Kapitel 2

Es vergingen fast acht Wochen, ehe der Mann, den Dr. Alexis als Schulmann kannte, nach Deutschland zurückkehrte. Im Laufe dieser Zeit hatten die Ermittlungen und Planungen des Jerusalemer Teams so erstaunliche Fortschritte gemacht, dass diejenigen, die sich immer noch durch die Godesberger Trümmer hindurcharbeiteten, den Fall nicht wiedererkannt hätten. Wäre es nur darum gegangen, Schuldige zu bestrafen -hätte es sich bei dem Godesberger Zwischenfall um einen Einzelfall gehandelt und nicht um den Teil einer aufeinander abgestimmten Serie -, Schulmann hätte sich kaum die Mühe gemacht, sich persönlich einzuschalten, denn er verfolgte höhere Ziele als bloße Rache, und diese Ziele hingen eng mit seinem beruflichen Überleben zusammen. Monatelang hatten seine Teams nach etwas Ausschau gehalten, was er ein Fenster nannte, groß genug, dass jemand einsteigen konnte, um den Feind im eigenen Haus unschädlich zu machen, statt ihn mit Panzern niederzuwalzen und mit Artillerie niederzukartätschen, wozu man in Jerusalem zunehmend neigte. Dank Godesberg meinten sie, ein solches Fenster gefunden zu haben. Wo die Westdeutschen sich immer noch mit vagen Spuren herumschlugen, waren Schulmanns Schreibtischstrategen bereits dabei, heimlich Verbindungen herzustellen, die so weit auseinander lagen wie Ankara und Ost-Berlin. Alte Hasen sprachen schon von einem Spiegelbild: davon, dass in Europa Muster entstanden, wie sie einem vor zwei Jahren aus dem Mittleren Osten vertraut gewesen waren.

Schulmann kam nicht nach Bonn, sondern nach München, und auch nicht als Schulmann; weder Alexis noch sein schlesischer Nachfolger ahnten etwas von seinem Aufenthalt, und genau das hatte er beabsichtigt. Sein Name - falls er überhaupt einen hatte -lautete Kurtz, nur benutzte er ihn so selten, dass man es ihm verziehen hätte, hätte er ihn ganz und gar vergessen. Kurtz mit t, Kurtz wie von Abkürzung, sagten einige, und seine Feinde, Kurtz wie von Kurzschluss. Andere stellten bemühte Vergleiche mit Joseph Conrads Helden an. In Wirklichkeit war es einfach ein mährischer Name, ursprünglich Kurz geschrieben, bis ein britischer Polizeibeamter während der Mandatszeit in seiner großen Weisheit noch ein t hinzugefügt hatte - und Kurtz hatte es in seiner Weisheit beibehalten, ein scharfer kleiner Dolch, der in die Masse seiner Identität gestoßen worden war und dort als eine Art anspornender Stachel steckenblieb.

Er traf von Tel Aviv kommend über Istanbul in München ein und hatte unterwegs zweimal den Pass und dreimal das Flugzeug gewechselt. Zuvor hatte er in London eine Woche lang einiges in die Wege geleitet, dort jedoch eine ganz besonders unscheinbare Rolle gespielt. Wohin er auch kam, hatte er Dinge klargestellt und Ergebnisse überprüft, Hilfe mobilisiert, Leute überredet, sie mit Tarngeschichten und Halbwahrheiten traktiert und die Zögernden mit seiner außerordentlich rastlosen Energie und dem Ausmaß sowie der Reichweite seiner Vorausplanungen überrollt, selbst wenn er sich dabei manchmal wiederholte oder eine kleine Anweisung vergaß, die er gegeben hatte. Unser Leben ist so kurz, erklärte er mit Vorliebe augenzwinkernd, und man ist viel zu lange tot. Das war das Äußerste, was er jemals an Entschuldigung vorbrachte, und seine persönliche Lösung bestand dann, auf Schlaf zu verzichten. In Jerusalem sagten sie gern, Kurtz schlafe so schnell, wie er arbeite. Und das war schnell. Kurtz, erklärten sie einem wohl, sei ein Meister der aggressiven europäischen List. Kurtz schlage die unwahrscheinlichsten Abkürzungen ein. Kurtz bringe die Wüste zum Blühen. Kurtz schlage Haken, lüge und betrüge sogar im Gebet, doch erzwinge er damit mehr Glück, als die Juden in den letzten zweitausend Jahren gehabt hätten.

Nicht, dass sie ihn ausnahmslos liebten; dazu war er viel zu widersprüchlich und kompliziert und eine viel zu schillernde Persönlichkeit. In mancher Hinsicht hatte er zu seinen Vorgesetzten - besonders zu Misha Gavron, seinem Chef -mehr das Verhältnis des knurrend geduldeten Außenseiters als des Partners, dem man restlos vertraute. Er hatte kein festes Aufgabengebiet, wollte aber auch keins. Seine Macht stand auf ziemlich schwachen Füßen und verlagerte sich ständig, je nach dem, wen er bei seiner Suche nach brauchbarer Ergebenheit zuletzt vor den Kopf gestoßen hatte. Er war kein Sabra; ihm fehlte der elitäre Hintergrund der Kibuzzim, der Universitäten oder der Eliteregimenter, aus deren Angehörigen sich zu seinem Leidwesen zunehmend die aristokratische Spitze seines Dienstes rekrutierte. Er hatte nichts im Sinn mit ihren Vervielfältigungsapparaten, ihren Computern und ihrem wachsenden Glauben an Machtspiele amerikanischen Stils, ihrer angewandten Psychologie und ihrem Krisenmanagement. Er liebte die Diaspora und gab ihr gerade jetzt den Vorzug, da die meisten Israelis eifrig und doch voll innerer Hemmungen dabei waren, ihre Identität als Orientalen aufzupolieren. Aber Widerstände waren genau das, woran Kurtz wuchs, und Ablehnung hatte ihn zu dem gemacht, was er war. Er konnte notfalls an allen Fronten zugleich kämpfen, und was ihm freiwillig auf die eine Weise nicht gegeben wurde, nahm er sich heimlich auf die andere. Aus Liebe zu Israel. Um des Friedens willen. Um der Mäßigung willen. Und um seines verdammten Rechtes willen, seinen Schlag zu landen und zu überleben.

In welcher Phase der Jagd er auf seinen Plan gestoßen war, hätte vermutlich nicht einmal Kurtz selbst sagen können. Solche Pläne reiften tief in ihm wie ein rebellischer Impuls, der nur auf einen Anstoß wartete, brachen dann aus ihm hervor, fast ehe er sich ihrer bewusst war. War er auf seinen Plan verfallen, als das Markenzeichen des Bombenlegers bestätigt wurde? Oder während er oben auf der Cäcilien-Höhe, oberhalb von Bad Godesberg pastasciutta gegessen hatte und ihm aufgegangen war, als wie nützlich sich Alexis für ihn einmal erweisen könnte? Schon vorher. Lange vorher. Es muss getan werden, hatte er schon im Frühjahr nach einer besonders bedrohlichen Sitzung von Gavrons Lenkungsausschuss jedem gesagt, der es hören wollte. Wenn wir den Gegner nicht aus dem eigenen Lager heraus angreifen, lassen diese Hampelmänner in der Knesset und im Verteidigungsministerium auf der Jagd nach ihm noch die ganze Menschheit in die Luft fliegen. Einige von seinen Ermittlern schworen, es liege zeitlich noch weiter zurück, und Gavron habe vor zwölf Monaten ein ähnliches Vorhaben unterdrückt. Wie dem auch sei. Fest steht jedenfalls, dass die Vorbereitungen für das ganze Unternehmen längst liefen, ehe der junge Mann nachweislich aufgespürt worden war, selbst wenn Kurtz vor den durchdringenden Blicken von Misha Gavron beharrlich alles, was darauf hätte schließen lassen, geheimhielt und sogar seine Unterlagen frisierte, um ihn zu täuschen. Gavron heißt auf Polnisch Krähe. Seine zerfledderte schwarze Erscheinung hätte zu keinem anderen Geschöpf gepasst.

Findet den Mann, sagte Kurtz zu seinem Jerusalemer Team und begab sich auf seine undurchsichtigen Reisen. Es handelt sich um einen jungen Mann und seinen Schatten. Findet den Mann, der Schatten folgt von selbst, das ist kein Problem. Kurtz bläute es ihnen immer wieder ein, bis sie schworen, es sei nicht zum Aushalten mit ihm. Er konnte Druck genauso gut ausüben wie aushalten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit rief er an, aus den unmöglichsten Städten, und alles einzig und allein zu dem Zweck, sie seine Anwesenheit in ihrer Mitte keinen Augenblick vergessen zu lassen. Habt ihr den Mann noch nicht gefunden? Warum habt ihr den Mann noch nicht aufgestöbert? Dabei kleidete er seine Fragen immer noch in Worte, die es Gavron unmöglich machten, die Absicht dahinter zu verstehen, falls er doch Wind davon bekam; denn den Vorstoß bei Gavron hielt Kurtz bis zum letzten - und günstigsten - Augenblick zurück. Er verhängte eine Urlaubssperre, schaffte den Sabbat ab und benutzte seine eigenen mageren Ersparnisse, um seine Spesenabrechnungen nicht vor der Zeit durch die offizielle Buchhaltung laufen zu lassen. Er riss Reservisten aus der Behaglichkeit ihrer akademischen Pfründe und scheuchte sie -ohne Gehalt - zurück an ihren alten Schreibtisch, um auf diese Weise die Suche zu beschleunigen. Findet den Mann! Der junge Mann wird uns den Weg zeigen. Eines Tages wartete er aus dem Nirgendwo sogar mit einem Decknamen für ihn auf: Yanuka, ein freundliches aramäisches Wort für Jüngling -wörtlich Halbwüchsiger oder Grünschnabel. »Bringt mir Yanuka, und ich serviere euch diese Clowns samt dem ganzen Apparat auf einem Silberteller.«

