Kapitel 14

Wortlos betrat sie den Aufzug. Es roch nach Desinfektionsmitteln, und die Wandschmierereien waren tief in das graue Vinyl eingegraben. Sie hatte wieder die Robuste herausgekehrt, so, wie sie es bei Demos und talk-ins und allem anderen öffentlichen Quark tat. Sie war erregt und hatte das Gefühl, dass ein Kreis sich nun schließen würde. Dimitri klingelte, Kurtz selbst machte auf. Hinter ihm stand Joseph, und hinter Joseph hing ein Messingschild mit dem Bild des heiligen Christophorus, der ein Kind wiegt. »Charlie, wirklich toll, dass Sie da sind, und Sie sind toll«, sagte Kurtz mit leiser, aber von Herzen kommender Eindringlichkeit und zog sie fest an sich. »Charlie, unglaublich.« »Wo ist er?« fragte sie und blickte an Joseph vorbei auf die geschlossene Tür. Dimitri war nicht mit hereingekommen. Nachdem er sie abgeliefert hatte, hatte er bereits wieder den Aufzug nach unten genommen.

Kurtz sprach immer noch so, als wären sie in der Kirche, und entschloss sich, auf ihre Frage ganz allgemein einzugehen. »Charlie, es geht ihm recht gut«, versicherte er ihr, als er sie losließ. »Ein bisschen mitgenommen von seinen Reisen, was ja nur natürlich ist, aber gut. Dunkle Brille, Joseph«, fügte er hinzu. »Gib ihr eine dunkle Brille. Haben Sie eine Sonnenbrille, meine Liebe? Hier, nehmen Sie dies Kopftuch, um Ihr schönes Haar zu verbergen. Behalten Sie es.« Es war aus grüner Seide, recht hübsch. Kurtz hatte es für sie in der Tasche bereitgehalten. Dicht beieinander stehend, sahen die beiden Männer zu, als sie sich das Kopftuch vorm Spiegel wie die Haube einer Krankenschwester umband. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Kurtz. »In unserem Beruf kann man nie vorsichtig genug sein. Stimmt’s nicht, Joseph?« Charlie hatte ihre neue Puderdose aus der Handtasche genommen und richtete ihr Make-up.

»Charlie, es könnte sein, dass Ihnen dies ein bisschen an die Nieren geht«, warnte Kurtz sie.

Sie steckte die Puderdose fort und holte den Lippenstift heraus. »Wenn Ihnen mulmig ist, denken Sie daran, dass er eine ganze Menge unschuldiger Menschen getötet hat«, riet ihr Kurtz. »Jeder hat ein menschliches Gesicht, und der junge Mann bildet darin keine Ausnahme. Sehr gutes Aussehen, viel Talent und viel ungenutzte Fähigkeiten - und alles verschwendet. So was zu sehen ist nie schön. Sobald wir hineingehen, möchte ich, dass Sie kein Wort mehr sprechen. Vergessen Sie das nicht. Überlassen Sie das Reden mir.« Er machte ihnen die Tür auf. »Sie werden feststellen, dass er ganz fügsam ist. Das musste sein, als wir ihn hier herschafften, und solange er hier bei uns ist, müssen wir dafür sorgen, dass er auch fügsam bleibt. Sonst ist er in gutem Zustand. Keine Probleme. Nur - reden Sie nicht mit ihm.«

Modische Studio-Wohnung mit Galerie, die schon bessere Tage gesehen hatte, registrierte sie automatisch und bemerkte die geschmackvolle offene Treppe, die rustikale Galerie und die schmiedeeiserne Balustrade. Ein Kamin im englischen Stil mit der Attrappe glühender Kohle aus bemalter Leinwand. Auffällig waren Lampen wie im Fotoatelier, dazu eindrucksvolle Kameras auf Dreifüßen. Ein riesiges Bandgerät mit Beinen, ein anmutig geschwungenes Marbella-Sofa, Schaumgummi und härter als Eisen. Sie nahm darauf Platz, und Joseph setzte sich neben sie. Wir sollten Händchen halten, dachte sie. Kurtz hatte den Hörer eines grauen Telefons abgenommen und drückte den Knopf zur Nebenstelle. Er sprach ein paar Wörter auf Hebräisch und sah dabei zur Galerie hinauf. Er legte auf und blickte sie aufmunternd an. Es roch nach Männern, Staub, Kaffee und Leberwurst. Und nach einer Million ausgedrückter Zigaretten. Sie entdeckte noch einen anderen Geruch, vermochte ihn jedoch nicht zu bestimmen, da ihr zu viele Möglichkeiten durch den Kopf gingen, vom Geschirr ihres ersten Ponys bis zum Schweiß ihres ersten Liebhabers.

