Die Burg am Meer



Und manchmal ist in einem alten Buche ein unbegreiflich Dunkles angestrichen.

Da warst du einst. Wo bist du hin entwichen?

Rainer Maria Rilke, Improvisationen aus dem Capreser Winter (III)


Genau so hatte sich Mo die Nachtburg vorgestellt: mächtige Türme, klobig und rund, Schießscharten wie Zahnlücken unter den Silberdächern. Mo glaubte Fenoglios Worte vor sich zu sehen, als die erschöpften Gefangenen vor ihm durch das Burgtor wankten, schwarz auf milchweißem Papier:. die Nachtburg, finsteres Gewächs am Meer, jeder Stein poliert von Schreien, die Mauern schlüpfrig von Tränen und Blut. Ja, Fenoglio war ein guter Geschichtenerzähler. Silber säumte die Zinnen und Tore, zog sich wie Schneckenschleim über die Mauern. Der Natternkopf liebte das Metall, das seine Untertanen den Speichel des Mondes nannten, vielleicht, weil ihm ein Alchemist einst weisgemacht hatte, dass es die Weißen Frauen fern hielt, weil sie es hassten, wenn sich ihre blassen Gesichter darin spiegelten.

Von allen Orten in der Tintenwelt hätte Mo diesen als letzten gewählt. Aber nicht er wählte seinen Weg durch diese Geschichte, so viel stand fest. Sie hatte ihm sogar einen neuen Namen gegeben. Manchmal kam es ihm schon so vor, als wäre es tatsächlich der seine. Als hätte er den Namen Eichelhäher in sich getragen wie eine Saat, die nun aufging, in dieser Welt aus Worten.

Er fühlte sich besser. Das Fieber war immer noch da, wie Milchglas vor seinen Augen, aber der Schmerz war ein zahmes Kätzchen im Vergleich zu dem Raubtier, das ihn noch in der Höhle im Spielmannslager zerfleischt hatte. Er konnte sich aufsetzen, wenn er die Zähne zusammenbiss, konnte sich umsehen zu Resa. Er ließ sie selten aus den Augen, als könnte er sie auf die Art beschützen vor den Blicken der Soldaten, ihren Tritten und Schlägen. Ihr Anblick schmerzte mehr als die Wunde. Als das Tor der Nachtburg sich hinter ihr und den restlichen Gefangenen schloss, konnte sie sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Füßen halten. Sie blieb stehen und blickte an den Mauern empor, die sie umgaben, wie eine Maus, die die Falle betrachtet, in die sie getappt ist. Einer der Soldaten stieß sie weiter, mit dem Lanzenschaft, und Mo hätte so gern die Hände um seinen Hals gelegt und zugedrückt. Er schmeckte den Hass auf der Zunge und im Herzen, wie ein Zittern, und verfluchte die eigene Schwäche.

Resa sah ihn an, sie versuchte zu lächeln, aber sie war zu erschöpft, und er sah ihre Angst. Die Soldaten zügelten die Pferde, umringten die Gefangenen, als gäbe es irgendein Entkommen zwischen den steil aufragenden Mauern. Die Vipernköpfe, die Dächer und Simse stützten, ließen keinen Zweifel daran, wer der Herr dieser Burg war. Von überall blickten sie auf die verlorene Schar herab, gespaltene Zungen im schmalen Maul, die Augen aus rotem Edelstein, die Silberschuppen schimmernd wie Fischhaut im Mondlicht.

»Schafft den Eichelhäher in den Turm!« Die Stimme des Brandfuchses verlor sich fast in der Weite des Burghofes. »Die anderen bringt ihr in die Kerker.«

Sie wollten sie trennen. Mo sah, wie Resa auf den Brandfuchs zuging, mühsam auf ihren schmerzenden Füßen. Einer der Berittenen stieß sie so grob mit dem Stiefel zurück, dass sie hinfiel. Und Mo spürte ein Ziehen in der Brust, als hätte der Hass etwas geboren. Ein neues Herz, kalt und hart, das töten wollte.

Eine Waffe. Hätte er doch nur eine Waffe gehabt, eins der hässlichen Schwerter, das sie alle am Gürtel trugen, oder eins ihrer Messer. Es schien nichts Begehrenswerteres auf der Welt zu geben als so ein scharfes Stück Metall, begehrenswerter als alle Worte, die Fenoglio schreiben konnte.

Sie zerrten ihn von dem Karren. Er konnte kaum stehen, aber er hielt sich aufrecht, irgendwie. Gleich vier Soldaten standen um ihn herum, packten ihn, und er stellte sich vor, wie er sie tötete, einen nach dem anderen. Während das neue kalte Herz in seiner Brust den Takt dazu schlug.

»He, geht etwas vorsichtiger mit ihm um, ja?«, fuhr der Brandfuchs die Männer an. »Glaubt ihr, ich hab ihn den ganzen verdammten Weg hierher geschafft, nur damit ihr Tölpel ihn jetzt umbringt?«

Resa weinte. Mo hörte sie seinen Namen rufen, immer wieder. Er drehte sich um, aber er konnte sie nirgendwo sehen, hörte nur ihre Stimme. Er rief ihren Namen, versuchte sich loszureißen, trat nach den Soldaten, die ihn weiterzerrten, auf einen der Türme zu.

»He, versuch das nicht noch mal!«, fuhr der eine ihn an. »Was regst du dich auf? Ihr seid bald wieder vereint. Der Natternkopf liebt es, wenn die Frauen bei der Hinrichtung zusehen.«

»Ja, er kann gar nicht genug bekommen von ihrem Weinen und Zetern«, spottete der andere. »Du wirst sehen, nur dafür wird er sie noch eine Weile am Leben lassen. Und du wirst eine prächtige Hinrichtung bekommen, Eichelhäher, da kannst du sicher sein.«

Eichelhäher. Ein neuer Name. Ein neues Herz. Wie Eis in der Brust, die Kanten scharf wie eine Klinge.



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