5

Brutus sah sich nach ihren Verfolgern um und atmete tief die frische Bergluft ein. Unter ihnen lag Griechenland ausgebreitet da. Der Duft der winzigen violetten Blüten, die auf den sanften Hügeln blühten, lag im Wind. Es schien unpassend, hier über Tod und Rache nachzusinnen. Trotzdem folgte ihnen ein Trupp Reiter mit mindestens einem guten Fährtenleser, genau wie Renius es vorausgesagt hatte. Obwohl sie etliche Male versucht hatten, ihre Verfolger abzuschütteln, waren sie ihnen seit fünf Tagen beharrlich auf den Fersen.

Renius saß auf einem bemoosten Felsen neben ihm und rieb sich wie jeden Morgen den vernarbten Armstumpf mit Fett ein. Jedes Mal, wenn er das sah, hatte Brutus ein schlechtes Gewissen. Es erinnerte ihn an den Kampf, damals im Hof von Julius’ Landgut. Er glaubte beinahe, sich sogar an den Schlag zu erinnern, der die Nerven des Armes durchtrennt hatte, doch es hatte keinen Sinn, sich das nach so langer Zeit immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Der Stumpf hatte mit der Zeit eine rosafarbene Hornhaut gebildet, doch es entstanden trotzdem hin und wieder offene Stellen, die gesalbt werden mussten. Renius empfand es immer als Wohltat, wenn er die lederne Schutzkappe abnehmen konnte und Luft an die Haut kam. Andererseits hasste er die neugierigen Blicke, die das nach sich zog, und stülpte, wenn irgend möglich, die Kappe sofort wieder über den Stumpf.

»Sie kommen näher«, sagte Brutus. Er musste dies nicht weiter ausführen, denn seit sie die fünf Männer zum ersten Mal bemerkt hatten, waren sie stets in ihren Gedanken gewesen.

Die sonnengeschmiedete Schönheit der Berge verbarg die Kargheit des Bodens, der nur wenige Bauern anzog. Das einzige Lebenszeichen waren die kleinen Gestalten der Verfolger, die langsam den Hang heraufkamen. Brutus wusste, dass sie ihren Vorsprung vor den Pferden nicht mehr sehr lange halten würden. Sobald sie die Ebene erreicht hatten, würden die Römer gestellt und getötet werden. Sie waren beide schon ziemlich erschöpft und hatten die letzten Reste Dörrobst und Trockenfleisch am Morgen verzehrt.

Er betrachtete die zähe Vegetation, die auf dem zerklüfteten Fels ums Überleben kämpfte, und fragte sich, ob einige dieser Pflanzen essbar waren. Er hatte von Soldaten gehört, die Grillen gegessen hatten, die sich überall auf den Grasbüscheln tummelten. Doch das lohnte sich wohl nicht, weil man sie nur einzeln fangen konnte. Ohne Verpflegung konnten sie keinen Tag mehr weitergehen, und auch ihre Wasserschläuche waren nicht einmal mehr halb voll. Brutus hatte immer noch einige Goldstücke in seinem Gürtel, aber die nächste römische Stadt lag mehr als hundert Meilen entfernt in der Ebene von Thessalien. Das würden sie niemals schaffen. Wenn Renius nicht einen rettenden Einfall hatte, sah ihre Zukunft trübe aus. Doch der alte Gladiator blieb stumm. Er schien es zufrieden, eine Stunde ihrer kostbaren Zeit darauf zu verwenden, seinen Armstumpf einzureiben. Soeben pflückte er eine der dunklen Blumen und presste ihren Saft auf den haarigen Stummel, der von seiner Schulter hing. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle möglichen Pflanzen auf ihre heilende Wirkung hin auszuprobieren. Doch wie immer schnaubte er enttäuscht und ließ die zerdrückten Blütenblätter aus der gesunden Hand zu Boden fallen.

Mit einem Mal machte Renius’ gelassener Gesichtsausdruck Brutus wütend. Hätten sie Pferde gehabt, wären die Verfolger aus dem Dorf ihnen niemals so nahe gekommen. Renius war kein Mann, der einmal getroffenen Entscheidungen nachtrauerte, aber jeder Schritt, der die Verfolger den erschöpften Römern näher brachte, ließ Brutus ärgerlich knurren.

»Wie kannst du nur so ruhig dasitzen, während sie zu uns heraufkommen? Der unsterbliche Renius, Sieger in Hunderten von Kämpfen auf Leben und Tod, von ein paar zerlumpten Griechen auf einem Hügel in Stücke gehauen.«

Renius sah ihn ungerührt an und zuckte mit den Schultern. »Der Abhang macht ihren Vorteil zunichte. Hier oben nützen einem Pferde nicht sehr viel.«

»Dann stellen wir uns ihnen also?«, wollte Brutus wissen, erleichtert darüber, dass Renius so etwas wie einen Plan zu haben schien.

»Es dauert noch Stunden, bis sie hier sind. Wenn ich du wäre, würde ich mich in den Schatten setzen und ausruhen. Vielleicht beruhigt es deine Nerven, wenn du dabei mein Schwert ein bisschen schärfst.«

Brutus sah ihn missmutig an, packte dann aber doch das Schwert des älteren Mannes und fing an, einen Stein in langen Strichen über die Klinge zu ziehen.

