Kapitel 11

Für sein verbotenes, aber überaus wichtiges Wiedersehen mit dem guten Dr. Alexis am Abend desselben Tages umgab Kurtz sich mit der Haltung kollegialen, durch lange Freundschaft geprägten Einvernehmens zwischen Profis. Auf seinen Vorschlag hin trafen sie sich nicht in Wiesbaden, sondern in Frankfurt, wo die Menschenmassen dichter und mehr in Bewegung sind, in einem Hotel, das in dieser Woche die Vertreter der Plüschtier-Industrie beherbergte. Alexis hatte sein Haus vorgeschlagen, doch das hatte Kurtz mit versteckten Andeutungen abgelehnt, die Alexis augenblicklich witterte. Es war zehn Uhr abends, als sie sich trafen, und die meisten Delegierten waren auf der Suche nach anderen Kuscheltieren bereits in die Stadt ausgeschwärmt. Die Bar war dreiviertel leer, und wenn man sie so sah, waren sie auch nichts anderes als zwei Geschäftsleute, die über einer Schale mit Plastikblumen die Probleme der Welt lösten. Was sie in gewisser Weise ja auch taten. Aus den Lautsprechern rieselte Musik vom Band, doch der Barkeeper hörte in seinem Transistorradio ein Bach-Programm.

In der Zeit seit ihrer ersten Begegnung schien das, was in Alexis wider den Stachel gelockt hatte, endgültig eingeschlafen zu sein. Über ihm lagen die ersten schwachen Schatten des Versagens wie eine sich ankündigende Krankheit, und sein Fernseh-Lächeln war von einer neuen Bescheidenheit, die ihm gar nicht stand. Kurtz, der sich anschickte, seine Beute endgültig ins Netz zu bekommen, vermerkte das dankbar mit einem einzigen Blick - Alexis, weniger dankbar jeden Morgen, wenn er allein im Badezimmer die Haut um die Augen zurückschob und kurz die Reste seiner schwindenden Jugendlichkeit wiederbelebte. Kurtz überbrachte Grüße aus Jerusalem und als Mitbringsel ein Fläschchen trüben Wassers -echtes Jordan-Wasser, wie auf dem Etikett bestätigt wurde. Er habe gehört, die neue Frau Alexis erwarte ein Baby, und meinte, das Wasser könne daher gelegen kommen. Diese Geste rührte Alexis und amüsierte ihn irgendwie mehr, als der Anlass eigentlich gerechtfertigt hätte.

»Aber dann haben Sie es früher erfahren als ich«, verwahrte er sich, nachdem er die Flasche höflich erstaunt betrachtet hatte. »Ich hab’s ja noch nicht einmal meinen Mitarbeitern gesagt.« Und das stimmte: Sein Schweigen war gleichsam ein letztes Rückzugsgefecht gewesen, um die Empfängnis doch noch zu verhüten.

»Eröffnen Sie es ihnen, wenn es vorüber ist, und entschuldigen Sie sich dann«, schlug Kurtz nicht ohne Hintersinn vor. Still, wie es sich für Leute gehört, die nicht viele Umstände machen, tranken sie auf das Leben und eine bessere Zukunft für das ungeborene Kind des Doktors.

»Wie ich gehört habe, fungieren Sie jetzt als Koordinator«, sagte Kurtz mit einem Aufblitzen in den Augen.

»Auf alle Koordinatoren«, erwiderte Alexis ernst, und sie nippten noch einmal an ihrem Glas. Sie beschlossen, sich mit Vornamen anzureden, doch behielt Kurtz trotzdem das förmliche Sie statt des Dus bei. Er wollte nicht, dass seine Überlegenheit Alexis gegenüber untergraben wurde.

»Dürfte ich fragen, was Sie koordinieren, Paul?« fragte Kurtz.

»Herr Schulmann, ich muss Ihnen mitteilen, dass die Verbindung zu befreundeten Geheimdiensten nicht mehr zu meinen offiziellen Obliegenheiten gehört«, erhob Alexis die Stimme und parodierte dabei mit Absicht die Sprache der Bonner Ministerialbürokratie: und erwartete, dass Kurtz weiter in ihn drang.

