Meggies Entscheidung



Noch schillerte die Idee unwirklich wie eine Seifenblase, und Lyra wagte nicht, sie zu genau zu betrachten, damit sie nicht zerplatzte. Aber sie war mit solchen Ideen vertraut, und so ließ sie sie schillern und sah weg und dachte an etwas anderes.

Philip Pullman, Der goldene Kompass


Mo kam zurück, als sie alle gerade beim Frühstück saßen, und Resa küsste ihn, als wäre er Wochen fort gewesen. Auch Meggie umarmte ihn heftiger als sonst, erleichtert, dass er heil zurückgekommen war, doch sie vermied es, ihm allzu direkt in die Augen zu sehen. Mo kannte sie zu gut. Er hätte ihr das schlechte Gewissen sofort angesehen. Und Meggie hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Der Grund war das Blatt Papier, das oben in ihrem Zimmer zwischen den Schulsachen steckte, dicht beschrieben, in ihrer Handschrift, aber mit den Worten eines anderen. Meggie hatte Stunden gebraucht, um Orpheus’ Worte abzuschreiben. Jedes Mal, wenn sie sich verschrieben hatte, hatte sie von vorn angefangen, aus Sorge, schon ein einziger Fehler könnte alles verderben. Nur drei Wörter hatte sie eingefügt - dort, wo von einem Jungen die Rede war, in den Sätzen, die Orpheus nicht gelesen hatte. Und ein Mädchen hatte Meggie hinzugesetzt. Drei unscheinbare, ganz alltägliche Wörter, so alltäglich, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo auf den Seiten von Tintenherz zu finden waren. Prüfen konnte Meggie das nicht, denn das einzige Exemplar des Buches, das sie dafür gebraucht hätte, besaß nun Basta. Basta. schon der Klang seines Namens erinnerte Meggie an schwarze Tage und schwarze Nächte, schwarz von Angst.

Mo hatte ihr ein Versöhnungsgeschenk mitgebracht, wie immer, wenn sie sich gestritten hatten: ein kleines Notizbuch, von ihm selbst gebunden, gerade groß genug für die Jackentasche, mit einem Einband aus marmoriertem Papier. Mo wusste, wie sehr Meggie solche Papiere liebte, sie war neun Jahre alt gewesen, als er ihr beigebracht hatte, sie selbst einzufärben. Das schlechte Gewissen biss ihr ins Herz, als er ihr das Buch auf den Teller legte, und für einen Moment wollte sie ihm alles erzählen, so wie sie es immer getan hatte. Doch ein Blick von Farid hielt sie zurück. Nicht, Meggie!, sagte sein Blick, er wird dich nicht gehen lassen, niemals. Und so schwieg sie, gab Mo einen Kuss, flüsterte »Danke« und schwieg, mit hastig gesenktem Kopf, die Zunge schwer von den Wörtern, die sie nicht gesagt hatte.

Zum Glück fiel ihr bedrücktes Gesicht niemandem auf. Auch die anderen waren immer noch besorgt wegen der Neuigkeiten über Basta. Elinor war zur Polizei gegangen, wie Mo es ihr geraten hatte, aber der Besuch hatte ihre Stimmung alles andere als verbessert.

»Genau wie ich es vorhergesagt habe«, schimpfte sie, während sie den Käse mit ihrem Messer bearbeitete, als wäre er schuld an all dem Ärger. »Kein Wort haben sie mir geglaubt, diese Hohlköpfe. Ein paar Schafe in Uniform hätten mir besser zugehört. Ihr wisst, ich mag keine Hunde, aber vielleicht sollte ich mir doch welche anschaffen. ein paar riesige schwarze Bestien, die Basta zerreißen, sobald er sich über mein Gartentor schwingt. Dobstermänner, ja. Dobstermänner! Sind das nicht diese Hunde, die Menschen fressen?«

»Du meinst Dobermänner.« Mo zwinkerte Meggie über den Tisch hinweg zu.

Es brach ihr das Herz. Er zwinkerte ihr zu, seiner hinterhältigen Tochter, die plante fortzugehen, an einen Ort, an den er ihr vermutlich nicht würde folgen können. Vielleicht würde ihre Mutter sie verstehen, aber Mo? Nein. Mo nicht. Niemals.

