Fenoglio



»Ich übe mich ja im Erinnern, Nain«, sagte ich.

»Im Schreiben und Lesen und im Erinnern.«

»Das solltest du auch!«, sagte Nain scharf.

»Weißt du, was jedesmal passiert, wenn du eine Sache aufschreibst?

Jedesmal, wenn du etwas einen Namen gibst? Du entziehst ihm seine Kraft.«

Kevin Crossley-Holland, Artus. Der magische Spiegel


Bei Dunkelheit war es in Ombra nicht leicht, an den Wachen vorm Stadttor vorbeizukommen, doch Fenoglio kannte sie alle. Dem grobschlächtigen Klotz, der ihm in dieser Nacht seine Lanze entgegenhielt, hatte er schon so manches Liebesgedicht verfasst - mit großem Erfolg, wie ihm berichtet worden war -, und so wie der Dummkopf aussah, würde er auch weiterhin seine Dienste brauchen.

»Aber sei vor Mitternacht zurück, Schreiberling!«, grunzte ihm der hässliche Kerl zu, bevor er ihn passieren ließ. »Dann löst mich nämlich das Frettchen ab, und der ist an deinen Gedichten nicht interessiert, obwohl sein feines Liebchen lesen kann.«

»Danke für die Warnung!«, sagte Fenoglio und schenkte dem dummen Kerl ein falsches Lächeln, während er sich an ihm vorbeischob. Als ob er nicht wüsste, dass mit dem Frettchen nicht zu spaßen war! Sein Magen schmerzte noch heute, wenn er sich daran erinnerte, wie ihm der spitznasige Kerl den Lanzenschaft in den Bauch gerammt hatte, als er versucht hatte, sich mit ein paar wohlgesetzten Worten an ihm vorbei-zuschieben. Nein, das Frettchen ließ sich nicht bestechen, weder mit Gedichten noch mit anderen geschriebenen Gaben. Das Frettchen wollte Gold, und davon besaß Fenoglio nicht allzu viel, zumindest nicht genug, um es an einen Wächter der Stadttore zu verschwenden.

»Bis Mitternacht!«, schimpfte er leise, während er den steilen Pfad hinunterstolperte. »Als ob Spielleute da nicht gerade erst munter werden!«

Der Sohn seiner Wirtin trug ihm die Fackel voran. Ivo, neun Jahre alt und unersättlich neugierig auf alle Wunder seiner Welt. Er stritt jedes Mal mit seiner Schwester um die Ehre, Fenoglio die Fackel zu tragen, wenn der zu den Spielleuten ging. Fenoglio zahlte Ivos Mutter ein paar Münzen pro Woche für eine Kammer unterm Dach. Dafür wusch und kochte Minerva auch für ihn und flickte seine Kleider. Im Gegenzug erzählte Fenoglio ihren Kindern Gutenachtgeschichten und hörte sich geduldig an, was für ein sturer Klotz ihr Mann manchmal sein konnte. Ja, er hatte es gut getroffen, in der Tat.

Der Junge hüpfte immer ungeduldiger vor ihm her. Er konnte es kaum erwarten, zu den bunten Zelten zu kommen, dorthin, wo Musik und Feuerschein durch die Bäume drangen. Immer wieder sah er sich zu ihm um, vorwurfsvoll, als ließe Fenoglio sich absichtlich Zeit. Was glaubte er? Dass ein alter Mann noch so schnell wie ein Grashüpfer war?

Dort, wo der Grund so steinig war, dass nichts wachsen wollte, hatte das Bunte Volk sein Lager aufgeschlagen, hinter den Hütten der Bauern, die das Land des Speckfürsten bestellten. Seit der Fürst von Ombra ihre Späße und Lieder nicht mehr hören wollte, kamen sie seltener als früher, doch zum Glück wollte der fürstliche Enkel seinen Geburtstag nicht ohne Gaukler feiern, und so würden sie am Sonntag endlich wieder durch das Stadttor strömen: Feuerspucker und Seiltänzer, Tierbändiger und Messerwerfer, Schauspieler, Possenreißer und so mancher Spielmann, der ein Lied singen würde, das aus Fenoglios Feder stammte.