Ihre Gedanken nahmen eine andere Gangart ein, und sie wäre fast eingeschlafen. Ich bin krank, dachte sie. Ich warte auf das Untersuchungsergebnis. Doktor, Doktor, sagen Sie mir freimütig, was es ist. Sie bemerkte den Stoß WartezimmerZeitschriften und wünschte, sie könnte eine als Requisit auf dem Schoß haben. Jetzt blickte auch Joseph zur Galerie hinauf. Charlie folgte seinem Blick, freilich erst ein wenig später, weil sie den Eindruck vermitteln wollte, sie habe so etwas schon so oft erlebt, dass sie kaum hinzusehen brauche; sie war eine Kundin auf einer Modenschau. Die Tür auf der Galerie ging auf und gab den Blick auf einen bärtigen jungen Mann frei, der mit dem schiefen Watscheln eines Bühnenarbeiters rückwärts herauskam und es selbst von hinten schaffte, seinen Ärger mitzuteilen. Einen Moment kam nichts, dann erschien so etwas wie ein niedriges scharlachrotes Bündel und danach ein glattrasierter junger Mann, der weniger ärgerlich aussah als vielmehr unerschütterlich fromm. Schließlich kapierte sie es. Es waren drei junge Männer, nicht zwei, nur dass der mittlere in dem roten Blazer zwischen ihnen fast mit den Knien einknickte: der schlanke junge Araber, ihr Liebhaber, ihre zusammengebrochene Marionette aus dem Theater der Wirklichkeit.

Ja, dachte sie hinter ihrer Sonnenbrille verborgen, durchaus vernünftig. Jawohl - nicht schlecht die Ähnlichkeit, wenn man die paar Jahre Altersunterschied bedenkt und Josephs unbestimmbare Reife. Manchmal hatte sie in ihren Phantasien Josephs Züge benutzt und ihn für den Liebhaber ihrer Träume einspringen lassen. Bei anderen Gelegenheiten war eine andere Gestalt vor ihr erstanden, die auf ihrer ungenauen Erinnerung an den maskierten Palästinenser während des Wochenendseminars beruhte; jetzt war sie beeindruckt, wie nahe sie damit der Wirklichkeit gekommen war. Findest du nicht, dass der Mund an den Mundwinkeln ein ganz klein wenig zu breit ist? fragte sie sich. Ist das mit der Sinnlichkeit nicht um eine Winzigkeit übertrieben? Die Nasenlöcher nicht zu gebläht? Die Taille nicht allzu betont? Sie war versucht aufzustehen, um zu ihm zu gehen und ihn zu beschützen, doch auf der Bühne tut man so was nicht, es sei denn, es steht im Rollenbuch. Und außerdem hätte Joseph das nie zugelassen.

Trotzdem hätte sie ums Haar für eine Sekunde die Fassung verloren. Diese eine Sekunde lang war sie all das, wovon Joseph gesagt hatte, dass sie es sei - Michels Erlöserin und Retterin, seine heilige Johanna, seine Leibsklavin, sein Star. Sie harte als Schauspielerin ihr Bestes für ihn gegeben, hatte in einem erbärmlichen kerzenerleuchteten Motel mit ihm zu Abend gegessen, sein Bett mit ihm geteilt, sich seiner Revolution angeschlossen, sie hatte sein Armband getragen, seinen Wodka getrunken, seinen Körper in Stücke gerissen und sich ihren Körper von ihm in Stücke reißen lassen. Sie hatte seinen Mercedes für ihn gefahren, seine Pistole geküsst und sein erstklassiges russisches TNT für ihn zu den belagerten Freiheitsarmeen geschafft. Sie hatte in Salzburg in einem Hotel an der Salzach den Sieg mit ihm gefeiert. Sie hatte nachts auf der Akropolis mit ihm getanzt und die ganze Welt für sich wieder zum Leben erweckt; und sie war von einem unsinnigen Schuldgefühl erfüllt, jemals an irgendeine andere Liebe gedacht zu haben.

Wie schön er war - genauso schön, wie Joseph es versprochen hatte. Noch schöner sogar. Er hatte jene absolute Attraktivität, die Charlie und ihresgleichen mit wehmütiger Unvermeidlichkeit anerkennen: Er gehörte zu jener Gattung, die Herrschaft ausstrahlen und sich dessen auch bewusst sind. Er war schmächtig, aber vollkommen, hatte gut ausgebildete Schultern und sehr schmale Hüften. Er hatte wulstige Brauen, das Gesicht eines jugendlichen Pans und darüber dicht am Kopf anliegendes, glattes schwarzes Haar. Nichts von dem, was sie unternommen hatten, um ihn zu zähmen, konnte ihr die Leidenschaftlichkeit seines Wesens verbergen oder das Licht der Rebellion in seinen tiefschwarzen Augen auslöschen. Er war so alltäglich - ein kleiner Bauernjunge, der von einem Olivenbaum gefallen war, mit einem Repertoire angelernter Phrasen und einem Elsternauge für hübsches Spielzeug, hübsche Mädchen und hübsche Wagen. Und mit der Empörung des Bauern gegenüber allen, die ihn von seinem Hof vertrieben hatten. Komm in mein Bett, du Kleiner, und lass dir von Mami ein paar von den großen Worten des Lebens beibringen.

Sie stützten ihn unter den Armen, und als er unsicher die Treppenstufen heruntertorkelte, traten seine Gucci-Schuhe immer wieder daneben, was ihm peinlich zu sein schien, denn ein Lächeln zuckte um seine Lippen, und er blickte verschämt auf seine unsicheren Füße. Sie brachten ihn zu ihr, und sie meinte, es nicht ertragen zu können.