Kurtz jedoch wagte eine Vermutung, die durchaus keine Vermutung war. »Ein Koordinator trägt die administrative Verantwortung für so wichtige Dinge wie Transport, Ausbildung, Rekrutierung und hat finanziell Rechenschaft über den Operationsbereich zu geben. Und außerdem ist er verantwortlich für den Informationsaustausch zwischen den Einrichtungen des Bundes und der Länder.«

»Sie haben die Beurlaubungen ausgelassen«, wandte Alexis ein, wieder einmal ebenso amüsiert wie erschrocken darüber, wie ausgezeichnet Kurtz’ Informationen waren. »Wollen Sie mehr Urlaub, kommen Sie nach Wiesbaden, ich verschaffe ihn Ihnen. Wir haben ein außerordentlich hochkarätiges Komitee eigens für Beurlaubungen.«

Kurtz versprach das - es sei wirklich höchste Zeit, dass er einmal ausspanne, gestand er. Dieser Hinweis auf das Überarbeitetsein erinnerte Alexis an seine eigene Zeit im Sicherheitsdienst, und er schweifte ab, um von einem Fall zu erzählen, bei dem er drei Nächte hintereinander nicht geschlafen hatte - und zwar wirklich, Marty, mich nicht einmal hingelegt. Voller Mitgefühl und Hochachtung hörte Kurtz sich das an. Kurtz war ein ausgezeichneter Zuhörer, eine Spezies, der Alexis in Wiesbaden nur allzu selten begegnete.

»Wissen Sie was, Paul«, sagte Kurtz, nachdem das Gespräch auf diese Weise eine Zeitlang angenehm hin und her gegangen war, »ich bin selber auch mal Koordinator gewesen. Mein Vorgesetzter war zu dem Schluss gekommen, dass ich ein unartiger Junge gewesen sei« - Kurtz setzte ein klägliches verschwörerisches Grinsen auf -, »und machte mich zu einem Koordinator. Da habe ich mich dermaßen gelangweilt, dass ich nach einem Monat einen Brief an General Gavron schrieb und ihm offiziell mitteilte, er sei eine Flasche. ›General, dies ist offiziell. Marty Schulmann behauptet, Sie sind eine Flasche.‹ Ich musste bei ihm antanzen. Sie kennen diesen Gavron? Nicht? Er ist klein und verhutzelt, mit einer dicken schwarzen Mähne. Findet innerlich keinen Frieden. Immer voller Unruhe. ›Schulmann‹ , raunzt er mich an. ›Was hat das zu bedeuten, ein Monat, und schon schimpfen Sie mich eine Flasche? Wie sind Sie hinter mein dunkles Geheimnis gekommen?‹ -›General‹ , sage ich. ›Wenn Sie auch nur einen Funken Selbstachtung hätten, würden Sie mich in den Mannschaftsstand zurückversetzen und wieder meiner alten Einheit zuteilen, wo ich Sie nicht offen ins Gesicht beleidigen kann.« Und wissen Sie, was Misha getan hat? Er hat mich rausgeschmissen, und dann hat er mich befördert. So habe ich meine alte Einheit wiederbekommen.«

Diese Geschichte war um so erheiternder, als sie Alexis an seine eigenen vergangenen Tage als viel zitierter Außenseiter unter den aufgeblasenen Typen der Bonner Hierarchie erinnerte. So war es das Natürlichste von der Welt, dass sich ihre Unterhaltung noch einmal der Godesberger Greueltat zuwandte, denn schließlich hatten sie sich anlässlich dieses Verbrechens kennen gelernt.

»Wie ich höre, machen sie endlich ein paar Fortschritte«, bemerkte Kurtz. »Haben die Spur des Mädchens bis nach Paris-Orly zurückverfolgt - ein beachtlicher Durchbruch, auch wenn sie bis jetzt noch nicht wissen, wer sie ist.«

Alexis war nicht wenig irritiert, dieses sorglose Lob ausgerechnet aus dem Mund von jemand zu hören, den er so bewunderte und achtete.

»Das nennen Sie einen Durchbruch? Gerade gestern habe ich ihre neueste Analyse auf den Tisch bekommen. Irgendein Mädchen fliegt am Tag des Attentats von Orly nach Köln. Glauben sie. Sie trägt Jeans. Kopftuch, gute Figur, wahrscheinlich blond, aber was soll’s? Die Franzosen können nicht mal feststellen, ob sie die Maschine nach Köln überhaupt bestiegen hat. Zumindest behaupten sie das.«

»Vielleicht liegt das daran, dass sie die Maschine nach Köln gar nicht bestiegen hat«, gab Kurtz zu bedenken.