»Aber denk daran, es sind fünf«, sagte er nach einer Weile.

Renius ignorierte ihn und zog mit einem Ächzen die Lederkappe über seinen Stumpf. Mit den Zähnen hielt er ein Ende der Befestigungsriemen straff und verknotete sie mit geübter Geschicklichkeit.

»Neunundachtzig«, sagte er plötzlich unvermittelt.

»Was?«

»Ich habe in der Arena in Rom nur neunundachtzig Männer getötet. Nicht hundert.«

Geschmeidig kam er auf die Beine. Seine gelenkigen Bewegungen verrieten nichts von seinem tatsächlichen Alter. Es hatte lange gedauert, bis sein Körper ohne das Gewicht des rechten Armes zuverlässig sein Gleichgewicht gefunden hatte. Doch er hatte auch diesen Verlust gemeistert, so wie alles andere, was ihm sein Leben an Schwierigkeiten in den Weg gelegt hatte. Brutus erinnerte sich, wie Cabera seine Hand auf Renius’ aschfahle Brust gedrückt hatte, und wie sich Renius’ Körper plötzlich aufgebäumt hatte und das Leben wieder in ihn zurückgekehrt war. Cabera hatte sich schweigend niedergekniet, und sie hatten zugesehen, wie das Haar des alten Mannes wieder dunkel geworden war, gerade so, als habe selbst der Tod keine Chance gegen ihn. Die Götter hatten den alten Gladiator gerettet, so dass er im Gegenzug vielleicht nun einen jungen Römer auf einem Hügel in Griechenland retten konnte. Brutus verspürte neue Zuversicht und vergaß den Hunger und die Erschöpfung, die ihn quälten.

»Heute sind es nur fünf«, sagte er. »Und von meiner Generation bin ich der Beste, das weißt du. Es gibt zurzeit keinen, der mich mit dem Schwert besiegen könnte.«

Bei diesen Worten schnaubte Renius verächtlich. »Ich war der Beste meiner Generation, mein Junge. Und soweit ich das beurteilen kann, ist der Standard seitdem ein wenig gesunken. Aber wir könnten ihnen trotzdem noch eine Überraschung bereiten.«

Cornelia stöhnte gequält, als die Hebamme ihr die Oberschenkel mit goldgelbem Olivenöl einrieb, um die Muskeln zu entkrampfen. Clodia reichte ihr einen Becher mit warmer Milch und Honigwein, und sie schluckte den Inhalt hinunter, ohne richtig zu schmecken, was sie trank. Sie hielt den Becher wieder hin, weil sie noch immer durstig war, doch schon kündigte sich die nächste Wehe an. Sie erschauerte und schrie laut auf.

Die Hebamme rieb sie weiter mit ausholenden Bewegungen ein und tauchte das weiche Wolltuch immer wieder in die Ölschale.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte sie beruhigend. »Du hältst dich tapfer. Die Honigmilch hilft gegen die Schmerzen, aber zur Geburt müssen wir dann zum Stuhl hinübergehen. Clodia, hol noch mehr Tücher, und einen Schwamm für den Fall, dass es blutet. Aber das dürfte eigentlich nicht geschehen. Du bist sehr stark und deine Hüften haben die richtige Breite für diese Aufgabe.«

Cornelia konnte als Antwort nur stöhnen. Sie keuchte hastig, als die Wehe ihre volle Stärke erreicht hatte. Dann biss sie die Zähne zusammen, klammerte sich an die Seiten des harten Bettes und drückte ihr Becken nach unten. Die Hebamme schüttelte missbilligend den Kopf.

»Fang noch nicht an zu pressen, Liebes. Das Kind überlegt noch, ob es rauskommen will. Es hat sich erst in die richtige Stellung gedreht und muss sich ein wenig ausruhen. Ich sage dir schon, wann du anfangen kannst, sie herauszupressen.«

»Sie?«, stieß Cornelia zwischen zwei stoßweisen Atemzügen hervor.

Die Hebamme nickte. »Jungen sind bei der Geburt immer einfacher. Nur Mädchen brauchen so lange wie dieses Kind hier.« Sie bedankte sich bei Clodia, die den Schwamm und die Tücher für die Entbindung neben dem hölzernen Geburtsstuhl bereitlegte.

Clodia nahm Cornelias Hand und streichelte sie sanft. Eine Tür öffnete sich leise und Aurelia trat ein. Sie kam rasch auf das Bett zu und umfasste Cornelias andere Hand mit festem Griff. Clodia betrachtete sie verstohlen. Tubruk hatte ihr alles über die Probleme dieser Frau erzählt, damit sie mit eventuellen Schwierigkeiten umgehen konnte. Doch Aurelias Aufmerksamkeit schien ganz auf Cornelia gerichtet, die hier in den Wehen lag. Und es war richtig, dass sie bei der Geburt ihres Enkelkindes dabei war. Tubruk war fort, um sich um die Angelegenheit zu kümmern, die sie miteinander besprochen hatten. Also war es an Clodia, Aurelia hinauszuführen, falls sie vor dem Ende der Geburt einen Anfall erlitt. Keiner ihrer eigenen Bediensteten würde das wagen, doch es war keine Aufgabe, auf die sich Clodia besonders freute, und so sandte sie ein Stoßgebet an die Hausgötter, sie ihr möglichst zu ersparen.

