Kapitel 18
Der wendige junge Mann, der bei der Israelischen Botschaft in London vorsprach, trug einen langen Ledermantel, eine Großmutterbrille und sagte, er heiße Meadows. Der Wagen war ein blitzblanker grüner Rover mit Schnellgang. Kurtz saß vorn, um Meadows Gesellschaft zu leisten. Litvak schmorte auf dem Rücksitz. Kurtz gab sich schüchtern und ein bisschen ärmlich, wie es sich in Gegenwart kolonialer Vorgesetzter geziemte. »Gerade eingeflogen, nicht wahr, Sir?« erkundigte sich Meadows hochtrabend.
»Gerade erst gestern«, sagte Kurtz, der seit einer Woche in London war.
»Schade, dass Sie es uns nicht haben wissen lassen, Sir. Der Commander hätte Ihnen am Flughafen ein bisschen die Wege ebnen können.«
»Ach, soviel hatten wir gar nicht zu deklarieren, Mr. Meadows!« winkte Kurtz ab, und beide lachten, weil die Beziehungen zwischen den Diensten so gut waren. Auch Litvak auf dem Rücksitz lachte, freilich weniger überzeugt.
In schneller Fahrt ging es bis nach Aylesbury, dann schnell weiter durch hübsche kleine Straßen. Sie erreichten eine Toreinfahrt aus Sandstein, die von versteinert dastehenden, schneidigen jungen Männern bewacht wurde. Ein blau-rotes Schild trug die Aufschrift »No. 3 TSLU«, und ein weißer Schlagbaum versperrte die Zufahrt. Meadows überließ Kurtz und Litvak sich selbst und betrat das Pförtnerhäuschen. Dunkle Augen hinter den Fenstern musterten sie. Es fuhren keine Autos vorüber, man hörte keinen fernen Trecker rattern. Ringsum schien kaum etwas lebendig zu sein. »Scheint ein hochherrschaftliches Anwesen zu sein«, sagte Kurtz auf hebräisch, während sie warteten.
»Wunderschön«, stimmte Litvak fürs Mikrofon bestimmt hinzu; für den Fall, dass eines angebracht war. »Und so nette Leute.«
»Erstklassig«, sagte Kurtz. »Spitze im Gewerbe, keine Frage.«
Meadows kehrte zurück, der Schlagbaum ging in die Höhe, und dann kurvten sie eine erstaunlich lange Zeit durch die beklemmende Parklandschaft des paramilitärischen England. Anstelle friedlich grasender Vollblüter blau-uniformierte Wachen mit langschäftigen Stulpenstiefeln. Fensterlose, niedrige Backsteingebäude verschwanden halb im Boden. Sie fuhren an einem Geländeübungsplatz und an einer mit orangefarbenen Kegeln markierten Privatlandebahn vorüber. Seilhängebrücken führten über einen Forellenbach.
»Ein Traum«, sagte Kurtz höflich. »Wirklich wunderschön, Mr. Meadows. So müssten wir es zu Hause auch haben - aber wie sollten wir?«
»Hm, vielen Dank, Sir.«
Das Haus war einst alt gewesen, doch hatte man die Fassade mit einem Schlachtschiff-blauen ministeriellen Anstrich verschandelt, und die roten Blumen in den Blumenkästen waren durchgehend linksherum angebunden. Ein zweiter junger Mann erwartete sie am Eingang und führte sie umgehend eine glänzend gewachste Treppe aus Kiefernholz empor.
»Ich bin Lawson«, erklärte er atemlos, als kämen sie bereits zu spät, und klopfte mutig mit den Knöcheln gegen eine Doppeltür. Von innen bellte eine Stimme: »Herein!«
»Mr. Raphael, Sir«, verkündete Lawson. »Aus Jerusalem. Kein leichtes Durchkommen bei dem Verkehr, tut mir leid, Sir.« Deputy Commander Picton blieb genau so lange hinter seinem Schreibtisch sitzen, dass es unhöflich wurde. Er nahm einen Federhalter zur Hand und unterzeichnete stirnrunzelnd einen Brief. Er sah auf und erfasste Kurtz eindringlich mit einem gelben Blick. Dann ließ er den Kopf vorschnellen, als wolle er jemand rammen, und richtete sich langsam auf, bis er gleichsam Hab-Acht-Stellung eingenommen hatte.
»Guten Tag auch, Mr. Raphael«, sagte er und setzte ein so sparsames Lächeln auf, als sei es nicht die Jahreszeit zum Lächeln. Er war groß und arisch und sein gewelltes blondes Haar wie mit dem Rasiermesser gescheitelt. Er war breit und dickgesichtig und heftig, mit zusammengepressten Lippen und dem stechenden Blick des Tyrannen. Er hatte die gesucht fehlerhafte Ausdrucksweise des höheren Polizeibeamten und die abgeguckten Manieren des Gentleman; und wann immer es ihm passte, konnte er jederzeit beides ohne Vorwarnung fallenlassen. Er hatte sich ein schmuddeliges Taschentuch in den linken Ärmel gestopft und trug eine Krawatte mit glanzlosen goldenen Kronen, um zu verstehen zu geben, dass er seine Spiele in besserer Gesellschaft spiele als man selbst. Er war ein selfmade-man der Terroristenbekämpfung, »teils Soldat, teils Bulle, teils Bösewicht«, wie er gern sagte, und gehörte zu der bereits Legende gewordenen Generation seines Gewerbes. Er hatte auf der Malaysischen Halbinsel Kommunisten und in Kenia Mau-Mau gejagt, Juden in Palästina, Araber in Aden und Iren überall auf der Welt. Mit den Trucial Oman Scouts hatte er Leute in die Luft gesprengt; auf Zypern war ihm Georgios Grivas um Haaresbreite durch die Lappen gegangen, und wenn er betrunken war, erzählte er voller Bedauern davon - aber wehe, jemand bedauerte ihn! Er war an verschiedenen Orten Zweiter Mann gewesen, Erster aber nur ganz selten, denn es gab da auch noch andere Schatten. »Misha Gavron gut in Form?« erkundigte er sich, wählte einen Knopf auf seinem Telefon aus und drückte ihn mit solcher Kraft, dass man sich kaum gewundert hätte, wenn er nicht wieder hochgekommen wäre.
»Misha geht’s prächtig, Commander«, sagte Kurtz begeistert und wollte sich seinerseits schon nach Pictons Vorgesetztem erkundigen, doch Picton war nicht daran interessiert, was Kurtz hätte sagen können, schon gar nicht über seinen Chef.
Ein auf Hochglanz poliertes silbernes Zigarettenkästchen mit den eingravierten Unterschriften seiner Offizierskameraden auf dem Deckel stand weithin sichtbar auf seinem Schreibtisch. Picton klappte es auf und reichte es Kurtz, und sei es nur, dass dieser es glänzen sähe. Kurtz erklärte, er rauche nicht. Picton stellte das Kästchen wieder genauso hin, wie es stehen sollte -ein Schaustück, das seinen Zweck wieder einmal erfüllt hatte. Es klopfte, und herein traten zwei Männer, einer in Grau und einer in Tweed. Der in Grau war ein vierzig Jahre altes Bantamgewicht aus Wales mit Kratzspuren am Unterkiefer. Picton stellte ihn als »meinen Chief Inspector« vor.
»Leider nie in Jerusalem gewesen, Sir«, verkündete der Chief Inspector, stellte sich auf Zehenspitzen und zog gleichzeitig seine Rockschöße herunter, als gälte es, sich eine Handbreit größer zu machen. »Meine Frau ist Feuer und Flamme, Weihnachten mal in Bethlehem zu erleben, aber für mich war Cardiff immer gut genug, wirklich.« Der in Tweed war Captain Malcolm, der jene Klasse hatte, nach der Picton es manchmal verlangte und die er immer hassen würde. Malcolm war von einer unaufdringlichen Höflichkeit, die schon wieder aggressiv war.