»Aber wie soll sie denn nach Köln fliegen, wenn sie nicht die Kölner Maschine besteigt?« wandte Alexis ein, der die Pointe nicht ganz mitbekommen hatte. »Diese Kretins könnten nicht mal die Spur eines Elefanten durch einen Berg Kakao verfolgen.« Die Nachbartische waren immer noch frei, und mit Bach aus dem Transistor und Oklahoma aus den Lautsprechern gab es genug Musik, um gleich mehrere Ketzereien zu übertönen. »Mal angenommen, sie nimmt ein Ticket nach woandershin«, sagte Kurtz geduldig. »Sagen wir, nach Madrid. Sie steigt in Orly ein, kauft aber ein Ticket nach Madrid.«

Alexis akzeptierte die Hypothese.

»Sie nimmt ein Ticket Orly-Madrid, und in Orly geht sie zur Abfertigung für die Maschine nach Madrid. Dann geht sie mit ihrer Madrider Boarding-Card in den Warteraum und sucht sich einen bestimmten Platz, um zu warten, wartet. Sagen wir, ziemlich in der Nähe eines gewissen Abflug-Gate. Sagen wir mal, Abflug-Gate achtzehn, da wartet sie. Jemand kommt auf sie zu, ein Mädchen, spricht die verabredeten Worte, die beiden gehen aufs Damenklo, tauschen ihre Tickets aus. Hübsch eingefädelt. Wirklich ein hübsches Arrangement. Und ihre Pässe tauschen sie auch. Bei Mädchen ist das weiter kein Problem. Make-up - Perücken - ach, Paul, wenn Sie der Sache auf den Grund gehen, sind alle hübschen Mädchen gleich.«

Die Wahrheit dieses Aphorismus gefiel Alexis sehr, war er doch bei seiner zweiten Ehe erst vor kurzem zu dem gleichen nicht gerade erhebenden Schluss gekommen. Aber er hielt sich nicht dabei auf, denn er spürte bereits, dass eine echte Information unmittelbar bevorstand, und der Polizist in ihm war wieder zum Leben erwacht. »Und als sie nach Bonn kommt?« fragte er und zündete sich eine Zigarette an.

»Sie kommt mit einem belgischen Pass an. Eine schöne Fälschung aus einer in Ostdeutschland hergestellten Serie. Am Flughafen trifft sie sich mit einem bärtigen jungen Mann auf einem gestohlenen Motorrad mit falschem Nummernschild. Groß, jung, bärtig: Mehr weiß das Mädchen nicht, mehr weiß aber auch sonst kein Mensch, denn diese Leute sind sehr gut, wenn es um Sicherheitsvorkehrungen geht. Ein Bart. Was ist ein Bart? Er hat auch nie den Helm abgenommen. Gerade mit den Sicherheitsvorkehrungen sind diese Leute überdurchschnittlich. Außergewöhnlich sogar. Ich würde sagen, außergewöhnlich.«

Alexis sagte, das sei auch ihm schon aufgefallen. »Der junge Mann hat bei dieser Operation die Aufgabe, die Sicherung zu spielen«, fuhr Kurtz fort. »Weiter tut er nichts. Er unterbricht den Stromkreis. Er holt das Mädchen ab, vergewissert sich, dass ihr niemand folgt, fährt sie ein bisschen rum und bringt sie zur Einsatzbesprechung in ein sicheres Haus.« Er hielt inne. »In der Nähe von Mehlem gibt es einen Bauernhof, wie Städter ihn sich zur Bewirtschaftung kaufen; das Anwesen nennt sich Haus Sommer. Am Ende der südlichen Zufahrt steht eine umgebaute Scheune. Diese Auffahrt selbst führt direkt auf einen Autobahnzubringer. Unter dem Schlaftrakt befindet sich eine Garage, und in der Garage steht ein Opel mit Siegburger Nummer; der Fahrer sitzt schon am Steuer.« Dazu konnte der in Gedanken verlorene Alexis zu seiner Freude etwas beitragen. »Achmann«, sagte er leise. »Der Publizist Achmann aus Düsseldorf! Sind wir denn wahnsinnig? Wieso hat niemand an diesen Mann gedacht?«

»Achmann stimmt«, sagte Kurtz anerkennend zu seinem Schüler. »Haus Sommer gehört Dr. Achmann aus Düsseldorf, dessen bedeutende Familie ein blühendes Holzgeschäft, einige Illustrierte und eine schöne Kette von Sex-Läden besitzt. Nebenbei verlegt er auch noch romantische deutsche Landschaftskalender. Die umgebaute Scheune gehört Dr. Achmanns Tochter Inge. Dort haben viele Randtagungen stattgefunden, die in der Hauptsache von wohlhabenden und ernüchterten Erforschern der menschlichen Seele besucht wurden. Zur fraglichen Zeit hatte Inge das Haus einem bedürftigen Freund überlassen, einem Jungen, der eine Freundin hatte…«

»Ad infinitum«, beendete Alexis bewundernd seinen Satz.