»Wir glauben, dass es eine Tochter wird«, sagte sie zu Julius’ Mutter, als diese ihren Platz auf der anderen Seite des Bettes einnahm.

Aurelia antwortete nicht. Clodia fragte sich, ob ihre Steifheit daher rührte, dass sie die Dame des Hauses war und Clodia nur eine Sklavin, aber dann verwarf sie diesen Gedanken. Die Regeln waren während einer Entbindung ohnehin gelockert, und Tubruk hatte ihr ja gesagt, dass Aurelia sich schon mit kleinen Dingen schwer tat, die für andere selbstverständlich waren.

Cornelia schrie auf und die Hebamme nickte knapp.

»Jetzt ist es so weit«, sagte sie und drehte sich zu Aurelia um. »Fühlst du dich in der Lage, uns zu helfen, meine Liebe?«

Als keine Antwort kam, wiederholte die Hebamme ihre Frage ein wenig lauter. Aurelia schien aus einem Dämmerzustand zu erwachen.

»Ich möchte gerne helfen«, sagte sie leise, und die Hebamme musterte sie eindringlich. Dann zuckte sie die Schultern.

»In Ordnung. Aber es kann Stunden dauern. Wenn es dir zu viel ist, schicke uns lieber ein starkes junges Mädchen an deiner Stelle. Hast du mich verstanden?«

Aurelia nickte. Ihre Aufmerksamkeit war schon wieder auf Cornelia gerichtet, und sie versuchte nach Kräften dabei mitzuhelfen, Cornelia zum Stuhl hinüberzuführen.

Auch Clodia hob an und wunderte sich über die Zuversicht der Hebamme. Sie war natürlich eine Freigekaufte, deren Tage der Sklaverei schon lange hinter ihr lagen, doch in ihrem Verhalten lag keine Spur von Ehrerbietung. Clodia mochte sie gern und beschloss, genauso stark zu sein wie sie, wenn es nötig sein sollte.

Der Gebärstuhl war solide gebaut und vor ein paar Tagen zusammen mit der Hebamme auf einem Karren herbeigeschafft worden. Mit vereinten Kräften führten die Frauen Cornelia zu dem Stuhl, der nicht weit entfernt vom Bett aufgestellt worden war. Cornelia umklammerte die Armlehnen und ließ ihr ganzes Gewicht auf die schmale Rundung der Sitzfläche fallen. Die Hebamme kniete sich vor sie hin und drängte über dem halbrunden Ausschnitt im alten Holz des Stuhles sanft ihre Beine auseinander.

»Drück den Rücken ganz fest gegen die Lehne«, riet sie Cornelia und drehte sich zu Clodia um. »Achte darauf, dass der Stuhl nicht nach hinten umkippt. Sobald das Köpfchen zu sehen ist, habe ich etwas anderes für dich zu tun. Aber im Moment ist das deine Aufgabe, verstanden?«

Clodia stellte sich hinter den Stuhl und stemmte die Hüfte gegen die Rückenlehne.

»Aurelia, wenn ich es sage, drückst du auf dem Bauch nach unten. Aber nicht vorher, ist das klar?«

Mit wachen Augen legte Aurelia die Hände auf die Wölbung des Bauches und wartete geduldig.

»Es geht wieder los«, jammerte Cornelia.

»So soll es auch sein, mein Mädchen. Das Kind will jetzt heraus. Warte, bis die Wehe richtig da ist, und fang erst an zu pressen, wenn ich es dir sage.« Ihre Hände verrieben noch mehr Öl auf Cornelias Haut, und sie lächelte aufmunternd.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange. Bist du bereit? Jetzt pressen, Mädchen! Aurelia, vorsichtig nach unten drücken!«

Sie pressten gemeinsam, und Cornelia schrie vor Schmerzen auf. Wieder und wieder pressten sie und ließen wieder los, bis die Wehe verschwunden war. Cornelia war von Schweißüberströmt, ihr Haar glänzte dunkel und nass.

»Der Kopf ist immer das Schwerste«, sagte die Hebamme. »Du machst das sehr gut, mein Kind. Viele Frauen schreien die ganze Zeit über. Clodia, ich möchte, dass du ihr während der Wehen ein Tuch ans Gesäß hältst. Sie würde es uns nicht danken, wenn da am Ende ein paar Trauben hingen.«

Clodia tat wie ihr geheißen, griff zwischen der Stuhllehne und Cornelia nach unten und hielt das Tuch an die besagte Stelle.

»Jetzt hast du es bald geschafft, Cornelia«, sagte sie tröstend.