»Mir eine Ehre, Sir, ehrlich«, vertraute er Kurtz an und reichte ihm die Hand, ehe Kurtz sie brauchte.
Als jedoch Litvak an der Reihe war, schien Captain Malcolm seinen Namen nicht ganz mitzubekommen. »Wie noch gleich, altes Haus?« sagte er.
»Levene«, wiederholte Litvak nicht ganz so leise. »Ich habe das Vergnügen, mit Mr. Raphael hier zusammenzuarbeiten.« Ein langer Tisch war für eine Besprechung vorbereitet worden. Nirgends Bilder - kein gerahmtes Foto seiner Frau, nicht einmal das der Königin in Kodachrom. Die Schiebefenster gingen auf einen leeren Hof hinaus. Das einzig Überraschende war der hartnäckig sich haltende Geruch nach warmem Öl, als ob gerade ein U-Boot vorübergefahren wäre.
»Nun, warum schießen Sie nicht einfach los, Mr.« - die Pause war wirklich viel zu lang - »Raphael, nicht wahr?« sagte Picton. Dieser Satz passte zumindest auf wunderliche Weise. Als Kurtz seine Aktenmappe aufmachte und sich anschickte, die Unterlagen auszuteilen, bebte der Raum unter der lang anhaltenden Erschütterung, die von einer kontrollierten Sprengstoffdetonation ausging.. »Hab’ mal einen Raphael gekannt«, sagte Picton, als er den Deckel seines Dossiers aufschlug und einen ersten Blick wie auf eine Speisekarte hineinwarf. »Wir haben ihn für eine Zeitlang zum Bürgermeister gemacht. Junger Bursche noch. Weiß aber nicht mehr, in welcher Stadt. Waren aber nicht Sie, oder?«
Mit einem traurigen Lächeln gab Kurtz bedauernd zu verstehen, nicht dieser Glückspilz gewesen zu sein. »Auch kein Verwandter? Raphael - wie dieser Maler?« Picton blätterte ein paar Seiten um. »Aber man kann ja nie wissen, nicht wahr?«
Die Geduld, mit der Kurtz vorging, hatte etwas Überirdisches. Nicht einmal Litvak, der ihn schon in hunderterlei unterschiedlichen Nuancen seiner Identität erlebt hatte, hätte voraussehen können, wie heiligmäßig er seinen Dämonen einen Maulkorb anzulegen verstand. Seine auftrumpfende Energie war vollständig verschwunden und durch das servile Lächeln des Getretenen ersetzt worden. Selbst seine Stimme hatte - zumindest zu Anfang - etwas Schüchternes und Verzeihungheischendes.
»Mesterbine«, las der Chief Inspector laut vor. »Ist das so richtig ausgesprochen?«
Captain Malcolm, begierig darauf, mit seinen Sprachkenntnissen zu glänzen, fing die Frage ab. »Mesterbine ist richtig, Jack.«
»Einzelheiten zu seiner Person in der linken Tasche, meine Herren«, sagte Kurtz nachsichtig und hielt inne, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich noch ein wenig länger mit ihren Dossiers zu beschäftigen. »Commander, wir brauchen unbedingt von Ihnen die formale Garantie hinsichtlich Verwertung und Weitergabe.« Langsam hob Picton den blonden Kopf. »Schriftlich?« fragte er. Kurtz schenkte ihm ein flehentliches Lächeln. »Das Wort eines britischen Offiziers genügt Misha Gavron bestimmt«, sagte er immer noch abwartend.
»Also einverstanden«, sagte Picton mit einem unmissverständlichen Aufwallen von Zorn, und Kurtz wandte sich rasch der weniger strittigen Person von Anton Mesterbein zu.
»Der Vater ein konservativer, wohlhabender Schweizer mit einer schönen Villa am See, Commander; irgendwelche Interessen außer Geldverdienen nicht bekannt. Die Mutter eine freidenkerische Dame der radikalen Linken, die das halbe Jahr in Paris verbringt und dort einen bei der arabischen Gemeinde sehr beliebten Salon unterhält...«
»Klingelt was bei Ihnen, Malcolm?« fragte Picton. »Ganz, ganz leise, Sir.«
»Der junge Anton, der Sohn, ist ein geschickter Anwalt«, fuhr Kurtz fort. »Hat in Paris Politische Wissenschaften studiert, in Berlin Philosophie und war auch ein Jahr in Berkeley: Jura und Politik. Ein Semester in Rom, vier Jahre in Zürich, Abschluss mit magna cum lande.«
»Intellektueller also«, sagte Picton. Er hätte genauso gut ›Aussätziger‹ sagen können.
Kurtz bestätigte die Beschreibung als zutreffend. »Politisch, meinen wir, tendiert Mr. Mesterbein eher zur Mutter - finanziell hält er es mit dem Vater.«
Picton ließ das volltönende Lachen eines humorlosen Mannes vernehmen. Kurtz wartete lange genug, um den Witz mit ihm zu genießen.
»Die vor Ihnen liegende Aufnahme wurde in Paris gemacht. Seine Anwaltskanzlei unterhält Mr. Mesterbein jedoch in Genf, sehr tüchtig, Innenstadt, vor allem für radikale Studenten, Leute aus der Dritten Welt und Gastarbeiter. Eine ganze Reihe von progressiven Organisationen ohne viel Geld gehört gleichfalls zu seiner Clientèle.« Er drehte ein Blatt um, lud seine Zuhörer ein, mit ihm Schritt zu halten. Auf der Nasenspitze trug er eine dicke Brille, die ihm etwas von der Märchenhaftigkeit eines Bankangestellten verlieh. »Ihnen bekannt, Jack?« wollte Picton von seinem Chief Inspector wissen.
»Nicht die leiseste Ahnung, Sir.«
»Und wer ist die blonde Dame, die mit ihm zusammen trinkt, Sir?« fragte Captain Malcolm.
Doch Kurtz verfolgte trotz seiner zur Schau getragenen Unterwürfigkeit die eigene Marschroute und ließ sich durch Malcolm nicht davon ablenken.
»Vorigen November«, fuhr Kurtz fort, »hat Mr. Mesterbein an einer Konferenz sogenannter ›Juristen für die Gerechtigkeit‹ in Ost-Berlin teilgenommen, auf der die Palästinenser-Abordnung übertrieben lang zu Wort kam. Doch darin sind wir vielleicht parteiisch«, fügte er gutmütig-bescheiden hinzu, aber niemand lachte. »Im April kam Mr. Mesterbein auf eine Einladung, die ihm bei dieser Gelegenheit übermittelt worden war, zum ersten Mal nachweisbar nach Beirut, wo er einigen der militanteren Organisationen, die sich auf keinerlei Kompromiss einlassen wollen, dort seine Aufwartung machte.«
»Klienten-Werbung, was?« erkundigte sich Picton. Während Picton dies sagte, ballte er die rechte Faust und stieß damit durch die Luft. Nachdem er die Hand auf diese Weise freibekommen hatte, schrieb er etwas auf den vor ihm liegenden Block, riss das Blatt ab und schob es dem liebenswürdigen Malcolm zu, der alle anderen mit einem Lächeln bedachte und leise den Raum verließ. »Bei der Rückkehr von ebendiesem Besuch in Beirut«, fuhr Kurtz fort, »machte Mesterbein in Istanbul Zwischenstation und führte dort Gespräche mit gewissen türkischen Untergrund-Aktivisten, die sich neben anderen Aufgaben auch die Ausrottung des Zionismus zum Ziel gesetzt haben.«
»Ehrgeizige Burschen, muss man schon sagen«, erklärte Picton. Und weil diesmal Picton den Witz gemacht hatte, lachten alle laut - nur Litvak nicht.