»Wo man den Rauch vertreibt, findet man noch mehr Rauch. Das Feuer brennt immer ein wenig abseits der Straße. So arbeiten diese Leute, so haben sie immer gearbeitet.«

Aus Höhlen im Jordan-Tal, dachte Alexis aufgeregt. Mit einem Strang überflüssigen Kabels, das zu einer Docke zusammengedreht ist. Mit primitiven Bomben, die man in der eigenen Küche herstellen kann. Während Kurtz sprach, hatten sich Alexis’ Gesicht und Körper auf geheimnisvolle Weise entspannt, was Kurtz keineswegs entging. Seine Kummerfalten und die Zeichen menschlicher Schwäche, die ihn so betroffen gemacht hatten, waren plötzlich wie weggefegt. Er lehnte sich gewichtig zurück, hatte die kurzen Arme bequem vor der Brust verschränkt, ein jung machendes Lächeln erhellte sein Gesicht, und den rotblonden Kopf hatte er in schöner Hochachtung vor der hinreißenden Leistung seines Mentors auf die Seite gelegt.

»Darf ich fragen, auf was sich diese interessanten Theorien stützen?« erkundigte sich Alexis mit einem wenig überzeugenden Hauch von Skepsis.

Kurtz tat so, als überlegte er, dabei waren ihm Yanukas Auskünfte so gegenwärtig, als säße er noch immer mit ihm in seiner gepolsterten Zelle in München zusammen, wo der junge Mann sich den Kopf hielt, während er hustete und weinte. »Nun ja, Paul, wir haben die beiden Nummernschilder des Opels, eine Fotokopie des Vertrags mit dem Auto-Verleih und die unterzeichnete Aussage von einem der Beteiligten«, gestand er, und in der bescheidenen Hoffnung, dass diese mageren Beweise vorläufig ausreichen würden, fuhr er mit seinem Bericht fort.

»Der junge Mann mit dem Bart liefert sie in der Scheune ab, entschwindet und taucht nie wieder auf. Das Mädchen zieht ihr hübsches blaues Kleid an, setzt die Perücke auf, macht sich wirklich ansprechend zurecht, genau so, dass sie dem doch wohl recht leichtgläubigen und übertrieben liebevollen Arbeits-Attache gefallen muss. Sie steigt in den Opel und wird von einem zweiten jungen Mann zum Ziel-Haus gefahren. Unterwegs halten sie an, um die Bombe zu schärfen. Bitte?«

»Dieser junge Mann«, fragte Alexis eifrig. »Kennt sie ihn, oder ist seine Person ein Geheimnis für sie?«

Kurtz wollte sich auf gar keinen Fall weiter über Yanukas Rolle auslassen, und so ließ er die Frage unbeantwortet und lächelte nur; trotzdem war sein Ausweichen nicht kränkend; denn Alexis war nun auf jede Einzelheit scharf und konnte schließlich nicht erwarten, dass ihm der Teller jedes Mal gefüllt wurde. Außerdem war das nicht wünschenswert.

»Nachdem der Auftrag erledigt ist, wechselt derselbe Fahrer die Nummernschilder und die Wagenpapiere aus und fährt mit dem Mädchen in den hübschen Kurort am Rhein, Bad Neuenahr, wo er sie absetzt«, nahm Kurtz seine Erklärung wieder auf.

»Und dann?«

Kurtz sprach plötzlich außerordentlich bedächtig weiter, als ob jetzt jedes Wort seinem komplizierten Plan gefährlich werden könnte, wie es ja auch in der Tat der Fall war. »Und dort - schätzungsweise -, würde ich sagen, wird das Mädchen mit einem gewissen heimlichen Verehrer von ihr bekannt gemacht - jemandem, der ihr vielleicht ein bisschen Nachhilfeunterricht in ihrer Aufgabe an diesem Tag gab. Sagen wir, darin, wie man die Bombe scharf macht. Wie man den Zeitzünder einstellt, den Auslöser spannt. Wenn Sie mich fragen, würde ich meinen, dass dieser selbe Verehrer bereits irgendwo ein Hotelzimmer bestellt hatte und dass die beiden sich unter dem anregenden Einfluss des gemeinsam Erreichten leidenschaftlich der Liebe hingaben. Am nächsten Morgen, während sie noch ihr Vergnügen ausschlafen, geht die Bombe los - zwar später als beabsichtigt, doch wen kümmert’s?«

Alexis beugte sich schnell vor, vor Aufregung klang er fast anklagend. »Und der Bruder, Marty? Der große Kämpfer, der schon so viele Israelis auf dem Gewissen hat? Wo war der die ganze Zeit über? In Bad Neuenahr doch wohl, wo er sich ein bisschen mit der kleinen Bombenlegerin vergnügt hat, oder?«

Doch Kurtz ’ Züge waren zur Undurchdringlichkeit erstarrt, was den Enthusiasmus des guten Doktors nur noch zu verstärken schien.