Cornelia brachte ein schwaches Lächeln zustande. Dann aber kam schon die nächste Wehe. Die Stärke der Muskelkontraktionen war Furcht erregend. So etwas hatte sie noch nie erlebt, und sie kam sich fast vor wie eine Zuschauerin in ihrem eigenen Körper, der sich mit ungeahnten Kräften in seinem eigenen Rhythmus bewegte. Sie fühlte, wie sich der Druck weiter und weiter aufbaute und dann plötzlich wieder nachließ. Erschöpft fiel sie zurück.

»Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie.

»Ich habe schon den Kopf, Liebes. Der Rest ist jetzt einfacher«, erwiderte die Hebamme ruhig und aufmunternd. Aurelia strich mit den Händen über die Wölbung und beugte sich über den Stuhl, um zwischen Cornelias zuckende Beine zu schauen.

Die Hebamme hielt den Kopf des Kindes in den Händen, die sie zuvor mit grobem Stoff umwickelt hatte, damit sie nicht abrutschten. Die Augen des Kindes waren noch geschlossen und der Kopf sah irgendwie unförmig verzogen aus, doch die Hebamme schien unbesorgt, und nun glitt auch der restliche Körper in ihre Hände. Cornelia sackte erschöpft im Stuhl zusammen. Ihre Beine fühlten sich an wie Wasser. Sie atmete unregelmäßig und stoßweise und konnte nur dankbar nicken, als ihr Aurelia die Stirn mit einem kühlen Lappen abwischte.

»Wir haben ein Mädchen!«, sagte die Hebamme fröhlich, während sie ein kleines scharfes Messer an die Nabelschnur setzte. »Gut gemacht, meine Damen! Clodia, hol mir eine glühende Kohle, damit ich das hier veröden kann.«

»Wirst du sie denn nicht abbinden?«, fragte Clodia im Aufstehen.

Die Hebamme schüttelte den Kopf und wischte mit den Händen Blut und Schleim von dem Baby. »Veröden ist sauberer. Beeil dich, mir tun die Knie weh.«

Mit einem erschöpften Aufschrei presste Cornelia in einer letzten Kontraktion einen glitschigen Klumpen dunkles Fleisch heraus. Die Hebamme gab Aurelia ein Zeichen, ihn zu entfernen. Ohne sich Gedanken zu machen, kümmerte sich Julius’ Mutter um die Nachgeburt; sie hatte sich schon an die Autorität der anderen Frau gewöhnt. Als ihr langsam bewusst wurde, was soeben geschehen war, empfand sie ein ungewohntes Gefühl der Glückseligkeit. Sie hatte eine Enkelin. Aurelia blickte verstohlen auf ihre Hände und atmete erleichtert auf, weil keine Spur von dem Zittern zu sehen war.

Ein Schrei zerriss die Luft, und alle Frauen lächelten erleichtert. Die Hebamme untersuchte mit geübten Griffen die Gliedmaßen des Kindes.

»Alles in Ordnung. Sie ist noch ein bisschen blau, aber sie wird ja schon rosig. Sie bekommt genauso helles Haar wie ihre Mutter, es sei denn, es dunkelt noch nach. Ein wunderschönes Kind. Sind die Wickeltücher bereit?«

Aurelia reichte ihr gerade die Tücher, als Clodia mit einem kleinen Stück glühender Kohle, das sie mit einer eisernen Zange vor sich hertrug, wieder den Raum betrat. Die Hebamme presste die Kohle auf den winzigen Stummel der Nabelschnur, und es zischte kurz. Das Baby schrie erneut kräftig, doch sie wickelte es bereits fest in die sauberen Tücher. Nur den Kopf ließ sie frei.

»Hast du dir schon einen Namen für sie überlegt?«, fragte sie Cornelia.

»Wenn es ein Junge gewesen wäre, hätte ich ihm den Namen seines Vaters gegeben – Julius. Ich dachte immer… sie würde ein Junge werden.«

Die Hebamme stand mit dem Kind in den Armen da und sah, wie blass und erschöpft Cornelia immer noch war.

»Du hast noch genug Zeit, um über einen Namen nachzudenken. Meine Damen, helft Cornelia aufs Bett, damit sie sich ausruhen kann. Ich räume derweil meine Sachen zusammen.«

Selbst hier oben im Geburtszimmer hörte man plötzlich das dumpfe Dröhnen, mit dem draußen eine Faust gegen das Tor des Anwesens donnerte. Aurelia hob den Kopf und richtete sich auf.

»Normalerweise öffnet Tubruk den Besuchern das Tor, aber er hat uns ja verlassen«, sagte sie gedehnt.

»Nur für ein paar Wochen, Herrin«, versicherte Clodia rasch und ein wenig schuldbewusst. »Länger dauern seine Geschäfte in der Stadt nicht, hat er gesagt.«

Aurelia schien ihre Antwort gar nicht gehört zu haben. Sie ging aus dem Zimmer und dann langsam hinaus in den Hof. Das helle Sonnenlicht blendete sie, weil sie sich so lange nur in geschlossenen Räumen aufgehalten hatte. Zwei ihrer Bediensteten warteten geduldig am Tor. Sie wussten sehr wohl, dass sie das Tor auf keinen Fall ohne ihre Zustimmung öffnen durften, egal, wer davor stand. Tubruk hatte diese Regel schon vor Jahren, in den Zeiten der Aufstände, eingeführt. Er schien sich zwar um die Sicherheit des Hauses zu sorgen, aber jetzt hatte er sie doch alleine gelassen, obwohl er versprochen hatte, das niemals zu tun. Sie setzte eine gefasste Miene auf und bemerkte dabei einen kleinen Blutstropfen auf ihrem Ärmel. Ihre rechte Hand zitterte leicht, und sie hielt sie mit der anderen fest, um den drohenden Anfall niederzukämpfen.

