Wieder allein



Hope is the thing with feathers.

Emily Dickinson, Hope


Orpheus verschwand direkt vor Elinors Augen. Sie stand nur ein paar Schritte von ihm entfernt, die Flasche Wein in der Hand, nach der er verlangt hatte, als er sich einfach in Luft auflöste, ach was, in weniger als Luft, in gar nichts - so, als wäre er nie da gewesen, als hätte sie ihn nur geträumt. Die Flasche rutschte ihr aus der Hand, fiel auf die Holzbohlen der Bibliothek und zersprang zwischen den aufgeschlagenen Büchern, die Orpheus dort zurückgelassen hatte.

Der Hund begann zu heulen, so abscheulich, dass Darius aus der Küche herbeistürmte. Der Schrankmann trat ihm nicht in den Weg. Er starrte nur auf den Platz, an dem Orpheus eben noch gestanden hatte. Mit bebender Stimme hatte er von einem Blatt abgelesen, das gleich vor ihm auf einer von Elinors Vitrinen gelegen hatte, und dabei Tintenherz gegen die Brust gedrückt, als könnte er das Buch auf die Art zwingen, ihn endlich aufzunehmen. Elinor war wie versteinert stehen geblieben, als sie begriff, was er erneut versuchte, zum hundertsten, ach was, zum tausendsten Mal. Vielleicht kommen sie ja für ihn heraus, hatte sie gedacht, wenigstens einer von ihnen! Meggie, Resa, Mortimer, jeder der drei Namen schmeckte so bitter auf der Zunge, bitter wie alles Verlorene. Aber nun war Orpheus fort, und keiner der drei war zurückgekehrt. Nur der verdammte Hund hörte einfach nicht auf zu heulen.

»Er hat es geschafft«, flüsterte Elinor. »Darius, er hat es geschafft! Er ist drüben. sie sind alle drüben. Nur wir nicht!«

Für einen Augenblick überkam sie unendliches Selbstmitleid. Da stand sie, Elinor Loredan, inmitten all ihrer Bücher, und sie ließen sie nicht ein, nicht eins von ihnen. Verschlossene Türen, die sie lockten, ihr das Herz mit Sehnsucht füllten und sie dann doch nur bis an die Schwelle treten ließen. Verfluchte, dreimal verfluchte herzlose Dinger! Voll leerer Versprechungen, voll falscher Verlockungen, ewig hungrig machend, aber niemals satt, niemals!

Elinor, das hast du aber schon ganz anders gesehen!, dachte sie, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte. Nun, und wenn? War sie nicht alt genug, ihre Meinung zu ändern, eine alte Liebe zu begraben, die sie elend betrogen hatte? Sie hatten sie nicht eingelassen. Alle anderen steckten nun zwischen den Seiten, nur sie nicht! Arme Elinor, arme einsame Elinor! Sie schluchzte so laut auf, dass sie sich die Hand auf den Mund presste.

Darius warf ihr einen mitfühlenden Blick zu und trat zögernd an ihre Seite. Zum Glück war wenigstens er noch bei ihr. Aber helfen konnte er ihr auch nicht. Ich will zu ihnen!, dachte sie verzweifelt. Sie sind meine Familie: Resa und Meggie und Mortimer. Ich will den Weglosen Wald sehen und wieder eine Fee auf der Hand spüren, ich will dem Schwarzen Prinzen begegnen, selbst wenn ich dafür seinen Bären riechen muss, ich will hören, wie Staubfinger mit dem Feuer redet, auch wenn ich ihn immer noch nicht leiden kann! Ich will, ich will, ich will.

»Oh, Darius!«, schluchzte Elinor. »Warum hat der verfluchte Kerl mich nicht mitgenommen?« Aber Darius sah sie nur an mit seinen weisen Eulenaugen.