»Wo immer er ist, er leitet eine wirkungsvolle Operation, schön unterteilt, schön delegiert, alles gründlich recherchiert«, erwiderte Kurtz offensichtlich voller Genugtuung. »Der junge Mann mit dem Bart hatte nur die Beschreibung des Mädchens, sonst nichts. Nicht einmal das Ziel. Das Mädchen wiederum kannte die Nummer seines Motorrads, nicht aber den Fahrer. Da ist wirklich ein kluger Kopf am Werk.«

Danach schien Kurtz plötzlich mit seraphischer Taubheit geschlagen zu sein, so dass Alexis nach weiteren fruchtlosen Fragen das Bedürfnis hatte, neue Whiskys zu bestellen. In Wahrheit war es so, dass der gute Doktor etwas unter Sauerstoffmangel litt. Er hatte das Gefühl, sein Leben bisher auf einem niedrigeren Niveau des Seins zugebracht zu haben, in letzter Zeit sogar auf einem sehr niedrigen. Plötzlich nun beförderte der große Schulmann ihn in Höhen, von denen er sich bislang nichts hatte träumen lassen.

»Und jetzt sind Sie hier in Deutschland, um diese Informationen an Ihre amtlichen deutschen Kollegen weiterzugeben, nehme ich an«, bemerkte Alexis provozierend.

Doch Kurtz ging nur mit einem ausgedehnten, vielsagenden Schweigen darauf ein, währenddessen er Alexis mit Augen und Gedanken zu testen schien. Dann machte er jene von Alexis so bewunderte Bewegung, mit der er den Ärmel zurückschob, das Handgelenk ein wenig hob und einen nachdenklichen Blick auf die Armbanduhr warf. Und es erinnerte Alexis wieder einmal daran, dass, während ihm selbst die Zeit nur schleppend verging, Kurtz nie genug davon zu haben schien.

»Köln wird Ihnen außerordentlich dankbar sein, glauben Sie mir«, drängte Alexis ihn. »Mein so tüchtiger Nachfolger - Sie erinnern sich an ihn, Marty? - wird einen enormen persönlichen Triumph für sich verbuchen können. Wenn die Medien mitspielen, wird er zum brillantesten und populärsten Polizeibeamten in der Bundesrepublik. Durchaus zu Recht, ja? Und alles nur durch Sie.«

Kurtz’ breites Lächeln räumte ein, dass es so sei. Er nippte ein wenig an seinem Whisky und fuhr sich mit einem alten khakifarbenen Taschentuch über die Lippen. Dann barg er das Kinn in der Handfläche und stieß einen Seufzer aus, der erkennen ließ, dass er das ja nun eigentlich nicht damit sagen wolle, doch wenn Alexis meine, werde er es tun. »Nun ja, in Jerusalem hat man sich sehr ausgiebig mit dieser Frage beschäftigt, Paul«, gestand er. »Und wir sind uns nicht ganz so sicher, wie Sie es zu sein scheinen, dass Ihr Nachfolger der Typ Mensch ist, für dessen Vorwärtskommen wir uns übermäßig einsetzen würden.« Er tat so, als überlegte er. Was ließe sich denn da nun machen? schien sein Stirnrunzeln zu fragen. »Uns ist vielmehr eingefallen, dass es da ja noch eine Alternative für uns gab, und vielleicht sollten wir es ein wenig mit Ihnen durchgehen, um herauszufinden, wie Sie darauf reagieren. Vielleicht, so haben wir uns gesagt, gibt es ja immer noch die Möglichkeit, dass der gute Dr. Alexis unsere Information für uns nach Köln weitergibt. Rein privat. Inoffiziell und doch offiziell, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aufgrund seines persönlichen Engagements und seiner Umsicht als Verwaltungsbeamter. Das ist eine Frage, mit der wir uns beschäftigt haben. Vielleicht könnten wir an Paul herantreten und ihm sagen: ›Paul, Sie sind ein Freund Israels. Nehmen Sie dies. Verwenden Sie’s. Schlagen Sie etwas für sich dabei heraus. Nehmen Sie es als ein Geschenk von uns, und halten Sie uns da raus. Warum in solchen Fällen immer den falschen Mann die Treppe rauffallen lassen? haben wir uns gefragt. Warum nicht zur Abwechslung mal den richtigen? Warum nicht mit Freunden zusammenarbeiten, wie es unseren Grundsätzen entspricht? Sie vorankommen lassen? Sie für ihre Treue uns gegenüber belohnen?«