Aber zu Gavron kein Sterbenswörtchen! Abwarten! Kein Wort an die Krähe! Wenn schon nicht in Jerusalem, so hatte jedenfalls in der von ihm so geliebten Diaspora die Schar seiner Helfer etwas Unheimliches. Allein in London flitzte er, ohne dass sich sein Lächeln sehr änderte, von ehrwürdigen Kunsthändlern zu Möchtegern-Filmmagnaten, von kleinen Zimmervermieterinnen im East End zu Kaufleuten aus der Bekleidungsbranche, fragwürdigen Autohändlern und angesehenen großen Firmen in der City. Ein paarmal sah man ihn auch im Theater, einmal sogar in der Provinz, allerdings immer im selben Stück, wobei er einen israelischen Diplomaten mitnahm, der sich um kulturelle Belange zu kümmern hatte; über Kultur unterhielten sie sich allerdings nicht. In Camden Town aß er zweimal in einem bescheidenen Fernfahrerrestaurant, das von zwei Indern aus Goa betrieben wurde; in Frognal, ein paar Kilometer nordwestlich von London, inspizierte er ein abgeschiedenes viktorianisches Landhaus namens The Acre und erklärte, es sei ideal für seine Zwecke. Aber bitte, nur für den Fall der Fälle, erklärte er den sehr hilfsbereiten Besitzern. Sie akzeptierten diese Bedingung. Sie akzeptierten alles. Sie waren stolz darauf, dass man sich an sie wandte, es freue sie zutiefst, Israel einen Dienst zu erweisen, selbst wenn das bedeutete, für ein paar Monate in ihr Haus in Marlow überzusiedeln. Leisteten sie sich nicht in Jerusalem eine Wohnung, die sie zu jedem Passahfest Freunden und Familienangehörigen zur Verfügung stellten, nachdem diese in Eilat vierzehn Tage Sonne und Meer genossen hatten? Und überlegten sie nicht ernstlich, für immer nach Israel zu gehen -allerdings erst dann, wenn ihre Kinder dort nicht mehr im wehrpflichtigen Alter waren und die Inflationsrate sich beruhigt hatte? Andererseits konnten sie genausogut in Hampstead bleiben. Oder in Marlow. Inzwischen würden sie großzügig spenden und alles tun, was Kurtz von ihnen verlangte, nie etwas als Gegenleistung erwarten und keiner Menschenseele ein Sterbenswörtchen sagen. In den Botschaften, Konsulaten und Gesandtschaften, die auf seinem Weg lagen, hielt sich Kurtz über die Fehden und Entwicklungen zu Hause sowie über die Fortschritte seiner Leute in anderen Teilen der Welt auf dem laufenden. Auf den Flügen brachte er seine Kenntnisse radikaler revolutionärer Literatur aller Art auf den neuesten Stand; sein ausgemergelter Adlatus, der mit richtigem Namen Shimon Litvak hieß, schleppte eine Auswahl davon in seiner schäbigen Aktenmappe mit sich herum und drängte sie ihm in den unpassendsten Augenblicken auf. Von den ›Harten‹ nahm er sich Fanon, Guevara und Marighella vor, bei den ›Weichen‹ befasste er sich mit Debray, Sartre und Marcuse, von den sanfteren Seelen, die hauptsächlich über die Grausamkeiten der Erziehung in der Konsumgesellschaft, die Schrecken der Religion und die verhängnisvolle geistige Verkümmerung in der kapitalistischen Kindheit schrieben, ganz zu schweigen. Daheim in Jerusalem und Tel Aviv, wo ähnliche Auseinandersetzungen nicht unbekannt waren, verhielt Kurtz sich womöglich noch unauffälliger, redete mit seinen Ermittlern, ging Rivalen aus dem Weg und wühlte sich durch erschöpfende Charakterporträts, die aus alten Unterlagen zusammengetragen und gewissenhaft auf den neuesten Stand gebracht und erweitert worden waren. Eines Tages hörte er von einem Haus - Disraelistraße 11-, das trotz niedriger Miete niemand haben wollte, und ordnete um der noch größeren Geheimhaltung willen an, dass alle, die an dem Fall arbeiteten, diskret dorthin umzögen. »Wie ich höre, wollen Sie uns schon verlassen«, meinte Misha Gavron am nächsten Tag skeptisch, als die beiden Männer sich bei einer Besprechung trafen, die mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte, denn mittlerweile hatte Gavron doch etwas läuten hören, wenn er auch nicht genau wusste, was das alles zu bedeuten habe. Trotzdem ließ Kurtz sich nicht aus der Reserve locken. Noch nicht. Er berief sich auf die Unabhängigkeit der einzelnen Abteilungen und setzte ein undurchsichtiges Grinsen auf. Bei Nummer 11 handelte es sich um eine schöne, von Arabern erbaute Villa mit einem Zitronenbaum im Vorgarten und etwa zweihundert Katzen, die von den weiblichen Beamten wie unsinnig gefüttert wurden. Was Wunder, dass die Villa ›Katzenhaus‹ genannt wurde und dem Team einen neuen Zusammenhalt gab, denn jetzt, wo die Leute vom Innendienst Wand an Wand zusammenarbeiteten, konnte es weder zu unerfreulichen Informationslücken zwischen den Spezialabteilungen noch zu undichten Stellen kommen. Außerdem wurde dadurch der Status der Operation gehoben, und darauf kam es nach Kurtz’ Ansicht besonders an. Am nächsten Tag kam der Schlag, auf den er gewartet hatte und den er noch nicht verhindern konnte. Er war furchtbar, erfüllte aber seinen Zweck. Ein junger israelischer Dichter, der zur Entgegennahme eines Literaturpreises der Universität Leiden nach Holland gereist war, wurde beim Frühstück in die Luft gejagt, und zwar durch eine Paketbombe, die am Morgen seines fünfundzwanzigsten Geburtstages in seinem Hotel abgegeben worden war. Kurtz saß am Schreibtisch, als die Nachricht eintraf, und nahm sie hin wie ein Preisboxer, der einen rechten Schwinger einsteckt: Er zuckte zusammen und schloss für einen Moment die Augen, doch nach wenigen Stunden stand er, einen Stoß Akten unter dem Arm und zwei Fassungen seines Einsatzplans in der freien Hand, in Gavrons Büro; eine Fassung war für Gavron und die andere, weit weniger fest umrissen, für Gavrons Lenkungsausschuss aus nervösen Politikern und kriegslüsternen Generälen.

Anfangs war nicht zu erfahren, was genau zwischen den beiden Männern vorging, denn weder Kurtz noch Gavron waren besonders vertrauensselig. Aber am nächsten Morgen verließ Kurtz -offenbar mit dem Segen irgendeiner höheren Stelle -seine Deckung und ließ Verstärkung antanzen. Als Mittelsmann bediente er sich dazu des eifrigen Litvak, der ein Sabra und ein Apparatschik bis in die Knochen war und der es verstand, sich unter Gavrons hochmotivierten jungen Leuten zu bewegen, die Kurtz insgeheim unbeweglich fand und mit denen umzugehen ihm unangenehm war. Das Baby dieser hastig zusammengetrommelten Familie war Oded, ein dreiundzwanzigjähriger junger Mann, der aus Litvaks eigenem Kibbuz stammte und wie er die angesehene Sayaret-Kommandoausbildung absolviert hatte. Der Großvater war ein siebzigjähriger Georgier namens Bougaschwili, kurz ›Schwili‹ genannt. Schwili hatte einen glänzenden kahlen Schädel und gebeugte Schultern und trug Hosen, die wie für einen Clown geschnitten waren - mit sehr tief sitzendem Schritt und kurzen Beinen. Ein schwarzer Homburg, den er sowohl im Haus trug wie draußen, krönte diesen sonderbaren Aufzug. Schwili hatte sein Leben als Schmuggler und Bauernfänger begonnen, Berufe, wie sie bei ihm daheim nicht ungewöhnlich waren, doch um die Mitte seines Lebens hatte er sich beruflich zu einem vielseitigen Fälscher entwickelt. Seine Meisterleistung hatte er in der Lubjanka vollbracht, wo er Papiere für seine Mithäftlinge fälschte - und zwar aus alten Ausgaben der Prawda, die er wieder in Papierbrei zurückverwandelte, um sein eigenes Papier daraus herzustellen. Nach seiner Entlassung hatte er sein überragendes Können auf diesem Gebiet - nicht nur als Fälscher, sondern auch als Experte, der bei angesehenen Kunstgalerien unter Vertrag stand - in den Dienst der schönen Künste gestellt und behauptete, dass er mehrmals das Vergnügen gehabt habe, Expertisen über seine eigenen Fälschungen abzugeben. Kurtz liebte Schwili, und wenn er einmal zehn Minuten erübrigen konnte, nahm er die Gelegenheit wahr, ihn in eine Eisdiele unten am Hügel auszuführen und ihm eine doppelte Portion Karameleis, Schwilis Lieblingseis, zu spendieren.

Außerdem stattete Kurtz Schwili mit den beiden unwahrscheinlichsten Helfern aus, die man sich nur vorstellen konnte. Bei dem einen - einer Litvak-Entdeckung - handelte es sich um einen Absolventen der London University namens Leon, einen Israeli, der, ohne dass er etwas dafür konnte, eine englische Kindheit verbracht hatte, denn sein Vater war ein Kibbuz-macher oder Geschaftlhuber, der als Vertreter einer Verkauf s-Kooperative nach Europa geschickt worden war. In London hatte Leon literarische Interessen entwickelt, eine Zeitschrift herausgegeben und einen Roman veröffentlicht, der überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden war. Sein dreijähriger Wehrdienst in der israelischen Armee hatte ihn ganz elend gemacht, und nach seiner Entlassung hatte er sich in Tel Aviv verkrochen, wo er sich einer der intellektuellen Wochenschriften angeschlossen hatte, die kommen und gehen wie schöne Mädchen. Als sie einging, machte Leon die ganze Zeitschrift allein. Trotzdem erlebte er irgendwie unter den friedensbesessenen, klaustrophobischen jungen Leuten in Tel Aviv ein tiefgehendes Wiedererwachen seiner Identität als Jude und - im Zusammenhang damit - den brennenden Drang, Israel von allen seinen ehemaligen und künftigen Feinden zu befreien.

»Von jetzt an«, sagte Kurtz zu ihm, »schreibst du für mich. Eine große Leserschaft wirst du nicht haben, wohl aber eine, die das, was du schreibst, zu schätzen weiß - das bestimmt.« Bei Schwilis zweitem Helfer neben Leon handelte es sich um eine Miss Bach, eine unaufdringliche Geschäftsfrau aus South Bend, Indiana. Von ihrer Intelligenz genauso beeindruckt wie von ihrem nichtjüdischen Aussehen, hatte Kurtz Miss Bach für sich rekrutiert, sie in allen möglichen Fertigkeiten ausgebildet und sie schließlich als Ausbilderin für Computerprogrammierung nach Damaskus geschickt. Von da an hatte die gesetzte Miss Bach jahrelang über Reichweite und Aufstellung der syrischen Radarsysteme berichtet. Endlich zurückgerufen, hatte Miss Bach sehnsüchtig davon geredet, das Grenzerleben einer Siedlerin auf der Westbank zu führen, doch der neuerliche Ruf von Kurtz hatte ihr diese Unbequemlichkeit erspart.

