Die Nacht davor



Stimmt. Ich sprech von Träumen,

Den Kindern unbeschäftigter Gehirne,

Erzeugt aus Blasen eitler Phantasie,

Die als Substanz so dünn ist wie die Luft.

William Shakespeare, Romeo und Julia


Es war die letzte Nacht vor dem Tag, an dem der Natternkopf seine Barmherzigkeit beweisen wollte. In wenigen Stunden, noch vor Morgengrauen, würden sie alle an der Straße liegen. Wann genau die Gefangenen kommen sollten, das hatte keiner der Spitzel zu sagen gewusst - nur dass dies der Tag sein würde. Die Räuber hockten zusammen und erzählten sich mit lauten Stimmen alte Abenteuer. Vermutlich war das ihre Art, die Angst fern zu halten, doch Staubfinger war weder nach Reden noch nach Zuhören zumute. Immer wieder schreckte er aus dem Schlaf, doch nicht der lauten Stimmen wegen, die zu ihm herüberdrangen. Bilder weckten ihn, schlimme Bilder, wie sie ihm schon seit Tagen den Schlaf raubten.

Diesmal waren sie besonders schlimm gewesen, so wirklich, dass er hochgefahren war, als wäre Gwin ihm auf die Brust gesprungen. Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals, während er dasaß und in die Dunkelheit starrte. Träume - schon in der anderen Welt hatten sie ihn oft den Schlaf gekostet, aber er konnte sich an keinen erinnern, der so schlimm gewesen war wie dieser. »Es sind die Toten. Sie bringen die schlimmen Träume«, sagte Farid immer. »Sie flüstern dir schreckliche Dinge zu und dann legen sie sich dir auf die Brust, um dein rasendes Herz zu spüren. Das gibt ihnen das Gefühl, wieder lebendig zu sein!«

Die Erklärung gefiel Staubfinger. Er fürchtete den Tod, aber nicht die Toten. Doch was, wenn es ganz anders war, was, wenn die Träume ihm eine Geschichte zeigten, die irgendwo schon auf ihn wartete? Die Wirklichkeit war ein zerbrechliches Ding, das hatte ihn Zauberzunges Stimme für alle Zeiten gelehrt.

Neben ihm regte Roxane sich im Schlaf. Sie wandte den Kopf und murmelte die Namen ihrer Kinder, der lebenden wie der toten. Es gab keine Nachrichten aus Ombra. Selbst der Prinz hatte noch nichts gehört, weder von der Burg noch aus der Stadt, kein Wort darüber, was passiert war, nachdem der Natternkopf seiner Tochter Cosimos Leiche hatte bringen lassen, zusammen mit der Nachricht, dass auch von den Männern, die ihm gefolgt waren, kaum einer zurückkehren würde.

Roxane flüsterte erneut Briannas Namen. Jeder Tag, den sie bei ihm blieb, zerschnitt ihr das Herz, das wusste Staubfinger nur zu gut. Warum also ging er nicht einfach mit ihr? Kehrte diesem verfluchten Hügel den Rücken, um endlich wieder an einem Ort zu sein, an dem man sich nicht unter der Erde verstecken musste wie ein Tier. Oder wie ein Toter, setzte er in Gedanken hinzu.

Du weißt, warum!, dachte er. Nur die Träume sind es. Die verfluchten Träume. Er flüsterte Feuerworte. Weg mit der Dunkelheit, in der Träume so schreckliche Blüten trieben. Schläfrig leckte eine Flamme neben ihm aus der Erde. Er streckte die Hand aus und ließ sie an seinen Armen emportanzen, an seinen Fingern schlecken und an seiner Stirn in der Hoffnung, sie würde die bösen Bilder einfach fortbrennen. Doch selbst der Schmerz nahm sie nicht fort, und Staubfinger löschte die Flamme mit der flachen Hand. Rußig und heiß war seine Haut danach, als hätte das Feuer seinen schwarzen Atem hinterlassen, der Traum aber war immer noch da, ein Schrecken in seinem Herzen, zu schwarz und stark selbst für das Feuer.

Wie konnte er einfach fortgehen, wenn er nachts solche Bilder sah - Bilder von Toten, immer wieder, nichts als Blut und Tod? Die Gesichter wechselten. Mal war es Resas Gesicht, das er sah, mal das von Meggie, dann wieder das vom Schleierkauz. Auch den Schwarzen Prinzen hatte er schon im Traum gesehen, Blut auf der Brust. Und heute - heute war es Farids Gesicht gewesen. Genau wie in der Nacht zuvor. Staubfinger schloss die Augen, als die Bilder zurückkamen, so deutlich, so klar. Natürlich hatte er versucht, den Jungen zu überreden, bei Roxane in der Mine zu bleiben. Aber es war hoffnungslos.

Staubfinger lehnte den Rücken gegen den feuchten Stein, in den längst verschwundene Hände die engen Stollen geschlagen hatten, und blickte zu dem Jungen hinüber. Farid hatte sich zusammengerollt wie ein kleines Kind, die Knie an die Brust gezogen, neben sich die beiden Marder. Sie schliefen immer öfter an Farids Seite, wenn sie von der Jagd kamen, vielleicht, weil sie wussten, dass Roxane sie nicht mochte.

Wie friedlich der Junge dalag, so anders, als Staubfinger ihn noch eben in seinen Träumen gesehen hatte. Es huschte sogar ein Lächeln über sein dunkles Gesicht. Vielleicht träumte er ja von Meggie, Resas Meggie, ihrer Mutter so ähnlich wie eine Flamme der anderen und doch so verschieden. »Du denkst doch auch, dass es ihr gut geht, oder?« Wie oft am Tag er das fragte. Staubfinger erinnerte sich noch gut an das Gefühl, zum ersten Mal verliebt zu sein. Er war kaum älter gewesen als Farid. Wie wehrlos sein Herz plötzlich gewesen war, so ein zittriges zuckendes Ding, glücklich und furchtbar unglücklich zugleich.

Ein kalter Windzug fuhr durch den Stollen, und Staubfinger sah, wie der Junge im Schlaf schauderte. Gwin hob den Kopf, als er aufstand, sich den Mantel von den Schultern zog und Farid damit zudeckte. »Was siehst du mich so an?«, flüsterte er dem Marder zu. »In dein Herz hat er sich doch genauso geschlichen wie in meins. Wie konnte uns das nur passieren, Gwin?«

Der Marder leckte sich die Pfote und sah ihn an mit seinen dunklen Augen. Wenn er träumte, dann sicher nur von der Jagd und nicht von toten Jungen.

Was, wenn der Alte die Träume schickte? Der Gedanke ließ Staubfinger schaudern, während er sich wieder neben Roxane auf dem harten Boden ausstreckte. Ja, vielleicht saß Fenoglio in irgendeiner Ecke, so wie er es in den letzten Tagen oft getan hatte, und spann für ihn ein paar böse Träume. Schließlich hatte er es mit der Angst des Natternkopfes nicht anders gemacht! Unsinn!, dachte Staubfinger ärgerlich und schlang den Arm um Roxane. Meggie ist nicht hier. Ohne sie sind die Worte des Alten nichts als Tinte. Und jetzt versuch endlich zu schlafen, oder du wirst noch einnicken, wenn du mit den anderen zwischen den Bäumen wartest.

Aber er schloss die Augen noch lange nicht.

Er lag nur da und lauschte dem Atem des Jungen.

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