Alexis gab vor, nicht zu verstehen. Er war ziemlich rot geworden, und der Ton, in dem er dieses Ansinnen von sich wies, hatte etwas leicht Hysterisches. »Aber, Marty, hören Sie mich an. Mir stehen keine Quellen zur Verfügung. Ich bin nicht mehr im Einsatz, sondern bin Verwaltungsbeamter. Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich den Hörer aufnehmen - ›Hallo, Köln, hier spricht Alexis, ich rate Ihnen, gehen Sie sofort ins Haus Sommer, verhaften Sie die Achmann-Tochter, laden Sie ihre Freunde zum Verhör vor‹? Bin ich denn ein Zauberkünstler - ein Alchimist -, dass ich aus Steinen plötzlich wertvolle Informationen machen kann? Was stellen die sich denn in Jerusalem vor - dass ein Koordinator plötzlich zum Magier wird?« Die Art, wie er sich selbst lächerlich machte, hatte plötzlich etwas Plumpes und zunehmend Unwirkliches. »Soll ich die Festnahme aller bärtigen Motorradfahrer verlangen, die möglicherweise Italiener sind? Die lachen mich doch aus!«

Er wusste nicht mehr weiter, und so half Kurtz ihm. Genau das hatte Alexis auch gewollt, denn er war wie ein Kind, das die Autorität kritisiert, bloß um von ihr in den Arm genommen zu werden.

»Kein Mensch erwartet Festnahmen, Paul. Noch nicht. Zumindest nicht auf unserer Seite. Es erwartet überhaupt niemand greifbare Ereignisse, Jerusalem schon gar nicht.«

»Aber was erwartet ihr denn dann?« wollte Alexis plötzlich barsch wissen.

»Gerechtigkeit«, sagte Kurtz freundlich. Doch sein unbeirrt offenes Lächeln vermittelte eine andere Art von Botschaft. »Gerechtigkeit, ein bisschen Geduld, ein bisschen Nerven, viel schöpferische Phantasie, eine Menge Einfallsreichtum von dem, wer auch immer unser Spiel für uns spielt. Lassen Sie mich etwas fragen, Paul.« Sein großer Kopf kam plötzlich sehr viel näher, und seine kräftige Hand legte sich auf den Unterarm des Doktors. »Nehmen wir mal Folgendes an. Nehmen wir an, ein sehr anonymer und ganz ungewöhnlich verschwiegener Informant - ich sehe einen hochgestellten Araber vor mir, Paul, einen Araber aus der gemäßigten Mitte, der Deutschland liebt, Deutschland bewundert und im Besitz ist von Informationen über gewisse terroristische Aktivitäten, mit denen er nicht einverstanden ist-, nehmen wir mal an, ein solcher Mann hätte vor einiger Zeit den großen Alexis im Fernsehen gesehen. Nehmen wir mal an, er saß eines Abends in seinem Hotelzimmer in Bonn - oder sagen wir: Düsseldorf, egal wo -und drehte, bloß um sich ein bisschen die Zeit zu vertreiben, seinen Fernseher an und sah zufällig den guten Dr. Alexis, einen Juristen und Polizeibeamten, gewiss, aber auch einen Mann mit Humor, flexibel, pragmatisch, einen Humanisten bis in die Fingerspitzen - kurz, einen Mann von Format - ja?« »Gut, nehmen wir mal an«, sagte Alexis, halb taub durch Kurtz’ Stimmgewalt.