Schwili, Leon und Miss Bach also. Kurtz nannte das gemischte Trio seinen ›Bildungs-Kreis‹ und räumte ihm eine besonders angesehene Stellung in seiner rasch anwachsenden Privatarmee ein.

In München hatte er Administratives zu erledigen, tat das jedoch mit Verschwiegenheit und viel Fingerspitzengefühl und schaffte es, seine vorantreibende Art in die bescheidenste aller Formen zu zwängen. Er hatte dort nicht weniger als sechs Mitglieder seines neu gebildeten Teams untergebracht, die in zwei völlig verschiedenen Unterkünften in weit auseinander liegenden Stadtteilen arbeiteten. Die erste Gruppe bestand aus zwei Männern vom Außendienst. Eigentlich hätten es insgesamt fünf sein sollen, doch war Misha Gavron immer noch entschlossen, ihn am kurzen Zügel zu führen, und so waren es bis jetzt nur zwei. Sie holten Kurtz auch nicht vom Flughafen ab, sondern aus einem schummerigen Schwabinger Cafe, benutzten - auch das aus Gründen der Sparsamkeit - den klapprigen Lieferwagen eines Bauunternehmens, um ihn darin zu verstecken, und fuhren ihn ins Olympische Dorf, in eine der dunklen Tiefgaragen, die der Lieblingsaufenthalt von Ganoven und Prostituierten beiderlei Geschlechts sind. Das Olympische Dorf ist selbstverständlich alles andere als ein Dorf, sondern eine ein Eigenleben führende und dem Verfall preisgegebene graue Betonfestung, die mehr als irgendetwas sonst in Bayern an eine israelische Siedlung erinnert. Von einer der ausgedehnten unterirdischen Garagen brachten sie ihn über eine schmutzstarrende Treppe, die über und über mit Wandschmierereien in vielen Sprachen bedeckt war, über kleine Dachgärten in ein Duplex-Apartment, das sie für kurze Zeit teilmöbliert gemietet hatten. Draußen sprachen sie englisch und redeten ihn mit ›Sir‹ an, doch drinnen nannten sie ihren Chef ›Marty‹ und unterhielten sich respektvoll auf Hebräisch mit ihm. Das Apartment lag im obersten Stock eines Eckgebäudes und war mit kunterbunt zusammengetragenen Beleuchtungsapparaten und ominösen Standkameras sowie Bandgeräten und Projektionsschirmen vollgestellt. Es war aufwendig mit einer offenen Teakholz-Treppe und einer rustikalen Empore ausgestattet, die laut knarrte, wenn sie zu fest darauf traten. Von der Empore ging es in ein viermal dreieinhalb Meter großes Gästezimmer mit einem Oberlicht in der Dachschräge, das sie, wie sie ihm ausführlich erklärten, zuerst mit einer Wolldecke, dann einer Hartfaserplatte und schließlich einer mehrere Handbreit dicken Kapokschicht abgedichtet hatten, die kreuz und quer mit Streifen von Isolierband angeklebt worden war. Wände, Boden und Decke waren ähnlich gepolstert, und das Ergebnis erinnerte an eine Mischung aus moderner Priester- und Gummizelle. Die Zimmertür hatten sie zur Vorsicht mit überstrichenem Stahlblech verstärkt und darin in Kopfhöhe noch ein kleines Geviert aus mehreren Schichten verschieden starken Panzerglases eingelassen; darüber hatten sie ein Pappschild mit der Aufschrift ›Dark Room Keep Out‹ und darunter ›Dunkelkammer - Kein Eintritt angebracht. Kurtz ließ einen von ihnen diesen kleinen Raum betreten, die Tür hinter sich zu machen und so laut schreien, wie er konnte. Als er nichts weiter hörte als einen heiseren, krächzenden Laut, zeigte er sich zufrieden.

Der Rest der Apartments war luftig, aber, wie das Olympische Dorf selbst, schrecklich heruntergekommen. Nach Nordwesten hatte man durch die Fenster einen verschmutzten Blick auf die Straße nach Dachau, wo sehr viele Juden im KZ umgekommen waren; die Ironie, die in diesem Anblick lag, entging keinem der Anwesenden, und zwar um so weniger, als die bayerische Polizei mit blamablem Mangel an Feingefühl ihre fliegende Einsatztruppe ausgerechnet dort in den ehemaligen Unterkünften untergebracht hatte. Mehr in der Nähe konnten sie Kurtz jene Stelle zeigen, an der vor noch nicht langer Zeit Angehörige eines palästinensischen Kommandounternehmens wie aus heiterem Himmel in die Unterkünfte der israelischen Athleten eingedrungen waren, ein paar von den Israelis sofort getötet und den Rest zum Militärflugplatz mitgenommen hatten, wo sie auch sie umgebracht hatten. Rechts neben ihrem eigenen Apartment, so erzählten sie Kurtz, lebe eine Studenten-Wohngemeinschaft, unter ihnen im Moment niemand, da die letzte Bewohnerin sich das Leben genommen habe. Nachdem er mit schweren Schritten die ganze Wohnung allein abgegangen war und über Eingänge und Fluchtrouten nachgedacht hatte, kam Kurtz zu dem Schluss, dass er die untere Wohnung auch noch mieten müsse, und rief daher noch am selben Tag einen gewissen Rechtsanwalt in Nürnberg an und erteilte ihm den Auftrag, einen entsprechenden Vertrag abzuschließen. Die jungen Leute hatten ein saloppes, unauffälliges Aussehen angenommen, und einer von ihnen -der junge Oded - hatte sich einen Bart stehen lassen. Ihre Pässe wiesen sie als Argentinier aus, von Beruf Fotografen, was für welche, interessierte niemand. Manchmal, so berichteten sie Kurtz, sagten sie, um ihrem Haushalt den Anstrich von Normalität und Leichtlebigkeit zu geben, den Nachbarn Bescheid, sie würden eine Party feiern, bei der es spät werden kenne; der einzige Beweis für diese Partys waren die pausenlose laute Musik und die leeren Flaschen im Mülleimer. Dabei hatten sie in Wirklichkeit niemand in die Wohnung hineingelassen, nur den Kurier von der anderen Gruppe: keine Gäste, keine Besucher, welcher Art auch immer. Und was Frauen anging, nun, denken wir nicht dran. Sie hätten den Gedanken an Frauen einfach aus dem Kopf verbannt, bis sie wieder zurück in Jerusalem wären.

Nachdem sie Kurtz dies und anderes berichtet und solche Verwaltungsdinge wie Fahrkarten und andere Spesen besprochen hatten und, ob es vielleicht gar keine schlechte Idee sei, Eisenringe in die gepolsterten Wände einzulassen -Kurtz war dafür-, begleiteten sie ihn auf seinen Wunsch hin auf einen Spaziergang, ein bisschen frische Luft schnappen - wie er es nannte. Sie streiften durch die amüsanten, heruntergekommenen Studentenviertel, verweilten bei einer Töpferschule, einer Schreinerschule, hielten sich bei der, wie stolz verkündet wurde, ersten Baby-Schwimmschule der Welt auf, und sie führten sich die anarchistischen Parolen zu Gemüte, mit denen die gestrichenen Türen beschmiert waren. Bis sie unvermeidlich, wie davon angezogen, vor der Tür eben jenes Unglückshauses standen, das vor fast zehn Jahren Ziel des Überfalls auf die israelischen Sportler gewesen war, der die Welt erschüttert hatte. Eine Steintafel mit einer Inschrift in deutscher und hebräischer Sprache erinnerte an die elf Toten. Elf oder elftausend - das Gefühl der Empörung, das sie alle erfüllte, war das gleiche. »Also vergesst das nicht«, befahl Kurtz unnötigerweise, als sie zu dem Lieferwagen zurückkehrten. Vom Olympischen Dorf aus brachten sie Kurtz zurück zur Stadtmitte, wo er sich mit Absicht ein wenig verlor, nach Lust und Laune herumlief, bis ihm seine Leute, die ihn nicht aus den Augen ließen, durch das verabredete Signal zu verstehen gaben, alles sei sicher, und er könne zu seiner nächsten Verabredung gehen. Der Gegensatz zwischen ihrem Quartier und dem, das er jetzt aufsuchte, hätte nicht größer sein können. Kurtz’ Ziel war das oberste Stockwerk eine verschnörkelten hochgiebligen Hauses mitten im Herzen des mondänen München. Die Straße vor dem Haus war schmal, mit Kopfsteinpflaster gepflastert und teuer. Es gab hier ein Schweizer Restaurant und das Atelier eines Prominentenschneiders, der nie etwas zu verkaufen und doch ein blühendes Geschäft zu betreiben schien. Kurtz stieg über eine dunkle Treppe nach oben, und die Tür ging auf, als er den Fuß auf die oberste Stufe setzte; sie hatten ihn nämlich auf dem Bildschirm ihres kleinen Monitors die Straße herunterkommen sehen. Ohne ein Wort zu sagen, trat er ein. Diese Männer waren älter als die beiden, die ihn zuerst empfangen hatten - eher Väter als Söhne. Sie waren blass wie Langzeit-Inhaftierte und hatten etwas Schicksalsergebenes in ihren Bewegungen, besonders wenn sie auf Socken und Zehenspitzen umeinander herumschlichen. Sie waren professionelle ortsfeste Beobachter an elektrostatischen Geräten -selbst in Jerusalem so etwas wie eine Geheimgesellschaft. Spitzengardinen hingen vorm Fenster; draußen auf der Straße war es dämmerig, und hier im Zimmer genauso; überhaupt herrschte in der ganzen Wohnung eine Atmosphäre von bedauerlicher Vernachlässigung. Zwischen den nachgemachten Biedermeier-Möbeln stand ein kunterbuntes Durcheinander von optischen und elektronischen Geräten, zu denen noch Innenantennen der verschiedensten Art kamen. Ihre gespenstischen Umrisse trugen im schwindenden Licht dazu bei, die vorherrschende Trauerstimmung noch zu verstärken.