»Öffnet das Tor!«, hörte man eine Männerstimme von draußen, und seine Faust schlug abermals ungeduldig gegen das Holztor.

Auf ein Zeichen Aurelias hin nahmen die Bediensteten den Querbalken weg und zogen das Tor für den Besucher auf. Aurelia sah, dass die beiden Sklaven bewaffnet waren. Noch eine von Tubruks Vorsichtsmaßnahmen.

Drei Soldaten, in glänzender Rüstung und mit Federschmuck am Helm, ritten in den Hof. Sie sahen aus, als wären sie für eine Parade gekleidet, und ihr Anblick jagte Aurelia einen Schauer über den Rücken.

Warum war Tubruk nicht hier? Er würde eine solche Situation so viel besser meistern als sie.

Selbstsicher und mit geschmeidigen Bewegungen stieg einer der Männer vom Pferd. In der einen Hand hielt er die Zügel und mit der anderen reichte er Aurelia ein dick mit Wachs versiegeltes Pergament. Sie nahm die Rolle entgegen und sah ihn abwartend an. Der Soldat scharrte unruhig mit den Füßen, als ihm klar wurde, dass Aurelia nichts sagen würde.

»Befehle, Herrin. Von unserem Herrn, dem Diktator von Rom.«

Noch immer sagte Aurelia kein Wort. Ihre eine Hand umklammerte die andere, die die Schriftrolle hielt. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor.

»Deine Schwiegertochter befindet sich hier, und Sulla ordnet ihr sofortiges Erscheinen vor ihm in der Stadt an«, fuhr der Mann fort, dem allmählich dämmerte, dass sie die Rolle, die Sullas Befehle mit seinem persönlichen Siegel bestätigten, vielleicht gar nicht öffnen würde.

Als sich ihr inneres Zittern einen Moment beruhigte, fand Aurelia ihre Stimme wieder.

»Sie hat gerade ihr Kind zur Welt gebracht. Sie ist nicht reisefähig. Komm in drei Tagen wieder, ich sorge dafür, dass du sie dann mitnehmen kannst.«

Die Züge des Soldaten verhärteten sich ein wenig, seine Ungeduld wurde offensichtlich. Was bildete sich diese Frau eigentlich ein?

»Herrin, sie wird jetzt reisefertig sein. Sulla hat sie in die Stadt beordert, also hat sie sich, ob sie will oder nicht, sofort auf den Weg zu machen. Ich warte hier draußen auf sie, aber ich erwarte, dass sie in ein paar Minuten fertig ist. Zwing uns nicht, hineinzukommen und sie zu holen.«

Aurelia wurde ein wenig blass.

»W… was ist mit dem Kind?«

Der Soldat kniff die Augen zusammen und überlegte. In seinen Befehlen war kein Kind erwähnt worden, andererseits machte man keine Karriere, indem man den Diktator von Rom enttäuschte.

»Das Kind auch. Macht beide fertig.« Sein Gesicht entspannte sich wieder ein wenig. Schließlich schadete es niemandem, wenn er etwas netter war, und die Frau sah plötzlich sehr verletzlich aus. »Wenn du einen Karren und Zugpferde hast, die du schnell anschirren kannst, können sie damit fahren.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Aurelia um und verschwand im Haus. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah der Soldat seine beiden Begleiter an.

»Ich habe euch ja gesagt, es ist ganz einfach. Ich frage mich nur, was er mit der Frau vorhat.«

»Kommt drauf an, wer der Vater ist, würde ich mal sagen«, erwiderte einer der beiden und zwinkerte anzüglich.

Tubruk saß steif auf dem Stuhl und nahm den ihm angebotenen Wein mit einem dankbaren Nicken entgegen. Der Mann, dem er gegenübersaß, war in seinem Alter und seit fast dreißig Jahren sein Freund.

»Manchmal kann ich immer noch nicht so recht glauben, dass ich nicht mehr der junge Mann bin, der ich einmal war«, meinte Fercus und lächelte wehmütig. »Früher hingen überall im Haus Spiegel, aber jedes Mal, wenn ich an einem vorbeikam, hat mir der alte Mann, der mich daraus ansah, einen Schrecken eingejagt. Aber der Geist ist immer noch ziemlich wach, auch wenn der Körper allmählich verfällt.«

»Das hoffe ich doch sehr, denn so alt bist du nun auch wieder nicht«, entgegnete Tubruk. Er versuchte sich zu entspannen und die Gesellschaft seines Freundes zu genießen, so wie er es über die Jahre hinweg immer wieder getan hatte.