Sie wandte sich an Joseph, um ihm das zu sagen, sah, dass er sie eindringlich anstarrte, und hörte, dass er etwas sagte, doch im selben Augenblick begann das Bandgerät sehr laut zu sprechen, und als sie herumfuhr, beugte sich der liebe Marty in seiner Strickjacke über das Gerät und fummelte an den Knöpfen herum, um das Ding leiser zu stellen.

Die Stimme war weich und hatte denselben ausgeprägten Akzent, wie sie ihn von dem Wochenendseminar in Erinnerung hatte. Was er da sagte, waren trotzige Schlagworte, mit unsicherem Eifer vorgetragen.

»Wir sind die Kolonisierten. Wir sprechen für die Alteingesessenen gegen die Siedler!... Wir sprechen für die Stummen, wir füttern die blinden Münder und ermutigen die tauben Ohren!.. Wir, die Tiere mit den geduldigen Hufen, haben endlich die Geduld verloren!... Wir leben nach dem Gesetz, das jeden Tag unter Beschuss geboren wird!... Die ganze Welt hat etwas zu verlieren, nur wir nicht!... Wir werden gegen jeden kämpfen, der sich zum Verwalter unseres Landes aufschwingt!«

Die jungen Leute hatten ihn auf dem Sofa Platz nehmen lassen, auf der anderen Seite des Hufeisens. Er hielt das Gleichgewicht nicht gut. Er war schwer angeschlagen, lehnte sich vor und benutzte die Arme, um sich abzustützen. Seine Hände lagen wie gefesselt übereinander, aber nur von dem goldenen Armband, das sie ihm angelegt hatten, um ihn für die Vorstellung richtig auszustatten. Der bärtige junge Mann stand schmollend hinter ihm, sein glattrasierter Gefährte saß hingebungsvoll an seiner Seite, und während seine Stimme auf Band im Hinterhof triumphierend fortfuhr, sah sie, wie Michels Lippen sich langsam bewegten und versuchten, mit den Worten Schritt zu halten. Aber die Stimme war für ihren Besitzer zu schnell, zu kräftig. Allmählich gab er den Versuch auf und setzte statt dessen ein einfältiges Entschuldigungslächeln auf, das sie an ihren Vater nach seinem Schlaganfall erinnerte. »Gewalttaten sind kein Verbrechen… sofern sie gegen die Gewaltausübung eines Staats gerichtet sind… den der Terrorist für verbrecherisch hält.« Papierrascheln, als er eine Seite umblätterte. Die Stimme bekam etwas Verwirrtes und Unwilliges. »Ich liebe dich… du bist meine Freiheit … Jetzt bist du eine von uns… Unsere Körper und unser Blut haben sich vermischt… du gehörst mir… bist mein Soldat… bitte, warum sage ich dies? Zusammen werden wir Feuer an die Lunte legen.« Verwirrtes Schweigen. »Bitte, Sir. Was ist dies? Ich frage Sie.«

»Zeig ihr seine Hände«, befahl Kurtz, nachdem er das Tonband abgestellt hatte.

Sofort nahm der Glattrasierte eine von Michels Händen, öffnete sie und zeigte sie ihr wie ein Warenmuster.

»Solange er im Lager lebte, waren sie hart von der Handarbeit«, erklärte Kurtz, der durch den Raum zu ihnen kam. »Jetzt ist er ein großer Intellektueller. Viel Geld, viele Mädchen, gutes Essen, ein angenehmes Leben. Stimmt’s nicht, Bürschchen?« Er näherte sich dem Sofa von hinten und legte seine dicke Hand mit der Fläche auf Michels Kopf, er drehte ihn herum, so dass er ihn ansah. »Du bist ein großer Intellektueller, stimmt’s?« Seine Stimme war weder grausam noch spöttisch. Als redete er seinem eigenen, auf die schiefe Bahn geratenen Sohn ins Gewissen - und hatte dabei auch denselben Ausdruck zärtlicher Zuneigung im Gesicht. »Du kriegst deine Mädchen dazu, dir die Arbeit zu machen, nicht wahr, Bürschchen? Ein Mädchen hat er regelrecht als Bombe benutzt«, erklärte er für Charlie bestimmt. »Hat sie mit hübsch aussehendem Gepäck in ein Flugzeug gesetzt - die Maschine flog in die Luft. Ich nehme an, sie hat nicht einmal gewusst, dass sie es getan hat. So was gehört sich nicht, weißt du das, Bürschchen? So was gehört sich wirklich nicht einer jungen Dame gegenüber.«

Sie erkannte den Geruch, den sie anfangs nicht hatte unterbringen können: es war die After-Shave-Lotion, die Joseph in jedem Schlafzimmer hingestellt hatte, das sie nie gemeinsam benutzt hatten. Sie mussten ihn für diesen Anlass damit eingerieben haben.