Mit ernster Miene umarmte Kurtz die beiden Männer einen nach dem anderen. Dann gab der ältere der beiden, der Lenny hieß, Kurtz bei Crackers, Käse und Tee einen umfassenden Überblick über Yanukas Lebenswandel und -Stil, wobei er völlig unberücksichtigt ließ, dass Kurtz nunmehr seit Wochen jede kleine Entdeckung mit ihnen geteilt hatte: Yanukas Telefongespräche - Anrufe, die er empfing, und solche, die er von zu Hause aus führte -, seine letzten Besucher, seine neuesten Mädchen. Lenny hatte ein großes Herz und war sehr gutmütig, gleichwohl jedoch von einer gewissen Scheu jenen Menschen gegenüber, die er gerade nicht observierte. Er hatte große abstehende Ohren und ein hässliches, allzu grob geschnittenes Gesicht, doch vielleicht war gerade das der Grund, warum er es den erbarmungslosen Blicken der Welt vorenthielt. Er trug seine große graue Strickweste wie einen Kettenpanzer. Bei anderen Gelegenheiten konnte Kurtz von Einzelheiten rasch genug haben, doch hegte er Lenny gegenüber große Hochachtung und schenkte allem, was er sagte, ungeteilte Aufmerksamkeit, nickte, machte beifällige Bemerkungen und setzte überhaupt die für ihn richtige Miene auf.

»Ein ganz normaler junger Mann, dieser Yanuka«, verwendete sich Lenny gleichsam für ihn. »Die Geschäftsleute bewundern ihn. Seine Freunde bewundern ihn. Er ist ein wirklich liebenswerter, populärer Bursche, Marty. Studiert, amüsiert sich gern und redet viel - ein ernsthafter Kerl mit gesunden Neigungen.« Als Kurtz ihn ansah, wurde er ein wenig verlegen. »Manchmal will es einem einfach nicht in den Kopf, dass es da auch noch die andere Seite bei ihm gibt, Marty, glaub mir.«

Kurtz versicherte Lenny, er verstehe vollkommen. Und er war immer noch dabei, als das Mansardenfenster einer gegenüber auf der anderen Straßenseite liegenden Wohnung hell wurde. Der rechteckige gelbe Schimmer ohne irgendwelche anderen erleuchteten Fenster in der Nähe hatte etwas von einem Zeichen, das Liebende sich geben. Wortlos ging einer von Lennys Männern auf Zehenspitzen zu einem Fernrohr auf einem Stativ, während ein anderer sich vor den Radioempfänger hockte und die Kopfhörer anlegte. »Willst du ihn mal sehen, Marty?« schlug Lenny hoffnungsvoll vor. »Joshuas Lächeln verrät mir, dass er Yanuka heute abend sehr schön

reinkriegt. Wenn du zu lange wartest, zieht er uns den Vorhang vor der Nase zu. Was siehst du, Joshua? Hat Yanuka sich in Schale geworfen, um heute abend auszugehen? Mit wem spricht er am Telefon? Bestimmt mit einem Mädchen.«

Joshua sanft beiseite schiebend, brachte Kurtz seinen großen Kopf hinter dem Fernrohr in Position. Und verharrte sehr lange in dieser Stellung. Gekrümmt wie ein alter Falke, schien er kaum zu atmen, während er Yanuka betrachtete, den halbwüchsigen Grünschnabel. »Siehst du die vielen Bücher im Hintergrund?« fragte Lenny. »Der Bursche ist ein Bücherwurm wie mein Vater.« »Wirklich ein reizender Junge«, pflichtete Kurtz schließlich mit seinem sardonischen Lächeln bei, als er sich langsam aufrichtete. »Sieht gut aus, keine Frage.« Er nahm seinen grauen Regenmantel vom Stuhl, suchte einen Ärmel und schlüpfte geradezu zärtlich hinein. »Pass bloß auf, dass du ihm nicht deine Tochter zur Frau gibst.« Lenny guckte noch schafsköpfiger als vorher, doch Kurtz tröstete ihn rasch. »Wir sollten dir dankbar sein, Lenny. Und das sind wir auch, das versteht sich von selbst.« Und dann, als falle ihm das eben gerade ein, sagte er: »Macht weiter Aufnahmen von ihm. Von allen Seiten. Und keine Bange, Lenny. Filme sind nicht so teuer.«

Nachdem er sich händeschüttelnd nacheinander von den Männern verabschiedet hatte, ergänzte Kurtz seinen bisherigen Aufzug noch durch eine alte blaue Baskenmütze; so gegen den Ansturm der Hauptverkehrszeit gewappnet, trat er energisch auf die Straße.

Es regnete, als sie Kurtz schließlich wieder in den Lieferwagen steigen ließen, und als die drei von einem finsteren Ort zum anderen fuhren, um die Zeit bis zum Start von Kurtz’ Maschine totzuschlagen, schien sich ihnen allen das unfreundliche Wetter aufs Gemüt zu legen. Oded saß am Steuer, und sein bärtiges junges Gesicht ließ in den vorübergleitenden Lichtern einen dumpfen Zorn erkennen. »Was fährt er denn jetzt?« fragte Kurtz, obwohl er die Antwort gekannt haben musste. »Seit neuestem einen BMW, wie ihn reiche Leute fahren«, erwiderte Oded. »Servolenkung, Einspritzmotor, erst fünftausend Kilometer gefahren. Autos sind seine Schwäche.«

»Autos, Frauen, angenehmes Leben«, ließ sich der andere Junge vom Hintersitz her vernehmen. »Und da frag’ ich mich, worin denn eigentlich seine Stärken bestehen.« »Wieder ein Leihwagen?« wandte sich Kurtz an Oded. »Ja, ein Leihwagen.«

»Passt vor allem beim Auto auf«, schärfte Kurtz ihnen beiden ein. »Sobald er den Wagen an die Leihfirma zurückgibt und keinen neuen nimmt, ist das der Augenblick, über den wir sofort informiert werden müssen.« Das hatten sie so oft gehört, dass sie es schon nicht mehr hören konnten. Schon ehe sie Jerusalem verlassen hatten, war ihnen das eingetrichtert worden. Trotzdem wiederholte Kurtz es jetzt noch einmal. »Das allerwichtigste ist, zu erfahren, wann Yanuka seinen Wagen zurückgibt.«

Plötzlich hatte Oded die Schnauze voll. Vielleicht konnte er wegen seiner Jugend und seines Temperaments weniger Stress ertragen, als denen, die ihn ausgewählt hatten, klar gewesen war. Vielleicht hätte man einem so jungen Mann nicht eine Aufgabe geben sollen, bei der es vor allem darauf ankam, warten zu können. Er fuhr mit dem Lieferwagen an den Bordstein und zog die Bremse so hart in die Höhe, dass er sie fast aus der Verankerung gerissen hätte. »Warum lassen wir ihn all dies machen?« verlangte er zu wissen. »Warum Katz und Maus mit ihm spielen? Was, wenn er nach Haus zurückkehrt und nicht wieder zum Vorschein kommt? Was dann?« »Dann geht er uns eben durch die Lappen.«

»Dann lass ihn uns jetzt umlegen. Heute abend. Gib mir den Befehl, und ich mach’s.« Kurtz ließ ihn weiterwüten.

»Wir haben doch die Wohnung genau gegenüber, oder? Schießen wir eine Rakete über die Straße. Wäre doch nicht das erstemal. Eine russische RPG 7: Araber bringt Araber mit russischer Rakete um - warum nicht?«

Kurtz sagte immer noch nichts. Oded hätte ebenso gut eine Sphinx bestürmen können. »Warum also nicht?« wiederholte Oded mit großem Stimmaufwand.

Kurtz schonte ihn nicht, aber er verlor auch nicht die Geduld: »Weil das zu nichts führt, Oded, deshalb. Hast du vielleicht nie gehört, was Misha Gavron selbst immer gesagt hat? Einen Satz, den ich persönlich mir hinter die Ohren geschrieben habe? Wenn man einen Löwen fangen will, muss man erst die Ziege anbinden. Ich frag’ mich, wessen verrücktes Kampfgerede du dir angehört hast. Willst du mir allen Ernstes weismachen, dass du Yanuka abknallen willst, wo du für zehn Dollar mehr den besten Strategen kriegen kannst, den sie seit Jahren hervorgebracht haben?«

»Bad Godesberg geht auf sein Konto! Wien geht auf sein Konto, und Leiden vielleicht auch! Es werden Juden getötet, Marty! Macht das Jerusalem heutzutage nichts mehr aus? Wie viele sollen noch draufgehen, während wir unsere Spielchen spielen?« Bedächtig packte Kurtz den Kragen von Odeds Windjacke mit seinen großen Händen und schüttelte ihn zweimal; beim zweitenmal knallte Odeds Kopf schmerzhaft gegen das Fenster. Aber Kurtz entschuldigte sich nicht, und Oded beschwerte sich nicht. »Auf ihr Konto, Oded. Nicht auf seins: auf ihres«, erklärte Kurtz, diesmal mit drohendem Unterton. »Bad Godesberg geht auf ihr Konto. Leiden geht auf ihr Konto. Und sie sind es, die wir hochgehen lassen wollen; nicht sechs unschuldige deutsche Wohnungsinhaber und einen dummen kleinen Jungen!«

»Schon gut«, sagte Oded errötend. »Lass mich in Ruhe.«

»Nichts ist gut, Oded. Yanuka hat Freunde, Oded. Verwandte. Leute, die uns bis jetzt noch nicht vorgestellt worden sind. Willst du dieses Unternehmen vielleicht für mich leiten?«

»Ich hab’ gesagt - es ist gut.«

Kurtz ließ von ihm ab. Oded startete den Motor. Kurtz schlug vor, ihre interessante Tour auf den Spuren von Yanukas Lebenswandel fortzusetzen. So holperten sie eine Kopfsteinpflasterstraße hinunter, in der sein Lieblings- Nachtlokal lag, der Laden, in dem er seine Hemden und Krawatten kaufte, und der Friseur, bei dem er sich das Haar schneiden ließ, sowie die linken Buchhandlungen, in denen er mit Vorliebe schmökerte und kaufte. Und die ganze Zeit über zeigte Kurtz sich bester Laune, nickte und strahlte über alles, was er sah, so als sähe er einen alten Film, von dem er nicht genug bekommen konnte - bis sie sich auf einem Platz, der nicht weit von der Haltestelle entfernt war, wo die Busse zum Flughafen abgingen, voneinander trennten. Kurtz, der auf dem Bürgersteig stand, klopfte Oded liebevoll auf die Schulter, ohne sich seiner Zuneigung zu schämen, und fuhr ihm sogar mit der Hand durchs Haar.

»Hört zu, ihr beiden, zerrt nicht zu sehr am Zügel. Leistet euch irgendwo ein schönes Essen, auf meine persönliche Rechnung, einverstanden?«

Er sagte das im Ton eines Kommandeurs, den vor der Schlacht die Liebe überkommt. Und solange Misha Gavron es gestattete, fühlte er sich auch als solcher.

