Der Zug der Gefangenen



»Dann glauben Sie also nicht, daß er tot ist?« Er setzte seinen Hut auf.

»Ich kann mich natürlich irren, aber ich glaube, er lebt.

Alle Symptome sprechen dafür. Geh, sieh ihn dir an, und wenn ich zurückkomme, werden wir gemeinsam darüber entscheiden.«

Harper Lee, Wer die Nachtigall stört


Es war längst dunkel, als Meggie und Farid sich aufmachten, Staubfinger zu folgen. Nach Süden, immer nach Süden, hatte Wolkentänzer gesagt, doch wie wusste man, dass man nach Süden ging, wenn es keine Sonne gab, nach der man sich richten konnte, und keine Sterne, die durch die schwarzen Blätter schienen? Die Dunkelheit schien alles gefressen zu haben, die Bäume und selbst den Boden vor ihren Füßen. Nachtfalter flatterten ihnen ins Gesicht, aufgeschreckt von dem Feuer, das Farid zwischen seinen Fingern hegte wie ein kleines Tier. Die Bäume schienen Augen und Hände zu haben, und der Wind trug Stimmen an ihre Ohren, leise Stimmen, die Meggie unverständliche Worte zuflüsterten. In jeder anderen Nacht wäre sie wohl irgendwann einfach stehen geblieben oder zurückgelaufen, dorthin, wo Wolkentänzer und die Nessel vielleicht immer noch am Feuer saßen, doch in dieser Nacht wusste sie nur eins - sie musste Staubfinger finden und ihre Eltern, denn weder die Nacht noch der Wald konnten einen Schrecken für sie bereithalten, der größer war als der, der in ihrem Herzen nistete, seit sie Mos Blut auf dem Stroh gesehen hatte.

Zuerst fand Farid mit Hilfe des Feuers immer wieder einen Stiefelabdruck von Staubfinger, einen abgebrochenen Zweig, eine Marderspur, aber irgendwann stand er nur noch ratlos da und wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Baum reihte sich an Baum im bleichen Mondlicht, in jede Richtung, in die er blickte, so dicht, dass kein Pfad zwischen den Stämmen auszumachen war, und Meggie sah Augen, Augen über, hinter und neben sich. hungrige Augen, zornige Augen, so viele, dass sie sich wünschte, der Mond würde weniger hell durch die Blätter scheinen.

»Farid!«, flüsterte sie. »Lass uns auf einen Baum steigen und auf die Sonne warten. Wir finden Staubfingers Spur nie wieder, wenn wir einfach weitergehen.«

»Das sehe ich auch so!« Staubfinger erschien so lautlos zwischen den Bäumen, als hätte er schon eine ganze Weile dort gestanden. »Seit einer Stunde schon hör ich euch hinter mir durch den Wald pflügen wie eine Rotte Wildschweine«, sagte er, während Schleicher den Kopf durch seine Beine schob. »Das hier ist der Weglose Wald, und noch dazu nicht einer seiner freundlichsten Winkel. Ihr könnt nur froh sein, dass ich die Baumelben in den Eschen dort überzeugen konnte, dass ihr deren Äste nicht mutwillig abgebrochen habt. Und was ist mit den Nachtmahren? Denkt ihr, sie riechen euch nicht? Wenn ich sie nicht verscheucht hätte, würdet ihr wohl schon steif wie totes Holz zwischen den Bäumen liegen, eingesponnen in böse Träume wie zwei Fliegen in Spinnengarn.«

»Nachtmahre?«, flüsterte Farid, während die Funken auf seinen Fingerspitzen erloschen. Nachtmahre. Meggie trat näher an ihn heran. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die Resa ihr erzählt hatte. Wie gut, dass sie ihr nicht früher eingefallen war.