»Möchtest du dieser Dame nicht etwas sagen?« fragte Kurtz. »Möchtest du sie nicht in unserer Villa hier willkommen heißen? Ich frage mich allmählich, warum du nicht mehr mit uns zusammenarbeitest!« Allmählich wurden unter seinem eindringlichen Blick Michels Augen wach, und sein Körper richtete sich gehorsam ein wenig auf. »Willst du diese hübsche Dame nicht artig begrüßen? Willst du ihr nicht guten Tag sagen? Guten Tag? Willst du ihr nicht guten Tag sagen, Bürschchen?«

Selbstverständlich tat er es: »Guten Tag«, sagte Michel mit derselben Stimme wie auf dem Tonband, nur hatte sie allen Schwung verloren.

»Nicht antworten«, warnte Joseph sie leise neben ihr. »Guten Tag, Madame! heißt das.« Kurtz bestand ohne jede Böswilligkeit darauf.

»Madame«, sagte Michel.

»Lass ihn etwas schreiben«, befahl Kurtz und ließ ihn los. Sie setzten ihn an einen Tisch und legten einen Federhalter und ein Stück Papier vor ihn, aber er brachte nicht viel zuwege. Doch das machte Kurtz nichts aus. Sehen Sie, wie er den Federhalter hält, sagte er. Sehen Sie, wie seine Finger ganz natürlich die Haltung für die arabische Schrift annehmen. »Möglich, dass Sie mal mitten in der Nacht aufgewacht sind und ihn dabei ertappt haben, wie er seine Abrechnung machte. Verstanden? So hat er dabei ausgesehen.«

Sie sprach mit Joseph, doch nur in Gedanken. Bring mich hier raus! Ich glaube, ich sterbe. Sie hörte, wie Michels Füße gegen die Treppe schlugen, als sie ihn hinauf und außer Hörweite brachten, doch Kurtz ließ ihr keine Atempause, genauso wenig wie sich selbst. »Charlie, wir haben noch einen Auftritt vor. Ich glaube, wir sollten das sofort hinter uns bringen, selbst wenn es ein bisschen Überwindung kostet. Manche Sachen müssen einfach gemacht werden.« Im Wohnzimmer war es sehr still, einfach eine Wohnung irgendwo. An Josephs Arm folgte sie Kurtz nach oben. Sie wusste nicht, warum, aber sie fand es hilfreich, ein wenig zu hinken wie Michel.

Das hölzerne Treppengeländer war noch klebrig vom Schweiß. Die Stufen waren mit einem Material ausgelegt, das wie Sandpapierstreifen aussah, doch als sie darauf trat, blieb das erwartete knirschende Geräusch aus. Sie nahm diese Allerweltsdinge sehr genau in sich auf, denn es gibt Zeiten, in denen solche Details das einzige Bindeglied zur Wirklichkeit darstellen. Eine Toilettentür stand offen, doch als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass überhaupt keine Tür da war, nur der Türrahmen, und vom Wasserkasten keine Kette herunterhing, und sie nahm an, dass, wenn man einen Gefangenen den ganzen Tag mit sich herumschleppt, selbst wenn er vor Dope von Sinnen ist, man an so etwas denken, sein Haus in Ordnung bringen musste. Erst nachdem sie ernstlich über jedes dieser wichtigen Probleme nachgedacht hatte, durfte sie sich eingestehen, dass sie in einen ausgepolsterten Raum getreten war, in dem nichts weiter stand als ein Bett an der entgegengesetzten Wand. Und auf dem Bett wieder Michel, nackt bis auf das goldene Amulett, die Hände über dem Geschlecht verkrampft und kaum eine Falte, da wo sich sein Bauch krümmte. Seine Schultermuskeln waren prall und rund, die Brustmuskulatur flach und breit, die Schatten darunter scharf wie mit Ausziehtusche gezogen. Auf Kurtz’ Befehl hin stellten die beiden jungen Männer ihn auf und zerrten seine Hände fort. Beschnitten, gut-entwickelt, schön. Schweigend und mit stirnrunzelnder Missbilligung zeigte der Bärtige auf ein weißes Muttermal an der linken Flanke, das wie ein Milchfleck aussah, sowie auf die unsaubere Narbe einer Stichwunde an der rechten Schulter; und auf das reizende Rinnsal schwarzer Haare, das sich vom Nabel nach unten zog. Schweigend drehten sie ihn um, und sie musste unwillkürlich an Lucy und ihren Lieblingsrücken denken: ein tief zwischen den Muskeln eingebettetes Rückgrat. Aber keine Einschussnarben, überhaupt nichts, was seine vollkommene Schönheit gestört hätte.

Sie drehten ihn wieder um, doch mittlerweile war Joseph wohl zu dem Schluss gekommen, dass Charlie hinreichend bedient sein müsse, denn er führte sie wieder die Treppe hinunter, schnell, einen Arm hatte er ihr um die Taille gelegt, während er mit der anderen Hand ihr Handgelenk so fest hielt, dass es weh tat. In der Toilette, die vom Korridor abging, blieb sie lange genug, um sich zu übergeben, doch danach wollte sie nur noch weg. Raus aus der Wohnung, ihnen aus den Augen, raus aus den eigenen Gedanken, der eigenen Haut.