Malcolm kehrte erstaunlich schnell von seinem Auftrag zurück. »Nicht viel Erfreuliches, fürchte ich«, murmelte er ölig, gab Picton den Zettel zurück, lächelte Litvak zu und nahm wieder Platz. Litvak jedoch schien eingeschlafen zu sein. Den Kopf nach vorn über das ungeöffnete Dossier gebeugt, hatte er das Kinn in die langen Hände gestützt. Dank dieser Hände war sein Gesichtsausdruck nicht zu erkennen.
»Die Schweizer sind schon informiert, oder?« fragte Picton und schnippte Malcolms Zettel beiseite.
»Commander, bis jetzt haben wir die Schweizer noch nicht unterrichtet«, gestand Kurtz in einem Ton, der erkennen ließ, dass diese Frage ein Problem aufwarf. »Ich dachte, ihr wäret ziemlich dick mit den Schweizern befreundet«, wandte Picton ein.
»Natürlich sind wir mit den Schweizern befreundet. Nur hat Mr. Mesterbein eine Reihe von Klienten, die ihren Sitz ganz oder teilweise in der Bundesrepublik Deutschland haben - ein Umstand, der uns in eine peinliche Lage bringt.«
»Da kann ich Ihnen nicht ganz folgen«, sagte Picton eigensinnig. »Dachte, ihr und die Hunnen hättet den Versöhnungskuss getauscht und euch längst wieder vertragen.«
Mochte Kurtz’ Lächeln auch wie in die Haut eingebügelt wirken - seine Antwort war das Musterbeispiel höflichen Ausweichens. »Das stimmt zwar, Commander, aber Jerusalem ist der Meinung, dass wir - angesichts der Sensibilität unserer Quellen und der komplexen politischen Sympathien der Deutschen im Augenblick - unsere Schweizer Freunde nicht informieren können, ohne gleichzeitig die entsprechende Behörde in Deutschland zu informieren. Wollten wir das tun, hieße das, den Schweizern ein ungebührliches Maß an Verschwiegenheit bei ihrem Umgang mit Wiesbaden aufzuerlegen.«
Picton verstand sich seinerseits sehr wohl aufs Schweigen. Sein ungläubig-verdrossener Blick hatte früher bei weniger qualifizierten Männern Wunder gewirkt, die sich sorgten, was ihnen denn noch blühen mochte.
»Sie wissen vermutlich, dass dieses Ekel Alexis wieder auf seinem Schleudersitz sitzt, nicht wahr?« fragte Picton wie aus heiterem Himmel. Irgend etwas an Kurtz fing an, sein Interesse zu erregen: ein Wiedererkennen, wenn nicht der Person, so zumindest der Spezies, der er angehörte.
Kurtz habe davon gehört, natürlich, sagte er. Doch schien es ihn nicht sonderlich berührt zu haben, denn er ging entschlossen zum nächsten Beweisstück über.
»Moment mal«, sagte Picton ruhig. Er starrte in sein Dossier, betrachtete Beweisstück Nr. 2. »Diesen hübschen Vogel kenn’ ich. Das ist doch dieser Neunmalkluge, der vor etwa einem Monat auf der Münchener Autobahn ein Eigentor geschossen hat. Und dabei sein leckeres holländisches Meisje mitgenommen hat, oder?« Kurtz vergaß einen Moment lang seine angebliche Unterwürfigkeit und hakte schnell ein. »Richtig, Commander, und soweit wir wissen, wurden sowohl das Fahrzeug als auch der Sprengstoff, der zu diesem bedauerlichen Unfall führte, von Mr. Mesterbeins Kontakten in Ankara bereitgestellt und durch Jugoslawien nach Österreich überführt.«
Picton griff nach dem Zettel, den Malcolm ihm zurückgebracht hatte, und bewegte ihn vor den Augen hin und her, als wäre er kurzsichtig, was er aber nicht war. »Man teilt mir mit, dass unser Zauberkasten unten keinen einzigen Mesterbein enthält«, verkündete er mit gespielter Sorglosigkeit. »Weder auf der weißen Liste noch auf der schwarzen Liste -überhaupt keine Eintragung.« Kurtz schien eher erfreut als verärgert. »Commander, das lässt keineswegs Rückschlüsse auf irgendeine Unfähigkeit Ihrer schönen Datenabteilung zu. Bis vor wenigen Tagen, würde ich sagen, war Mesterbein auch von Jerusalem als harmlos angesehen worden. Dasselbe gilt für seine Komplizen.«
»Die Blondine eingeschlossen?« fragte Captain Malcolm und kehrte noch einmal zu Mesterbeins Begleiterin zurück. Doch Kurtz lächelte nur und schob die Brille zurück, um so die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf das nächste Foto zu lenken. Es handelte sich um eine der vielen Aufnahmen, die das Münchener Beobachtungsteam über die Straße hinweg gemacht hatte und die Yanuka bei Nacht zeigte, wie er gerade das Haus betrat, in dem seine Wohnung lag. Das Foto war leicht verschwommen, wie es bei Infrarot-Aufnahmen bei längerer Belichtung häufig der Fall ist, doch für Erkennungszwecke genügte es durchaus. Er war in Begleitung einer großen blondhaarigen Frau im Viertelprofil. Sie war beiseite getreten, während er den Schlüssel in die Haustür steckte, und es war dieselbe Frau, die Captain Malcolm bereits auf dem früheren Foto aufgefallen war. »Wo sind wir denn jetzt?« fragte Picton. »Doch nicht mehr in Paris. Dazu passen die Häuser nicht.« »In München«, sagte Kurtz und nannte die Adresse. »Und wann?« fragte Picton so brüsk, dass man hätte meinen können, er habe vorübergehend vergessen, dass Kurtz nicht einer von seinen Mitarbeitern war.
Doch Kurtz tat wieder so, als hätte er die Frage missverstanden. »Die Dame heißt Astrid Berger«, sagte er, und wieder richtete sich Pictons gelber Blick argwöhnisch und wissend zugleich auf ihn. Da er zu lange nicht die Möglichkeit gehabt hatte, eine bedeutende längere Bemerkung zu machen, hatte der Waliser Polizeibeamte sich dafür entschieden, aus dem Dossier laut Miss Bergers Personalangaben vorzulesen: »›Berger, Astrid, alias Edda, alias Helga‹ - alias Was-will-man-sonst-noch… 1954 in Bremen geboren, Tochter eines wohlhabenden Reeders. Sie bewegen sich in feinen Kreisen, muss ich schon sagen, Mr. Raphael. ›Studium an den Universitäten Bremen und Frankfurt, Examen 1978 in Politik und Philosophie. Gelegentlich Mitarbeiterin radikaler und satirischer westdeutscher Blatter, letzter bekannter Wohnsitz 1979 Paris, häufige Reisen in den Nahen Osten....‹ «
»Noch eine verdammte Intellektuelle«, fiel Picton ihm ins Wort. »Sehen Sie nach, ob wir was über sie haben, Malcolm.« Während Malcolm erneut hinausschlüpfte, ergriff Kurtz wieder beherzt die Initiative.