»Meinst du nicht? Viele von denen, die wir früher gekannt haben, sind von uns gegangen und machen mittlerweile Ärger im Schattenreich. Rapas ist einfach so von einer Krankheit dahingerafft worden, dabei war er der stärkste Mann, dem ich jemals begegnet bin. Man sagt, sein Sohn habe ihn sich kurz vor seinem Ende einfach über die Schulter legen können, um ihn in die Sonne hinauszutragen. Kannst du dir vorstellen, wie sich jemand diesen gewaltigen Ochsen einfach so über die Schulter wirft? Selbst wenn es sein eigener Sohn ist! Es ist furchtbar, alt zu werden.«

»Du hast doch Ilita und deine Töchter. Oder hat sie dich mittlerweile verlassen?«, brummte Tubruk.

Fercus schnaubte in seinen Wein. »Noch nicht, aber sie droht noch immer jedes Jahr damit. Mal ehrlich, dir würde ein gutes, dralles Weib auch ganz gut tun. Die halten das Alter ganz gut von einem fern, weißt du? Und nachts wärmen sie dir auch noch die Füße.«

»Ich bin viel zu festgefahren für eine neue Liebe«, erwiderte Tubruk. »Und wo sollte ich auch eine Frau finden, die gewillt ist, es mit mir auszuhalten? Nein, ich habe auf dem Gut eine Art Familie gefunden. Eine andere kann ich mir nicht vorstellen.«

Fercus nickte, aber seinen Augen entging nichts von der Anspannung, die das Gesicht des alten Gladiators zeichnete. Er wartete geduldig, bis Tubruk bereit war, auf den Grund für seinen unerwarteten Besuch zu sprechen zu kommen. Er kannte diesen Mann gut genug, um ihn nicht zu drängen, und er war gewillt, ihm zu helfen, so gut er konnte. Obwohl er ihm viel schuldete, war es nicht nur eine Frage von Schuld. Es war mehr die Tatsache, dass er Tubruk respektierte und gern hatte. In Tubruk gab es nichts Bösartiges, und er hatte Stärken vorzuweisen, die Fercus noch in kaum einem anderen hatte entdecken können.

Im Geiste überschlug er bereits seine Besitztümer und sein verfügbares Gold. Falls es um Geld ging, so hatte es sicherlich schon bessere Zeitpunkte gegeben als gerade diesen. Aber er verfügte über einige Reserven, dazu etliche Außenstände, die er zur Not abrufen konnte.

»Wie laufen deine Geschäfte?«, erkundigte sich Tubruk, ohne zu ahnen, dass er Fercus’ Gedanken erraten hatte.

Fercus zuckte die Achseln, hielt jedoch eine vorschnelle Antwort gerade noch rechtzeitig zurück.

»Ich habe ein paar Rücklagen«, antwortete er. »Du weißt ja, dass man in Rom immer Sklaven braucht.«

Unverwandt sah Tubruk den Mann an, der ihn damals verkauft hatte, damit er für den Kampf vor Tausenden von Menschen ausgebildet wurde. Selbst damals, als er noch ein gehetzter, junger Sklave war, der nichts von der Welt oder der ihm bevorstehenden Ausbildung wusste, hatte er erkannt, dass Fercus niemals grausam gegen die Sklaven war, die er verkaufte. Tubruk erinnerte sich noch sehr gut an die schreckliche Nacht, bevor er ins Ausbildungslager gebracht werden sollte. Er war verzweifelt gewesen und hatte über Mittel und Wege nachgedacht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Fercus war auf seiner Runde bei ihm stehen geblieben und hatte ihm gesagt, dass er sich eines Tages, wenn er Herz und Stärke besäße, freikaufen könnte, und dass dann immer noch ein Großteil seines Lebens vor ihm liegen würde.

»An diesem Tag komme ich zurück und töte dich«, hatte Tubruk zu dem anderen Mann gesagt.

Fercus hatte ihn lange und eindringlich angesehen, bevor er antwortete. »Das hoffe ich nicht«, hatte er dann gesagt. »Ich hoffe, dass du mich darum bittest, einen Becher Wein mit dir zu leeren.«

Der jüngere Tubruk hatte damals keine passende Antwort darauf gewusst, später jedoch waren diese Worte stets ein Trost für ihn gewesen. Allein der Gedanke daran, eines Tages sein eigener Herr zu sein, der die Freiheit besaß, in der Sonne zu sitzen und zu trinken, hatte ihm geholfen. An dem Tag, an dem er schließlich ein freier Mann geworden war, war er durch die ganze Stadt zu Fercus’ Haus gelaufen und hatte eine Amphore auf den Tisch gestellt. Fercus hatte zwei Becher daneben gesetzt, und so hatte ihre Freundschaft ohne jede Bitterkeit begonnen.

Wenn es außerhalb des Gutes überhaupt jemanden gab, dem er trauen konnte, dann war es Fercus. Doch er schwieg immer noch und ging im Geiste den Plan noch einmal durch, an dem er schmiedete, seit Clodia mit ihm gesprochen hatte. Gewiss gab es doch eine andere Möglichkeit. Nur mit großem Unbehagen folgte er der Richtung, die seine Überlegungen vorgaben. Aber er war bereit zu sterben, um Cornelia zu schützen, also konnte er auch genauso gut diesen Plan verfolgen.

