Die Spielfrau



Ein Spielmann, der muß reisen, das ist ein alter Brauch, drum weht aus seinen Weisen auch stets ein Abschiedshauch. Ob ich einst wiederkehre? Allein Lieb, das weiß ich nicht, des Todes Hand die schwere viel Rosenknospen bricht.

Elimar von Monsterberg, Der Spielmann


Es wurde gerade hell, als Staubfinger den Hof erreichte, den Wolkentänzer ihm beschrieben hatte. An einem Südhang lag er, umgeben von Olivenbäumen. Die Erde, hatte Wolkentänzer gesagt, war karg und steinig dort, aber die Kräuter, die Roxane anbaute, schätzten das. Das Haus stand allein, kein schützendes Dorf in der Nähe, nur eine Mauer, kaum brusthoch, und ein Tor aus Holz. In der Ferne konnte man die Dächer von Ombra sehen, die Burgtürme, hoch aufragend über den Häusern, und die Straße, die sich auf das Tor zuwand - so nah und doch zu weit, um dorthin zu flüchten, falls Wegelagerer oder Soldaten, heimkehrend aus irgendeinem Krieg, es für eine gute Idee hielten, den einsamen Hof zu plündern, nur bewohnt von einer Frau und zwei Kindern.

Vielleicht hat sie ja wenigstens einen Knecht, dachte Staubfinger, während er hinter ein paar Ginsterbüschen stehen blieb. Die Zweige verbargen ihn, aber er konnte ungehindert auf das Haus sehen.

Klein war es, wie die meisten Bauernhäuser, nicht so armselig wie viele, aber auch nicht viel besser. Das ganze Haus hätte mehr als ein Dutzend Mal in einen der Säle gepasst, in denen Roxane früher getanzt und gesungen hatte. Selbst der Natternkopf hatte sie auf seine Burg geladen, trotz seiner Verachtung für das Bunte Volk, denn damals hatte sie jeder hören und sehen wollen. Reiche Kaufleute, der Müller unten am Fluss, der Gewürzhändler, der ihr mehr als ein Jahr Geschenke gesandt hatte. so viele hatten sie zur Frau nehmen wollen, hatten sie überschüttet mit Schmuck und kostbaren Kleidern, ihr Gemächer in ihren Häusern angeboten, von denen jedes sicherlich größer war als das Haus, in dem sie nun wohnte. Aber Roxane war beim Bunten Volk geblieben, hatte nicht zu den Spielfrauen gehört, die Stimme und Körper einem Herrn verkauften für ein bisschen Sicherheit und ein festes Haus.

Irgendwann jedoch war auch sie das Herumziehen leid geworden, hatte sich ein Zuhause gewünscht, für sich und ihre Kinder, denn kein Gesetz schützte die, die auf der Straße lebten. Das Gesetz galt für das Bunte Volk ebenso wenig wie für Bettler und Wegelagerer. Wer einen Spielmann beraubte, musste keine Strafe fürchten. Wer einer Spielfrau Gewalt antat, konnte ungehindert in sein festes Haus zurückkehren, und wer einen Gaukler erschlug, musste den Henker nicht fürchten. Seiner Witwe stand als Rache nur eines zu: den Schatten des Täters zu schlagen, nichts als seinen Schatten, den die Sonne gegen die Stadtmauer warf, und für die Bestattung musste die Witwe zahlen. Ja, das Bunte Volk war Freiwild. Des Teufels Lockvögel nannte man sie, ließ sich von ihnen zum Lachen bringen, lauschte ihren Liedern und Geschichten, sah ihren Kunststücken zu - und verschloss abends Tür und Tor vor ihnen. Außerhalb der Städte und Dörfer, außerhalb der schützenden Mauern mussten sie bleiben, immer auf der Wanderschaft, beneidet um ihre Freiheit und dafür geschmäht, dass sie für Geld und Brot vielen Herren dienten.

Es gab nicht viele Spielleute, die der Straße je entkamen, der Straße und den einsamen Wegen. Aber Roxane hatte es offenbar geschafft.