»Ja, hab ich dir noch nicht von ihnen erzählt?« Schleicher sprang Staubfinger entgegen, als er auf sie zuschritt, und begrüßte Gwin mit erfreutem Keckem. »Vielleicht fressen sie dich nicht bei lebendigem Leib wie diese Wüstengeister, von denen du mir immer erzählt hast, aber freundlich sind sie auch nicht gerade.«

»Ich geh nicht zurück«, sagte Meggie und sah ihn fest an. »Ich geh nicht zurück, egal, was du sagst.«

Staubfinger sah sie nur an. »Nein, ich weiß«, sagte er. »Ganz deine Mutter.« Nur das.

Die ganze Nacht folgten sie der breiten Spur, die die Gepanzerten durch den Wald geschlagen hatten, die Nacht und den folgenden Tag. Nur ab und zu, wenn er sah, dass Meggie vor Müdigkeit taumelte, ließ Staubfinger sie für kurze Zeit rasten. Als die Sonne schon wieder so tief stand, dass sie die Wipfel der Bäume berührte, erreichten sie den Kamm eines Hügels, und Meggie entdeckte zu seinen Füßen das dunkle Band einer Straße im Grün des Waldes. Eine Ansammlung von Gebäuden lag an ihrem Rand: ein lang gestrecktes Haus, Ställe um einen Hof herum.

»Das einzige Gasthaus nahe der Grenze«, raunte Staubfinger ihnen zu. »Dort haben sie vermutlich ihre Pferde untergestellt. Im Wald kommt man zu Fuß wesentlich schneller voran. In dem Gasthaus machen alle Rast, die nach Süden wollen und hinunter ans Meer: Kuriere, Händler, selbst einige Spielleute, obwohl jeder weiß, dass der Wirt ein Spion des Natternkopfs ist. Wenn wir Glück haben, sind wir vor denen, die wir verfolgen, dort, denn mit dem Karren und den Gefangenen kommen sie unmöglich die Hänge hinunter. Sie werden einen Umweg machen müssen, wir aber können gleich hier hinunter und sie am Gasthaus erwarten.«

»Und dann?« Für einen Moment glaubte Meggie in seinen Augen dieselbe Sorge zu sehen, die sie in den nächtlichen Wald getrieben hatte. Aber um wen machte er sich Sorgen? Um den Schwarzen Prinzen, die anderen Spielleute. ihre Mutter? Sie erinnerte sich noch sehr genau an den Tag in Capricorns Gruft, an dem er Resa angefleht hatte, mit ihm zu fliehen und ihre Tochter zurückzulassen.

Vielleicht hatte auch Staubfinger sich daran erinnert.

»Was siehst du mich so an?«, fragte er.

»Nichts, gar nichts«, murmelte sie und senkte den Kopf. »Ich mach mir nur Sorgen.«

»Nun, dazu hast du auch allen Grund«, sagte er und wandte ihr abrupt den Rücken zu.

»Aber was machen wir, wenn wir sie eingeholt haben?« Farid stolperte ihm hastig hinterher.

»Ich weiß nicht«, antwortete Staubfinger nur, während er begann, sich einen Weg den Abhang hinunter zu suchen, immer im Schutz der Bäume. »Ich dachte, einer von euch hätte eine Idee, wo ihr doch unbedingt mitkommen wolltet.«

Der Weg, den er nahm, führte so steil bergab, dass Meggie ihm kaum folgen konnte, aber dann, plötzlich, sah sie die Straße - steinig und durchfurcht von Rinnsalen, die irgendwann von den Hügeln herabgeflossen waren. Auf der anderen Seite lagen die Ställe und das Haus, das sie vom Hügelkamm aus gesehen hatte. Staubfinger winkte sie zu einer Stelle am Straßenrand, an der das Unterholz sie vor neugierigen Augen schützte.