Sie lief. Sie hatten heute Sport. Sie lief, so schnell sie konnte; die Betonzähne der Stadtsilhouette rings um sie her hüpften aus der entgegengesetzten Richtung an ihr vorbei. Die Dachgärten waren für sie durch zierliche Ziegelwege miteinander verbunden, Verkehrsschilder einer Spielzeugstadt wiesen sie auf Orte hin, die sie nicht lesen konnte, blaue und gelbe Plastikrohre in der Luft bildeten über ihrem Kopf bunte Pinselstriche. Sie lief, so weit sie konnte, hinauf und hinunter, hatte ausgesprochen gärtnerisches Interesse an den vielen verschiedenen Pflanzen an ihrem Weg, den geschmackvollen Geranien und zurechtgestutzten blühenden Sträuchern und Zigarettenkippen und Flecken brachliegender Erde, namenlosen Gräbern gleich. Joseph lief neben ihr her, und sie schrie ihn an, hau ab, hau ab; ein älteres Ehepaar saß auf einer Bank und lächelte wehmütig-versonnen über diesen Streit unter Liebenden. Sie lief so über die ganze Länge von zwei Flachdächern, bis sie an einen Zaun gelangte, hinter dem es steil auf einen Parkplatz abfiel, doch sie beging keinen Selbstmord, weil sie inzwischen schon beschlossen hatte, dass sie nicht der Typ war, und außerdem wollte sie mit Joseph leben und nicht mit Michel sterben. Sie blieb stehen, keuchte kaum. Das Laufen hatte ihr gut getan; sie sollte das viel häufiger tun. Sie bat ihn um eine Zigarette, doch er hatte keine dabei. Er zog sie zu einer Bank; sie setzte sich, stand aber gleich wieder auf, um ihren eigenen Willen zu beweisen. Aus Erfahrung wusste sie, dass gefühlsgeladene Auseinandersetzungen zwischen Leuten, die dabei gehen, wirkungslos verpuffen, und deshalb blieb sie stehen. »Ich rate dir, deine Sympathien für den Unschuldigen aufzuheben«, riet ihr Joseph und schnitt damit in aller Ruhe den Schwall ihrer Beschimpfungen ab.

»Aber er war unschuldig, bis ihr ihn erfunden habt.« Da sie sein Schweigen fälschlich für Verwirrung und seine Verwirrung für Schwäche ansah, hielt sie inne und tat so, als betrachte sie die ungeheuerliche Silhouette der Stadt. »›Es ist notwendig‹ «, sagte sie schneidend. »›Ich wäre nicht hier, wenn es nicht notwendig wäre.‹ Zitat. ›Kein vernünftiger Gerichtshof auf Erden würde uns für das verdammen, was wir dich zu tun bitten.‹ Noch ein Zitat. Deine Worte, wenn ich mich recht erinnere. Möchtest du sie etwa zurücknehmen?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Du glaubst es nicht. Du tätest aber besser daran, todsicher zu sein, oder? Denn wenn es hier irgendwelche Zweifel gibt, war’ es mir schon lieber, ich hätte sie.«

Immer noch stand sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt unmittelbar vor ihr, irgendwo im Bauch des Gebäudes gegenüber, das sie jetzt mit der Ernsthaftigkeit eines potentiellen Käufers betrachtete. Joseph dagegen war sitzen geblieben, was irgendwie die ganze Szene verdarb. Sie hätten sich von Angesicht zu Angesicht ganz dicht gegenüberstehen müssen. Oder er hinter ihr, den Blick auf dieselbe ferne Kreidemarkierung gerichtet. »Was dagegen, wenn wir ein paar Dinge klarstellen?« fragte sie. »Nur zu!«

»Er hat Juden umgebracht.«

»Er hat Juden umgebracht, und er hat unschuldige Umstehende umgebracht, die keine Juden waren und nichts mit dem Konflikt zu tun hatten.«

»Ich möchte wirklich gern ein Buch schreiben, und zwar über die Schuld all dieser unschuldigen Umstehenden, von denen du immer wieder redest. Ich würde bei euren Bombenangriffen auf den Libanon anfangen und mich von dort aus rundrum weiterarbeiten.« Ob er nun saß oder nicht, er bot ihr schneller und heftiger Paroli, als sie erwartet hatte. »Dieses Buch ist schon geschrieben worden, Charlie. Es heißt Holocaust.«

Mit Daumen und Zeigefinger bildete sie ein kleines Guckloch und spähte hindurch zu einem fernen Balkon. »Andererseits hast du selbst auch Araber getötet, nehme ich an.«

»Selbstverständlich.«

»Viele?«

»Genug.«

»Aber nur in Selbstverteidigung. Israelis töten nur in Selbstverteidigung.« Keine Antwort. »›Ich habe genug Araber getötet‹ , Unterschrift: ›Joseph‹.« Sie erreichte damit immer noch nicht, dass er aufstand. »Nun, nicht schlecht für das Buch, würde ich meinen. Ein Israeli, der genug Araber getötet hat.«

Ihr Schottenrock stammte aus Michels Aussteuer. Er hatte an beiden Seiten Taschen, wie sie erst vor kurzem entdeckt hatte. Jetzt steckte sie die Hände hinein, brachte den Rock zum Schwingen und tat so, als studierte sie die Wirkung.