Ein Stall gehörte zu dem Haus, eine Scheune, ein Backhaus, zwischen ihnen ein Hof mit einem Brunnen in der Mitte, ein Garten, umzäunt, damit Hühner und Ziegen nicht die jungen Pflanzen zerrupften, und am Hang dahinter ein Dutzend schmaler Felder. Einige waren abgeerntet, auf anderen standen die Kräuter hoch, buschig und schwer von der eigenen Saat. Der Duft, den der Wind zu Staubfinger herübertrug, ließ die Morgenluft bitter und süß zugleich schmecken.

Roxane kniete auf dem hintersten Feld, inmitten von Flachs, Beinwell und wilden Malven. Sie schien schon lange bei der Arbeit zu sein, obwohl der Frühnebel noch zwischen den nahen Bäumen hing. Ein Junge stand neben ihr, vielleicht sieben, acht Jahre alt. Roxane sprach mit ihm, lachte. Wie oft hatte Staubfinger sich ihr Gesicht ins Gedächtnis gerufen, jeden Teil davon, ihren Mund, die Augen, die Stirn mit dem hohen Haaransatz. Mit jedem Jahr war es mühsamer gewesen, mit jedem Jahr war das Bild unschärfer geworden, so verzweifelt er sich auch bemüht hatte, sich genauer zu erinnern. Die Zeit hatte ihr Gesicht verwischt, es mit Staub bedeckt.

Staubfinger machte einen Schritt vor - und zwei zurück. Dreimal schon hatte er umdrehen wollen, sich wieder davonschleichen, so lautlos, wie er gekommen war, und war doch geblieben. Ein Wind fuhr durch die Ginsterbüsche, stieß ihn in den Rücken, als wollte er ihm Mut machen, und Staubfinger fasste sich ein Herz, schob die Zweige auseinander und schritt auf das Haus und die Felder zu.

Der Junge sah ihn zuerst, und aus dem hohen Gras neben dem Stall erhob sich eine Gans und kam schnatternd und flügelschlagend auf ihn zu. Kein Bauer durfte einen Hund halten, das war den Fürsten vorbehalten, aber auch eine Gans war ein zuverlässiger Wächter - und nicht weniger Furcht einflößend. Staubfinger jedoch wusste dem aufgesperrten Schnabel auszuweichen und strich der aufgebrachten Wächterin über den weißen Hals, bis sie die Flügel zusammenlegte wie ein frisch gebügeltes Kleid und friedlich davonstakste, zurück zu ihrem Platz im Gras.

Roxane hatte sich aufgerichtet. An ihrem Kleid wischte sie sich die Erde von den Händen und sah ihn an, sah ihn nur an. Sie hatte ihr Haar tatsächlich hochgesteckt wie eine Bauersfrau, doch offenbar war es immer noch so lang und voll wie früher und ebenso schwarz, bis auf ein paar graue Strähnen. Ihr Kleid war braun wie die Erde, auf der sie gekniet hatte, nicht länger bunt wie die Röcke, die sie früher getragen hatte. Ihr Gesicht jedoch war Staubfinger immer noch so vertraut wie der Anblick des Himmels, vertrauter als sein eigenes Spiegelbild.

Der Junge griff nach der Harke, die neben ihm auf der Erde lag. Er hielt sie mit so finster entschlossener Miene, als wäre er es gewohnt, seine Mutter gegen seltsame Fremde zu beschützen. Kluger Junge, dachte Staubfinger, traut keinem, schon gar nicht so einem Narbengesicht, das plötzlich aus den Büschen auftaucht.

Was sollte er nur sagen, wenn sie ihn fragte, wo er gewesen war? ihnen. Außerhalb der Städte und Dörfer, außerhalb der schützenden Mauern mussten sie bleiben, immer auf der Wanderschaft, beneidet um ihre Freiheit und dafür geschmäht, dass sie für Geld und Brot vielen Herren dienten.

Es gab nicht viele Spielleute, die der Straße je entkamen, der Straße und den einsamen Wegen. Aber Roxane hatte es offenbar geschafft.

