Antworten kenne, und sie irrte sich nicht. Er hielt ihr einen Vortrag, und sie hörte ihm zu; gelassen führte er sie von Tempel zu Tempel, sie folgte ihm, hielt seinen Arm und dachte: Ich werde deine Schwester sein, deine Schülerin, was du willst. Ich werde dir Stecken und Stab sein und sagen, das warst ganz allein du, ich werde mich hinlegen und sagen, das war ganz allein ich, ich werde dir dieses Lächeln austreiben, und wenn es mich das Leben kostet.

»Nein, Charlie«, sagte er ernst, »die Propyläen sind keine Göttin, sondern der Eingang zu einem Heiligtum. Das Wort kommt von propylon; die Griechen gebrauchten den Plural aus Achtung vor heiligen Stätten.« »Das hast du doch alles nur für uns auswendig gelernt, nicht wahr, Jose?«

»Selbstverständlich. Alles für dich. Warum nicht?«

»Ich könnte das. Ein Gehirn wie einen Schwamm, das hab’ ich. Du würdest dich wundern. Ein Blick in die Bücher, und ich wäre im Handumdrehen deine Expertin.«

Er blieb stehen, sie mit ihm

»Dann wiederhol es mir«, sagte er.

Zuerst glaubte sie ihm nicht, sie argwöhnte, er wolle sie auf den Arm nehmen. Doch dann packte sie ihn an den Armen, drehte ihn mit einem Ruck um und machte den gesamten Rundgang noch einmal mit ihm und wiederholte ihm alles, was er gesagt hatte.

»Na, bestanden?« Sie waren wieder ans Ende gelangt. »Bekomme ich den zweiten Preis?«

Sie wartete wieder auf eine seiner berühmten Drei-MinutenWarnungen: »Es ist nicht der Schrein der Agrippa, sondern ihr Denkmal. Bis auf diesen kleinen Fehler, würde ich sagen, hast du alles vollkommen wortgetreu wiederholt. Herzlichen Glückwunsch.«

Im selben Au genblick hörte sie von weit unten ein Auto hupen, drei gezielte Signale, und sie wusste, dass dieses Hupen für ihn bestimmt war, denn er hob sofort den Kopf, nahm es in sich auf wie ein witterndes Wild, bevor er noch einmal einen Blick auf die Uhr warf. Die Kutsche hat sich in einen Kürbis zurückverwandelt, dachte sie; Zeit, dass brave Kinder zu Bett gehen und einander sagen, was, zum Teufel, sie eigentlich getrieben haben.

Sie waren bereits beim Abstieg, als Joseph stehen blieb und einen Blick auf das melancholische Dionysos-Theater warf, ein nur vom Mond und ein paar verirrten fernen Lichtern erhelltes ausgehöhltes Rund. Ein Abschiedsblick, dachte sie verwirrt, als sie ihn so regungslos als schwarze Silhouette vor den Lichtern der Stadt stehen sah. »Irgendwo habe ich gelesen, dass ein echtes Drama niemals nur eine persönliche Aussage sein kann«, meinte er. »Romane, Gedichte ja. Aber nicht ein Drama. Ein Drama muss immer einen Bezug zur Wirklichkeit haben. Ein Drama muss etwas nützen. Glaubst du das auch?«

»In der Lehranstalt für höhere Töchter von Burton-on-Trent?« entgegnete sie lachend. »Wenn sie in einer Sonntags-Matinee für alte Leute die Helena von Troja spielen?«

»Ich meine das ernst. Sag mir, wie du darüber denkst.« »Übers Theater?« »Über seinen Nutzen.«

Durch seinen Ernst geriet sie aus der Fassung. Es hing zu viel von ihrer Antwort ab.

»Nun, ich finde auch«, sagte sie unbeholfen, »das Theater sollte etwas nützen. Es sollte die Menschen dazu bringen, Anteil zu nehmen und mitzufühlen. Es sollte - nun ja, das Bewusstsein der Menschen wecken.«

»Also wirklich sein? Bist du sicher?«

»Sicher bin ich sicher.«

»Nun denn«, sagte er, als ob sie ihm in dem Fall keinen Vorwurf machen dürfe.

»Nun denn«, wiederholte sie fröhlich wie ein Echo.