»Ihr seid hundsgemein, oder etwa nicht?« fragte sie unbekümmert. »Ihr seid eindeutig hundsgemein. Meinst du nicht auch?« Sie blickte immer noch auf ihren Rock, wirklich daran interessiert, wie er sich bauschte und drehte. »Und du bist sogar der größte Schweinehund von allen, oder? Weil du beides in dir vereinigst. Eben blutet dir noch das Herz, und im nächsten Augenblick bist du der blindwütige Krieger. Dabei bist du – genau genommen - nichts weiter als ein blutrünstiger, landgieriger kleiner Jidd.«

Er stand nicht nur auf - er schlug sie. Zweimal. Nachdem er ihr zuvor die Sonnenbrille abgenommen hatte. Härter und schneller, als sie je zuvor geschlagen worden war, auf die gleiche Seite des Gesichts. Der erste Hieb war so heftig, dass ein verflixtes Triumphgefühl sie dazu brachte, ihr Gesicht in diese Richtung vorzurecken. Jetzt sind wir quitt, dachte sie und dachte an die Villa in Athen. Der zweite war eine erneute Explosion im selben Krater, und als es vorbei war, stieß er sie auf die Bank, wo sie sich hätte ausweinen können, doch sie war zu stolz, auch nur eine einzige Träne zu vergießen. Hat er mich um seinet- oder um meinetwillen geschlagen? fragte sie sich. Verzweifelt hoffte sie, dass es um seinetwillen gewesen sei; dass sie in der zwölften Stunde ihrer Wahnsinnsehe endlich seine Reserve durchbrochen hatte. Doch ein Blick auf sein verschlossenes Gesicht und seine ruhigen, unbeweglichen Augen verriet ihr, dass es um sie und nicht um Joseph ging. Er hielt ihr ein Taschentuch hin, doch sie wehrte es mit einer vagen Handbewegung ab.

»Vergiss es«, murmelte sie.

Sie nahm seinen Arm, und er brachte sie langsam über den betonierten Weg zurück. Dasselbe alte Ehepaar sah sie lächelnd an, als sie vorübergingen. Kinder, versicherten sie einander - genau wie wir einst. Eben streiten sie sich noch mörderisch und gehen gleich darauf wieder ins Bett, um es noch besser zu machen als zuvor.

Die untere Wohnung war so ziemlich die gleiche wie die obere, nur dass es hier keinen Balkon und keinen Gefangenen gab, und manchmal gelang es ihr, wenn sie las oder etwas hörte, sich einzureden, überhaupt niemals oben gewesen zu sein - ›oben‹ , das war eine Schreckenskammer in den dunklen Winkeln ihres Geistes. Dann hörte sie wohl durch die Decke, wie eine Kiste dumpf auf den Boden fiel, denn die jungen Leute packten ihre Fotoausrüstung zusammen und bereiteten sich überhaupt auf das Ende ihres Aufenthalts vor; dann musste sie sich eingestehen, dass ›oben‹ genauso wirklich war wie ›unten‹ : wirklicher sogar, denn die Briefe waren Fälschungen, wohingegen Michel aus Fleisch und Blut bestand. Sie saßen im Kreis, alle drei, und Kurtz begann mit einer seiner Vorreden. Allerdings sprach er jetzt wesentlich klarer als sonst und längst nicht so weitschweifig. Vielleicht lag das daran, dass sie jetzt eine erprobte Mitkämpferin war, eine Veteranin, »die schon darauf verweisen kann, einen ganzen Sack erregender neuer Erkenntnisse beigesteuert zu haben«, wie er es ausdrückte. Die Briefe lagen in einer Aktenmappe auf dem Tisch, und ehe er sie aufmachte, wies er sie nochmals auf die ›Fiktion‹ hin, ein Wort, das er mit Joseph gemein hatte. Die Fiktion bestehe darin, dass sie nicht nur eine leidenschaftliche Geliebte sei, sondern auch eine leidenschaftliche Briefschreiberin, die während Michels langer Abwesenheiten kein anderes Ventil hatte. Während er dies noch einmal erklärte, zog er ein Paar billiger Baumwollhandschuhe an. Die Briefe seien in ihrer Beziehung also keinesfalls etwas Nebensächliches; sie stellten »die einzige Stelle dar, wo Sie Ihrem Herzen Luft machen konnten, meine Liebe«. Aus ihnen gehe nicht nur - oft mit entwaffnendem Freimut - ihre zunehmend besessene Liebe zu Michel hervor, sondern auch ihr politisches Wiedererwachen und ihre Hinwendung zu einem »globalen Aktivismus«, für den die »Verkuppelung« sämtlicher anti-repressiver Kämpfe überall auf der Welt selbstverständlich waren. Zusammengenommen enthielten sie das Tagebuch eines »emotional und sexuell erregten Menschen«, aus dem ihre fortschreitende Entwicklung von einer vagen Protesthaltung zu Massenaktivitäten abzulesen sei, die auch offene Gewalt nicht ausdrücklich ausschlossen.