»Wenn Sie so freundlich wären, die Daten hier ein bisschen zu vergleichen, Commander - Sie sehen, dass Miss Bergers letzter Besuch in Beirut im April dieses Jahres stattfand, also mit Mr. Mesterbeins Reise zusammenfiel. Sie war auch in Istanbul, als Mr. Mesterbein dort Zwischenstation machte. Sie haben zwar verschiedene Maschinen genommen, sind aber im selben Hotel abgestiegen. Ja, Mike, bitte.«
Litvak hatte ein paar fotokopierte Hotelanmeldeformulare zu bieten, von Mr. Anton Mesterbein und Miss Astrid Berger ausgefüllt, 18. April datiert. Daneben, durch die Reproduktion stark verkleinert, die Quittung der von Mesterbein beglichenen Rechnung. Beim Hotel handelte es sich um das Istanbuler Hilton. Während Picton und der Chief Inspector die Kopien noch studierten, ging die Tür wieder auf und wurde geschlossen.
»Ist es zu fassen, Sir? Auch über Astrid Berger - nichts«, berichtete Malcolm äußerst kläglich lächelnd.
Picton hob seinen silbernen Drehbleistift mit den Fingerspitzen beider Hände in die Höhe und drehte ihn vor seinen missmutig blickenden Augen.
»Hm«, meinte er nachdenklich. »Hm. - Ja, dann mal weiter, Mr. Raphael.«
Bei Kurtz’ drittem Foto - oder, wie Litvak es später respektlos nannte, seiner dritten Karte in diesem Trick - handelte es sich um eine so wundervolle Fälschung, dass nicht einmal die ausgebufftesten Tel Aviver Experten in Luftaufnahmen sie aus dem Stapel hatten aussortieren können, der ihnen vorgelegt worden war. Das Foto zeigte Charlie und Becker, wie sie am Morgen ihrer Abreise auf den vor dem Delphier Hotel stehenden Mercedes zugehen. Becker trug Charlies Schultertasche und seine schwarze Reisetasche. Charlie hatte ihr griechisches Prachtgewand an und trug ihre Gitarre. Becker hatte den roten Blazer, das Seidenhemd und die Gucci-Schuhe an. Die behandschuhte Hand war nach der Fahrertür des Mercedes ausgestreckt. Außerdem trug er Michels Kopf. »Commander, dieses Bild wurde durch einen glücklichen Zufall zwei Wochen vor dem Sprengstoffzwischenfall vor den Toren Münchens gemacht, bei dem, wie Sie ganz richtig bemerkt haben, ein gewisses Terroristenpärchen das Unglück hatte, sich mit dem eigenen Sprengstoff in die Luft zu ]agen. Das rothaarige Mädchen im Vordergrund ist britische Staatsbürgerin. Ihr Begleiter nannte sie ›Johanna‹ , sie ihn wiederum ›Michel‹. Aber das war nicht der Name, der in seinem Pass stand.«
Die veränderte Atmosphäre war wie ein plötzlicher Temperatursturz. Der Chief Inspector sah Malcolm mit verzerrtem Gesicht an, und Malcolm seinerseits schien ihn anzulächeln; doch dann wurde allmählich deutlich, dass Malcolms Lächeln wenig mit dem zu tun hatte, was für gewöhnlich als Humor gilt. Doch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand Pictons massive Unbeweglichkeit - seine scheinbare Weigerung, sich durch nichts anderes zu informieren als durch das vor ihm liegende Foto. Denn mit seiner Erwähnung eines britischen Staatsbürgers war Kurtz, wenn auch vielleicht unbewusst, in Pictons heiligen Bereich eingedrungen, und das tat man auf eigene Gefahr.
»Ein glücklicher Zufall«, wiederholte Picton durch fest zusammengepresste Lippen und starrte weiter auf das Bild. »Ein guter Freund, der zufällig seinen Fotoapparat bereithielt, nehme ich an - diese Art von glücklichem Zufall.«
Kurtz grinste verschämt, sagte aber nichts.
»Schoß ein paar Bilder - schickte sie aufs Geratewohl nach Jerusalem. Terroristen, denen er im Urlaub zufällig auf die Spur kam - meinte, er könnte von Nutzen sein.«
Kurtz’ Grinsen verbreiterte sich, und zu seiner Verwunderung sah er, dass Picton zurückgrinste, wenn auch nicht gerade besonders freundlich.
»Ja, nun, ich glaube, mir fallen da auch ein paar solch guter Freunde ein. Ihr habt ja überhaupt überall auf der Welt Freunde, wenn ich so darüber nachdenke. In hochgestellten Kreisen, weniger hochgestellten und in reichen Kreisen...« Einen unseligen Augenblick lang sah es so aus, als waren gewisse alte Frustrationen aus Pictons Tagen in Palästina unvermittelt wieder lebendig geworden und drohten, ihn in die Luft gehen zu lassen. Doch er beherrschte sich. Er brachte seine Züge wieder unter Kontrolle, seine Stimme wurde leiser. Sein Lächeln wurde so entspannt, bis man es als freundlich hatte bezeichnen können. Kurtz’ Lächeln hingegen war eher durchwachsen, und Litvaks Gesicht wurde durch seine Hand dermaßen verzerrt, dass man ebenso gut hätte meinen können, er schütte sich vor Lachen aus, oder beschwichtige rasende Zahnschmerzen. Der graue Chief Inspector räusperte sich, und mit Waliser Gutmütigkeit rückte er wieder gerade rechtzeitig mit einer Bemerkung heraus. »Na ja, selbst angenommen, sie wäre Engländerin, Sir, was mir im Augenblick eine ziemlich weit hergeholte Hypothese zu sein scheint, es gibt kein Gesetz -zumindest nicht bei uns -, das verbietet, dass jemand mit Palästinensern schläft. Wir können doch nicht bloß deswegen landesweit eine Fahndung nach der betreffenden Dame unternehmen! Mein Gott, wenn wir…«
»Er hat noch mehr«, sagte Picton und sah Kurtz wieder an. »Viel mehr.«
In seinem Ton schwang aber wesentlich mehr mit: Das haben sie immer.
Weiterhin höflich und guter Dinge, forderte Kurtz seine Zuhörer auf, sich den Mercedes rechts auf dem Bild genauer anzusehen. Wenn er leider auch nicht viel von Autos verstehe, seine Leute hätten ihm versichert, dass es sich um eine Limousine handele, weinrot, mit der Radioantenne vorn auf dem rechten Kotflügel, zwei Seitenspiegeln, Zentralverrieglung und Sicherheitsgurten nur an den Vordersitzen. In allen diesen Einzelheiten und vielen anderen, die auf dem Bild nicht sichtbar seien, sagte er, gleiche der Mercedes auf dem ihnen vorliegenden Foto dem Mercedes, der zufälligerweise außerhalb von München in die Luft geflogen und von dessen Vorderteil wie durch ein Wunder das meiste unversehrt geblieben sei.