Ein Stall gehörte zu dem Haus, eine Scheune, ein Backhaus, zwischen ihnen ein Hof mit einem Brunnen in der Mitte, ein Garten, umzäunt, damit Hühner und Ziegen nicht die jungen Pflanzen zerrupften, und am Hang dahinter ein Dutzend schmaler Felder. Einige waren abgeerntet, auf anderen standen die Kräuter hoch, buschig und schwer von der eigenen Saat. Der Duft, den der Wind zu Staubfinger herübertrug, ließ die Morgenluft bitter und süß zugleich schmecken.

Roxane kniete auf dem hintersten Feld, inmitten von Flachs, Beinwell und wilden Malven. Sie schien schon lange bei der Arbeit zu sein, obwohl der Frühnebel noch zwischen den nahen Bäumen hing. Ein Junge stand neben ihr, vielleicht sieben, acht Jahre alt. Roxane sprach mit ihm, lachte. Wie oft hatte Staubfinger sich ihr Gesicht ins Gedächtnis gerufen, jeden Teil davon, ihren Mund, die Augen, die Stirn mit dem hohen Haaransatz. Mit jedem Jahr war es mühsamer gewesen, mit jedem Jahr war das Bild unschärfer geworden, so verzweifelt er sich auch bemüht hatte, sich genauer zu erinnern. Die Zeit hatte ihr Gesicht verwischt, es mit Staub bedeckt.

Staubfinger machte einen Schritt vor - und zwei zurück. Dreimal schon hatte er umdrehen wollen, sich wieder davonschleichen, so lautlos, wie er gekommen war, und war doch geblieben. Ein Wind fuhr durch die Ginsterbüsche, stieß ihn in den Rücken, als wollte er ihm Mut machen, und Staubfinger fasste sich ein Herz, schob die Zweige auseinander und schritt auf das Haus und die Felder zu.

Der Junge sah ihn zuerst, und aus dem hohen Gras neben dem Stall erhob sich eine Gans und kam schnatternd und flügelschlagend auf ihn zu. Kein Bauer durfte einen Hund halten, das war den Fürsten vorbehalten, aber auch eine Gans war ein zuverlässiger Wächter - und nicht weniger Furcht einflößend. Staubfinger jedoch wusste dem aufgesperrten Schnabel auszuweichen und strich der aufgebrachten Wächterin über den weißen Hals, bis sie die Flügel zusammenlegte wie ein frisch gebügeltes Kleid und friedlich davonstakste, zurück zu ihrem Platz im Gras.

Roxane hatte sich aufgerichtet. An ihrem Kleid wischte sie sich die Erde von den Händen und sah ihn an, sah ihn nur an. Sie hatte ihr Haar tatsächlich hochgesteckt wie eine Bauersfrau, doch offenbar war es immer noch so lang und voll wie früher und ebenso schwarz, bis auf ein paar graue Strähnen. Ihr Kleid war braun wie die Erde, auf der sie gekniet hatte, nicht länger bunt wie die Röcke, die sie früher getragen hatte. Ihr Gesicht jedoch war Staubfinger immer noch so vertraut wie der Anblick des Himmels, vertrauter als sein eigenes Spiegelbild.

Der Junge griff nach der Harke, die neben ihm auf der Erde lag. Er hielt sie mit so finster entschlossener Miene, als wäre er es gewohnt, seine Mutter gegen seltsame Fremde zu beschützen. Kluger Junge, dachte Staubfinger, traut keinem, schon gar nicht so einem Narbengesicht, das plötzlich aus den Büschen auftaucht.

Was sollte er nur sagen, wenn sie ihn fragte, wo er gewesen war?

Roxane raunte dem Jungen etwas zu, und er ließ zögernd die Harke sinken, die Augen immer noch misstrauisch.

Zehn Jahre.