»Und da wir uns unter den gegebenen Umständen nicht darauf verlassen konnten, dass Sie uns mit der ganzen Vielfalt Ihrer literarischen Ausdrucksweise bekannt machen würden«, fügte er noch hinzu, als er die Aktenmappe aufmachte, »haben wir beschlossen, die Briefe für Sie zu verfassen.«

Natürlich, dachte sie. Sie warf einen Seitenblick auf Joseph, der aufrecht und ungewöhnlich harmlos dasaß, die Hände tugendhaft zwischen den Knien eingeklemmt, wie jemand, der im Leben keiner Fliege etwas zuleide getan hatte.

Sie steckten in zwei braun eingewickelten Päckchen, von denen das eine wesentlich größer war als das andere. Kurtz wählte das kleinere aus und machte es mit seinen behandschuhten Fingerspitzen unbeholfen auf, er breitete die Papiere flach vor sich aus. Sie erkannte die schwarze Schuljungen-Schrift von Michel. Dann wickelte Kurtz das zweite Päckchen aus, und es war wie ein Wirklichkeit gewordener Traum, als sie die Handschrift als ihre eigene erkannte. »Michels Briefe an Sie sind Fotokopien, meine Liebe«, sagte Kurtz gerade; »die Originale warten in England auf Sie. Aber bei Ihren eigenen Briefen handelt es sich um die Originale, sie gehören also Michel, nicht wahr, meine Liebe?«

»Natürlich«, sagte sie, diesmal laut, und blickte dabei instinktiv zu Joseph hinüber, diesmal freilich besonders auf seine zwischen den Knien festgeklemmten Hände, denen soviel daran gelegen war, jede Mitwirkung von sich zu weisen.

Michels Briefe las sie zuerst, denn sie hatte das Gefühl, ihm diese Aufmerksamkeit schuldig zu sein. Es waren ein Dutzend, es waren freimütig sinnliche und leidenschaftliche Briefe darunter, bis hin zu kurzen und im Befehlston gehaltenen. »Sei so lieb und nummeriere Deine Briefe. Wenn Du sie nicht nummerierst, schreib gar nicht erst. Ich kann Deine Briefe nicht genießen, wenn ich nicht weiß, ob ich sie alle erhalte. Dies zu meiner persönlichen Sicherheit.« Zwischen Absätzen, in denen er sich geradezu ekstatisch über ihre Schauspielerei ausließ, kamen trockene Ermahnungen, nur »gesellschaftlich relevante Rollen zu spielen, die bewußtseinerweckend wirken«. Gleichzeitig solle sie »öffentliche Auftritte vermeiden, die Deine wahre politische Einstellung erkennen lassen«. Sie solle keine radikal-politischen Wochenendseminare mehr besuchen und nicht mehr bei Demonstrationen und Kundgebungen mitmachen. Sie solle sich benehmen »wie eine Bürgerliche« und den Anschein erwecken, als finde sie sich mit den kapitalistischen Gegebenheiten ab. Sie solle den Anschein erwecken, als habe sie »der Revolution abgeschworen«, gleichzeitig jedoch insgeheim »auf alle Fälle mit Deiner radikalen Lektüre weitermachen«. Es gab manches Unlogische, viele Fehler im Satzbau und in der Rechtschreibung. Es war die Rede von »unserer baldigen Wiedervereinigung« (wie man annehmen konnte, in Athen) und gab ein paar gezierte Anspielungen auf weiße Trauben, Wodka und darauf, dass sie gut daran tue, »reichlich zu schlafen, ehe wir wieder zusammen sind«. Während sie weiterlas, machte sie sich allmählich ein neues und bescheideneres Bild von Michel, eines, das dem ihres Gefangenen oben plötzlich viel näher kam. »Er ist ein kleiner Junge«, murmelte sie und sah Joseph vorwurfsvoll an. »Du hast ihn zu groß aufgebaut. Er ist ja noch ein Junge.«

Da sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich ihren eigenen Briefen an Michel zu und nahm sie behutsam zur Hand, als enthüllten sie ihr ein großes Geheimnis. »Schulhefte«, sagte sie laut und setzte ein einfältiges Lächeln auf, als sie einen ersten nervösen Blick darauf warf - denn dank des Archivs vom armen Ned Quilley war der alte Georgier nicht nur in der Lage gewesen, Charlies ausgefallenen Geschmack in Bezug auf Briefpapier wiederzugeben - die Rückseiten von Speisekarten, Rechnungen, Papier mit Briefkopf von Hotels und Theatern und Pensionen auf ihrer Reise -, sondern hatte zu ihrem wachsenden Schrecken auch noch die spontanen Variationen ihrer Handschrift wiedergegeben, von den kindlichen Krakeln früher Trauer bis zur leidenschaftlichen, aber doch sehr ausgeschriebenen Handschrift einer liebenden Frau, von den Gute-Nacht-Kritzeleien der erschöpften Schauspielerin, die sich in irgendwelchen Absteigen verkroch und sich nach ein wenig Entspannung sehnte, zu der wie gestochen schreibenden, bemüht-belesenen Revolutionärin, die sich die Mühe machte, eine lange Passage aus Trotzki abzuschreiben, aber aus Versehen das zweite r‹ in ›überrennen‹ ausließ.