Der Nachtflug von München nach Berlin ist für die wenigen, die diese Maschine nehmen, eine der letzten großen nostalgischen Reisen, die man in Europa noch machen kann. Der Orient-Express, der Goldene Pfeil und der Train Bleu mögen der Vergangenheit angehören, eingestellt oder künstlich wieder zum Leben erweckt werden, doch für diejenigen, die ihre Erinnerungen haben, sind die sechzig Minuten Nachtflug durch den ostdeutschen Korridor in einer klapprigen Pan Am-Maschine wie die Safari eines alten Afrikaners, der seinem Laster frönt. Die Lufthansa darf diese Route nicht fliegen. Sie gehört ausschließlich den Siegern, den Besatzungsmächten der ehemaligen Reichshauptstadt, den Historikern und Insel-Suchern sowie einem von Kriegsnarben gezeichneten älteren Amerikaner, der die disziplinierte Ruhe des Profis ausstrahlt und diesen Flug fast täglich macht, seinen Lieblingsplatz ebenso kennt wie den Vornamen der Stewardess, den er im schaurigen Deutsch der Besatzungszeit ausspricht. Es fehlt nicht viel, und man glaubt, dass er ihr gleich ein Päckchen Lucky Strikes zusteckt und eine Verabredung mit ihr hinter der Kantine trifft. Der Rumpf knarrt und hebt und senkt sich, die Lampen flackern, und man kann es kaum fassen, dass es sich nicht um eine Propellermaschine handelt. Man starrt hinaus ins verdunkelte Feindesland - um Bomben abzuwerfen, um abzuspringen? -, man hängt seinen Erinnerungen nach und bringt die Kriege durcheinander, die man mitgemacht hat: Dort unten jedenfalls ist die Welt in einem unbehaglichen Sinne noch so, wie sie war. Kurtz war da keine Ausnahme. Er saß an seinem Fenster und blickte an seinem Spiegelbild vorbei in die Nacht hinaus. Wie immer, wenn er diesen Flug machte, wurde er zum Betrachter, der sein eigenes Leben an sich vorüberziehen sieht. Irgendwo dort in der Schwärze lag jene Eisenbahnstrecke, auf der der Güterzug auf seiner langsamen Fahrt aus dem Osten herangerollt war, irgendwo auch jenes Nebengleis, auf dem er mitten im Winter fünf Nächte und sechs Tage stillgelegen hatte, um die Militärtransporte vorbeizulassen, die so viel wichtiger waren als ihr Zug, und wo Kurtz und seine Mutter und die hundertachtzehn anderen Juden, die in ihren Waggon gepfercht worden waren, Schnee aßen und froren - die meisten von ihnen sich zu Tode froren. »Im nächsten Lager ist es bestimmt besser«, hatte seine Mutter ihm immer versichert, damit ihm nicht der Mut sank. Und irgendwo in dieser Schwärze hatte seine Mutter dann in einer Reihe mit anderen widerstandslos ihren Weg in den Tod angetreten. Irgendwo dort draußen auf den Feldern hatte der Sudetenjunge, der er gewesen war, gehungert und gestohlen und getötet und illusionslos gewartet, dass eine andere feindliche Welt ihn finde. Er sah das Auffanglager der Alliierten, die fremden Uniformen, die Kindergesichter, so alt und so hohl wie sein eigenes. Ein neuer Mantel, neue Schuhe und neuer Stacheldraht - und eine neue Flucht, diesmal vor seinen Rettern. Er sah sich wieder auf den Feldern, wie er sich wochenlang Richtung Süden von einem Bauernhof zum nächsten Dorf durchgeschlagen hatte, immer auf der Fluchtroute, die ihm angegeben worden war, bis nach und nach die Nächte wärmer geworden waren und nach Blumen geduftet hatten und er zum ersten Mal in seinem Leben das Rauschen von Palmen im Meereswind vernommen hatte. »Hör zu, du durchgefrorener kleiner Junge«, hatten sie ihm zugewispert, »so rauschen wir in Israel. Genauso blau wie hier ist auch dort das Meer.« Er sah den abgetakelten Dampfer plump neben dem Pier schwimmen, das größte und schönste Schiff, das er je zu Gesicht bekommen hatte und das, als er an Bord ging, so schwarz war von jüdischen Köpfen, dass er sich eine Pudelmütze klaute und sie trug, bis sie den Hafen verlassen hatten. Aber sie brauchten ihn, ob er nun blond war oder nicht. An Deck gaben die Anführer ihnen in kleinen Gruppen Schießunterricht mit gestohlenen Lee Enfield-Gewehren. Haifa war noch zwei Tage entfernt, und Kurtz’ Krieg hatte gerade erst begonnen.

Das Flugzeug flog eine Schleife und setzte zur Landung an. Er spürte, wie die Maschine in Schräglage ging und über die Mauer flog. Er hatte nur Handgepäck, doch wegen der Terroristen waren die Sicherheitsvorkehrungen streng, und so dauerten die Formalitäten ziemlich lange.

Shimon Litvak wartete in einem alten Ford auf dem Parkplatz. Er war von Holland hergeflogen, wo er sich in Leiden zwei Tage lang mit dem scheußlichen Anschlag beschäftigt hatte. Genauso wie Kurtz hatte er das Gefühl, kein Recht auf Schlaf zu haben. »Die Bücherbombe wurde von einem Mädchen abgegeben«, sagte er, sobald Kurtz zu ihm ins Auto geklettert war. »Gut gewachsene Brünette. Jeans. Der Hotelportier nahm an, dass sie von der Universität war, und war überzeugt, sie sei per Rad gekommen und auch wieder weggefahren. Das ist mehr oder weniger eine Vermutung, aber zum Teil glaube ich ihm. Jemand anders sagt wiederum, sie sei auf einem Motorrad zum Hotel gebracht worden. Wie ein Geschenk mit einem Band umwickelt und die Aufschrift ›Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mordecai‹ auf einem Zettel. Ein Plan, ein Überbringer, eine Bombe und ein Mädchen - wie gehabt.«

»Sprengstoff?«

»Russische Plastikbombe, Fetzen vom Einwickelpapier, nichts, was man weiterverfolgen könnte.«

»Irgendein Markenzeichen?« »Eine saubere Schleife aus rotem Draht für den Stromkreis, verpackt in einer Attrappe.« Kurtz sah ihn scharf an.

»Kein übrig gebliebener Draht«, gestand Litvak. »Verkohlte Reste, gewiss, aber kein Draht, den man identifizieren könnte.«

»Und auch keine Wäscheklammer?« fragte Kurtz.

»Diesmal hat er eine Mausefalle genommen. Eine hübsche kleine Mausefalle, wie man sie in jedem Haushaltwarengeschäft kaufen kann.« Er ließ den Motor an.

»Er hat auch schon Mausefallen benutzt«, sagte Kurtz. »Ja, Mausefallen, Wäscheklammern, alte Beduinendecken, Sprengstoffe, von denen man nicht feststellen kann, wo sie herkommen, billige Uhren mit nur einem Zeiger und billige Mädchen. Und ist der stümperhafteste Bombenbastler, den man sich vorstellen kann, selbst für einen Araber«, sagte Litvak, der schlampige Arbeit genauso hasste wie den Gegner, der dafür verantwortlich war. »Wie viel Zeit hat er Ihnen zugestanden?«

Kurtz tat so, als verstünde er nicht. »Mir zugestanden? Wer soll mir was zugestanden haben? «

»Wie viel gibt er Ihnen? Einen Monat? Zwei? Was ist abgemacht?«

Doch manchmal drückte Kurtz sich vor präzisen Antworten. »Eindeutig ist, dass nicht wenige in Jerusalem lieber gegen die Windmühlen im Libanon anrennen würden, als ihren Kopf zu gebrauchen, um den Gegner zu bekämpfen.«

»Schafft die Krähe es, sie zurückzuhalten? Schaffen Sie es?« Kurtz verfiel in ein ungewohntes Schweigen, aus dem Litvak ihn nicht herausreißen wollte. Im Zentrum von West-Berlin gibt es keine Dunkelheit und an den Rändern kein Licht. Sie fuhren auf die Helligkeit zu.

»Sie haben Gadi ein dickes Kompliment gemacht«, meinte Litvak plötzlich und sah seinen Vorgesetzten von der Seite an. »So in seine Stadt zu kommen. Wenn Sie eine Reise zu ihm machen, ist das wie eine Huldigung.« »Es ist nicht seine Stadt«, erklärte Kurtz ruhig. »Er hat sie sich geliehen. Er hat ein Stipendium, ein Handwerk, das er lernen muss, um sich ein zweites Leben aufzubauen. Das ist der einzige Grund, warum Gadi hier in Berlin ist.«

»Kann er es denn aushalten, in einem solchen Misthaufen zu leben? Selbst für eine zweite Karriere? Bringt er es nach Jerusalem fertig, hierher zu kommen?«

Kurtz gab keine direkte Antwort auf diese Frage, doch das erwartete Litvak auch nicht. »Gadi hat seinen Beitrag geleistet, Shimon. Kein Mensch kann ihm da das Wasser reichen, auch nicht im Verhältnis zu seinen Fähigkeiten. Er hat hart gekämpft, immer dort, wo es besonders hart zuging, und zwar meistens hinter der Front. Warum sollte er sich nicht etwas Neues aufbauen? Er hat ein Recht auf seinen Frieden.«

Doch Litvak war nicht dafür ausgebildet, eine Schlacht aufzugeben, ohne eine Schlussfolgerung daraus zu ziehen.

»Ja, warum ihn dann stören? Warum wieder aufleben lassen, was aus und vorbei ist? Wenn er einen Neuanfang macht, stören Sie ihn dabei doch nicht.«

»Weil er den Mittelbereich darstellt, Shimon.« Litvak drehte sich schnell, Erklärung suchend, zu ihm um, doch Kurtz’ Gesicht war im Schatten. »Weil er das Widerstreben besitzt, das als Brücke dienen kann. Weil er nachdenkt.«

Sie fuhren an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorüber und weiter durch die eisigen Feuer des Kurfürstendamms, um dann wieder in die bedrohliche Stille der dunklen Außenbezirke der Stadt einzutauchen.