»He, wo ist er hin? Der Bastard hatte noch Schulden bei mir!« Der Schrankmann trat an die Stelle, an der Orpheus verschwunden war, und sah sich um, als könnte er sich irgendwo zwischen den Regalbrettern versteckt haben. »Verdammt, was bildet er sich ein, einfach so zu verschwinden?« Der Schrankmann bückte sich und hob ein Blatt Papier auf.

Das Blatt, von dem Orpheus gelesen hatte! Hatte er das Buch mitgenommen, aber die Worte zurückgelassen, die ihm die Tür geöffnet hatten? Dann war doch noch nicht alles verloren.

Entschlossen riss Elinor dem Schrankmann das Blatt aus der Hand. »Geben Sie das her!«, fuhr sie ihn an und presste das Stück Papier gegen ihre Brust, so wie Orpheus es mit dem Buch getan hatte. Das Gesicht des Schrankmanns verfinsterte sich. Zwei sehr unterschiedliche Gefühle schienen darauf miteinander zu streiten: Ärger über Elinors Frechheit und Angst vor den Buchstaben, die sie so leidenschaftlich gegen ihre Brust presste. Für einen Moment war Elinor nicht sicher, welches die Oberhand gewinnen würde. Darius trat hinter sie, als hätte er allen Ernstes vor, sie notfalls zu verteidigen, aber zum Glück hellte Zuckers Gesicht sich wieder auf und er begann zu lachen.

»Nun sieh sich einer die an!«, spottete er. »Was willst du mit dem Wisch, Bücherfresserin? Willst du dich auch in Luft auflösen wie Orpheus und die Elster und deine beiden Freunde? Bitte, tu dir keinen Zwang an, aber vorher will ich den Lohn, den Orpheus und die Alte mir noch schulden!« Und damit sah er sich in Elinors Bibliothek um, als gäbe es darin vielleicht doch irgendetwas, das als Bezahlung taugen könnte.

»Dein Lohn, natürlich, ich verstehe!«, sagte Elinor hastig und zog ihn auf die Tür zu. »Ich habe in meinem Zimmer noch etwas Geld versteckt. Darius, du weißt, wo es ist. Gib ihm alles, was noch da ist. Hauptsache, er verschwindet.«

Darius blickte wenig begeistert drein, aber Zucker lächelte so breit, dass man jeden seiner schlechten Zähne sah. »Na, bitte! Das klingt doch endlich mal vernünftig!«, grunzte er und stapfte Darius nach, der ihn schicksalsergeben in Elinors Zimmer führte.

Elinor aber blieb in ihrer Bibliothek zurück.

Wie still es plötzlich darin war. Orpheus hatte tatsächlich alle Gestalten, die er aus ihren Büchern herausgelesen hatte, auch wieder zurückgeschickt. Nur sein Hund war noch da und beschnupperte mit hängendem Schwanz die Stelle, an der vor wenigen Augenblicken noch sein Herr gestanden hatte.

»So leer!«, murmelte Elinor. »So leer.« Und fühlte sich entsetzlich verlassen. Fast noch mehr als an dem Tag, an dem die Elster Mortimer und Resa mitgenommen hatte. Das Buch war fort, in dem sie alle verschwunden waren. Es war fort. Was geschah mit einem Buch, das in der eigenen Geschichte verschwand?

Ach, vergiss das Buch, Elinor!, dachte sie, während ihr eine Träne die Nase hinunterlief. Wie willst du sie nun jemals wiederfinden?

Orpheus’ Worte. Sie verschwammen ihr vor den Augen, als sie auf das Papier starrte. Ja, sie mussten ihn hinübergebracht haben, was sonst? Behutsam öffnete sie die Glasvitrine, auf der das Blatt gelegen hatte, bevor Orpheus verschwand, nahm das Buch heraus, das darin lag - eine wunderbar illustrierte Ausgabe von Andersens Märchen, mit Widmung des Autors! -, und legte das Blatt an seine Stelle.

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