Malcolm wartete plötzlich mit einer Lösung auf. »Aber gewiss, Sir - was nun das betrifft, dass sie Engländerin sein soll -, ist sie denn nicht die Holländerin? Ob nun rothaarig oder blond - das hat doch nichts zu bedeuten. Englisch kann doch in diesem Zusammenhang nur bedeuten, dass Englisch ihre gemeinsame Sprache war.« »Ruhe!« befahl Picton und zündete sich eine Zigarette an, ohne den anderen eine anzubieten. »Lassen Sie ihn weitermachen«, sagte er. Und inhalierte eine Unmenge Rauch, ohne ihn wieder auszustoßen. Kurtz’ Stimme hatte inzwischen etwas Straffes bekommen, wie auch, zumindest für einen Augenblick, seine Schultern. Er hatte beide Fäuste neben dem Dossier auf den Tisch gelegt. »Commander, aus anderer Quelle wissen wir«, verkündete Kurtz mit größerem Nachdruck, »dass derselbe Mercedes auf der Fahrt nach Norden, von Griechenland durch Jugoslawien, von einer jungen Frau mit einem britischen Pass gefahren wurde. Ihr Liebhaber begleitete sie nicht, sondern flog mit einer Maschine der Austrian Airways nach Salzburg voraus. Dieselbe Fluggesellschaft durfte auch eine sehr opulente Unterkunft für ihn reservieren, im Hotel Österreichischer Hof in Salzburg, wo unsere Nachforschungen ergeben haben, dass das Paar sich Monsieur und Madame Laserre nannte, obwohl die betreffende Dame kein Französisch sprach, sondern nur Englisch. Man erinnert sich an die Dame wegen ihres phantastischen Aussehens, ihres roten Haars, des fehlenden Eherings und der Gitarre, die einige Heiterkeit auslöste; außerdem war aufgefallen, dass, obwohl die Dame das Hotel früh am Morgen zusammen mit ihrem Mann verlassen hatte, sie später am Tage allein zurückkehrte. Der Hoteldiener erinnert sich, Madame Laserre ein Taxi zum Flughafen Salzburg bestellt zu haben, und weiß auch noch genau, um welche Zeit das geschah, um 2 Uhr nachmittags nämlich, kurz bevor er frei hatte. Er erbot sich, ihre Buchung zu bestätigen und sich zu vergewissern, dass die Maschine keine Verspätung hatte, doch Madame Laserre wollte davon nichts wissen, weil sie vermutlich nicht unter diesem Namen reiste. Drei Flüge von Salzburg passen in diesen Zeitrahmen, darunter eine Maschine der Austrian Airways nach London. Die Dame am Schalter der AA erinnert sich genau an eine rothaarige Engländerin, die ein nicht benutztes Charter-Ticket Saloniki-London vorwies und es umgebucht haben wollte, was jedoch nicht möglich war. Infolgedessen war sie gezwungen, ein Hinflug-Ticket zum vollen Preis zu nehmen, das sie in US-Dollar bezahlte, hauptsächlich in Zwanzig-Dollar-Scheinen.«
»Machen Sie’s doch nicht so spannend«, knurrte Picton. «Wie heißt sie?» Und drückte mit großer Heftigkeit seine Zigarette aus, drückte noch lange weiter, nachdem die Glut schon erloschen war. Als Antwort auf seine Frage reichte Litvak bereits Fotokopien der Passagierliste herum. Er sah blass aus; als ob er Schmerzen hätte. Nachdem er um den Tisch herumgegangen war, schenkte er sich etwas Wasser aus einer Karaffe ein, obwohl er den ganzen Morgen noch so gut wie kein Wort gesagt hatte.
»Zu unserer ersten Verblüffung fanden wir keine ›Johanna‹ darauf, Commander«, gestand Kurtz, als alle sich mit der Passagierliste beschäftigten. »Die einzige, auf die unsere Beschreibung einigermaßen zutraf, war eine gewisse Charmian. Ihren Nachnamen haben Sie vor sich. Die Dame von den Austrian Airlines bestätigte uns die Identifikation - Nummer achtunddreißig auf der Passagierliste. Die Dame erinnerte sich sogar an die Gitarre. Wie der Zufall es wollte, ist sie selbst eine Verehrerin der großen Manitas de Plata, und deshalb hat sie die Gitarre, die einen tiefen Eindruck auf sie machte, auch nicht vergessen.«
»Wieder so eine Freundin«, sagte Picton heiser, und Litvak hüstelte.
Kurtz’ letztes Beweisstück kam gleichfalls aus Litvaks Aktentasche. Kurtz streckte beide Hände danach aus. Litvak legte sie ihm hinein: ein Stoß Fotos, noch ganz klebrig vom Fixierbad. Er verteilte sie stoßweise. Sie zeigten Mesterbein und Helga in der Abflughalle eines Flughafens; Mesterbein starrte verzagt geradeaus in die Luft, während Helga hinter ihm eine Halb-Liter-Flasche zollfreien Whisky kaufte. Mesterbein trug einen Strauß in Seidenpapier gehüllte Orchideen in der Hand.
»Charles-de-Gaulle-Flughafen, Paris, vor sechsunddreißig Stunden«, sagte Kurtz geheimnisvoll. »Berger und Mesterbein, im Begriff, von Paris aus über Gatwick nach Exeter zu fliegen. Mesterbein bestellte bei der Firma Hertz einen Leihwagen ohne Chauffeur, der bei seiner Ankunft in Exeter am Flugplatz bereitstehen sollte. Sie sind gestern ohne die Orchideen wieder nach Paris zurückgekehrt - auf derselben Route, die Berger unter dem Namen Maria Brinkhausen, Schweizerin, ein neuer Deckname, den wir den vielen anderen hinzufügen können. Der Pass gehört zu einer ganzen Serie, die die Ostdeutschen für palästinensischen Bedarf gemacht haben.« Malcolm hatte den Befehl gar nicht erst abgewartet, sondern war bereits durch die Tür verschwunden.
»Ein Jammer, dass Sie nicht auch ein Bild haben, wie sie in Exeter ankamen«, meinte Picton vielsagend, als sie warteten. »Wie Sie sehr wohl wissen, könnten wir das nicht tun, Commander«, sagte Kurtz, als könne er kein Wässerchen trüben.
»Wirklich?« sagte Picton. »Ach!«
»Unsere Herren Vorgesetzten haben ein Gegenseitigkeitsabkommen geschlossen, Sir. Keiner fischt ohne vorherige schriftliche Genehmigung in den Gewässern des anderen.«
»Ach, das meinen Sie«, sagte Picton.
Der Waliser Polizeibeamte gab sich nochmals salbungsvoll diplomatisch. »Aus Exeter stammt sie also, Sir?« fragte er Kurtz. »Ein Mädchen aus Devon? Man sollte nicht meinen, dass ein Mädchen vom Lande sich auf Terrorismus einlässt, zumindest nicht unter normalen Umständen, oder?«
Doch an der englischen Küste schien es mit Kurtz’ Informationen plötzlich aufzuhören. Sie hörten, wie Schritte die große Treppe heraufkamen, dann das Knarren von Malcolms Wildlederschuhen. Doch der Waliser, der sich nie entmutigen ließ, versuchte es noch einmal.
»Irgendwie bringe ich Rothaarige nie mit Devon in Verbindung«, klagte er. »Und den Namen Charmian ehrlich gesagt auch nicht. Bess, Rose, vielleicht - Rose könnte ich mir durchaus vorstellen. Aber nicht Charmian, jedenfalls nicht aus Devon. Weiter nördlich, würde ich bei Charmian tippen. London wäre schon denkbar.« Behutsam kam Malcolm wieder herein, ein weicher Schritt folgte vorsichtig dem anderen. Er trug einen Stapel Ordner unter dem Arm: Das Ergebnis von Charlies Ausflügen in die militante Linke. Die untersten waren schon zerfleddert von Alter und Gebrauch. Zeitungsausschnitte und hektographierte Flugblätter schauten hervor.
»Nun, ich muss schon sagen, Sir«, sagte Malcolm, als er seine Last mit einem erleichterten Aufstöhnen auf dem Tisch ablegte, »wenn das nicht unser Mädchen ist, dann sollte sie es sein.«
»Lunch«, bellte Picton, und nachdem er seinen beiden Untergebenen wütend eine Flut von Befehlen zugebrummt hatte, marschierte er mit seinen Gästen in ein riesiges, nach Kohl und Möbelpolitur riechendes Speisezimmer.