Fercus stand auf und ergriff Tubruks Arm.

»Etwas bedrückt dich, mein alter Freund. Was auch immer es ist, frag mich.«

Als Tubruk zu ihm aufschaute, sah er ihn mit festem Blick an, in dem ihre gesamte Vergangenheit offen vor ihnen lag.

»Kann ich dir mein Leben anvertrauen?«, fragte Tubruk unvermittelt.

Anstelle einer Antwort packte Fercus seinen Arm fester, dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl.

»Das brauchst du nicht zu fragen. Meine Tochter lag schon fast im Sterben, bis du eine Hebamme aufgetrieben hast, die sie gerettet hat. Und wenn du damals nicht die Diebe abgewehrt hättest, wäre ich jetzt selbst tot. Ich schulde dir so viel, dass ich schon geglaubt habe, ich würde nie die Gelegenheit bekommen, dir etwas davon zu vergelten. Frage mich.«

Tubruk holte tief Luft.

»Ich will, dass du mich wieder als Sklave verkaufst. Als Sklave in Sullas Haus«, sagte er leise.

Julius spürte kaum Caberas Hand, die seine Augenlider hob. Die Welt um ihn herum war abwechselnd hell und dunkel, und sein Kopf war von einem roten Schmerz erfüllt. Er hörte Caberas Stimme von weit her und verfluchte sie innerlich, weil sie die dunkle Stille störte.

»Seine Augen stehen falsch«, sagte jemand. War das Gaditicus? Der Name bedeutete ihm nichts, doch die Stimme kannte er. War sein Vater hier? Eine vage Erinnerung daran, wie er auf dem Gut im Dunkeln gelegen hatte, stieg in ihm auf und vermischte sich mit seinen Gedanken. Lag er immer noch im Bett, nachdem Renius ihn verwundet hatte? Standen seine Freunde draußen auf den Mauern und schlugen den Sklavenaufstand zurück ohne ihn? Er bewegte sich unruhig und spürte Hände, die ihn niederhielten. Er versuchte zu sprechen, aber seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen. Nur ein undeutlicher Laut, dem Stöhnen eines sterbenden Ochsen ähnlich, entrang sich seiner Kehle.

»Das ist kein gutes Zeichen«, hörte er jetzt wieder Caberas Stimme. »Die Pupillen sind unterschiedlich groß, und er sieht mich nicht. Sein linkes Auge ist blutunterlaufen… aber das ist in ein paar Wochen wieder vorbei. Schau nur, wie rot es ist. Kannst du mich hören, Julius? Gaius?«

Selbst auf den Namen seiner Kindheit konnte Julius nicht antworten. Eine schwarze, bleierne Schwere drängte alles weit von ihm weg.

Cabera stand auf und seufzte.

»Der Helm hat ihm das Leben gerettet, wenigstens das, aber es ist nicht gut, dass Blut aus seinen Ohren rinnt. Entweder er erholt sich irgendwann, oder aber er bleibt so wie jetzt. Ich habe so etwas schon früher bei Kopfverletzungen beobachtet. Manchmal bleibt der Verstand völlig durcheinander.« Die Traurigkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören, und sie erinnerte Gaditicus daran, dass der Heiler zusammen mit Julius an Bord gekommen war und eine Geschichte hatte, die in eine Zeit lange vor der Accipiter zurückreichte.

»Tu für ihn, was in deiner Macht steht. Die Chancen stehen gut, dass wir alle Rom bald wiedersehen, wenn sie das geforderte Geld bekommen. Zumindest eine Zeit lang sind wir lebendig wertvoller für sie als tot.«

Es kostete Gaditicus viel Kraft, seine Stimme nicht allzu verzweifelt klingen zu lassen. Einem Kapitän, der sein Schiff verloren hatte, würde man so schnell kein anderes anvertrauen. Hilflos und gefesselt hatte er vom Deck der zweiten Trireme aus zusehen müssen, wie seine geliebte Accipiter in einem Strudel aus Luftblasen und Treibholz im Meer versank. Die Sklaven waren nicht von den Rudern losgemacht worden, und ihre verzweifelten, heiseren Schreie waren so lange zu hören, bis das Wasser ganz von dem Schiff Besitz ergriffen hatte. Er wusste, dass auch seine eigene Karriere mit der Accipiter versenkt worden war.

Der Kampf war entsetzlich gewesen. Man hatte sie in die Zange genommen, und die Piraten hatten schließlich den Großteil seiner Männer überwältigt oder getötet. Wieder und wieder ließ Gaditicus den kurzen Kampf vor seinem inneren Auge vorüberziehen, auf der Suche nach Möglichkeiten, wie er ihn hätte gewinnen können. Jedes Mal zuckte er dann irgendwann mit den Schultern und kam zu dem Schluss, dass er die Niederlage einfach anerkennen musste. Trotzdem wollte ihn die Erniedrigung nicht loslassen.

Er hatte bereits daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, um die Piraten um das Lösegeld für ihn zu bringen und seiner Familie die Schande zu ersparen. Aber wahrscheinlich würde sie sowieso nicht genug Geld für ihn aufbringen.