Wir sind wahnsinnig, zu diesem Schluss kam sie. Sind belfernde, meldepflichtige Irre, alle beide. Der Polizist grüßte sie auf ihrem Weg zurück zur Erde.

Zuerst dachte sie, er wollte ihr einen üblen Streich spielen. Bis auf den Mercedes war die Straße leer, und der Mercedes stand ganz allein darauf. Auf einer Bank nicht weit davon entfernt saß ein knutschendes Pärchen; sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen. Der Wagen war dunkel, aber nicht schwarz. Er war dicht neben dem Grasstreifen geparkt und das Nummernschild vorn nicht zu sehen. Solange sie Auto fahren konnte, hatte sie etwas für Mercedes übrig gehabt; seiner Kompaktheit nach musste es sich um eine Sonderanfertigung handeln und mit den Antennen und Chromleisten um irgendjemands Spezialspielzeug mit sämtlichen Extras. Er hatte sie untergehakt, und erst, als sie fast neben der Fahrertür standen, ging ihr auf, dass er sich anschickte, die Tür zu öffnen. Sie sah, wie er den Schlüssel ins Schloss steckte und sämtliche vier Verriegelungen gleichzeitig hochgingen, und ehe sie sich versah, führte er sie um den Wagen herum zur Beifahrertür, und sie fragte ihn, was, zum Teufel, denn eigentlich vorgehe.

»Gefällt er dir nicht?« fragte er mit einer unwirklichen Leichtfertigkeit, die sie augenblicklich misstrauisch machte. »Soll ich einen anderen kommen lassen? Ich dachte, du hättest eine Schwäche für schöne Autos.«

»Soll das heißen, dass es ein Leihwagen ist?«

»Nicht das, was du darunter verstehst. Aber jemand hat ihn uns für unsere Reise geliehen.«

Er hielt ihr den Schlag auf. Sie stieg nicht ein. »Wer hat ihn dir geliehen?« »Ein gütiger Freund.« »Wie heißt er?«

»Charlie, nun sei doch nicht albern. Herbert. Karl. Was bedeutet schon ein Name? Würdest du die egalitären Unbequemlichkeiten eines griechischen Fiats vorziehen?«

»Wo ist mein Gepäck?«

»Im Kofferraum. Dimitri hat es dort auf meine Anweisung hin verstaut. Möchtest du nachsehen und dich überzeugen?«

»Ich fahre nicht mit dem Ding, das ist verrückt.« Sie stieg trotzdem ein, und im Nu saß er neben ihr und ließ den Motor an. Er trug Autohandschuhe aus schwarzem Leder mit Luftlöchern auf dem Handrücken. Er musste sie in der Tasche gehabt und beim Einsteigen übergestreift haben. Das Gold um seine Handgelenke stach leuchtend von ihnen ab. Er fuhr schnell und gewandt. Auch das mochte sie nicht - so fuhr man nicht die Autos seiner Freunde. Ihre Tür war versperrt. Er hatte sie alle wieder mit dem zentralen Verriegelungsschalter gesichert. Er hatte das Radio angemacht; es spielte wehmütige griechische Musik. »Und wie mach’ ich das Scheißfenster auf?« fragte sie. Er drückte auf einen Knopf, und der warme Nachtwind fuhr über sie dahin und brachte den Duft von Harz mit. Doch er ließ das Fenster nur ein paar Fingerbreit herunter.

»So was machen wir öfter, nicht wahr?« fragte sie laut. »Eine von unseren kleinen Extravaganzen, ja? Damen mit doppelter Schallgeschwindigkeit an unbekannte Ziele bringen?«

Keine Antwort. Er schaute angestrengt geradeaus. Wer ist er? Bei meiner Treu - wie ihre Scheiß-Mutter sagen würde -, wer ist er? Das Wageninnere füllte sich mit Licht. Sie fuhr herum und sah durch die Heckscheibe knapp hundert Meter hinter ihnen zwei Scheinwerfer, die weder näher kamen noch zurückfielen.

»Sind das unsere oder ihre?« wollte sie wissen.

Sie wollte sich gerade wieder bequem hinsetzen, als ihr aufging, was ihr sonst noch ins Auge gefallen war. Ein roter Blazer, der auf dem Rücksitz lag, Messingknöpfe wie die Messingknöpfe in Nottingham und York: und - sie hätte jede Wette gemacht - mit einem Hauch zwanziger Jahre im Schnitt. Sie bat ihn um eine Zigarette.