»Und welchen Namen hat er sich jetzt zugelegt?« erkundigte sich Kurtz mit einem nachsichtigen Lächeln in der Stimme. »Sag mir, wie er sich nennt.«

»Becker«, erklärte Litvak knapp. Kurtz bekundete jovial seine Enttäuschung. »Becker? Was für ein Name ist denn das? Gadi Becker - für einen Sabra!«

»Becker ist das deutsche Wort für die hebräische Version der deutschen Version seines Namens«, erwiderte Litvak humorlos »Auf Bitten seiner Brötchengeber hat er ihn wieder eingedeutscht. Er ist kein Israeli mehr, er ist ein Jude.«

Kurtz ließ von seinem Lächeln nicht ab. »Und wie steht’s mit Frauen bei ihm, Shimon? Wie sieht’s da heute bei ihm aus?«

»Eine Nacht hier, eine dort. Nichts Dauerhaftes.«

Kurtz setzte sich bequemer hm. »Dann braucht er vielleicht etwas, was ihn ganz fordert. Und hinterher kehrt er dann zu seiner reizenden Frau Frankie in Jerusalem zurück; meiner Meinung nach hatte er sowieso kein Recht, sie sitzen zu lassen.«

Sie fuhren in eine schmutzige Seitenstraße und hielten vor einem dreistöckigen Mietshaus aus unterschiedlich gefärbten Ziegelsteinen. Die Toreinfahrt mit den großen Säulen schien den Krieg überdauert zu haben. Auf einer Seite davon war in einem neonerleuchteten Schaufenster eine Auswahl biederer Damenkleider ausgestellt. Auf dem Firmenschild darüber hieß es: ›Kein Einzelverkauf- nur en gros.‹

»Drücken Sie auf die oberste Klingel«, riet Litvak. »Zweimal, Pause, ein drittes Mal, und er kommt. Sie haben ihm ein Zimmer über dem Laden gegeben.« Kurtz kletterte aus dem Wagen. »Viel Glück, ja? Wirklich viel Glück!«

Litvak sah Kurtz nach, wie er im Sturmschritt die Straße überquerte, viel zu schnell für seinen rollenden Seemannsgang, und dann vor der schäbigen Toreinfahrt stehen blieb. Er sah ihn den dicken Arm heben, um zuklingeln, und gleich darauf die Tür aufgehen, als ob jemand dahinter gewartet hätte; was vermutlich der Fall gewesen war, wie er annahm. Er sah, wie Kurtz sich breitbeinig hinstellte und die Schultern senkte, um einen schlankeren Mann zu umarmen; er sah, wie die Arme seines Gastgebers sich in einer raschen, soldatischen Bewegung zur Begrüßung um ihn schlössen. Die Tür ging zu. Kurtz war im Haus.

Während Litvak langsam durch die Stadt zurückfuhr, starrte er alles, was er unterwegs sah, wütend an und ließ auf diese Weise seiner Eifersucht freien Lauf: Berlin, für ihn eine Stadt, die er hasste, für alle Zeit ein Erbfeind, Berlin, eine Brutstätte des Terrors, damals wie heute. Sein Ziel war eine billige Pension, in der kein Mensch zu schlafen schien, er selbst nicht ausgenommen. Fünf vor sieben war er wieder in der Seitenstraße, wo er Kurtz hatte aussteigen lassen. Er drückte auf die Klingel, wartete und hörte langsame Schritte - nur die eines Mannes. Die Tür öffnete sich, Kurtz trat dankbar hinaus in die Morgenluft und streckte sich. Er war unrasiert und hatte den Schlips abgenommen.

»Nun?« fragte Litvak, sobald sie beide im Auto saßen. »Nun, was?«

»Was hat er gesagt? Macht er es, oder bleibt er lieber friedlich in Berlin und lernt, wie man Kleider für polnische Schicksen näht?«

Kurtz schien ehrlich überrascht. Er war mitten in jener Geste, die Alexis so fasziniert hatte, jener Geste, mit der er seine alte Armbanduhr durch Zurückschieben des linken Ärmels mit der Hand an eine Stelle brachte, dass er sie sehen konnte. Doch als er Litvaks Frage hörte, hielt er inne. »Es machen? Er ist israelischer Offizier, Shimon.« Dann setzte er ein so warmherziges Lächeln auf, dass der überrumpelte Litvak nicht umhin konnte, dieses Lächeln zu erwidern. »Ich muss zugeben, zuerst hat Gadi gesagt, er würde lieber weiter sein neues Handwerk in all seinen Aspekten kennen lernen. Daraufhin haben wir uns über den schönen Auftrag unterhalten, den er ‘63 auf der anderen Seite des Suez-Kanals durchgeführt hat. Dann sagte er mir, unser Plan würde nicht hinhauen, worauf wir uns in allen Einzelheiten über die Unbequemlichkeiten unterhalten haben, die es mit sich bringt, eine Tarnexistenz in Tripolis zu führen und dort ein Netz von außerordentlich geldgierigen libyschen Agenten zu unterhalten, was, wenn ich mich recht erinnere, Gadi drei Jahre lang getan hat. Dann sagte er: ›Holt euch einen Jüngeren‹ , was aber keiner ernst genommen hat, und wir tauschten Erinnerungen über seine vielen nächtlichen Vorstöße nach Jordanien hinein aus und über den begrenzten Nutzen von Militäreinsätzen gegen Guerilla-Ziele - ein Punkt, in dem er voll und ganz meiner Meinung war. Und danach haben wir über unsere Strategie diskutiert. Sonst noch was?« »Und die Ähnlichkeit? Reicht die aus? Seine Statur, sein Gesicht?«

»Das mit der Ähnlichkeit kommt hin«, erklärte Kurtz, und sein Gesicht zeigte wieder die alten harten Linien. »Wir arbeiten daran, und das reicht. Aber jetzt genug von ihm, Shimon, sonst bringst du mich noch dazu, ihn zu sehr zu lieben.«

Und dann ließ er seinen Ernst fahren und brach in Lachen aus, bis ihm die Tränen der Erleichterung und der Müdigkeit über die Backen liefen. Litvak lachte auch und spürte, wie sich beim Lachen seine Eifersucht legte. Diese plötzlichen, ziemlich verrückten Wetterumschwünge waren ein wesentlicher Teil von Litvaks Wesen, bei dem viele widerstreitende Faktoren eine Rolle spielten. Wie sah er sich selbst? Sein Name bedeutete ursprünglich ›Jude aus Litauen« und war früher herabsetzend. An einem Tag sah er sich als vierundzwanzigjährige Kibbuz-Waise ohne jeden lebenden bekannten Verwandten, an einem anderen als das Adoptivkind einer amerikanischen orthodoxen Stiftung und der israelischen Sonderkommandos. Wieder an einem anderen Tag als Gottes ergebener Polizist, der mit der Ungerechtigkeit in der Welt aufräumte. Er spielte wunderbar Klavier.

Über das Kidnapping braucht nicht viel gesagt zu werden. Mit einem erfahrenen Team werden solche Dinge heutzutage entweder schnell oder geradezu rituell oder überhaupt nicht erledigt. Nur die mögliche Bedeutung des Fangs gab dem Ganzen etwas Nervöses. Es kam weder zu einer widerlichen Schießerei noch zu anderen Unannehmlichkeiten, sondern war nichts weiter als die reibungslose Inbesitznahme eines weinroten Mercedes und seines Fahrers auf griechischem Gebiet, rund dreißig Kilometer von der türkischgriechischen Grenze entfernt. Litvak leitete die Einsatzgruppe und war, wie immer im Außeneinsatz, ausgezeichnet. Kurtz, der wieder in London war, um eine plötzliche Krise zu bewältigen, zu der es in Schwilis ›Bildungs-Kreis‹ gekommen war, hockte während der entscheidenden Stunden in der Israelischen Botschaft neben dem Telefon. Die beiden Münchener Agenten, die verabredungsgemäß gemeldet hatten, der Leihwagen sei an den Autoverleih zurückgegeben worden, ohne dass von einem Nachfolger die Rede gewesen wäre, folgten Yanuka zum Flughafen, und tatsächlich, das nächste, was man von ihm hörte, war, dass er drei Tage später in Beirut auftauchte, wo eine Abhörmannschaft in einem Keller im Palästinenserviertel seine fröhliche Stimme auffing, wie er seine Schwester Fatmeh begrüßte, die in einem der Büros der Revolutionäre arbeitete. Er sei für ein paar Wochen in der Stadt, um Freunde zu besuchen, sagte er; ob sie wohl einen Abend für ihn frei habe? Seine Stimme habe richtig glücklich geklungen, berichteten sie: übermütig, erregt, leidenschaftlich. Fatmeh jedoch habe sich recht kühl gegeben. Entweder, so sagten sie, sei es mit ihrer Begeisterung für ihn nicht weit her, oder aber sie wisse, dass ihr Telefon angezapft werde. Vielleicht beides. Jedenfalls war es zu keinem Treffen zwischen Bruder und Schwester gekommen.

Dann führte seine Spur nach Istanbul, wo er mit einem zypriotischen Diplomatenpass im Hilton abstieg und sich zwei Tage lang den religiösen wie weltlichen Freuden der Stadt hingab. Die Beschatter beschrieben, wie er einen letzten ausgiebigen Schluck Islam nahm, ehe er in die christlichen Gefilde Europas zurückkehrte. Er besuchte die Moschee Solimans des Prächtigen, wo man ihn nicht weniger als dreimal beim Gebet sah, und ließ sich hinterher auf der mit Gras bewachsenen Promenade neben der Südmauer die Gucci-Schuhe auf Hochglanz bringen. Außerdem trank er dort mehrere Gläser Tee mit zwei ruhigen Männern, die fotografiert, aber hinterher niemals identifiziert wurden: eine falsche Fährte, wie sich herausstellte, und nicht der von ihnen erwartete Kontakt. Außerdem bereitete ihm der Anblick von ein paar alten Männern, die am Straßenrand abwechselnd mit einem Luftgewehr gefiederte Bolzen auf eine auf einen Pappkarton gezeichnete Zielscheibe schössen, ein ganz ungewöhnliches Vergnügen. Er wollte mitmachen, doch sie ließen ihn nicht.