Ja, Fenoglio schrieb gern für das Bunte Volk: freche Lie-der, finstere Lieder, Geschichten zum Lachen oder zum Weinen, wie er gerade Lust hatte. Mehr als ein paar Kupfermünzen ließen sich damit nicht verdienen. Spielleute hatten immer leere Taschen. Wollte er seine Worte vergolden lassen, dann musste er für den Fürsten schreiben oder für einen reichen Kaufmann. Doch wenn er die Worte tanzen und Grimassen schneiden lassen, von Bauern und Räubern erzählen wollte, vom einfachen Volk, das nicht auf Burgen hauste und aus goldenen Schalen aß, dann schrieb er für die Spielleute.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sie ihn zwischen ihren Zelten duldeten. Erst seit immer mehr fahrende Sänger Fenoglios Lieder sangen und ihre Kinder nach seinen Geschichten fragten, schickten sie ihn nicht mehr fort. Inzwischen lud sogar ihr Anführer ihn ein, an seinem Feuer zu sitzen. So wie in dieser Nacht.

Den Schwarzen Prinzen nannten sie ihn, auch wenn in seinen Adern kein Tropfen fürstlichen Blutes rann. Der Prinz sorgte gut für seine bunten Untertanen, zweimal schon hatten sie ihn zu ihrem Anführer gewählt. Woher all das Gold kam, das er so großzügig an Kranke und Krüppel verteilte, danach fragte man wohl besser nicht, aber eins wusste Fenoglio: dass er ihn erfunden hatte.

Ja! Ja, ich habe sie alle erschaffen!, dachte er, während die Musik immer deutlicher durch die Nacht drang. Den Prinzen und den zahmen Bären, der ihm folgte wie ein Hund, den Wolkentänzer, der leider vom Seil gefallen war, und noch viele andere, sogar die beiden Fürsten, die glaubten, dass sie die Regeln dieser Welt machten. Nicht all seine Geschöpfe hatte Fenoglio schon zu Gesicht bekommen, doch jedes Mal, wenn eins plötzlich in Fleisch und Blut vor ihm stand, ließ das sein Herz höher schlagen - obwohl er sich nicht bei jedem daran erinnern konnte, ob er oder sie nun wirklich seiner Feder entsprungen oder sonst woher gekommen war.

Da waren sie endlich, die Zelte, bunt wie zerzauste Blumen in der schwarzen Nacht. Ivo begann so schnell zu laufen, dass er fast über die eigenen Füße stolperte. Ein schmutziger Junge, das Haar struppig wie das Fell einer Straßenkatze, sprang ihnen entgegen, auf einem Bein. Herausfordernd grinste er Ivo zu - und lief auf den Händen davon. Herrgott, diese Spielmannskinder bogen und verrenkten sich, als hätten sie keinen Knochen im Leib.

»Na geh schon!«, brummte Fenoglio, als Ivo ihn flehend ansah. Die Fackel brauchte er ja nun nicht mehr. Gleich mehrere Feuer brannten zwischen den Zelten, von denen manche aus kaum mehr als ein paar schmutzigen Tüchern bestanden, mit Seilen zwischen die Bäume gespannt. Fenoglio sah sich mit einem zufriedenen Seufzer um, während der Junge davonsprang. Ja, genau so hatte er sich die Tintenwelt beim Schreiben vorgestellt: bunt und lärmend, voller Leben. Die Luft roch nach Rauch, nach gebratenem Fleisch, nach Thymian und Rosmarin, Pferden, Hunden und schmutzigen Kleidern, nach Piniennadeln und brennendem Holz. Oh, er liebte es! Er liebte das Durcheinander, er liebte sogar den Schmutz, liebte, dass das Leben vor seiner Nase stattfand und nicht hinter verschlossenen Türen. In dieser Welt konnte man alles lernen - wie der Schmied eine Sichel im Feuer bog, der Färber seine Farben anrührte, der Gerber das Leder enthaarte und der Schuster es zurechtschnitt für seine Schuhe. Hier geschah nichts hinter fensterlosen Mauern. Auf der Straße, auf der Gasse, auf dem Markt oder wie hier zwischen ärmlichen Zelten entstand alles, und er, Fenoglio, immer noch neugierig wie ein Junge, durfte zuschauen, auch wenn der Gestank der Lederbeize und der Färberkübel ihm manchmal den Atem nahm. Ja, sie gefiel ihm, seine Welt. Sie gefiel ihm sehr - obwohl er hatte feststellen müssen, dass keineswegs alles so lief, wie er es geplant hatte.