»Und dieser Araber, Paul, sah sich veranlasst, an Sie heranzutreten«, nahm Kurtz seinen Faden wieder auf. »Will partout mit niemand anders reden. Vertraut Ihnen impulsiv und weigert sich, etwas mit anderen deutschen Regierungsvertretern zu tun zu haben. Umgeht die Ministerien, die Polizei, den Verfassungsschutz. Schlägt im Telefonbuch nach, ruft Sie zu Hause an. Oder in Ihrem Büro. Wie Sie wollen - die Geschichte gehört Ihnen. Und trifft sich hier in diesem Hotel mit Ihnen. Heute abend. Trinkt ein paar Whiskys mit Ihnen. Lässt Sie bezahlen. Und macht Sie beim Whisky mit gewissen Tatsachen vertraut. Der große Alexis - es darf niemand anderes sein. Könnten Sie darin ein vorteilhaftes Vorgehen für jemand sehen, dem man ungerechterweise die Karriere kaputtgemacht hat?«

Wenn er sich diese Szene später vergegenwärtigte, was Alexis wiederholt im Licht vieler sich widersprechender Stimmungen tun sollte - verwundert, stolz und überwältigt von anarchischem Entsetzen -, betrachtete er die Rede, die jetzt folgte, mehr und mehr als Kurtz’ versteckte vorgezogene Rechtfertigung für das, was er vorhatte.

»Die Leute in der Terrorszene werden heutzutage immer besser«, beklagte er sich missmutig. »›Setzen Sie einen Agenten ein, Schulmann‹ , schreit mich Misha Gavron halb über seinem Schreibtisch hängend an. ›Wird gemacht, General‹ , sag’ ich zu ihm. ›Ich suche einen Agenten für Sie. Bilde ihn aus, helfe ihm, bekannt zu werden, Aufmerksamkeit bei den richtigen Leuten zu erregen, ihn der Gegenpartei schmackhaft zu machen. Ich mach’, was immer Sie verlangen. Und wissen Sie, was die als allererstes tun?‹ sage ich zu ihm. ›Sie verlangen von ihm den Beweis, dass er es ernst meint. Er soll hingehen und den Wächter einer Bank oder einen amerikanischen Soldaten niederknallen. Oder in einem Restaurant eine Bombe legen. Oder bei jemand einen hübschen Koffer abgeben. Ihn in die Luft jagen. Wollen Sie das? Wollen Sie von mir, dass ich das tue, General - einen Agenten einschleusen, mich dann zurücklehnen und zusehen, wie er unsere Leute für den Gegner umbringt?‹ « Wieder bedachte er Alexis mit dem unglücklichen Lächeln von jemand, der ebenfalls auf Gnade und Ungnade unvernünftigen Vorgesetzten ausgeliefert ist. »Terroristische Organisationen befördern keine Reisenden, Paul. Das habe ich Misha auch gesagt. Die haben keine Sekretärinnen, Tippsen, Kodierer oder irgendwelche Leute in ihren Reihen, die normalerweise geeignet wären, als Agenten angeworben zu werden, ohne gleich in der vordersten Linie zu stehen. Um bei ihnen einzudringen, bedarf es besonderer Methoden. ›Wenn Sie heutzutage die terroristischen Ziele hochgehen lassen wollen‹ , habe ich ihm gesagt, ›müssen Sie praktisch vorher ihren eigenen Terroristen aufbauen.‹ Hört er auf mich?«

Alexis konnte nicht länger verhehlen, wie fasziniert er war. Er lehnte sich ganz vor, und in seinen Augen leuchtete der gefährliche Schimmer seiner Frage. »Und haben Sie das getan, Marty?« flüsterte er. »Hier in Deutschland?«

Wie so oft, antwortete Kurtz nicht direkt, und seine slawischen Augen schienen hinter Alexis schon auf das nächste Ziel auf seiner verschlungenen und einsamen Straße gerichtet.

»Nehmen Sie mal an, ich melde Ihnen einen Zwischenfall, Paul«, schlug er in einem Ton vor, als sei das nur eine ganz vage Möglichkeit unter vielen, die sich seinem nie um einen Einfall verlegenen Kopf anboten. »Und zwar einen, der sich in etwa vier Tagen ereignen dürfte.«

Das Konzert des Barkeepers war zu Ende, und er schloss geräuschvoll die Bar, um anzudeuten, dass er demnächst ins Bett zu gehen gedenke. Auf Kurtz’s Vorschlag hin gingen sie in die Hotelhalle und steckten dort die Köpfe zusammen wie zwei Passagiere auf einem windumtosten Deck. Zweimal blickte Kurtz im Laufe ihrer Unterhaltung auf die Uhr und entschuldigte sich eilig, um einen Anruf zu tätigen; als Alexis diesen Anrufen später aus müßiger Neugier nachging, stellte er fest, dass Kurtz einmal zwölf Minuten lang mit einem Hotel in Delphi, Griechenland, gesprochen und bar bezahlt hatte, das andere Mal mit einer Nummer in Jerusalem, die nicht mehr festzustellen war. Um drei Uhr oder noch später tauchten ein paar orientalisch aussehende Gastarbeiter in zerschlissenen Overalls auf und rollten einen großen grünen Staubsauger vorüber, der an ein Krupp-Geschütz erinnerte. Doch Kurtz und Alexis redeten trotz des Lärms weiter, und es war schon ziemlich hell, als die beiden Männer endlich das Hotel verließen und ihren Handel mit einem Händedruck besiegelten. Kurtz freilich war bemüht, seiner jüngsten Anwerbung nicht allzu überschwenglich zu danken, denn Alexis - das wusste Kurtz sehr wohl - war jemand, den man sich durch zuviel Dankbarkeit entfremden konnte.