Meggie biss sich so fest auf die Lippen, dass es schmerzte, während Elinor aufgeregt weitersprach: »Ich könnte auch einen Wächter anheuern. So etwas gibt es doch, oder? Einen mit einer Pistole, ach was, bis an die Zähne bewaffnet soll er sein, Messer, Gewehre, was immer, und so groß, dass Basta schon bei seinem Anblick das schwarze Herz stehen bleibt! Wie hört sich das an?«

Meggie sah, wie mühsam Mo sich das Lachen verkniff. »Wie sich das anhört? Als hättest du zu viele Krimis gelesen, Elinor.«

»Nun, ich habe viele Krimis gelesen«, erwiderte sie gekränkt. »Sie sind sehr lehrreich, wenn man gewöhnlich nicht allzu oft mit Verbrechern zu tun hat. Außerdem kann ich Bastas Messer an deiner Kehle nicht vergessen.«

»Das habe ich auch nicht, glaub mir.« Meggie sah, wie seine Hand zu seinem Hals wanderte, als fühlte er die scharfe Schneide für einen Moment erneut auf der Haut. »Trotzdem, ich denke, ihr macht euch umsonst Sorgen. Ich hatte auf der Fahrt reichlich Zeit nachzudenken, und ich kann nicht glauben, dass Basta sich auf den weiten Weg hierher macht, nur um sich zu rächen. Rächen wofür? Dafür, dass wir ihn vor Capricorns Schatten gerettet haben? Nein. Er hat sich längst zurücklesen lassen. Zurück in das Buch. Basta war von unserer Welt nicht halb so begeistert wie Capricorn. Einiges an ihr hat ihn sehr nervös gemacht.«

Und damit strich er sich Marmelade auf sein Käsebrot. Eli-nor beobachtete es, wie immer, mit Abscheu, und Mo ignorierte ihren missbilligenden Blick. Wie immer.

»Und was ist mit den Drohungen, die er dem Jungen nachgeschrien hat?«

»Na, er war wütend, dass er ihm entwischt ist, was sonst? Ich muss dir doch nicht erklären, was Basta so alles von sich gibt, wenn er wütend ist. Ich bin nur erstaunt, dass er tatsächlich klug genug war herauszufinden, dass Staubfinger das Buch hat. Und wo er diesen Orpheus gefunden hat, wüsste ich auch gern. Er scheint auf jeden Fall vom Lesen wesentlich mehr zu verstehen als ich.«

»Unsinn!« Elinors Stimme klang ärgerlich, aber auch erleichtert. »Die Einzige, die davon ebenso viel versteht, ist deine Tochter.«

Mo lächelte Meggie zu und drückte noch eine Scheibe Käse auf die Marmelade. »Sehr schmeichelhaft, danke. Aber wie auch immer - unser messerverliebter Freund Basta ist fort! Und er hat das verdammte Buch hoffentlich mitgenommen, damit die Geschichte für alle Zeiten ein Ende hat. Elinor braucht nicht mehr zusammenzuzucken, wenn es nachts im Garten raschelt, und Darius muss nicht mehr von Bastas Messer träumen - was bedeutet, dass Farid uns eigentlich eine sehr gute Nachricht gebracht hat! Ich hoffe, ihr habt euch schon ausreichend bei ihm bedankt!«

Farid lächelte verlegen, als Mo ihm mit der Kaffeetasse zuprostete, aber Meggie sah die Sorge in seinen schwarzen Augen. Wenn Mo Recht hatte, dann war Basta jetzt dort, wo Staubfinger war. Und sie alle glaubten nur zu gerne, dass Mo Recht hatte. Darius und Elinor war die Erleichterung von den Gesichtern abzulesen, und Resa schlang Mo die Arme um den Hals und lächelte, als sei alles wieder gut.

Elinor begann Mo über die Bücher auszufragen, die er Meggies Anrufs wegen so schmählich im Stich gelassen hatte. Und Darius versuchte Resa das System zu erläutern, nach dem er Elinors Bibliothek neu zu sortieren gedachte. Farid aber blickte auf seinen leeren Teller. Und sah auf dem weißen Porzellan vermutlich Bastas Messer schon an Staubfingers Kehle.

Basta. Der Name steckte Meggie wie ein Kiesel im Hals. Und sie konnte immer nur eines denken: Wenn Mo Recht hatte, war Basta jetzt dort, wo auch sie bald sein wollte. In der Tintenwelt.