»Sie scheinen wirklich noch nicht hier zu sein, aber sie müssen bald kommen!«, sagte er leise. »Vielleicht bleiben sie sogar über Nacht, schlagen sich die Bäuche voll und betrinken sich, um die Angst im Wald zu vergessen. Ich kann mein Gesicht da drüben nicht sehen lassen, solange es noch hell ist. Bei meinem Glück läuft mir bestimmt einer von den Brandstiftern über den Weg, die jetzt für den Natternkopf arbeiten. Aber du«, er legte Farid die Hand auf die Schulter, »du kannst dich schon mal rüberschleichen. Wenn dich jemand fragt, wo du herkommst, sagst du einfach, dein Herr sitzt im Gasthaus und betrinkt sich. Und sobald sie kommen: Zähl die Soldaten, zähl die Gefangenen und wie viele Kinder dabei sind. Verstanden? Ich werd mir währenddessen die Straße weiter oben ansehen, ich hab da so eine Idee.«

Farid nickte und lockte Gwin an seine Seite.

»Ich geh mit ihm!« Meggie hatte erwartet, dass Staubfinger ärgerlich werden, dass er ihr verbieten würde, ebenfalls zu gehen, aber er zuckte nur die Schultern.

»Wie du willst. Ich kann dich wohl schlecht festhalten. Ich hoffe nur, deine Mutter verrät sich nicht, wenn sie dich erkennt. Und noch etwas!« Er griff nach Meggies Arm, als sie Farid folgen wollte. »Setz dir nicht den Kopf, dass wir irgendetwas für deine Eltern tun können. Vielleicht bekommen wir die Kinder frei, vielleicht sogar noch ein paar andere, wenn sie schnell genug rennen. Aber dein Vater wird nicht rennen können, und deine Mutter wird bei ihm bleiben. Sie wird ihn nicht allein lassen, ebenso wenig wie sie es damals mit dir getan hat. Daran erinnern wir uns doch beide, oder?«

Meggie nickte und wandte das Gesicht ab, damit er ihre Tränen nicht sah. Staubfinger jedoch drehte sie sacht um und wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Du bist deiner Mutter wirklich sehr ähnlich«, sagte er leise. »Sie wollte auch nie, dass man sie weinen sah - selbst wenn sie noch so gute Gründe dafür hatte.« Sein Gesicht war angespannt, als er sie beide noch einmal musterte. »Also los. Schmutzig genug seid ihr«, stellte er fest. »Jeder wird euch den Stallknecht oder das Küchenmädchen abnehmen. Wir treffen uns hinter den Ställen, sobald es dunkel ist. Und jetzt geht.«

Sie mussten nicht lange warten.

Kaum eine Stunde hatte Meggie sich mit Farid zwischen den Ställen herumgedrückt, als sie den Zug der Gefangenen die Straße herunterkommen sahen - Frauen, Kinder, alte Männer, die Hände auf den Rücken gefesselt, Soldaten zu beiden Seiten. Gepanzert waren diese nicht, kein Helm verbarg ihre mürrischen Gesichter, aber sie alle trugen die Schlange ihres Herrn auf der Brust, die silbergrauen Umhänge und ein Schwert am Gürtel. Ihren Anführer erkannte Meggie sofort. Es war der Brandfuchs. Und seinem Gesicht nach zu urteilen schien es ihm nicht sonderlich zu behagen, zu Fuß zu gehen.

»Starr sie nicht so an!«, flüsterte Farid, als Meggie wie angewurzelt stehen blieb, und zerrte sie hinter einen der Karren, die auf dem Hof abgestellt waren. »Deine Mutter ist unverletzt. Hast du sie gesehen?«

Meggie nickte. Ja. Resa ging zwischen zwei anderen Frauen, eine von ihnen war schwanger. Aber wo war Mo?