Er war oft lange fort gewesen, im Wald, in den Orten an der Küste, unterwegs zwischen den Dörfern, die ringsum einsam in den Hügeln lagen - wie ein Fuchs, der nur auf den Höfen der Menschen auftauchte, weil ihm der Magen knurrte. »Dein Herz ist ein Streuner«, hatte Roxane immer gesagt. Manchmal hatte er sie suchen müssen, wenn sie mit den anderen Spielleuten weitergezogen war. Eine Weile lebten sie zusammen im Wald, in einer verlassenen Köhlerhütte, dann wieder in einem Zelt, umgeben von anderen Spielleuten. Einen Winter lang hatten sie es sogar zwischen den festen Mauern von Ombra ausgehalten. Es war immer er gewesen, der weiterwollte, und als ihre erste Tochter geboren wurde und Roxa-ne immer öfter bleiben wollte - an irgendeinem halbwegs vertrauten Ort, bei den anderen Spielfrauen, in der Nähe schützender Mauern -, war er allein fortgegangen. Aber er war stets zurückgekehrt, zu ihr und zu den Kindern, sehr zum Ärger all der reichen Männer, die um sie herumgestrichen waren, um eine ehrbare Frau aus ihr zu machen.

Was hatte sie gedacht, als er ganze zehn Jahre fortblieb? Hatte sie ihn für tot gehalten, wie Wolkentänzer? Oder hatte sie geglaubt, dass er einfach fortgegangen war, ohne ein Wort, ohne Abschied?

In Roxanes Gesicht fand er die Antwort nicht. Fassungslosigkeit sah er darauf, Zorn, vielleicht auch Liebe. Vielleicht. Sie flüsterte dem Jungen etwas zu, griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich. Sie ging langsam, als hielte sie ihre Füße davon ab, schneller zu laufen. Er wäre zu gern auf sie zugelaufen, mit jedem Schritt eins der Jahre hinter sich lassend, aber sein Mut war aufgebraucht. Wie angewachsen stand er da und sah ihr entgegen, wie sie auf ihn zukam, nach all den Jahren, all den Jahren, für die er keine Erklärung hatte - außer einer, die sie nicht glauben würde.

Es trennten sie nicht mehr viele Schritte, als Roxane stehen blieb. Sie legte den Arm um die Schulter des Jungen, aber der schob ihn weg. Natürlich. Er wollte nicht, dass der Arm seiner Mutter ihn daran erinnerte, wie jung er noch war.

Wie sie das Kinn vorschob, so stolz. Das war das Erste, was ihm an Roxane gefallen hatte - ihr Stolz. Er musste lächeln, aber er senkte den Kopf, damit sie es nicht sah.

»Offenbar kann dir immer noch kein Tier widerstehen. Meine Gans hat bisher jeden verjagt.« Wenn Roxane sprach, war nichts Besonderes an ihrer Stimme, nichts von der Kraft und Schönheit, die sie beim Singen entfaltete.

»Ja, daran hat sich nichts geändert«, sagte er. »In all den Jahren nicht.« Und plötzlich, während er sie ansah, hatte er endlich und ganz wirklich das Gefühl, heimgekehrt zu sein. Das Gefühl war so stark, dass ihm die Knie weich wurden. Wie glücklich er war, sie wiederzusehen, so furchtbar, entsetzlich glücklich. Frag mich!, dachte er. Frag mich, wo ich war. Obwohl er nicht wusste, wie er es erklären sollte.

Aber sie sagte nur: »Es scheint dir gut gegangen zu sein, dort, wo du warst.«

»Das täuscht«, erwiderte er. »Ich bin nicht freiwillig dort geblieben.«

Roxane musterte sein Gesicht, als hätte sie vergessen, wie es aussah, und strich dem Jungen übers Haar. Es war ebenso schwarz wie ihres, aber seine Augen waren die eines anderen. Abweisend blickten sie ihn an.

Staubfinger rieb die Hände aneinander und flüsterte seinen Fingern Feuerworte zu, bis Funken zwischen ihnen hervorrieselten wie Regen. Dort, wo sie auf den steinigen Boden trafen, sprossen Blumen, rote Blumen, jedes Blütenblatt eine Flammenzunge.

Der Junge starrte sie an mit einer Mischung aus Entzücken und Furcht. Schließlich hockte er sich neben sie und streckte die Hand nach den feurigen Blüten aus.

»Vorsicht!«, warnte Staubfinger, aber es war schon zu spät.