»Warum siehst du nicht im Handschuhfach nach?« sagte er, ohne den Kopf zu wenden. Sie zog es auf und sah ein Päckchen Marlboro. Daneben lag ein seidener Schal und eine teure Polaroid-Sonnenbrille. Sie nahm den Schal heraus und schnupperte daran; er roch noch Herren-Toilettenwasser. Sie nahm sich eine Zigarette. Mit der behandschuhten Hand reichte Joseph ihr den glühenden Zigarettenanzünder vom Armaturenbrett.

»Dein Freund hat was für flotte Kleidung übrig, was?« »Oh ja, kann man wohl sagen. Warum fragst du?« »Ist das sein roter Blazer da auf dem Rücksitz oder deiner?« Er warf wie beeindruckt rasch einen Blick nach hinten und wandte die Augen dann wieder der Straße zu. »Sagen wir, er gehört ihm, aber ich habe ihn mir ausgeliehen«, erwiderte er ruhig, während das Auto beschleunigte.

»Und die Sonnenbrille hast du dir auch von ihm geliehen, oder? Die hast du wohl verdammt noch mal gebraucht, als du so tief vorm Rampenlicht gesessen hast. Fast schon auf der Bühne. Und du heißt Richthoven, stimmt’s?« »Richtig.«

»Vorname Peter, aber du ziehst vor, Joseph genannt zu werden. Lebst in Wien, treibst ein bisschen Handel, studierst ein bisschen.«

Sie hielt inne, doch er sagte nichts. »In einem Postfach.« Sie ließ sich nicht beirren. »Nummer siebenhundertzweiundsechzig, Hauptpostamt. Richtig?«

Sie sah, wie er wegen ihres Gedächtnisses anerkennend leicht mit dem Kopf nickte. Die Nadel des Geschwindigkeitsmessers kletterte auf 130.

»Staatsangehörigkeit offen. Feinfühlige Promenadenmischung«, fuhr sie forsch fort. »Du hast drei Kinderchen und zwei Frauen. Alle in einem Postfach.«

»Keine Frauen. Keine Kinder.«

»Überhaupt nie? Oder nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine?«

»Überhaupt keine.«

»Nicht, dass du meinst, ich hätte was dagegen, Jose. Mir war’s sogar ausgesprochen lieb. Alles, was dich in diesem Augenblick näher bestimmen könnte. Egal was. Mädchen sind so - neugierig.« Ihr ging auf, dass sie immer noch den Schal in der Hand hielt, sie warf ihn ins Handschuhfach und klappte es mit lautem Knall zu. Die Straße war gerade, aber sehr schmal, die Nadel hatte 140 Kilometer erreicht, und sie spürte, wie Panik in ihr hochkroch und mit ihrer aufgesetzten Ruhe kämpfte.

»Wie war’s, wenn du mir mal was Nettes erzähltest? Irgendwas, um eine gewisse Person zu beruhigen?« »Das Nette ist, dass ich dich so wenig wie möglich belogen habe und es jetzt nicht mehr lange dauert, bis du begreifen wirst, dass es viele gute Gründe gibt, bei uns zu sein.«

»Wer sind wir?« fragte sie scharf.

Bis eben war er ein Einzelgänger gewesen. Diese Ve ränderung gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie fuhren auf eine Hauptstraße zu, doch er ging mit dem Tempo nicht herunter. Sie sah die Lichter von zwei Autos auf sie zukommen und hielt die Luft an, als er gleichzeitig auf Kupplung und Bremse trat und den Mercedes säuberlich vor ihnen einfädelte, schnell genug, dass das Auto hinter ihnen dasselbe tun konnte.

»Es geht nicht um Waffenschmuggel, oder?« fragte sie und dachte plötzlich an seine Narben. »Du führst doch als Nebengeschäft nicht irgendwo einen kleinen Krieg, oder? Ich kann nämlich Knallerei nicht ab, verstehst du. Dazu hab’ ich zu empfindliche Trommelfelle.« Ihre Stimme mit der forcierten Munterkeit kam ihr ganz fremd vor.

»Nein, Charlie, es geht nicht um Waffenschmuggel.«

»›Nein, Charlie, es geht nicht um Waffenschmuggel.‹ Um weißen Sklavenhandel?«

»Nein, auch nicht um weißen Sklavenhandel.«

Auch diese Antwort äffte sie nach.