»He!«, brüllte der Brandfuchs, während seine Männer die

Gefangenen auf den Hof trieben. »Wem gehören die Karren da? Wir brauchen mehr Platz.«

Die Soldaten stießen die Karren zur Seite, einen so grob, dass die Säcke, mit denen er beladen war, ins Rutschen kamen. Ein Mann stürzte aus dem Gasthaus, vermutlich der Besitzer, den Protest schon auf den Lippen, doch als er die Soldaten sah, schluckte er ihn herunter und schrie die Knechte an, die den Karren hastig wieder aufrichteten. Händler, Bauern, Knechte -immer mehr Menschen quollen aus Ställen und Haupthaus, um zu sehen, woher der Lärm auf dem Hof stammte. Ein fetter, schwitzender Mann drängte sich durch das Getümmel auf den Brandfuchs zu, blieb anklagend vor ihm stehen und übergoss ihn mit einem Schwall wenig freundlicher Worte.

»Schon gut, schon gut!«, hörte Meggie den Brandfuchs knurren. »Aber wir brauchen Platz. Siehst du nicht, dass wir Gefangene haben? Oder sollen wir sie lieber in deine Ställe treiben?«

»Ja, ja, nimm einen von den Ställen!«, rief der fette Mann erleichtert und winkte ein paar seiner Knechte zu sich, die dastanden und die Gefangenen anstarrten. Einige hatten sich hingekniet, da, wo sie gerade standen, die Gesichter blass vor Erschöpfung und Angst.

»Komm!«, flüsterte Farid Meggie zu, und sie schoben sich Seite an Seite zwischen den schimpfenden Bauern und Händlern hindurch, zwischen den Knechten, die immer noch die aufgeplatzten Säcke vom Hof schafften, und den Soldaten, die dem Gasthaus begierige Blicke zuwarfen. Keiner schien noch sonderlich auf die Gefangenen zu achten, aber das war auch nicht nötig. Nicht einer von ihnen sah so aus, als hätte er noch Kraft zur Flucht. Selbst die Kinder, deren Beine vielleicht schnell genug gewesen wären, klammerten sich nur mit leeren Augen an die Röcke ihrer Mütter oder starrten voll Angst auf die bewaffneten Männer, die sie hergebracht hatten. Resa stützte die schwangere Frau. Ja, ihre Mutter war unverletzt, so viel sah Meggie, obwohl sie es vermied, allzu sehr in Resas Nähe zu kommen, aus Angst, Staubfinger könnte Recht haben mit seiner Sorge, dass sie sich bei ihrem Anblick verraten würde. Wie verzweifelt sie sich umsah. Sie griff nach dem Arm eines Soldaten, wie ein Junge sah er aus mit seinem bartlosen Gesicht, und dann - »Farid.« Meggie glaubte nicht, was sie sah. Resa sprach. Nicht mit den Händen, sondern mit dem Mund. Ihre Stimme war kaum zu hören in all dem Lärm, aber es war ihre Stimme. Wie war das möglich? Der Soldat hörte ihr nicht zu, er stieß sie grob zurück, und Resa wandte sich um. Der Schwarze Prinz und sein Bär zogen einen Karren auf den Hof. Wie Ochsen waren die beiden vor den Karren gespannt. Eine Kette schlang sich um die schwarze Schnauze des Bären, eine weitere um seinen Hals und seine Brust. Aber Resa hatte weder Augen für den Bären noch für den Prinzen -sie starrte nur den Karren an, und Meggie begriff sofort, was das bedeutete.

Ohne ein Wort lief sie los. »Meggie!«, rief Farid ihr nach, aber sie hörte nicht hin. Keiner hielt sie auf. Der Karren war ein morsches Ding. Erst sah sie nur den Spielmann mit dem verletzten Bein und das Kind auf seinem Schoß. Dann sah sie Mo.

Ihr Herz wollte nicht mehr schlagen. Er lag mit geschlossenen Augen da, unter einer schmutzigen Decke, aber Meggie sah das Blut trotzdem. Sein ganzes Hemd war voll Blut, das Hemd, das er so gern trug, obwohl die Ärmel schon verschlissen waren. Meggie vergaß alles, Farid, die Soldaten, Staubfingers Warnung, wo sie war, warum sie hier war. Sie starrte nur ihren Vater an und sein stilles Gesicht. Die Welt war plötzlich ein leerer Ort, so leer, und ihr Herz ein kaltes, totes Ding.