Der wiedergeborene Alexis eilte heim, und nachdem er sich rasiert, umgezogen und lange genug herumgetrödelt hatte, um seine junge Frau mit seiner hochgeheimen Aufgabe zu beeindrucken, traf er mit einem Ausdruck mysteriöser Zufriedenheit, wie man ihn schon lange nicht mehr auf seinem Gesicht gesehen hatte, in seinem Büro aus Glas und Beton ein. Seinen Mitarbeitern fiel auf, dass er aufgeräumt Spaße machte und sogar ein paar riskante Bemerkungen über seine Kollegen wagte. Ganz der alte Alexis, sagten sie; er zeigt sogar Ansätze von Humor, obwohl das nie seine Stärke gewesen war. Er verlangte nach neutralem Schreibpapier und machte sich daran, wobei er sogar seine Sekretärin ausschloss, einen langen und bewusst dunkel gehaltenen Bericht an seine Vorgesetzten zu verfassen; eine »mir aus meiner früheren Tätigkeit her bekannte, hochstehende orientalische Quelle« sei an ihn herangetreten, und er könne eine ganze Menge brandneuer Informationen über den Godesberger Anschlag beifügen - obwohl diese bis jetzt nur ausreichten, die Zuverlässigkeit des Informanten und damit auch die seines Vertrauensmannes, des guten Doktors, zu bestätigen. Er verlangte gewisse Vollmachten, die Benutzung bestimmter Einrichtungen sowie die Bereitstellung eines Einsatzfonds, über den er nach Gutdünken verfügen dürfe. Er war kein besonders habgieriger Mensch, aber es stimmte, dass seine Wiederverheiratung kostspielig und seine Scheidung ruinös gewesen war. Aber er hatte erkannt, dass in dieser materialistischen Zeit die Menschen das am meisten schätzten, was sie am meisten kostete.

Schließlich machte er dann eine quälende Voraussage, die Kurtz ihm Wort für Wort diktiert und sich hinterher noch einmal genau hatte vorlesen lassen. Sie war so ungenau, dass sie praktisch unbrauchbar war, wiederum aber auch so genau, dass sie einem den Schrecken in die Glieder fahren lassen konnte, wenn sie sich erfüllte. Unbestätigten Berichten zufolge hätten islamisch-türkische Extremisten in Istanbul zum Zwecke antizionistischer Aktivitäten in West-Europa eine große Ladung Sprengstoff bereitgestellt. Für die nächsten Tage sei ein neuer Anschlag zu befürchten. Gerüchte ließen auf ein Ziel in Süddeutschland schließen. Sämtliche Grenzübergänge sowie die bayerische Polizei seien in erhöhte Alarmbereitschaft zu setzen. Weitere Einzelheiten seien noch nicht bekannt. Noch am Nachmittag desselben Tages wurde Alexis zu seinen Vorgesetzten zitiert, und in der Nacht führte er ein sehr langes, geheimes Telefongespräch mit seinem großen Freund Schulmann, um sich von ihm beglückwünschen und ermuntern zu lassen, aber auch neue Instruktionen entgegenzunehmen.

»Sie beißen an, Marty!« rief er aufgeregt auf Englisch. »Sie sind ja solche Schafsköpfe. Wir haben sie vollkommen in der Hand.«

Alexis hat angebissen, unterrichtete Kurtz Litvak in München, aber wir müssen höllisch auf ihn aufpassen und jeden seiner Schritte lenken. »Warum beeilt Gadi sich nicht mit dem Mädchen?« brummte er und warf verdrossen einen Blick auf seine Uhr.

»Weil er inzwischen was gegen ‘s Töten hat!« rief Litvak mit einem Frohlocken in der Stimme, das er nicht zurückhalten konnte. »Glauben Sie etwa, ich spür’ das nicht? Glauben Sie, ich tu’s nicht?« Kurtz sagte ihm, er solle den Mund halten.


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