Ein Handgranatenleuchter hing über einem zehn Meter langen Tisch, zwei Kerzen brannten, und zwei Stewards in strahlend weißen Jacken waren bemüht, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen. Picton aß mit ausdruckslosem Gesicht; der leichenblasse Litvak stocherte wie ein Invalide in seinem Essen herum. Kurtz jedoch schien unberührt von der allgemein gedrückten Stimmung. Er plauderte, aber selbstverständlich nicht über irgend etwas Dienstliches; er bezweifle, ob der Commander Jerusalem noch wieder erkennen würde, wenn er das Glück hätte, wieder einmal hinzukommen; und er, Kurtz, genieße es ausgesprochen, zum ersten Mal in einer britischen Offiziersmesse zu speisen. Trotzdem blieb Picton nicht das ganze Essen über. Zweimal rief Captain Malcolm ihn an die Tür, wo sie sich mit gedämpfter Stimme besprachen; einmal wurde er von seinem Vorgesetzten am Telefon verlangt. Und als der Pudding aufgetragen wurde, stand er plötzlich wie angestochen auf, reichte dem Steward seine Damastserviette und marschierte davon, dem Vernehmen nach, um selbst ein paar Anrufe zu tätigen, vielleicht aber auch, um sich am Inhalt des unter Verschluss gehaltenen Whisky-Vorrats in seinem Arbeitszimmer gütlich zu tun.
Abgesehen von den allgegenwärtigen Wachen war der Park so leergefegt wie der Sportplatz einer Schule am ersten Ferientag. Picton erging sich darin mit der schrulligen Rastlosigkeit eines Grundherrn, der mürrisch die Zäune nach Schäden absucht und mit dem Spazierstock nach allem stößt, dessen Aussehen ihm nicht gefällt. Zwanzig Zentimeter tiefer hüpfte fröhlich Kurtz neben ihm her. Aus der Ferne hätte man meinen können, es handelte sich um einen Gefangenen und seinen Bewacher, wenn auch nicht ganz klar wurde, wer nun was war. Ein Stück hinter ihnen trottete Litvak, der beide Aktentaschen trug, und hinter Litvak Mrs. O’Flaherty, Pictons legendäre Schäferhündin. »Mr. Levene hört gern zu, nicht wahr?« Picton platzte so laut mit dieser Frage heraus, dass Litvak sie hören musste. »Guter Zuhörer, gutes Gedächtnis? So was gefällt mir.«
»Mike ist sehr diskret, Commander«, sagte Kurtz und lächelte pflichtschuldig. »Mike kennt sich überall aus.« »Scheint mir ein ziemlich miesepetriger Bursche zu sein. Der Chief Commander wünscht ein Gespräch unter vier Augen, wenn Sie damit einverstanden sind.«
Kurtz drehte sich um und sagte etwas auf hebräisch zu Litvak. Litvak fiel zurück, bis er außer Hörweite war. Und es war schon etwas Merkwürdiges, das weder Kurtz noch Picton hätten richtig erklären können, selbst wenn sie es sich eingestanden hätten - dass sich nämlich ein unbestimmbares Gefühl von Kameradschaft zwischen ihnen entwickelte, sobald sie allein waren. Der Nachmittag war grau und böig. Picton hatte Kurtz einen Dufflecoat geliehen, in dem er wie ein Seebär aussah. Picton selbst hatte eine kurze Offiziersjoppe an, und seine Gesichtsfarbe hatte sich in der frischen Luft sofort vertieft.
»Wirklich sehr anständig von Ihnen, den weiten Weg zu machen, bloß um uns ein Licht über sie aufzustecken«, sagte Picton, es war wie eine Herausforderung. »Mein Chef wird dem alten Misha ein paar Zeilen schreiben - der Teufel.«
»Das wird Misha bestimmt zu würdigen wissen«, sagte Kurtz, ohne sich zu erkundigen, welchen Teufel Picton meinte. »Trotzdem eigentlich komisch. Dass ihr uns Tips gebt, was unsre eigenen Terroristen betrifft. Zu meiner Zeit ging es eher andersherum.«
Kurtz sagte etwas Beschwichtigendes über das Rad der Geschichte, doch Picton war kein Poet.
»Eure Operation, versteht sich«, sagte Picton. »Eure Quellen, eure Warnung. Mein Chief bleibt da hart. Unsere Aufgabe ist es, auf unserem Hintern sitzen zu bleiben und zu tun, was man uns, verdammt noch mal, sagt«, fügte er mit einem Seitenblick hinzu. Kurtz meinte, heutzutage sei Zusammenarbeit das A und O des Geschäfts, und für einen Moment sah Picton aus, als würde er in die Luft gehen. Seine gelben Augen weiteten sich, sein Kinn versank ruckartig im Hals und blieb dort. Statt in die Luft zu gehen, vielleicht aber auch, um sich zu beruhigen, zündete er sich eine Zigarette an, kehrte dem Wind dabei den Rücken zu und wölbte seine großen Catcher-Pranken schützend um das Flämmchen. »Inzwischen, es wird Sie sicher überraschen, sind Ihre Informationen alle bestätigt worden«, sagte Picton mit unüberbietbarem Sarkasmus, als er das Zündholz fortschnippte. »Berger und Mesterbein flogen Paris - Exeter und zurück, nahmen sich bei ihrer Ankunft in Exeter einen Leihwagen von Hertz und haben sechshundertfünfundsiebzig Kilometer runtergerissen. Mesterbein hat mit einer American Express-Kreditkarte, die auf seinen Namen ausgestellt war, bezahlt. Weiß zwar nicht, wo sie die Nacht verbracht haben, aber darüber werden Sie uns ja zweifellos zu gegebener Zeit unterrichten.«
Kurtz schwieg tugendhaft.
»Was nun die Dame betrifft«, fuhr Picton mit derselben gequälten Sorglosigkeit fort, »werden Sie sicher ebenso überrascht sein, dass sie im Augenblick im tiefsten Cornwall Theater spielt. Und zwar bei einem Tournee-Theater, das klassische Stücke spielt und sich den Namen ›The Heretics‹ zugelegt hat, was mir gefällt; doch das wissen Sie ja sicher auch nicht, oder? Von ihrem Hotel haben wir erfahren, dass ein Herr, auf den die Beschreibung Mesterbeins zutrifft, sie nach der Vorstellung abgeholt hat und sie erst am Morgen wieder nach Hause gekommen ist. Scheint ein richtig kleines Betthupferl zu sein, nach allem, was man hört, Ihre Dame.« Er gestattete sich eine gewichtige Pause, die Kurtz nicht zur Kenntnis zu nehmen vorgab. »Ich soll Ihnen nun mitteilen, dass mein Chief ein Offizier und ein Gentleman ist und Ihnen jede nur denkbare Hilfe zuteil werden lassen wird. Er ist dankbar, mein Chief, wirklich. Dankbar und gerührt. Er hat eine Schwäche für Juden, und er findet es ganz reizend von Ihnen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, herüberzukommen und uns auf ihre Spur zu setzen.« Er warf Kurtz einen feindseligen Seitenblick zu. »Mein Chief ist jung, verstehen Sie. Er ist -abgesehen von einigen Zwischenfällen - ein großer Bewunderer Ihres jungen Landes und nicht geneigt, gewissen hässlichen Verdachtsmomenten Gehör zu schenken, die ich vielleicht äußern könnte.«
Picton blieb vor einem großen grünen Schuppen stehen und hämmerte mit seinem Spazierstock gegen die Eisentür. Ein junger Mann in Laufschuhen und Trainingsanzug ließ sie in eine leere Turnhalle herein. »Samstag«, sagte Picton, offenbar um zu erklären, warum es hier so verlassen wirkte, und schickte sich selbst auf eine wütende Ortsbesichtigung, musterte mal den Zustand der Umkleideräume, fuhr mal mit einem gewaltigen Finger über den Holm eines Barren, um zu sehen, ob auch kein Staub darauf läge. »Wie ich höre, habt ihr die Lager wieder bombardiert«, sagte Picton vorwurfsvoll. »Das geht auf Mishas Kappe, oder? Misha hat noch nie was fürs Rapier übriggehabt, wenn’s auch mit ‘ner dicken Kanone ging.«
Kurtz setzte dazu an, ihm ganz aufrichtig zu erklären, dass der Prozess der Entscheidungsfindung in den oberen Rängen der israelischen Gesellschaft von jeher etwas höchst Geheimnisvolles für ihn gewesen sei; doch Picton hatte keine Zeit für derartige Erklärungen.