Selber schuld. Ich hätte eine Fortsetzung schreiben sollen!, dachte Fenoglio, während er sich einen Weg durch das Gedränge bahnte. Ich könnte sie jetzt noch schreiben, hier und jetzt. Und alles ändern, wenn ich nur einen Vorleser hätte! Natürlich hatte er nach einer Zauberzunge gesucht, aber vergebens. Keine Meggie, kein Mortimer, nicht mal ein Stümper wie dieser Darius.

Fenoglio blieb nur die Rolle des Dichters, der schöne Worte schrieb und davon nicht gerade üppig lebte, während die zwei Fürsten, die er erschaffen hatte, seine Welt mehr schlecht als recht regierten. Ärgerlich, zu ärgerlich!

Vor allem der eine machte ihm Sorgen - der Natternkopf.

Südlich des Waldes saß er, hoch über dem Meer, auf dem Silberthron der Nachtburg. Keine schlechte Figur, nein, wirklich nicht. Ein Bluthund, ein Menschenschinder - aber schließlich sind die Bösewichter das Salz in einer Geschichtensuppe. Wenn man sie in Zaum hält. Zu diesem Zweck hatte Fenoglio dem Natternkopf den Speckfürsten entgegengesetzt, einen Fürsten, der lieber über die derben Späße der Spielleute lachte statt Krieg zu führen, und seinen prächtigen Sohn, Cosimo den Schönen. Wer hätte ahnen können, dass der einfach sterben und sein Vater daraufhin vor Kummer zusammenfallen würde wie ein Kuchen, den man zu früh aus dem Ofen geholt hatte?

Nicht meine Schuld! Wie oft hatte Fenoglio sich das schon gesagt. Nicht meine Ideen, nicht meine Schuld! Aber geschehen war es trotzdem. Als hätte irgendein teuflischer Schreiberling es übernommen, diese Geschichte an seiner Stelle weiterzuerzählen und ihm, Fenoglio, dem Schöpfer dieser Welt, nur die Rolle des armen Dichters überlassen!

Ach, nun hör schon auf. Wirklich arm bist du nicht, Fenoglio!, dachte er, während er bei einem Spielmann stehen blieb, der zwischen den Zelten saß und eins seiner Lieder sang. Nein, arm war er nicht. Der Speckfürst wollte nur noch seine Klagelieder über seinen toten Sohn hören, und die Geschichten, die er für Jacopo, den fürstlichen Enkelsohn verfasste, musste Balbulus, der berühmteste Buchmaler weit und breit, höchstpersönlich auf dem kostbarsten Pergament festhalten. Nein, so schlecht stand es wahrlich nicht!

Außerdem schienen ihm seine Worte auf der Zunge eines Spielmanns inzwischen besser aufgehoben als zwischen Buchseiten gepresst, wo sie vor sich hin staubten. Vogelfrei, ja, so wollte er seine Worte haben! Sie waren zu mächtig, um sie jedem Dummkopf in gedruckter Form zu überlassen, damit er Gott weiß etwas damit anstellen konnte. So gesehen war es ein beruhigender Gedanke, dass es in dieser Welt keine gedruckten Bücher gab. Hier schrieb man sie mit der Hand, was sie so kostbar machte, dass nur Fürsten sie sich leisten konnten. Die anderen mussten die Wörter schon im Kopf verstauen oder den Spielleuten von den Lippen lauschen.

Ein kleiner Junge zupfte Fenoglio am Ärmel. Sein Kittel war löchrig, die Nase tropfte. »Tintenweber!« Er zog eine Maske hinter dem Rücken hervor, eine, wie die Schauspieler sie trugen, und schob sie sich hastig über die Augen. Federn klebten auf dem brüchigen Leder, blassbraun und blau. »Wer bin ich?«

»Hmm!« Fenoglio runzelte die faltige Stirn, als müsste er angestrengt nachdenken.