In dieser Nacht schon wollte sie es versuchen, wollte sich mit ihrer eigenen Stimme und Orpheus’ Worten einen Weg bahnen durch das Buchstabendickicht, hinein in den Weglosen Wald. Farid hatte sie gedrängt, nicht länger zu warten. Er war ganz verrückt vor Sorge um Staubfinger. Und Mos Worte hatten daran sicher nichts geändert. »Bitte, Meggie!« Immer wieder hatte er sie angefleht. »Bitte, lies!«

Meggie blickte zu Mo hinüber. Er flüsterte Resa etwas zu, und sie lachte. Nur wenn sie lachte, hörte man ihre Stimme. Mo schlang den Arm um sie und suchte Meggie mit seinem Blick. Wenn ihr Bett morgen früh leer war, würde er nicht mehr so sorglos aussehen, wie er es jetzt gerade tat. Würde er wütend sein oder einfach nur traurig? Resa lachte, als er ihr und Elinor das Entsetzen des Sammlers vorspielte, dessen Bücher er nach Meggies Anruf so schmählich im Stich gelassen hatte, und auch Meggie musste lachen, als er die Stimme des Ärmsten nachahmte. Offenbar war sein Auftraggeber sehr dick und kurzatmig gewesen.

Nur Elinor lachte nicht. »Ich denke nicht, dass das lustig ist, Mortimer«, bemerkte sie spitz. »Ich hätte dich vermutlich erschossen, wenn du dich einfach davongemacht und meine armen Bücher krank und fleckig zurückgelassen hättest.«

»Ja, vermutlich.« Mo warf Meggie einen verschwörerischen Blick zu, so wie er es jedes Mal tat, wenn Elinor ihm oder Meggie Vorträge über die richtige Behandlung von Büchern oder die Regeln in ihrer Bibliothek hielt.

Ach, Mo, wenn du wüsstest, dachte Meggie, wenn du wüsstest, und hatte das Gefühl, dass er ihr im nächsten Augenblick ihr Geheimnis von der Stirn ablesen würde. Abrupt schob sie ihren Stuhl zurück, murmelte etwas wie »Hab keinen Hunger« und lief in Elinors Bibliothek. Wohin sonst? Immer, wenn sie ihren eigenen Gedanken entkommen wollte, suchte sie Hilfe bei den Büchern. Irgendeines würde sich schon finden, das sie ablenkte, bis es endlich Abend war und alle schlafen gingen, ahnungslos.

Es war Elinors Bibliothek nicht anzusehen, dass dort vor kaum mehr als einem Jahr nur ein toter roter Hahn vor leeren Regalen gehangen hatte, während ihre schönsten Bücher draußen auf dem Rasen brannten. Das Glas, in das Elinor etwas von der Asche gefüllt hatte, stand immer noch neben ihrem Bett.

Meggie strich mit dem Zeigefinger über die Buchrücken. Wie Tasten eines Klaviers reihten sie sich nun wieder in den Regalen. Einige Borde waren noch leer, doch Elinor und Darius waren unermüdlich unterwegs, um die verlorenen Schätze durch neue, ebenso wundervolle Bücher zu ersetzen.

Orpheus - wo war die Geschichte von Orpheus?

Meggie trat an das Regal, in dem Griechen und Römer ihre Geschichten flüsterten, als die Bibliothekstür sich hinter ihr öffnete und Mo hereintrat.

»Resa sagt, du hast das Blatt, das Farid mitgebracht hat, in deinem Zimmer. Zeigst du es mir?« Er versuchte, so unbedarft zu klingen, als fragte er nach dem Wetter, aber er hatte sich noch nie gut verstellen können. Mo verstand davon ebenso wenig wie vom Lügen.

»Warum?« Meggie lehnte sich gegen Elinors Bücher, als könnten sie ihr den Rücken stärken.

»Warum? Weil ich neugierig bin. Hast du das vergessen? Außerdem - «, er betrachtete die Buchrücken, als könnte er dort die richtigen Worte finden, »- außerdem glaube ich, es wäre besser, das Blatt zu verbrennen.«

»Verbrennen?« Meggie sah ihn ungläubig an. »Warum das?«

»Ja, ich weiß, es klingt, als sähe ich Gespenster.« Er zog ein Buch aus dem Regal, schlug es auf und blätterte mit abwesender Miene darin. »Aber dieses Blatt, Meggie. es kommt mir vor wie eine offene Tür, eine Tür, die wir besser für alle Zeit schließen sollten. Bevor Farid auch noch versucht, in dieser verdammten Geschichte zu verschwinden.«

»Und?« Meggie konnte es nicht verhindern, ihre Stimme klang kühl. Als spräche sie mit einem Fremden. »Warum verstehst du das nicht? Er will doch nur zu Staubfinger! Um ihn vor Basta zu warnen.«

Mo schlug das Buch zu, das er herausgezogen hatte, und stellte es zurück an seinen Platz. »Das sagt er. Aber was, wenn Staubfinger ihn gar nicht mitnehmen wollte, wenn er ihn extra zurückgelassen hat? Würde dich das wundern?«

Nein. Nein, das würde es nicht. Meggie schwieg. Es war so still zwischen den Büchern, so furchtbar still zwischen all den Worten.