»Jedenfalls wird er damit nicht durchkommen. Bestellen Sie ihm das von mir. Diese Palästinenser werden euch von nun an nicht mehr in Ruhe lassen.«
Diesmal lächelte Kurtz nur und schüttelte den Kopf über den Lauf der Dinge.
»Misha Gavron war bei der Haganah, nicht wahr?« fragte Picton nur so aus Neugier. »Bei der Irgun«, berichtigte ihn Kurtz. »Und wo waren Sie damals?« fragte Picton.
Kurtz kehrte das schüchterne Bedauern des Verlierers hervor. »Ob nun zum Glück oder nicht, Commander - wir Raphaels sind zu spät nach Israel gekommen, um den Briten irgendwelche Unannehmlichkeiten zu bereiten«, sagte er. »Nehmen Sie mich nicht auf den Arm?« sagte Picton. »Ich weiß, wo Misha sich seine Freunde herholt. Ich hab’ ihm schließlich seinen verdammten Job gegeben.«
»Das hat er mir erzählt, Commander«, sagte Kurtz mit seinem wasserdichten Lächeln.
Der sportliche junge Mann hielt ihnen eine Tür auf, und sie gingen hindurch. In einem langen Schaukasten aus Glas lag eine Auswahl von selbst gebastelten Waffen zum lautlosen Töten: ein keulenähnlicher Schlagstock, dessen Kopf mit Nägeln gespickt war, eine völlig verrostete Hutnadel, die einen hölzernen Griff
bekommen hatte, selbst gemachte Spritzen und eine improvisierte Garrotte.
»Die Bezeichnungen verblassen«, schnauzte Picton den jungen Mann an, nachdem er die Mordinstrumente einen Augenblick wehmütig betrachtet hatte. »Neue Schildchen bis Montag früh zehn Uhr, sonst bekommen Sie es mit mir zu tun!« Er trat wieder hinaus in die frische Luft; Kurtz trottete vergnügt neben ihm her. Mrs. O’Flaherty, die draußen auf sie gewartet hatte, schloss sich ihrem Herrn wieder an.
»Na schön, was wollen Sie?« sagte Picton wie jemand, der gegen seinen Willen gedrängt wird, sich zu einigen. »Machen Sie mir nicht weis, dass Sie hierher gekommen sind, um mir einen Liebesbrief von meinem alten Kumpel Misha, der Krähe, zu überbringen; das nehm’ ich Ihnen nämlich nicht ab. Ich weiß sowieso nicht, ob ich Ihnen glauben soll. Wenn’s um euch geht, bin ich ohnehin schwer zu überzeugen.«
Kurtz schmunzelte und schüttelte anerkennend den Kopf über Pictons englischen Witz.
»Nun, Sir, Misha, die Krähe, findet, dass eine Verhaftung in diesem Fall einfach nicht in Frage kommt. Natürlich nur wegen der heiklen Quellen«, erklärte er im Ton dessen, der nur etwas übermittelt.
»Ich dachte, Ihre Quellen wären ganz einfach gute Freunde«, warf Picton boshaft ein. »Und selbst wenn Misha einer förmlichen Verhaftung zustimmen würde«, fuhr Kurtz immer noch schmunzelnd fort, »fragt er sich doch, welche Anklagen vor welchem Gericht gegen die Dame vorgebracht werden könnten. Wer will beweisen, dass der Sprengstoff im Wagen war, als sie ihn fuhr? Sie wird behaupten, man habe ihn erst hinterher hineingepackt. Bliebe uns meines Erachtens nur die ziemlich unerhebliche Anklage, einen Wagen mit falschen Papieren durch Jugoslawien gefahren zu haben. Und wo sind diese Papiere? Wer will beweisen, dass es sie je gegeben hat? Das ist alles sehr fadenscheinig.«
»Sehr«, pflichtete Picton ihm bei. »Ist Misha denn auf seine alten Tage unter die Anwälte gegangen?« wollte er mit einem Seitenblick wissen. »Himmel, das war’ dann aber der klassische Fall, wo man wirklich den Bock zum Gärtner gemacht hätte.«
»Außerdem - argumentiert Misha - muss man auch ihren Nutzen bedenken. Ihren Nutzen für uns und für Sie, so, wie sie im Moment dasteht. Was man ihre Quasi-Unschuld nennen könnte. Was weiß sie schließlich? Was könnte sie enthüllen? Nehmen Sie den Fall von Miss Larsen.«
»Larsen?«
»Die junge Holländerin, die in den unseligen Unfall vor München verwickelt war.«
»Was soll mit ihr sein?« Picton blieb stehen, wandte sich Kurtz zu und funkelte mit zunehmendem Argwohn zu ihm hinab.
»Auch Miss Larsen hat für ihren palästinensischen Freund Wagen gefahren und kleine Besorgungen für ihn gemacht. Denselben Freund, übrigens. Miss Larsen hat sogar Bomben für ihn gelegt. Zwei, vielleicht sogar drei. Auf dem Papier war Miss Larsen eine belastete Person.« Kurtz schüttelte den Kopf. »Aber wenn’s um
brauchbare Informationen geht, war sie ein leeres Gefäß, Commander.« Unbeeindruckt von Pictons bedrohlicher Nähe, hob Kurtz die Hände und machte sie auf, um zu zeigen, wie leer das Gefäß sei.
»Nichts weiter als ein kleines Groupie, ein Mädchen, das die Gefahr und die Jungs liebte und gern gefiel. Nichts haben sie ihr gesagt. Keine Adressen, keine Namen, keine Pläne.«
»Woher wissen Sie das?« sagte Picton vorwurfsvoll.
»Wir haben uns ein bisschen mit ihr unterhalten.«
»Wann?«
»Vor einiger Zeit. Ist schon ziemlich lange her. Ein kleines Geschäft auf Gegenseitigkeit, ehe wir sie wieder ins Wasser zurückwarfen. Sie wissen, wie so was läuft.«
»Etwa fünf Minuten, ehe Sie sie hochgehen ließen, nehm’ ich an«, meinte Picton und ließ die durchdringenden gelben Augen nicht von Kurtz.
Kurtz’ Lächeln blieb wunderbar ungerührt. »Wenn es nur so leicht wäre, Commander«, sagte er aufseufzend. »Ich habe gefragt, was Sie wollen, Mr. Raphael.«
»Wir würden sie gern ein bisschen auf Trab bringen, Commander.«
»Das hatte ich mir schon gedacht.«
»Wir hätten gern, wenn sie ein bisschen ausgeräuchert, aber nicht verhaftet würde. Wir hätten gern, wenn sie es mit der Angst bekäme - so sehr mit der Angst bekäme, dass sie gezwungen wäre, weiteren Kontakt mit ihren Leuten zu suchen, oder sie mit ihr. Wir würden sie gern ganz durchlotsen. Was wir einen ahnungslosen Agenten nennen. Selbstverständlich würden wir das Ergebnis mit Ihnen teilen, und wenn die Operation durch ist, könnten Sie beides haben: das Mädchen und den Ruhm.«
»Sie hat bereits Kontakt aufgenommen«, wandte Picton ein. »Sie sind gekommen und haben in Cornwall mit ihr geredet, haben ihr irgendwelche verdammten Blumen gebracht, oder?«
»Commander, so wie wir die Dinge sehen, hat es sich dabei um eine Art Erkundung gehandelt. Lässt man es auf sich beruhen, so fürchten wir, kommt aus dem Treffen nichts weiter heraus.«
»Woher, verdammt noch mal, wissen Sie das schon wieder?« Pictons Stimme verriet einen herrlichen Zorn. »Ich will Ihnen mal sagen, woher Sie das wissen. Weil sie an dem verdammten Schlüsselloch gelauscht haben! Wofür halten Sie mich eigentlich, Mr. Raphael? Glauben Sie, ich bin von gestern? Das Mädchen gehört zu Ihnen, Mr. Raphael, das weiß ich ganz genau! Ich kenne euch Itzigs. Ich kenne diesen Giftzwerg Misha und fange an, auch Sie kennen zu lernen.« Seine Stimme hatte erschreckend an Volumen gewonnen. Er eilte Kurtz mit großen Schritten voraus und wartete dann, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Und wartete noch weiter, bis Kurtz ihn wieder eingeholt hatte. »Ich hab’ im Augenblick ein sehr hübsches Szenario im Kopf, Mr. Raphael, und das würde ich Ihnen gern mitteilen. Was dagegen?«
»Es wird mir ein Vergnügen sein, Commander«, sagte Kurtz freundlich.