Ihr Briefstil war, dank Leon, nicht weniger genau getroffen; Charlie errötete geradezu, als sie erkannte, wie vollkommen sie ihre schaurigen Übertreibungen nachgemacht hatten, ihre Art, plump und unvollkommen zu philosophieren, ihre ausfälligen und erregten Wutausbrüche gegen die herrschende Tory- Regierung. Im Gegensatz zu Michel waren ihre Anspielungen auf ihre Liebe handfest und eindeutig; die Anspielungen auf ihre Eltern abfällig; die auf ihre Kindheit von Empörung und Rachegelüsten getragen. Sie begegnete Charlie der Aufschneiderin, Charlie der Zerknirschten, Charlie der Abgebrühten. Sie begegnete dem, was Joseph das Arabische in ihr nannte - jener Charlie, die in ihre eigene Rhetorik verliebt war, deren Wahrheitsvorstellungen weniger von dem inspiriert waren, was geschehen war, als von dem, was hatte geschehen sollen. Nachdem sie alles durchgelesen hatte, nahm sie sich die beiden Stapel gemeinsam vor und las sie - den Kopf aufgestützt - noch einmal als vollständigen Briefwechsel: ihre fünf Antworten auf jeden einzelnen seiner Briefe, ihre Antworten auf seine Briefe, seine Ausflüchte als Antwort auf ihre Fragen.

»Danke, Jose«, erklärte sie schließlich, ohne den Kopf zu heben. »Vielen, vielen Dank. Wenn du mir für einen Moment unser hübsches Schießeisen leihen würdest - ich geh’ nur eben rasch raus und jag’ mir eine Kugel durch den Kopf.«

Kurtz lachte bereits, obwohl er mit seiner Heiterkeit allein dastand.

»Aber, Charlie, ich finde, das ist wirklich nicht fair unserem Freund Joseph gegenüber. Die Briefe waren ein Gemeinschaftswerk. Dabei haben eine ganze Reihe von klugen Köpfen mitgewirkt.«

Kurtz hatte noch eine letzte Bitte: die Umschläge, die Ihre Briefe enthalten, meine Liebe. Er habe sie hier bei sich, sehen Sie, nur noch nicht frankiert und abgestempelt, und er habe die Briefe noch nicht hineingesteckt, dass Michel sie in Empfang nehmen und feierlich aufmachen könne. Ob Charlie wohl so freundlich sein würde? Hauptsächlich gehe es um die Fingerabdrücke, sagte er; Ihre zuerst, meine Liebe, danach die von den Postbeamten und zuletzt die von Michel. Und dann sei da auch noch die Kleinigkeit wie ihr Speichel, für die Klappe hinten und unter den Briefmarken; ihre Blutgruppe, falls jemand jemals auf die Idee komme, das zu überprüfen; denn sie hätten ein paar sehr helle Köpfe dabei, wie ihre wirklich fabelhafte Arbeit gestern abend bestätigt hat. Sie erinnerte sich zwar an Kurtz’ lange und väterliche Umarmung, denn die war ihr in diesem Augenblick genauso unvermeidlich und notwendig erschienen wie die Tatsache, dass man einen Vater hat. An ihren Abschied von Joseph hingegen - ihren letzten in einer ganzen Reihe - konnte sie sich hinterher überhaupt nicht erinnern - weder, wie er vonstatten gegangen war, noch, wo. An die Einsatzbesprechung, ja; an die heimliche Rückkehr nach Salzburg, ja: anderthalb Stunden hinten in Dimitris fest verschlossenem Lieferwagen - und kein Wort mehr, sobald das Licht ausgeht. Und sie erinnerte sich an ihre Landung in London - nie im Leben war sie sich so mutterseelenallein vorgekommen; und an den Geruch englischer Traurigkeit, der sie sogar schon auf dem Rollfeld begrüßt hatte und sie daran erinnerte, was es überhaupt gewesen war, das sie ursprünglich nach radikalen Lösungen hatte Ausschau halten lassen: die bösartige Schlampigkeit der Behörden, die ausweglose Verzweiflung der Verlierer. Es gab gerade einen Bummelstreik bei der Gepäckabfertigung sowie einen Eisenbahnerstreik; die Damentoilette hatte etwas von einem Gefängnis. Sie ging bei Grün durch, und wie üblich hielt der gelangweilte Zollbeamte sie an und fragte sie aus. Nur mit dem Unterschied, dass sie sich diesmal fragte, ob er womöglich einen Grund habe, das zu tun, und nicht nur das Bedürfnis, sie anzuquatschen.

Heimzukommen ist wie ins Ausland fahren, dachte sie, als sie sich in die verzagte Schlange vor der Bushaltestelle einreihte. Jagen wir das Ganze in die Luft, und fangen wir ganz von vorn an.


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