Der Mund unter der Maske verzog sich enttäuscht. »Der Eichelhäher! Der Eichelhäher natürlich!«

»Natürlich!« Fenoglio kniff in die kleine rote Nase. »Erzählst du uns heute eine neue Geschichte von ihm? Bitte!«

»Vielleicht! Ich muss zugeben, seine Maske stelle ich mir etwas prächtiger vor als die deine. Was meinst du? Solltest du nicht noch ein paar Federn mehr auftreiben?«

Der Junge zog die Maske vom Kopf und betrachtete sie missmutig. »Die sind gar nicht so leicht zu finden.«

»Sieh mal unten am Fluss nach. Vor den Katzen, die sich dort herumtreiben, sind nicht mal die Eichelhäher sicher.« Er wollte weiter, aber der Junge hielt ihn fest. Spielmannskinder hatten kräftige kleine Hände, auch wenn sie noch so mager waren. »Nur eine Geschichte. Bitte, Tintenweber!« Zwei andere Knirpse tauchten neben ihm auf, ein Mädchen und ein Junge. Erwartungsvoll blickten sie Fenoglio an. Ja, die Geschichten vom Eichelhäher... Seine Räubergeschichten waren schon immer sehr gut gewesen - auch seine Enkel hatten sie geliebt, drüben in der anderen Welt. Aber die Räubergeschichten, die ihm hier einfielen, gelangen noch viel besser. Überall hörte man sie inzwischen: Die unglaublichen Taten des tapfersten aller Räuber, des edlen und furchtlosen Eichelhähers. Fenoglio erinnerte sich noch genau an die Nacht, in der er ihn erfunden hatte. Die Hand hatte ihm beim Schreiben gezittert vor Wut. »Der Natternkopf hat sich wieder einen Spielmann gefangen«, hatte der Schwarze Prinz ihm in jener Nacht erzählt, »diesmal hat es den Krummen erwischt. Gestern Mittag haben sie ihn aufgehängt.«

Den Krummen - eine seiner Figuren! Ein harmloser Kerl, der länger als jeder andere auf dem Kopf stehen konnte. »Was maßt dieser Fürst sich an?«, hatte Fenoglio in die Nacht ge-schrien, als könnte der Natternkopf ihn hören. »Ich bin der Herr über Leben und Tod in dieser Welt, nur ich, Fenoglio!« Und die Worte waren aufs Papier geflossen, zornig und wild wie der Räuber, den er in jener Nacht erfand. Der Eichelhäher war all das, was Fenoglio in seiner Welt gern gewesen wäre: frei wie ein Vogel, keinem Herrn Untertan, furchtlos, edel (manchmal auch witzig), die Reichen beraubend, den Armen gebend, die Schwachen schützend vor der Willkür der Starken in einer Welt, in der es kein Gesetz gab, das das tat.

Fenoglio spürte erneut ein Zupfen am Ärmel. »Bitte, Tintenweber! Nur eine Geschichte!« Der Junge war wirklich hartnäckig, ein leidenschaftlicher Geschichtenhörer. Vermutlich würde er mal ein berühmter Spielmann werden. »Sie sagen, der Eichelhäher hat dem Natternkopf seinen Glücksbringer gestohlen!«, flüsterte der kleine Kerl. »Den Fingerknochen des Gehängten, der ihn vor den Weißen Frauen beschützt. Sie sagen, der Eichelhäher trägt ihn nun selbst um den Hals.«

»Tatsächlich?« Fenoglio hob die Augenbrauen. Das sah immer sehr wirkungsvoll aus, so dicht und struppig, wie sie waren. »Nun, ich habe etwas noch Tollkühneres gehört, aber jetzt muss ich erst einmal mit dem Schwarzen Prinzen reden.«

»Ach bitte, Tintenweber!« Sie hingen an seinen Ärmeln, rissen ihm fast die teure Borte herunter, die er sich für ein paar Münzen auf den groben Stoff hatte nähen lassen, um nicht so erbärmlich auszusehen wie die Schreiber, die auf dem Markt Testamente und Briefe schrieben.

»Nein!«, sagte er streng, während er seine Ärmel befreite. »Vielleicht später. Und nun verschwindet!«

Der mit der Triefnase sah ihm mit so traurigen Augen nach, dass er Fenoglio für einen Moment an seine Enkel erinnerte. Pippo hatte auch immer so dreingeschaut, wenn er ihm ein

Buch gebracht und es ihm auffordernd in den Schoß gelegt hatte.

Kinder!, dachte Fenoglio, während er auf das Feuer zuschritt, an dem er den Schwarzen Prinzen entdeckt hatte. Sie sind überall gleich. Gierige kleine Biester, aber die besten Zuhörer, egal, in welcher Welt. Die allerbesten.



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