»Danke! Im allgemeinen benutzt man für diesen Trick Aas. Man findet eine hübsche Leiche, kostümiert sie und lässt sie irgendwo liegen, wo der Feind über sie stolpert. ›Hoppla‹ , sagt der Gegner, ›was ist denn das? Eine Leiche mit einer Aktentasche in der Hand? Gucken wir mal rein.‹ Sie gucken rein und finden eine kleine Nachricht. ›Na so was‹ , sagen sie, ›das muss ein Kurier gewesen sein! Lesen wir mal die Botschaft, und tappen wir in die Falle.‹ Gesagt, getan, und wir alle kriegen einen Orden. ›Fehlinformation‹ , haben wir so was früher genannt, ausgetüftelt, um den Gegner irrezuführen. Eine hübsche kleine Sache.« Pictons Sarkasmus
war genauso furchtbar wie sein Zorn. »Aber das wäre für Sie und Misha viel zu simpel. Da ihr eine Bande von hypergebildeten Fanatikern seid, seid ihr noch einen Schritt weiter gegangen. ›Mit Aas geben wir uns nicht ab, o nein, wir nicht! Wir benutzen lebendes Fleisch. Araberfleisch. Holländerfleisch.‹ So habt ihr’s gemacht. Und es dann in einem hübschen Mercedes in die Luft gejagt. Der ihnen gehörte. Was ich natürlich nicht weiß - und niemals erfahren werde, weil Sie und Misha das Ganze noch auf dem Totenbett abstreiten werden, nicht wahr? -, wo ihr die Fehlinformation eingebaut habt. Aber versteckt habt ihr sie irgendwo, und jetzt haben sie angebissen. Sonst hätten sie ihr doch niemals diese hübschen Blumen gebracht, oder?«
Voller Bewunderung über Pictons amüsante Hirngespinste schüttelte Kurtz bekümmert den Kopf und wollte sich schon verabschieden, doch Picton hielt ihn mit dem leichten, aber unbeirrbaren Griff des Polizeibeamten zurück.
»Bestellen Sie Ihrem verdammten Meister Gavron folgendes von mir. Wenn ich mich nicht geirrt habe und ihr eine von unseren Staatsbürgerinnen ohne unsere Zustimmung angeheuert habt, komm’ ich persönlich in sein böses kleines Land rüber und schneid’ ihm die Eier ab, verstanden?« Doch plötzlich, wie wider seinen Willen, entspannten sich Pictons Züge, und er lächelte wie in zärtlicher Erinnerung. »Was hat der alte Teufel doch immer gesagt?« fragte er. »Irgendwas mit Tigern. Sie müssen es doch wissen.«
Kurtz benutzte den Vergleich ebenfalls. Oft sogar. Mit seinem Piratengrinsen sagte er ihn jetzt. »Wer den Löwen fangen will, muss erst die Ziege anbinden.«
Der Augenblick gegnerischer Übereinstimmung war vorbei, Pictons Züge wurden wieder zu Stein. »Und rein formell, Mr. Raphael - mit den Empfehlungen meines Chiefs kann Ihr Amt sich darauf verlassen, dass die Sache abgemacht ist«, knurrte er. Er machte auf den Hacken kehrt und marschierte schnell zum Haus zurück, während Kurtz und Mrs. O’Flaherty nichts anderes übrig blieb, als hinter ihm herzutrotten. »Und Sie können ihm noch was ausrichten«, fügte Picton hinzu und zeigte, ein letztes Mal seine koloniale Autorität unterstreichend, mit seinem Stöckchen auf Kurtz. »Er soll verdammt noch mal aufhören, unsere Pässe zu benutzen. Wenn andere Leute ohne die zurechtkommen, dann kann die Krähe das auch, verdammt noch mal!«
Für die Rückfahrt nach London setzte Kurtz Litvak nach vorn, um ihm englische Manieren beizubringen. Meadows, der inzwischen eine Stimme bekommen hatte, wollte über die Probleme der West-Bank diskutieren: wie man dort zu einer Lösung kommen könne, Sir, und dabei gleichzeitig den Arabern gerecht werde, versteht sich, was meinen Sie? Kurtz klinkte sich aus ihrer fruchtlosen Diskussion aus, überließ sich den Erinnerungen, die er sich die ganze Zeit über vom Leib gehalten hatte.
Es gibt in Jerusalem noch einen funktionsfähigen Galgen, an dem jedoch niemand mehr gehängt wird. Kurtz kannte ihn gut: in der Nähe des alten russischen Viertels, linker Hand, wenn man eine halbfertige Straße hinunterfährt und vor einem alten Doppeltor hält, das zu Jerusalems einstigem Zentralgefängnis führt. Auf den Schildern steht: Zum Museum, aber auch Halle des Heldentums; dort gibt es einen verhutzelten alten Mann, der draußen herumsteht, sich verbeugt und hineinbittet, indem er seinen flachen schwarzen Hut durch den Staub zieht. Der Eintritt kostet fünfzehn Schekel, doch der Preis steigt. Hier hängten die Briten während der Mandatszeit die Juden, und zwar mit einem lederverkleideten Strick. Eigentlich waren es nur wenige, während sie Araber in Massen hängten. Nur hatten sie dort zwei von Kurtz’ Freunden gehängt, damals, als er zusammen mit Misha Gavron bei der Irgun gewesen war. Auch Kurtz hätte ohne weiteres dort enden können. Zweimal hatten sie ihn ins Gefängnis geworfen, viermal einem Verhör unterzogen, und die Schwierigkeiten, die er gelegentlich mit seinen Zähnen hatte, wurden von seinem Zahnarzt auf die Schläge zurückgeführt, die er von der Hand eines jungen liebenswerten, inzwischen verstorbenen Sicherheitsbeamten bekommen hatte, der zwar anders ausgesehen hatte als Picton, dessen Art ihn aber ein wenig an diesen erinnerte.
Trotzdem, ein netter Mann, dieser Picton, dachte Kurtz und lächelte in sich hinein, als er unterwegs über einen weiteren erfolgreichen Schritt nachsann. Ein wenig rauh, vielleicht; vielleicht auch ein bisschen schwerfällig mit Hand und Mund; und traurig darüber, dass er so viel für den Alkohol übrig hatte -was ja immer verheerend ist. Aber letzten Endes anständig wie die meisten Menschen. Und außerdem ein Fachmann auf seinem Gebiet. Ein guter Kopf bei all seiner äußeren Heftigkeit. Misha Gavron hatte immer gesagt, er habe eine Menge von ihm gelernt.