Verlegen schob der Junge sich die verbrannten Fingerspitzen in den Mund.

»Das Feuer gehorcht dir also auch noch«, sagte Roxane, und zum ersten Mal entdeckte er fast so etwas wie ein Lächeln in ihren Augen. »Du siehst hungrig aus. Komm.« Und ohne ein Wort ging sie auf das Haus zu. Der Junge starrte immer noch die Feuerblumen an.

»Ich habe gehört, du baust Kräuter an für die Heiler.« Staubfinger blieb unschlüssig in der Tür stehen.

»Ja. Selbst die Nessel kauft bei mir.«

Die Nessel, klein wie ein Moosweibchen, stets mürrisch und wortfaul wie ein Bettler, dem man die Zunge herausgeschnitten hatte. Aber es gab keine bessere Heilerin in dieser Welt.

»Wohnt sie immer noch in der alten Bärenhöhle am Waldrand?« Staubfinger schob sich zögernd durch die Tür. Sie war so niedrig, dass er den Kopf einziehen musste. Der Duft von frischem Brot stieg ihm in die Nase.

Roxane legte einen Laib auf den Tisch, holte Käse, Öl, Oliven. »Ja, aber sie ist selten dort. Sie wird immer wunderlicher, läuft im Wald umher, redet mit den Bäumen und sich selbst, sucht Pflanzen, die sie noch nicht kennt. Manchmal taucht sie wochenlang nicht auf, also kommen die Leute immer öfter zu mir. Die Nessel hat mir einiges beigebracht in den letzten Jahren.« Sie sah ihn nicht an, während sie das sagte. »Sie hat mir gezeigt, wie ich Kräuter auf den Feldern ziehen kann, die sonst nur im Wald gedeihen. Schmetterlingsklee, Schellenblatt, die roten Anemonen, aus deren Blüten die Feuerelfen ihren Honig machen.«

»Ich wusste gar nicht, dass man diese Anemonen auch zum Heilen benutzt.«

»Das tut man auch nicht. Ich habe sie gepflanzt, weil sie mich an jemanden erinnerten.« Diesmal sah sie ihn an.

Staubfinger streckte die Hand aus nach einem der Kräuterbüschel, die von der Decke hingen, und zerrieb die trockenen Knospen zwischen den Fingern: Lavendelblüten, Versteck für Vipern und hilfreich, wenn sie einen bissen. »Vermutlich wachsen die Kräuter nur hier, weil du für sie singst«, sagte er. »Haben sie das nicht früher immer gesagt: Wenn Roxane singt, blühen selbst die Steine?«

Roxane schnitt etwas von dem Brot ab, füllte Öl in eine Schale. »Ich singe nur noch für sie«, sagte sie. »Und für meinen Sohn.« Sie schob ihm das Brot hin. »Iss. Ich hab es erst gestern gebacken.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und trat ans Feuer.

Staubfinger sah sich unauffällig um, während er ein Stück Brot in das Öl tauchte. Zwei Strohsäcke und ein paar Decken auf dem Bett, eine Bank, ein Stuhl, ein Tisch, Krüge, Körbe, Flaschen und Schalen, getrocknete Kräuterbündel unter der Decke, dicht an dicht, so wie sie auch immer in der Höhle der Nessel gehangen hatten, und eine Truhe, seltsam prächtig in dem ansonsten so kargen Raum. Staubfinger erinnerte sich noch gut an den Tuchhändler, der sie Roxane geschenkt hatte. Seine Diener hatten schwer an ihr zu tragen gehabt. Bis an den Rand war sie gefüllt gewesen mit seidenen Kleidern, perlenbestickt, die Ärmel besetzt mit Spitze. Ob sie immer noch in der Truhe lagen? Ungetragen, nutzlos für die Arbeit auf den Feldern.