»Meggie!« Farid griff nach ihrem Arm. Er zerrte sie mit sich, sosehr sie sich auch sträubte, und presste sie an sich, als sie zu schluchzen begann.

»Er ist tot, Farid! Hast du ihn gesehen? Mo. er ist tot!« Sie stammelte es immer wieder, das furchtbare Wort. Tot. Fort. Für immer.

Sie stieß Farids Arme weg. »Ich muss zu ihm.« Es klebt

Unglück an diesem Buch, Meggie, nichts als Unglück. Auch wenn du mir das nicht glauben willst. Hatte er es ihr nicht in Elinors Bibliothek gesagt? Wie weh jedes Wort jetzt tat. Der Tod hatte in dem Buch gewartet, sein Tod.

»Meggie!« Farid hielt sie immer noch fest. Er schüttelte sie, als müsste er sie aufwecken. »Meggie, hör zu. Er ist nicht tot! Glaubst du, sie würden ihn sonst mit sich schleppen?«

Würden sie? Sie wusste gar nichts mehr.

»Komm mit. Na, komm schon!« Farid zog sie mit sich. Er schob sich so beiläufig durch das Gedränge, als interessierte ihn die ganze Aufregung nicht. Schließlich blieb er mit ge-langweiltem Gesicht neben dem Stall stehen, in den die Soldaten die Gefangenen trieben. Meggie wischte sich die Tränen aus den Augen und gab sich Mühe, ebenso gleichgültig dreinzublicken, aber wie sollte das gehen mit einem Herzen, das plötzlich schmerzte, als hätte es jemand entzweigeschnitten?

»Hast du genug zu essen da?«, hörte sie den Brandfuchs fragen. »Wir haben einen Riesenhunger aus dem verfluchten Wald mitgebracht.«

Meggie sah, wie sie Resa in den dunklen Stall stießen, zusammen mit den anderen Frauen, und zwei Soldaten den Prinzen und seinen Bären losbanden.

»Natürlich hab ich genug!«, sagte der fette Wirt mit entrüsteter Stimme. »Und eure Pferde werdet ihr nicht wiedererkennen, so sehr werden sie glänzen.«

»Nun, das will ich hoffen«, erwiderte der Brandfuchs. »Sonst sorgt der Natternkopf dafür, dass du die längste Zeit Besitzer dieser Baracken gewesen bist. Wir reiten morgen bei Tagesanbruch weiter. Meine Männer und die Gefangenen bleiben im Stall, aber ich will ein Bett, und zwar ein eigenes, nicht eins, das ich mit einem Haufen schnarchender, furzender Fremder teilen muss.«

»Natürlich, natürlich!« Der Wirt nickte eilfertig. »Aber was ist mit dem Untier da?« Er wies besorgt auf den Bären. »Er wird mir die Pferde scheu machen. Warum habt ihr ihn nicht getötet und im Wald liegen lassen?«

»Weil der Natternkopf ihn zusammen mit seinem Herrn aufhängen will«, antwortete der Brandfuchs, »und weil meine Männer den Unsinn über ihn glauben - dass er ein Nachtmahr ist, der gern in Bärengestalt herumspaziert, und es deshalb keine gute Idee ist, ihm einen Pfeil in den Pelz zu schießen.«

»Ein Nachtmahr?« Der Wirt kicherte nervös. Offenbar schien er die Geschichte nicht für unmöglich zu halten. »Egal, was er ist, in den Stall kommt er mir nicht. Bindet ihn meinetwegen hinterm Backhaus an. Da riechen die Pferde ihn vielleicht nicht.« Der Bär brummte dumpf, als einer der Soldaten ihn an der Kette hinter sich herzerrte, aber der Schwarze Prinz sprach beruhigend auf ihn ein, mit leiser Stimme, als müsste er ein Kind trösten, während sie sie hinter das Haupthaus stießen.

