Die falschen Worte



Wenn dir nur bloß das rote Haar und auch mein tolles Lachen bleibt.

Was sonst an mir noch gut und böse war, stirbt wie das Blatt, das welk im Wasser treibt.

Francois Villon, Die Ballade vom kleinen Florestan


Staubfinger scheuchte Schleicher gerade von Roxane s Hühnerstall fort, als Brianna auf den Hof geritten kam. Ihr Anblick ließ ihm fast das Herz stillstehen. Wie die Tochter eines reichen Kaufmanns sah sie aus in dem Kleid, das sie trug. Seit wann trugen Dienerinnen solche Kleider? Und dann das Pferd, auf dem sie saß - es passte nicht hierher mit seinem kostbaren Geschirr, dem goldbeschlagenen Sattel und dem pechschwarzen Fell, das so glänzte, als wären drei Stallknechte den ganzen Tag damit beschäftigt, es zu bürsten. Ein Soldat war bei ihr, in den Farben des Speckfürsten. Mit unbewegtem Gesicht musterte er das einfache Haus und die Felder. Brianna aber sah Staubfinger an. Sie schob das Kinn vor, genau wie ihre Mutter es so oft tat, rückte sich die Spange im Haar zurecht - und sah ihn an.

Wenn er sich doch nur hätte unsichtbar machen können! Wie feindselig ihr Blick war, zugleich erwachsen und der eines gekränkten Kindes. Sie ähnelte so sehr ihrer Mutter. Der Soldat half ihr abzusteigen, dann tränkte er sein Pferd am Brunnen - und tat, als hätte er weder Ohren noch Augen.

Roxane trat aus dem Haus. Offenbar überraschte der Besuch sie ebenso wie ihn.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass er zurück ist?«, fuhr Brianna sie an.

Roxane öffnete den Mund - und schloss ihn wieder.

Nun sag schon etwas, Staubfinger. Der Marder sprang ihm von der Schulter und verschwand hinter dem Stall.

»Ich hab sie gebeten, es nicht zu tun.« Wie heiser seine Stimme klang. »Ich dachte, ich sag es dir lieber selbst.« Aber dein Vater ist ein Feigling, setzte er hinzu, hat Angst vor der eigenen Tochter.

Wie wütend sie ihn ansah. Genau wie früher. Nur dass sie inzwischen zu erwachsen war, um ihn zu schlagen.

»Ich hab diesen Jungen gesehen«, sagte sie. »Er war auf dem Fest und heute hat er für Jacopo Feuer gespuckt. Er hat es genauso gemacht wie du.«

Staubfinger sah Farid hinter Roxane auftauchen. Er blieb hinter ihr stehen, aber Jehan drängte sich an ihm vorbei. Er warf einen besorgten Blick auf den Soldaten, dann lief er auf seine Schwester zu. »Woher hast du das Pferd?«, fragte er.

»Violante hat es mir gegeben. Zum Dank dafür, dass ich sie nachts mit zu den Spielleuten nehme.«

»Du nimmst sie mit?« Roxane klang besorgt.

»Warum nicht, sie liebt es! Und der Schwarze Prinz hat es erlaubt.« Brianna sah sie nicht an.

Farid schlenderte zu Staubfinger herüber. »Was will die hier?«, flüsterte er. »Das ist die Dienerin der Hässlichen.«

»Sie ist auch meine Tochter«, antwortete Staubfinger.

Farid starrte Brianna ungläubig an, doch sie beachtete ihn nicht. Sie war ihres Vaters wegen gekommen.

»Zehn Jahre!«, sagte sie mit anklagender Stimme. »Zehn Jahre warst du fort und kommst einfach so zurück? Alle haben gesagt, du bist tot! Dass der Natternkopf dich in seinen Kerkern hat verfaulen lassen! Dass die Brandstifter dich zu ihm gebracht haben, weil du ihnen nicht all deine Geheimnisse verraten wolltest!«

»Ich hab sie ihnen verraten«, sagte Staubfinger tonlos. »Fast alle.« Und sie haben damit eine andere Welt in Brand gesteckt, setzte er in Gedanken hinzu. Eine andere Welt, die keine Tür hatte, durch die ich zurückkonnte.