»Ich bin zum ersten Mal zur Nessel gegangen, als Rosanna krank wurde.« Roxane wandte sich nicht zu ihm um, während sie sprach. »Ich wusste nichts, nicht einmal, wie man das Fieber herunterbringt. Die Nessel hat mir alles gezeigt, was sie darüber wusste, aber bei unserer Tochter hat nichts geholfen. Also bin ich mit ihr zum Schleierkauz geritten, während das Fieber stieg und stieg. Ich habe sie in den Wald gebracht, zu den Feen, aber sie haben mir nicht geholfen. Vielleicht hätten sie es für dich getan - doch du warst nicht da.«

Staubfinger sah, wie sie sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr. »Wolkentänzer hat es mir erzählt.« Er wusste, es waren die falschen Worte, aber er fand einfach keine besseren.

Roxane nickte nur und fuhr sich erneut über die Augen. »Manche sagen, man kann die, die man liebt, auch nach dem Tod noch sehen«, sagte sie leise. »Dass sie einen besuchen, in der Nacht oder wenigstens in den Träumen, dass die Sehnsucht sie zurückraft, wenn auch nur für kurze Zeit. Rosanna ist nicht gekommen. Ich bin zu Frauen gegangen, die behaupten, mit den Toten sprechen zu können. Ich habe Kräuter verbrannt, deren Duft sie rufen sollen, und Nächte wach gelegen, in der Hoffnung, dass sie wenigstens noch einmal zurückkommt... Aber es ist alles gelogen. Es gibt keinen Weg zurück. Oder warst du vielleicht dort und hast ihn gefunden?«

»Bei den Toten? Nein.« Staubfinger schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. »Nein, ganz so weit fort war ich nicht.

Aber glaub mir, ich hätte selbst dort nach einem Weg gesucht, um zu dir zurückzukommen. «

Wie lange sie ihn ansah. Niemand sonst hatte ihn je so angesehen. Und er suchte erneut nach Worten, den Worten, die erklären konnten, wo er gewesen war, doch es gab sie nicht.

»Als Rosanna starb - « Roxanes Zunge schien vor dem Wort zurückzuschrecken, als könnte es ihre Tochter noch einmal töten. »Als sie starb und ich sie in den Armen hielt, schwor ich mir etwas: Ich schwor, dass ich nie, nie wieder so hilflos sein werde, wenn der Tod sich jemanden holen will, den ich liebe. Seither habe ich viel gelernt. Vielleicht könnte ich sie heute gesund machen. Vielleicht auch nicht.«

Wieder blickte sie ihn an, und als er ihren Blick erwiderte, versuchte er nicht, seinen Schmerz zu verbergen, wie er es sonst so gern tat. »Wo hast du sie begraben?«

Sie wies mit dem Kopf nach draußen. »Hinter dem Haus. Dort, wo sie immer gespielt hat.«

Er wandte sich um, zur offenen Tür, wollte wenigstens die Erde sehen, unter der sie lag, aber Roxane hielt ihn zurück. »Wo warst du?«, flüsterte sie und lehnte die Stirn gegen seine Brust.

Er strich ihr übers Haar, über die feinen, grauen Strähnen, die sich wie Spinnenseide durch das Schwarz zogen, und vergrub sein Gesicht darin. Sie mischte immer noch Bitterorange ins Wasser, wenn sie ihr Haar wusch. Der Duft brachte so viele Erinnerungen zurück, dass ihm schwindelig wurde. »Weit fort«, sagte er. »Ich war furchtbar weit fort.« Und stand einfach nur da und hielt sie fest, konnte nicht glauben, dass sie wirklich wieder da war, nicht nur als Erinnerung, verwischt und undeutlich, sondern aus Fleisch und Blut. und ihn nicht wieder fortschickte.

Wie lange sie einfach so dastanden, er wusste es nicht.

»Was ist mit der Älteren? Wie geht es Brianna?«, fragte er irgendwann.

»Sie lebt auf der Burg, seit vier Jahren schon. Sie dient Violante, der Schwiegertochter des Fürsten, die alle die Hässliche nennen.« Sie löste sich aus seinen Armen, strich sich über das straff zurückgesteckte Haar. »Brianna singt für die Hässliche, hütet ihren verzogenen Sohn und liest ihr vor. Violante ist ganz vernarrt in Bücher, aber ihre Augen sind schlecht, deshalb kann sie nicht selbst lesen, ganz abgesehen davon, dass sie es heimlich tun muss, weil der Fürst nichts von lesenden Frauen hält.«

»Aber Brianna kann lesen?«

»Ja, meinem Sohn habe ich es auch beigebracht.«

»Wie heißt er?«

»Jehan. Nach seinem Vater.« Roxane trat an den Tisch und strich über die Blumen, die darauf standen.