Der Karren mit Mo und dem alten Mann stand immer noch auf dem Hof. Ein paar Knechte lungerten darum herum, sie steckten die Köpfe zusammen, vermutlich rätselten sie, wen genau der Natternkopf da hatte einfangen lassen. Ob schon das Gerücht umlief, dass der Mann, der da wie tot auf dem Karren lag, der Eichelhäher war? Der Soldat mit dem bartlosen Gesicht scheuchte die Knechte fort, zerrte das Kind vom Karren und schubste es ebenfalls auf den Stall zu. »Was ist mit den Verwundeten?«, rief er dem Brandfuchs zu. »Sollen wir die zwei einfach auf dem Karren lassen?«

»Damit sie morgen tot oder fort sind? Was redest du da, du Schwachkopf? Schließlich ist einer von ihnen der Grund, weshalb wir in den verfluchten Wald geschlichen sind, oder?« Der Brandfuchs wandte sich wieder dem Wirt zu. »Ist unter deinen Gästen ein Bader?«, fragte er. »Ich hab einen Gefangenen, der am Leben bleiben muss, weil der Natternkopf eine prächtige Hinrichtung für ihn plant. Mit einem Toten macht das keinen rechten Spaß, wenn du verstehst, was ich meine.«

. am Leben bleiben. Farid drückte Meggies Hand und lächelte ihr triumphierend zu.

»O ja, natürlich, natürlich!« Der Wirt warf dem Karren einen neugierigen Blick zu. »Es ist sicher ärgerlich, wenn einem die Verurteilten noch vor der Hinrichtung wegsterben. Dieses

Jahr soll das ja schon zweimal passiert sein, wie man erzählt. Trotzdem, mit einem Bader kann ich nicht dienen. Aber ich hab ein Moosweibchen, das in der Küche hilft. Sie hat schon so manchen Gast wieder hinbekommen.«

»Gut! Lass sie holen!«

Der Wirt winkte ungeduldig einem Jungen, der neben der Stalltür lehnte. Der Brandfuchs aber rief zwei seiner Soldaten zu sich: »Los, die Verwundeten auch in den Stall!«, hörte Meggie ihn sagen. »Doppelte Wachen vor die Tür, und vier von euch bewachen heute Nacht den Eichelhäher, verstanden? Kein Wein, kein Met, und wehe, einer schläft!«

»Der Eichelhäher?« Der Wirt bekam große Augen. »Ihr habt den Eichelhäher auf dem Karren?« Als der Brandfuchs ihm einen warnenden Blick zuwarf, presste er sich rasch die fetten Finger auf den Mund. »Kein Wort!«, stieß er hervor. »Kein Wort, von mir erfährt es keiner.«

»Das will ich dir auch geraten haben«, knurrte der Brandfuchs und sah sich um, als wollte er sichergehen, dass niemand sonst seine Worte gehört hatte.

Als die Soldaten Mo von dem Karren hoben, machte Meggie unwillkürlich einen Schritt vor, aber Farid zog sie mit sich. »Meggie, was ist los mit dir?«, zischte er. »Wenn du so weitermachst, sperren sie dich gleich auch ein. Denkst du, das hilft ihnen?«

Meggie schüttelte den Kopf. »Er lebt wirklich noch, Farid, nicht wahr?«, flüsterte sie. Sie hatte fast Angst, es zu glauben.

»Ja, sicher. Hab ich dir doch gesagt. Und nun guck nicht so traurig. Alles wird gut, du wirst sehen!« Farid strich ihr über die Stirn, küsste ihr die Tränen von den Wimpern.