In den Anlagen auf dem Sultan-Achmet-Platz saß er zwischen Orange- und malvenfarbenen Blumenbeeten auf einer Bank und ließ den Blick wohlwollend auf den ihn umgebenden Kuppeln und Minaretten verweilen wie auf den Trauben von kichernden amerikanischen Touristen, besonders aber auf einer Gruppe Teenager in Shorts. Irgendetwas hielt ihn jedoch davon ab, sich an sie heranzumachen, wie er das normalerweise zu tun pflegte: mit ihnen zu plaudern und zu lachen, bis sie ihn akzeptierten. Er kaufte Straßenhändlern im Kindesalter Dias und Postkarten ab, ohne sich über ihre unerhörten Preise aufzuregen; er durchstreifte die Hagia Sophia, betrachtete mit gleichem Vergnügen die Herrlichkeiten des justinianischen Byzanz wie der ottomanischen Eroberungen und stieß angesichts der Säulen, die man den ganzen Weg von Baalbek in dem Land, das er erst vor kurzem verlassen hatte, bis hierher geschleppt hatte, einen Schrei unverhohlener Überraschung aus. Am hingebungsvollsten versenkte er sich jedoch in die Betrachtung jenes Mosaiks, auf dem dargestellt wird, wie Augustinus und Konstantin ihre Kirche und ihre Stadt der Jungfrau Maria weihen, denn dort war er mit seinem Verbindungsmann verabredet: einem großen, bedächtigen Mann in einer Windjacke, den er sofort als Fremdenführer akzeptierte. Bis dahin hatte Yanuka derlei Anerbieten entschieden zurückgewiesen, doch irgendetwas, was dieser Mann jetzt zu ihm sagte - zweifellos etwas, was neben der Zeit und dem Ort als Erkennungszeichen verabredet worden war - überzeugte ihn sofort. Seite an Seite machten sie einen zweiten flüchtigen Rundgang durch das Innere, bewunderten pflichtschuldig die frühe freischwebende Kuppel und fuhren dann in einem alten amerikanischen Plymouth am Bosporus entlang, bis sie auf einen Parkplatz in der Nähe der Autobahn nach Ankara kamen. Der Plymouth fuhr davon, und Yanuka war wieder allein in der Welt - diesmal jedoch als Besitzer eines schönen roten Mercedes, den er in aller Gemütsruhe zum Hilton zurückfuhr und dort beim Portier als den seinen ausgab.

Yanuka fuhr an diesem Abend nicht in die Stadt - nicht einmal, um sich die Bauchtänzerinnen anzusehen, die ihn am Abend zuvor so begeistert hatten - und wurde erst am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe gesehen, wie er in westlicher Richtung auf der schnurgeraden Straße fuhr, auf der man über die Ebenen nach Edirne und Ipsala gelangt. Anfangs war der Tag dunstig und kühl und der Horizont nahe. In einer kleinen Stadt legte er eine Kaffeepause ein und fotografierte einen Storch, der auf der Kuppel einer Moschee sein Nest gebaut hatte. Er stieg eine kleine Anhöhe hinauf und verrichtete dort angesichts des Meeres seine Notdurft. Der Tag wurde heißer, die glanzlosen Hügel färbten sich rot und gelb, und zu seiner Linken tauchte zwischen ihnen immer wieder das Meer auf. Auf einer solchen Straße blieb seinen Verfolgern keine andere Wahl, als ihn in die Mitte zu nehmen; das heißt, ein Wagen fuhr weit voraus und ein anderer folgte ihm, wobei sie zu Gott hofften, dass er nicht plötzlich auf die Idee kam, in eine nicht gekennzeichnete Seitenstraße abzubiegen, wozu er durchaus imstande war. Doch in dieser gottverlassenen Gegend blieb ihnen keine andere Möglichkeit, denn die einzigen Zeichen von Leben auf Kilometer hinaus waren zeltende Zigeuner, ein paar junge Schafhirten und bisweilen ein mürrischer schwarzgekleideter Mann, dessen Leben davon ausgefüllt zu sein schien, das Phänomen der Bewegung zu studieren. Als er Ipsala erreichte, narrte er alle, weil er den Rechtsabbieger in die Stadt hinein vorzog, statt bis zur Grenze weiterzufahren. Hatte er etwa vor, den Wagen an jemand anderes zu übergeben? Gott bewahre! Aber was zum Teufel hatte er in einem stinkenden kleinen türkischen Grenznest zu suchen?

Die Antwort lautete: Gott. In einer schlichten Moschee am Hauptplatz, ganz, am Rande der Christenheit, empfahl Yanuka sich noch einmal Allah, was. wie Litvak hinterher erbarmungslos meinte, klug von ihm war. Als er herauskam, wurde er von einem kleinen braunen Hund gebissen, der entkam, ehe er es ihm heimzahlen konnte. Auch das betrachtete man als ein gutes Omen. Schließlich kehrte er zur Erleichterung aller auf die Hauptstraße zurück. Der Grenzübergang dort ist ein sehr feindseliger Ort.

Türken und Griechen sind sich nicht gerade grün. Das Gebiet ist wahllos auf beiden Seiten vermint; Terroristen und contrebandiers aller Art haben ihre illegalen Schleichwege und verfolgen ihre gesetzeswidrigen Ziele; es kommt häufig zu Schießereien, von denen jedoch weiter kein Aufhebens gemacht wird; die bulgarische Grenze verläuft nur wenige Kilometer weiter im Norden. Auf einem Schild auf der türkischen Seite steht auf Englisch: »Have a Good Trip«, doch für die ausreisenden Griechen hat man kein freundliches Wort. Zuerst kommen die türkischen Hoheitszeichen, die man auf einem Anschlagbrett angebracht hatte, dann eine Brücke über einen trägen grünen Wasserlauf, dann eine nervöse kleine Schlange vor dem Büro der türkischen Pass- und Auswanderungsbehörde, die Yanuka mit Hilfe seines Diplomatenpasses zu umgehen suchte; das gelang ihm auch, trug freilich nur dazu bei, seinen eigenen Untergang zu beschleunigen. Dann folgt - eingezwängt zwischen der türkischen Polizeistation und den griechischen Wachposten -ein etwa zwanzig Schritt breiter Streifen Niemandsland, wo Yanuka sich eine Flasche zollfreien Wodka kaufte und in dem Cafe unter den Augen eines verträumt aussehenden, langhaarigen Burschen namens Reuven, der die letzten drei Stunden dort ein Brötchen nach dem anderen verzehrt hatte, ein Eis aß. Die letzte bombastische türkische Darbietung ist eine Bronzebüste von Kemal Atatürk, dem Visionär und décadent, der böse zu den feindseligen griechischen Ebenen hinüberfunkelt. Sobald Yanuka dieses Monument hinter sich hatte, sprang Reuven auf sein Motorrad und übermittelte ein aus - jedoch außerhalb des Militärbereiches - an einer Stelle wartete, wo der Verkehr wegen Straßenarbeiten auf Schritttempo heruntergehen musste. Dann beeilte er sich, um den Spaß mitzuerleben.

Sie benutzten ein Mädchen, was in Anbetracht von Yanukas nachgewiesenen Neigungen nur vernünftig war, und staffierten sie mit einer Gitarre aus; es war ein hübsches Detail, denn heutzutage ist ja eine Gitarre ein Freibrief für jedes Mädchen, auch wenn sie nicht darauf spielen kann. Die Gitarre ist die Uniform einer gewissen seelenvollen Friedfertigkeit, wie sie kürzlich an einem anderen Ort genau beobachten konnten. Sie hatten sich den Mund fusselig darüber geredet, ob sie ein blondes oder ein brünettes Mädchen nehmen sollten, da sie seine Vorliebe für Blondinen kannten, ihnen aber auch klar war, dass er stets bereit war, eine Ausnahme zu machen. Zuletzt entschieden sie sich für das dunkelhaarige Mädchen, und zwar weil sie einen ansprechenden Rücken und einen aufreizenden Gang hatte, und postierten sie dort, wo die Straßenarbeiten zu Ende waren. Die Baustelle war ein Gottesgeschenk. Daran glaubten sie fest. Einige von ihnen glaubten sogar, dass Gott -der jüdische - und nicht Kurtz oder Litvak bei all ihrem Glück die Hand im Spiel hatte. Der erste Teil der Strecke war asphaltiert; er ging ohne Warnung in groben blauen Schotter über, der so groß wie Golfbälle, aber sehr viel schartiger war. Dann kam die Holzbarriere mit einer Reihe gelb aufblinkender Warnlichter darauf; dort betrug die Geschwindigkeitsbeschränkung zehn Stundenkilometer, doch nur ein Irrer wäre schneller gefahren. Hinter der Holzabsperrung kam dann das Mädchen, das auf dem Fußweg ging. Geh einfach weiter, sagten sie; nicht rumhängen, sondern immer mit dem linken Daumen nach vorn zeigen. Ihre einzige Sorge war, dass, weil das Mädchen so hübsch war, sie bei dem falschen Mann landete, ehe Yanuka erschien, um sie sich zu holen. Besonders hilfreich war, wie sich an der Stelle der spärliche Verkehr vorübergehend durch eine Spurgabelung teilte. Zwischen der nach Osten und der nach Westen führenden Fahrbahn erstreckte sich ein etwa fünfzig Schritt breiter Ödlandstreifen mit Bauhütten, Traktoren und allem möglichen Gerät darauf. Sie hätten dort ein ganzes Regiment verstecken können, ohne dass eine Menschenseele etwas gemerkt hätte. Nicht, dass sie Regimentsstärke gehabt hätten. Die Einsatzgruppe bestand aus sieben Leuten, Shimon Litvak und der Lockvogel eingeschlossen. Gavron, die Krähe, hatte keinen Penny mehr lockermachen wollen. Die anderen fünf waren leichtgekleidete junge Leute in sommerlichem Aufzug und Turnschuhen, Typen, die den ganzen Tag lang ihre Fingernägel betrachten können, ohne dass jemand auf den Gedanken käme, sie zu fragen, warum sie nicht redeten. Die dann wie Hechte blitzschnell losschießen können, ehe sie wieder zu ihren lethargischen Betrachtungen zurückkehren. Es war inzwischen später Vormittag; die Sonne stand hoch, die Luft war voller Staub. Der übrige Verkehr bestand aus grauen, mit irgendwelchem Lehm oder Ton beladenen Lastern. Der blitzende weinrote Mercedes - nicht mehr neu, aber immer noch sehr schmuck - fiel in dieser Gesellschaft auf wie ein Hochzeitswagen, der zwischen Müllautos eingezwängt daherkommt. Mit dreißig Stundenkilometern traf er auf den blauen Schotter, was natürlich viel zu schnell war, bremste dann ab, sobald die Schottersteine gegen das Schutzblech prasselten. Mit zwanzig fuhr er auf die Barriere zu, ging dann auf fünfzehn und gleich darauf sogar auf zehn herunter, und als er langsam an dem Mädchen vorbeifuhr, sah jeder, wie Yanuka den Kopf drehte, um sich zu überzeugen, ob sie von vorn genauso gut aussah wie von hinten. Das tat sie. Nachdenklich fuhr er noch etwa fünfzig Schritt weiter, bis er den Asphalt erreichte, und Litvak war einen furchtbaren Augenblick lang überzeugt, auf seinen Ersatzplan zurückgreifen zu müssen, ein wesentlich aufwendigeres Unternehmen, das eine zweite Einsatzgruppe sowie hundert Kilometer weiter einen vorgetäuschten Verkehrsunfall bedeutet hätte. Doch die Lüsternheit oder die Natur oder was uns sonst zum Narren macht, setzte sich durch. Yanuka fuhr an den Straßenrand, ließ das automatische Seitenfenster herunter, steckte den hübschen jungen Kopf hinaus und sah voller Lebenslust zu, wie das Mädchen genüsslich im Sonnenlicht auf ihn zukam. Als sie neben ihm stehen blieb, fragte er sie, ob sie vorhabe, den ganzen Weg bis nach Kalifornien zu laufen. Und sie antwortete - ebenfalls auf englisch -, sie wolle so ungefähr nach Saloniki -er auch? Wie das Mädchen berichtete, antwortete er: »So ungefähr, wie Sie möchten«, doch von den anderen hatte keiner es mitbekommen, und so gehörte das hinterher zu den Dingen, über die man sich nach jedem Einsatz streitet. Yanuka selbst bestritt entschieden, überhaupt etwas gesagt zu haben; folglich ist es denkbar, dass das Mädchen ihren Triumph ein wenig ausschmücken wollte. Ihre Augen, ja, überhaupt ihr ganzes Gesicht war außerordentlich reizvoll, und ihre trägen, aufreizenden Bewegungen nahmen seine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Was konnte ein braver junger Araber nach zwei Wochen erneuter strenger politischer Schulung in den Bergen des südlichen Libanons mehr verlangen als diese bestrickende, jeansbekleidete Vision aus dem Harem?