»Kannte ich ihn?«

»Nein. Er hat mir diesen Hof hinterlassen - und einen Sohn. Die Brandstifter haben uns die Scheune angesteckt, er ist hineingelaufen, um die Tiere zu retten, und das Feuer hat ihn gefressen. Ist das nicht seltsam - dass man zwei Männer liebt, und den einen beschützt das Feuer, während es den anderen tötet?« Sie schwieg eine ganze Weile, bevor sie weitersprach. »Der Brandfuchs führte damals die Feuerfinger an. Unter ihm trieben sie es fast noch schlimmer als unter Capri-corn. Basta und Capricorn verschwanden zur selben Zeit wie du, wusstest du das?«

»Ja, davon habe ich gehört«, murmelte er - und konnte den Blick nicht von ihr wenden. Wie schön sie war. So wunderschön. Es tat fast weh, sie anzusehen. Als sie erneut auf ihn zutrat, erinnerte ihn jede Bewegung an den Tag, an dem er sie zum ersten Mal hatte tanzen sehen.

»Die Feen haben ihre Sache wirklich gut gemacht«, sagte sie leise, während sie ihm übers Gesicht strich. »Wüsste ich’s nicht besser, ich würde denken, jemand hätte dir die Narben mit einem Silberstift aufs Gesicht gemalt.«

»Das ist eine sehr nette Lüge«, erwiderte er ebenso leise. Niemand wusste besser als Roxane, woher die Narben stammten. Sie würden den Tag beide nicht vergessen, den Tag, an dem der Natternkopf ihr befohlen hatte, vor ihm zu tanzen und zu singen. Capricorn war auch dort gewesen - mit Basta und all den anderen Feuerfingern, und Basta hatte Roxane angestarrt wie ein Kater einen schmackhaften Vogel. Nachgestellt hatte er ihr, Tag für Tag, hatte ihr Gold und Schmuck versprochen, sie bedroht und ihr geschmeichelt, und als sie ihn trotzdem abwies, immer wieder, allein und vor allen anderen, ließ Basta herumfragen, welchen Mann sie ihm vorzog. Auf dem Weg zu Roxane hatte er Staubfinger aufgelauert, mit zwei Helfern, die ihn festhielten, während Basta ihm das Gesicht zerschnitt.

»Nachdem dein Mann tot war, hast du da nicht wieder geheiratet?« Alberner Dummkopf, dachte er, bist eifersüchtig auf einen Toten.

»Nein. Der einzige Mann auf diesem Hof ist Jehan.«

Der Junge tauchte so plötzlich in der offenen Tür auf, als habe er dahinter gelauscht und nur darauf gewartet, dass endlich sein Name fiel. Wortlos schob er sich an Staubfinger vorbei und setzte sich auf die Bank.

»Die Blumen sind sogar noch größer geworden«, sagte er.

»Hast du dir die Finger an ihnen verbrannt?«

»Nur ein bisschen.«

Roxane schob ihm einen Krug mit kaltem Wasser hin. »Da, steck sie da rein. Und wenn das nicht hilft, schlag ich dir ein Ei auf. Gegen verbrannte Haut hilft nichts besser als etwas Eiweiß.«

Jehan steckte die Finger gehorsam in den Krug, den Blick immer noch auf Staubfinger. »Verbrennt er sich nie?«, fragte er seine Mutter.

Roxane musste lächeln. »Nein, nie. Das Feuer liebt ihn. Es leckt ihm die Finger und küsst ihn.«

Jehan musterte Staubfinger, als hätte Roxane ihm enthüllt, dass in seinen Adern kein Menschen-, sondern Feenblut rann.