»He, ihr da, Turteltäubchen, weg von den Pferden!«

Der Pfeifer stand vor ihnen. Meggie senkte den Kopf, auch wenn sie sicher war, dass er sie nicht erkennen würde. Sie war nur ein Mädchen in einem schmutzigen Kleid gewesen, das er auf dem Marktplatz von Ombra fast niedergeritten hätte. Auch heute war er prächtiger gekleidet als alle Spielleute, die Meggie bislang unter die Augen gekommen waren. Seine seidenen Kleider schillerten wie ein Pfauenschwanz - und die Ringe an seinen Fingern waren ebenso aus Silber wie die Nase in seinem Gesicht. Ganz offenbar zahlte der Natternkopf gut für Lieder, die ihm gefielen.

Der Pfeifer zwinkerte ihnen noch einmal zu, dann schlen-derte er hinüber zum Brandfuchs. »Sieh an, du bist also aus dem Wald zurück!«, rief er ihm schon von weitem zu. »Und mit fetter Beute. Da hat ja wohl einer deiner Spitzel ausnahmsweise keine Lügen erzählt. Endlich mal eine gute Nachricht für den Natternkopf.«

Der Brandfuchs antwortete, aber Meggie hörte nicht zu. Der Junge kam mit dem Moosweibchen zurück, einer kleinwüchsigen Frau, die ihm kaum bis zur Schulter reichte. Ihre Haut war grau wie Buchenrinde und ihr Gesicht runzlig wie ein verschrumpelter Apfel. Moosweibchen, Heilerinnen. Bevor Farid begriff, was sie vorhatte, war Meggie ihm davongeschlüpft. Das Moosweibchen würde wissen, wie es um Mo stand. ganz nah schob sie sich an die kleine Frau heran, bis nur noch der Junge zwischen ihnen stand. Der Kittel des Weibchens war fleckig von Bratensaft, und ihre Füße waren nackt, aber sie musterte die Männer, die sie umstanden, mit furchtlosen Augen.

»Tatsächlich, ein echtes Moosweibchen«, brummte der Brandfuchs, während seine Soldaten vor der winzigen Frau zurückwichen, als wäre sie so gefährlich wie der Bär des Schwarzen Prinzen. »Dachte, die kommen nie heraus aus dem Wald. Aber gut, angeblich verstehen sie ja was vom Heilen. Diese alte Hexe, die Nessel, soll die nicht ein Moosweibchen zur Mutter haben?«

»Ja, aber ihr Vater taugte nichts.« Die kleine Frau musterte den Brandfuchs so eindringlich, als versuchte sie herauszufinden, welches Blut in seinen Adern floss. »Du trinkst zu viel!«, stellte sie fest. »Sieh dir dein Gesicht an. Wenn du so weitermachst, platzt deine Leber bald wie ein zu reifer Kürbis.«

Gelächter erhob sich bei den Umstehenden, aber ein Blick des Brandfuchses ließ es verstummen. »Hör zu, du bist nicht hier, um mir Ratschläge zu geben, Wichtelfrau!«, fuhr er das Moosweibchen an. »Ich will, dass du dir einen meiner Gefangenen ansiehst, denn er muss lebend auf der Burg des Natternkopfs ankommen.«

»Ja, ja, das weiß ich schon«, erwiderte das Moosweibchen, während es immer noch mürrisch sein Gesicht musterte. »Damit dein Herr ihn nach allen Regeln der Kunst umbringen kann. Holt mir Wasser, warmes Wasser und saubere Tücher. Außerdem soll mir jemand helfen.«

Der Brandfuchs gab dem Jungen einen Wink. »Wenn du einen Helfer willst, such dir einen aus«, brummte er und betastete unauffällig seinen Bauch, vermutlich, weil er dort seine Leber vermutete.

»Einen von deinen Männern? Nein, danke.« Das Moosweibchen rümpfte verächtlich die kurze Nase und sah sich um, bis ihr Blick an Meggie hängen blieb. »Die da«, sagte das Weibchen. »Die sieht nicht allzu dumm aus.«

Und bevor Meggie wusste, wie ihr geschah, packte einer der Soldaten sie unsanft bei der Schulter. Das Letzte, was sie sah, bevor sie dem Moosweibchen in den Stall nachstolperte, war Farids erschrockenes Gesicht.



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