Es wäre leichter für sie, wenn er mit der Accipiter untergegangen wäre, wie so viele seiner Männer. Stattdessen saß er nun zusammen mit zwölf überlebenden Offizieren hier in seinem eigenen Dreck. Auch Cabera war noch bei ihnen, weil er den Piraten seine Heilkünste angeboten hatte. Es gab immer Verletzte, deren Wunden sich nicht schließen wollten, oder Männer, die von den Huren in entlegenen Häfen hartnäckige Krankheiten mitgebracht hatten. Der alte Mann war seit der Schlacht pausenlos beschäftigt, und man erlaubte ihm nur einmal am Tag, die Wunden und Verbände seiner eigenen Kameraden zu versorgen.

Gaditicus lehnte sich zur Seite und kratzte sich ausgiebig, denn schon in der ersten Nacht in dieser engen, dreckigen Zelle hatte er sich Läuse und Flöhe eingefangen. Irgendwo über ihnen auf dem Deck der Trireme stolzierten die Männer umher, die sie hier gefangen hielten. Ihr Schiff hatte nun die Truhe mit dem Silber aus dem Laderaum der Accipiter an Bord, dazu eine stattliche Anzahl Geiseln, für die man hohes Lösegeld verlangen konnte. Das Risiko hatte sich für die Piraten durchaus gelohnt, und bei dem Gedanken an ihr Triumphgehabe und ihre Arroganz verzog Gaditicus angewidert das Gesicht.

Einer der Männer hatte ihm ins Gesicht gespuckt, als er bereits an Händen und Füßen gefesselt gewesen war. Bei dem Gedanken daran wurde Gaditicus jetzt noch rot vor Zorn. Der Mann war auf einem Auge blind und sein stoppeliges Gesicht war mit alten Narben überzogen gewesen. Das milchige Auge schien den römischen Kapitän anzustarren, und sein meckerndes, höhnisches Gelächter hätte Gaditicus beinahe dazu verleitet, seiner Wut freien Lauf zu lassen und sich durch hilfloses Zerren an den Fesseln noch mehr zu erniedrigen. Stattdessen hatte er ihn nur ausdruckslos angestarrt und leise geächzt, als der kleine Mann ihm auch noch in den Magen trat und dann davonging.

»Wir sollten versuchen zu fliehen«, flüsterte Suetonius und beugte sich so dicht zu Gaditicus hinüber, dass dieser seinen Atem riechen konnte.

»Wir können Cäsar im Augenblick nicht mitnehmen, also schlag dir das aus dem Kopf. Es dauert garantiert ein paar Monate, bis die Lösegeldforderungen in Rom ankommen, und dann vergehen noch ein paar weitere Monate, bis das Geld hier eintrifft – wenn es überhaupt kommt. Damit bleibt uns mehr als genug Zeit, um Fluchtpläne zu schmieden.«

Auch Prax war von den Piraten verschont geblieben. Ohne seine Rüstung sah er viel gewöhnlicher aus. Aus Sorge, die schwere Schnalle könnte als Waffe benutzt werden, hatte man ihm sogar seinen Gürtel abgenommen, so dass er ständig seine Bracae hochzog. Er war derjenige unter ihnen, der diesen Wechselfall des Schicksals offensichtlich mit dem geringsten Unmut hinnahm. Seine natürliche Gelassenheit wirkte auf sie alle ausgleichend und beruhigend.

»Aber der Junge hat Recht, Kapitän. Wahrscheinlich schmeißen sie uns einfach über Bord, sobald sie das Silber aus Rom kriegen. Oder der Senat beschließt, uns zu vergessen und zwingt unsere Familien, nicht zu zahlen.«

Gaditicus fuhr ihn empört an. »Du vergisst dich, Prax. Auch der Senat besteht aus Römern, auch wenn du keine gute Meinung von ihm hast. Sie werden schon dafür sorgen, dass man uns nicht vergisst.«

Prax zuckte die Achseln. »Wir sollten uns trotzdem etwas überlegen. Wenn diese Trireme hier auf eine andere römische Galeere trifft, die Anstalten macht, uns zu entern, werfen sie uns wahrscheinlich einfach über Bord. Ein paar Ketten um unsere Füße tun dann das Übrige.«

Gaditicus erwiderte den Blick seines Optio. »Na gut, wir können ja ein paar Pläne schmieden. Aber falls sich eine Gelegenheit ergeben sollte, lasse ich niemanden zurück. Cäsar hat nicht nur die Kopfverletzung, sondern auch einen gebrochenen Arm. Bis er auch nur wieder stehen kann, vergehen noch Wochen.«

»Falls er überhaupt überlebt«, warf Suetonius ein.

Cabera sah den jungen Offizier scharf an.

»Dieser Mann ist sehr stark, und er hat einen hervorragenden Heiler an seiner Seite, der sich um ihn kümmert.«

Plötzlich beschämt, wich Suetonius dem strengen Blick des alten Mannes aus.

»Nun, meine Herren«, sagte Gaditicus in das Schweigen hinein, »wir haben Zeit, um alle Möglichkeiten durchzuspielen. Zeit haben wir sogar mehr als genug.«

Загрузка...