»Ich weiß, Meggie«, sagte Mo schließlich mit leiser Stimme.

»Ich weiß, dass du denkst, die Welt, die dieses Buch beschreibt, sei wesentlich aufregender als diese. Ich kenne das Gefühl. Ich habe mir selbst oft genug vorgestellt, in einem meiner Lieblingsbücher zu stecken. Aber wir beide wissen, dass es sich ganz anders anfühlt, wenn aus dem Vorstellen Wirklichkeit wird. Du denkst, diese Tintenwelt sei wie verzaubert, eine Welt voller Wunder, aber glaub mir, ich habe vieles von deiner Mutter über diese Welt erfahren, das dir gar nicht gefallen würde. Sie ist grausam und gefährlich, voller Dunkelheit und Gewalt, regiert von Stärke, Meggie, nicht von Recht.«

Er sah sie an, suchte in ihrem Gesicht nach dem Einverständnis, das er früher immer dort gefunden hatte, aber diesmal fand er es nicht.

»Farid kommt aus so einer Welt«, sagte Meggie. »Und er hat sich nicht ausgesucht, in dieser Geschichte zu stecken. Du hast ihn hergeholt.«

Sie bereute ihre Worte im selben Moment. Mo wandte sich ab, als hätte sie ihn geschlagen. »Na gut. Da hast du natürlich Recht«, sagte er, während er zur Tür zurückging. »Und ich will mich nicht schon wieder mit dir streiten. Aber ich will auch nicht, dass dieses Blatt in deinem Zimmer liegt. Gib es Farid zurück. Wer weiß. Sonst sitzt womöglich morgen früh ein Riese auf deinem Bett.« Er versuchte, sie zum Lachen zu bringen, natürlich. Er ertrug es nicht, dass sie schon wieder so miteinander sprachen. Wie bedrückt er aussah. Und wie müde.

»Du weißt genau, dass so etwas nicht passieren kann«, sagte Meggie. »Warum machst du dir immer solche Sorgen? Nichts kommt einfach aus den Buchstaben, solange man es nicht ruft. Keiner weiß das besser als du!«

Er hatte die Hand immer noch auf der Klinke.

»Ja«, sagte er. »Ja, da hast du wohl Recht. Aber weißt du was? Manchmal würde ich gern alle Bücher dieser Welt mit einem Schloss versehen. Und was dieses ganz spezielle Buch betrifft. inzwischen wäre ich froh, wenn Capricorn das letzte Exemplar damals auch verbrannt hätte. Es klebt Unglück an diesem Buch, Meggie, nichts als Unglück. Auch wenn du mir das nicht glauben willst.«

Dann zog er die Bibliothekstür hinter sich zu.

Meggie stand reglos, bis seine Schritte verklangen. Sie trat an eins der Fenster, das hinaus auf den Garten wies, aber als Mo schließlich den Weg herunterkam, der zu seiner Werkstatt führte, blickte er nicht zum Haus herüber. Resa war bei ihm. Sie hatte den Arm um seine Schulter gelegt, und ihre andere Hand malte Worte, doch Meggie konnte nicht erkennen, welche. Sprachen sie über sie?

Manchmal war es ein seltsames Gefühl, plötzlich nicht mehr nur einen Vater zu haben, sondern Eltern, die miteinander sprachen, ohne dass sie dabei war. Mo ging allein in die Werkstatt, und Resa schlenderte zum Haus zurück. Sie winkte Meggie zu, als sie sie am Fenster stehen sah, und Meggie winkte zurück.

Ein seltsames Gefühl.

Meggie saß noch eine ganze Weile zwischen Elinors Büchern, blätterte mal in dem einen, mal in dem anderen, auf der Suche nach Sätzen, die ihre eigenen Gedanken übertönten. Doch die Buchstaben blieben Buchstaben, formten weder Bilder noch Worte, und schließlich ging Meggie hinaus in den Garten, legte sich ins Gras und blickte zur Werkstatt hinüber, hinter deren Fenstern sie Mo arbeiten sah.

Ich darf es nicht tun, dachte sie, während der Wind die Blätter von den Bäumen blies und sie mit sich riss wie buntes Spielzeug. Nein. Es geht nicht! Sie werden sich alle solche Sorgen machen, und Mo wird nie wieder ein Wort mit mir reden, nie wieder.

Ja, all das dachte Meggie, dachte es viele Male. Und wusste doch zugleich, ganz tief in ihrem Innern, dass sie sich längst entschieden hatte.


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