»Vorsicht, sie zieht dich auf!«, sagte Staubfinger. »Natürlich beißt es mich.«

»Die Narben in deinem Gesicht - die sind nicht vom Feuer.«

»Nein.« Staubfinger nahm sich noch etwas von dem Brot. »Diese Violante«, sagte er, »Wolkentänzer hat mir erzählt, dass der Natternkopf ihr Vater ist. Hasst sie die Spielleute ebenso wie er?«

»Nein.« Roxane fuhr Jehan durch das schwarze Haar. »Wenn Violante etwas hasst, dann ist es ihr Vater. Sie war sieben, als er sie herschickte. Mit zwölf wurde sie mit Cosimo verheiratet, sechs Jahre später war sie Witwe. Nun sitzt sie da, in der Burg ihres Schwiegervaters, und versucht zu tun, was er durch die Trauer um seinen Sohn längst vergessen hat - sich um seine Untertanen zu kümmern. Violante hat ein Herz für die Schwachen. Bettler, Krüppel, Witwen mit hungrigen Kindern, Bauern, die die Steuern nicht bezahlen können - sie kommen alle zu ihr. Aber Violante ist eine Frau. Das bisschen Macht hat sie nur, weil jeder Angst vor ihrem Vater hat, selbst auf dieser Seite des Waldes.«

»Brianna ist gern auf der Burg.« Jehan wischte sich die nassen Finger an der Hose ab und betrachtete besorgt die geröteten Kuppen.

Roxane tauchte seine Finger zurück in das kalte Wasser. »Ja, leider«, sagte sie. »Unserer Tochter gefällt es, Violantes abgelegte Kleider zu tragen, in einem weichen Himmelbett zu schlafen und sich von feinem Volk Komplimente machen zu lassen. Aber mir gefällt es nicht, und das weiß sie.«

»Mich lässt die Hässliche auch manchmal holen!« Der Stolz in Jehans Stimme war nicht zu überhören. »Damit ich mit ihrem Sohn spiele. Jacopo stört sie und Brianna beim Lesen, und sonst will niemand mit ihm spielen, weil er immer gleich losschreit, wenn man mit ihm kämpft. Und wenn er verliert, schreit er, dass er einem den Kopf abschlagen lässt.«

»Du lässt ihn mit einem Fürstenbalg spielen?« Staubfinger warf Roxane einen beunruhigten Blick zu. »Fürsten sind niemals Freunde, egal, wie alt sie sind. Hast du das vergessen? Das Gleiche gilt für ihre Töchter, erst recht, wenn sie den Natternkopf zum Vater haben.«

Roxane schob sich wortlos an ihm vorbei. »Mich musst du nicht daran erinnern, wie Fürsten sind«, sagte sie. »Deine Tochter ist fünfzehn Jahre alt, auf meinen Rat gibt sie schon lange nichts mehr, aber wer weiß, vielleicht hört sie ja auf ihren Vater, obwohl sie ihn seit zehn Jahren nicht gesehen hat. Am nächsten Sonntag lässt der Speckfürst den Geburtstag seines Enkels feiern. Geh hin, wenn du willst. Ein guter Feuerspucker ist sicher willkommen, nachdem sie all die Jahre nur dem Rußvogel zusehen konnten.« Sie blieb in der offenen Tür stehen. »Komm, Jehan!«, sagte sie. »Deine Finger sehen nicht allzu schlimm aus, und es ist noch viel Arbeit zu tun.«

Der Junge gehorchte ohne zu murren. In der Tür warf er Staubfinger noch einen letzten neugierigen Blick zu, dann sprang er davon - und Staubfinger blieb allein zurück in dem engen Haus. Er betrachtete die Töpfe neben dem Feuer, die Holzschüsseln, das Spinnrad in der Ecke und die Truhe, die von Roxanes Vergangenheit erzählte. Ja, es war ein einfaches Haus, kaum größer als eine Köhlerhütte, aber es war ein Zuhause: das, was Roxane sich immer gewünscht hatte. Sie hatte es nie gemocht, nachts nur den Himmel über sich zu haben. Selbst wenn er das Feuer für sie Blüten treiben ließ, die ihren Schlaf bewachten.



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