»Ich hab von dir geträumt!« Briannas Stimme wurde so laut, dass ihr Pferd scheute. »Ich hab geträumt, dass die Gepanzerten dich an einen Pfahl binden und verbrennen! Ich konnte den Rauch riechen und hören, wie du versucht hast, mit dem Feuer zu reden, aber es hat dir nicht gehorcht, und die Flammen haben dich gefressen. Fast jede Nacht hatte ich diesen Traum! Bis heute. Ich hatte Angst, schlafen zu gehen, zehn Jahre lang, und jetzt stehst du da, heil und gesund, als wäre nichts gewesen! Wo - warst - du?«

Staubfinger blickte zu Roxane hinüber - und sah dieselbe Frage in ihren Augen. »Ich konnte nicht zurückkommen«, sagte er. »Ich konnte nicht. Ich hab’s versucht. Glaub mir.«

Die falschen Worte. Auch wenn es hundertmal wahr war, es klang doch wie eine Lüge. Hatte er es nicht immer gewusst? Worte taugten nichts. Ja, manchmal klangen sie wunderbar, aber sie ließen einen im Stich, sobald man sie wirklich brauchte. Nie fand man die richtigen, niemals, aber wo sollte man auch nach ihnen suchen? Das Herz ist stumm wie ein Fisch, auch wenn die Zunge sich noch so viel Mühe gibt, ihm eine Stimme zu geben.

Brianna kehrte ihm den Rücken zu und vergrub das Gesicht in der Mähne ihres Pferdes - während der Soldat immer noch beim Brunnen stand und tat, als sei er Luft, nichts als Luft.

Luft, ja, das wäre ich jetzt auch gern, dachte Staubfinger.

»Es ist wirklich wahr! Er konnte nicht zurück!« Farid stellte sich vor ihn hin, als müsste er ihn beschützen. »Es gab keinen Weg! Es war genau, wie er sagt! Er war in einer ganz anderen Welt. Sie ist genauso echt wie diese. Es gibt viele, ganz viele Welten, sie sind alle verschieden, und in den Büchern sind sie aufgeschrieben!«

Brianna drehte sich zu ihm um. »Sehe ich aus, als war ich noch ein kleines Mädchen, das an Märchen glaubt?«, fragte sie verächtlich. »Früher, wenn er wieder mal so lange fort war, dass meine Mutter morgens rot geweinte Augen hatte, haben die anderen Spielleute mir auch Geschichten über ihn erzählt. Dass er mit den Feen spricht, dass er bei den Riesen ist, dass er auf dem Meeresboden nach einem Feuer sucht, das selbst Wasser nicht löschen kann. Ich hab die Geschichten schon damals nicht geglaubt, aber ich mochte sie. Jetzt mag ich sie nicht mehr. Ich bin nicht mehr klein. Schon lange nicht mehr. Hilf mir aufs Pferd!«, fuhr sie den Soldaten an.

Wortlos gehorchte er. Jehan starrte das Schwert an, das an seinem Gürtel hing.

»Bleib zum Essen!«, sagte Roxane.

Aber Brianna schüttelte nur den Kopf und wendete wortlos ihr Pferd. Der Soldat zwinkerte Jehan zu, der immer noch sein Schwert anstarrte. Dann ritten sie davon, auf ihren Pferden, die viel zu groß schienen für den schmalen steinigen Pfad, der zu Roxanes Hof führte.

Roxane zog Jehan mit sich ins Haus, doch Staubfinger blieb vor dem Stall stehen, bis die beiden Reiter zwischen den Hügeln verschwunden waren.

Farids Stimme bebte vor Entrüstung, als er schließlich das Schweigen brach. »Du konntest wirklich nicht zurück!«

»Nein. Aber du musst zugeben, dass deine Geschichte nicht sehr glaubhaft klang.«

»Trotzdem! Genau so war es!«

Staubfinger zuckte die Schultern und blickte dorthin, wo seine Tochter verschwunden war. »Manchmal denk ich schon selbst, ich hätte das alles nur geträumt«, murmelte er.

Hinter ihnen zeterte ein Huhn.

»Verdammt, wo steckt Schleicher?« Mit einem Fluch öffnete Staubfinger die Stalltür. Eine weiße Henne flatterte an ihm vorbei ins Freie, eine andere lag im Stroh, die Federn blutig. Daneben hockte ein Marder.

»Schleicher!«, zischte Staubfinger. »Verdammt, hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Hühner in Frieden lassen?«

Der Marder sah ihn an.

Federn hingen ihm an der blutigen Schnauze. Er streckte sich, hob den buschigen Schwanz und kam auf Staubfinger zu.

Wie eine Katze rieb er sich an seinen Beinen.

»Nun sieh einer an!«, flüsterte Staubfinger. »Hallo, Gwin.« Sein Tod war zurück.

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