Es muss noch hinzugefügt werden, dass Yanuka schlank und eine außerordentlich flotte Erscheinung war, mit feinen semitischen Zügen, die zu den ihren passten, und dass eine ansteckende Fröhlichkeit von ihm ausging. Folglich kam es zu jener Art von gegenseitigem Beriechen, wie es sie von einem Augenblick auf den anderen zwischen zwei körperlich attraktiven Menschen geben kann, die sich dabei quasi spiegelbildlich beim Liebesspiel mit dem anderen sehen. Das Mädchen setzte die Gitarre ab, nahm mit schlangenhaften Bewegungen den Rucksack vom Rücken und ließ ihn dankbar zu Boden fallen. Die Wirkung dieser Geste des Sich-Ausziehens, hatte Litvak ins Feld geführt, zwinge Yanuka einfach dazu, eines von zwei Dingen zu tun: entweder die hintere Tür von innen zu öffnen oder auszusteigen und den Kofferraum von hinten aufzuschließen. Jedenfalls biete er in beiden Fällen die Gelegenheit zum Angriff. Bei manchen Mercedes-Modellen lässt sich der Kofferraum selbstverständlich von innen öffnen, bei diesem jedoch nicht. Das wusste Litvak. Genauso, wie er sicher wusste, dass der Kofferraum abgesperrt war; und dass es keinen Sinn hatte, ihm das Mädchen schon auf der türkischen Seite der Grenze anzubieten, weil Yanuka -so gut seine Papiere auch sein mochten und nach arabischen Maßstäben auch so angesehen wurden - bestimmt nicht so dumm war, das Passieren der Grenze dadurch zu gefährden, dass er Gepäck an Bord nahm, dessen Inhalt er nicht kannte. Auf jeden Fall tat er das, was nach Meinung aller am wünschenswertesten war. Statt einfach mit dem Arm nach hinten zu reichen und eine Tür mit der Hand zu öffnen, was er hätte tun können, entschloss er sich - vielleicht, um Eindruck zu machen -, das zentrale Öffnungssystem zu betätigen, wodurch nicht nur eine, sondern alle vier Türen entriegelt wurden. Das Mädchen machte den hinteren Wagenschlag, dem sie am nächsten stand, auf und schob, während sie draußen blieb, Gitarre und Rucksack auf den Rücksitz. Als sie die Tür wieder geschlossen und sich träge auf den Weg nach vorn begeben hatte, als wolle sie auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, setzte ein Mann schon Yanuka die Pistole an die Schläfe, während Litvak selbst, der zum Umpusten zart aussah, auf dem Rücksitz kniete und Yanukas Kopf mit mörderischem und gut geschultem Griff gepackt hielt und ihm die Droge verabreichte, die, wie man ihm ernstlich versichert hatte, am besten auf Yanukas durch medizinische Unterlagen bekannte Konstitution abgestimmt war: Man war wegen des Asthmas, das er als Heranwachsender hatte, beunruhigt gewesen.

Am beeindruckendsten empfanden hinterher alle die Lautlosigkeit, mit der sich alles abspielte. Selbst während er noch darauf wartete, dass die Droge wirkte, hörte Litvak trotz des vorüberrauschenden Verkehrs deutlich, wie eine Sonnenbrille zerbrach, und einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete er, es sei Yanukas Genick, was alles kaputtgemacht hätte. Zuerst dachten sie, Yanuka habe es fertiggebracht, die falschen Nummernschilder und Papiere für seine Weiterfahrt zu vergessen oder verschwinden zu lassen, doch dann fanden sie sie zu ihrer Freude säuberlich in sein elegantes Handköfferchen verstaut unter einer Reihe handgenähter Seidenhemden und grellfarbiger Krawatten, die sie sich samt und sonders ebenso für ihre eigenen Zwecke aneignen mussten wie seine schöne goldene Cellini-Uhr, das goldene Gliederarmband und das vergoldete Amulett, das Yanuka mit Vorliebe über dem Herzen trug und von dem man annahm, dass es ein Geschenk seiner geliebten Schwester Fatmeh war. Ein weiterer Glücksfall bei dem Unternehmen -nicht ihr Verdienst, sondern ganz allein Yanukas - war die Tatsache, dass der Zielwagen sehr dunkel getönte Fenster hatte, die das gewöhnliche Volk daran hindern sollten zu sehen, was sich im Wageninneren abspielte. Das war eine der vielen Einzelheiten, die bewiesen, dass Yanuka das Opfer seines eigenen üppigen Lebensstils wurde. Den Wagen danach wie durch Zauberhand nach Westen und hinterher nach Süden zu bringen, bereitete keinerlei Kopfzerbrechen; wahrscheinlich hätten sie ganz normal damit weiterfahren können, ohne dass irgendeinem Menschen etwas aufgefallen wäre. Doch um ganz sicherzugehen, hatten sie einen Laster gemietet, der angeblich Bienen an einen neuen Standort bringen sollte. In dieser Gegend gibt es einen recht ansehnlichen Bienenhandel, wie Litvak sinnvoll bedachte, und selbst der neugierigste Polizist überlegt es sich zweimal, ehe er seine Nase in so einen Wagen steckt. Das einzige, was nicht vorgesehen war, war der Hundebiss: was war, wenn der Köter Tollwut hatte? Irgendwo kauften sie ein Serum und gaben ihm für alle Fälle eine Spritze.

Nun, da Yanuka vorübergehend aus dem Verkehr gezogen war, ging es vor allem darum sicherzustellen, dass kein Mensch - weder in Damaskus noch anderswo - die Lücke merkte. Sie wussten bereits, dass er von Natur aus unabhängig und sorglos war. Sie wussten, dass er sich viel darauf zugute tat, ja, geradezu einen Kult daraus gemacht hatte, das Unlogische zu tun, dass er berühmt dafür war, seine Pläne von einem Augenblick auf den anderen zu ändern, und zwar teils aus Laune und teils, weil er mit gutem Grund glaubte, das sei die beste Art, seine Spur zu verwischen. Sie wussten, dass er seit neuestem eine Vorliebe für griechische Dinge hatte und die bewiesene Angewohnheit, unterwegs kleine Abstecher zu machen, um Antiquitäten aufzustöbern. Auf seiner letzten Fahrt war er bis nach Epidaurus in den Süden hinuntergefahren, ohne zuvor auch nur irgendeine Erlaubnis dafür einzuholen -hatte also ohne jeden ersichtlichen Grund einen großen Bogen geschlagen, der ihn von seiner eigentlichen Route weit weg geführt hatte. Diese unberechenbaren Angewohnheiten hatten es in der Vergangenheit sehr schwer gemacht, ihn zu fangen. Konnte man sie jedoch gegen ihn verwenden, wie jetzt, war das nach Litvaks kühler Einschätzung unbezahlbar, denn die eigene Seite konnte ihn dadurch genauso wenig im Auge behalten wie die Gegner. Die Einsatzgruppe bekam ihn zu fassen und ließ ihn von der Bildfläche verschwinden. Das Team wartete. Und an keiner der Stellen, wo sie sich einschalten und abhören konnten, läutete eine Alarmglocke, gab es das geringste Anzeichen von Unruhe. Falls Yanukas Auftraggeber überhaupt eine Vorstellung von ihm hatten - zu diesem Schluss kam Shimon Litvak nach vorsichtiger Einschätzung -, dann sahen sie ihn als einen jungen Mann im Vollbesitz seiner geistigen wie körperlichen Kräfte, der eine kleine Spritztour machte, um etwas zu erleben und - wer weiß? - neue Soldaten für die große Sache zu gewinnen. Damit konnte die Fiktion, wie sie jetzt unter sich sagten, beginnen. Ob sie auch enden konnte -ob die Zeit nach Kurtz’ alter Stahluhr auch reichte, dass sie richtig in Gang kam -, stand auf einem ganz anderen Blatt. Auf Kurtz wurde zweifacher Druck ausgeübt: erstens - so simpel war das - musste er Fortschritte vorweisen können, oder Misha Gavron machte ihm den Laden dicht; und zweitens war da noch Gavrons Drohung, falls kein Fortschritt gemacht werde, sei es ihm nicht länger möglich, den immer lauter werdenden Ruf nach einer militärischen Lösung zurückzuhalten. Davor hatte Kurtz Angst.

»Sie reden mir ins Gewissen wie die Engländer!« hatte Gavron, die Krähe, ihn während einer ihrer häufigen Auseinandersetzungen angeschrieen. »Sehen Sie sich doch mal an, was die alles auf dem Kerbholz haben!«

»Dann sollten wir vielleicht auch die Engländer bombardieren«, meinte Kurtz mit einem wütenden Lächeln.

Doch dass das Thema Engländer aufgekommen war, konnte inzwischen kein Zufall mehr sein; denn ironischerweise hatte Kurtz ausgerechnet auf England ein Auge geworfen, um sich zu retten.


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