»Bleiben nur noch Drogen, nicht wahr? Denn mit irgendwas musst du doch handeln, oder? Nur, Drogen liegen offen gestanden auch nicht auf meiner Linie. Long Al lässt mich sein Hasch am Körper tragen, wenn wir durch den Zoll müssen, und ich bin hinterher noch tagelang mit den Nerven völlig fertig.« Keine Antwort. »Was Höheres, also? Edleres? Auf einem ganz anderen Niveau?« Sie streckte die Hand aus und stellte das Radio ab. »Wie war’s eigentlich, wenn du ganz einfach mal anhieltest? Du brauchst mich nicht irgendwohin zu bringen. Du kannst gleich morgen zurück nach Mykonos, wenn du willst, und meinen Ersatz aufreißen.«

»Und dich hier mutterseelenallein einfach absetzen und stehen lassen? Sei doch nicht albern.« »Tu’s!« schrie sie. »Halt den Scheiß-Wagen an!« Sie hatten ein paar Verkehrsampeln überfahren und waren nach links abgebogen, und zwar so heftig, dass ihr Anschnallgurt sich straffte und alle Luft aus ihr herauspresste. Sie stürzte sich auf das Lenkrad, doch sein Unterarm war lange vor ihr da. Er bog ein zweites Mal nach links ab, durch ein weißes Tor in eine von Azaleen und Hibiskus gesäumte Privatauffahrt. Die Auffahrt führte um eine Kurve, sie flogen herum und kamen an einer durch weißgetünchte Steine abgegrenzten Kiesfläche zum Stehen. Das zweite Auto kam hinter ihnen zum Halten und blockierte den Weg nach draußen. Sie hörte Schritte auf dem Kies. Das Haus war eine von roten Blüten überwucherte alte Villa. Im Strahl der Scheinwerfer sahen die Blüten aus wie frische Blutflecken. Unter dem Vorbau brannte ein schwaches Licht. Joseph stellte den Motor ab und steckte den Zündschlüssel in die Tasche. Er lehnte sich über Charlie und drückte die Tür für sie auf, so dass plötzlich der süßliche Duft von Hortensien und das vertraute Gezwitscher der Zikaden hereindrang. Er stieg aus, doch Charlie blieb sitzen. Keine Brise regte sich, die Luft stand, und nichts war zu hören außer den vorsichtigen Schritten von leichtfüßigen jungen Leuten, die sich um den Wagen versammelten. Dimitri, der zehnjährige Fahrer mit dem einfältigen Lächeln. Raoul, der strohblonde Jesus-Freak, der in Taxis fuhr und einen reichen schwedischen Daddy hatte. Zwei Mädchen in Jeans und Jacken, dasselbe Gespann, das ihnen auf die Akropolis hinauf gefolgt war, und - jetzt, da sie sie deutlicher sah - auch dasselbe Gespann, das sie ein paarmal auf Mykonos hatte herumstreichen sehen, als sie Schaufensterbummel machte. Als sie das dumpfe Geräusch von jemand hörte, der den Kofferraum auslud, sprang sie wütend aus dem Wagen. »Meine Gitarre!« rief sie. »Die rührt ihr nicht an, die...«

Aber Raoul hatte sich die Gitarre bereits unter den Arm geklemmt, und Dimitri hatte sich ihrer Schultertasche bemächtigt. Schon wollte sie auf sie zuspringen, da packten die beiden Mädchen sie am Handgelenk und an den Ellbogen und führten sie mühelos zum Vorbau hinüber. »Wo ist dieser Scheißkerl Joseph?« kreischte sie. Aber der Scheißkerl Joseph, der seine Aufgabe erfolgreich erledigt hatte, war schon halb die Stufen hinauf und blickte sich nicht um, wie jemand, der nach einem Unfall das Weite sucht. Als sie am Wagen vorübergingen, erkannte Charlie im Schein der Lampe vom Vorbau das Nummernschild. Es war keineswegs ein griechisches, sondern ein arabisches mit Schriftzeichen um die Nummer herum und auf dem Kofferraumdeckel gleich neben dem Mercedes-Stern im Hollywood-Stil ein Plastikschild mit den Buchstaben ›CD‹ , der Abkürzung für ›Corps Diplomatique‹.


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