Die falschen Ohren



Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.

Joseph von Eichendorff, Wünschelrute


Roxane brachte Meggie eine Öllampe, bevor sie sie in der Kammer allein ließ, in der sie schliefen. »Buchstaben brauchen Licht, das ist unpraktisch an ihnen«, sagte sie. »Aber wenn diese tatsächlich so wichtig sind, wie ihr alle sagt, kann ich verstehen, dass du sie allein lesen willst. Ich habe auch immer geglaubt, dass meine Stimme am schönsten klingt, wenn ich allein bin.« Sie stand schon in der Tür, als sie hinzusetzte: »Deine Mutter - kennen sie und Staubfinger sich gut?«

Ich weiß nicht, hätte Meggie fast geantwortet. Ich habe meine Mutter nie gefragt. »Sie waren Freunde«, sagte sie schließlich. Nichts über den Groll, den sie immer noch empfand, wenn sie daran dachte, dass Staubfinger all die Jahre gewusst hatte, wo Resa war, und es Mo nicht erzählt hatte. Aber Roxane fragte nicht weiter. »Wenn du Hilfe brauchst«, sagte sie nur, bevor sie ging, »ich bin beim Schleierkauz.«

Meggie wartete, bis ihre Schritte draußen auf dem dunklen Gang verklungen waren. Dann setzte sie sich auf einen der Strohsäcke und legte das Pergament auf ihren Schoß. Wie wäre es, musste sie denken, während die Buchstaben sich vor ihr spreizten, wenn ich es einfach nur zum Spaß tun würde, nur ein einziges Mal. Wie wäre es, den Zauber der Worte auf der Zunge zu spüren, ohne dass Tod oder Leben an ihnen hing, Glück oder Unglück. In Elinors Haus hatte sie der Versuchung einmal fast nicht widerstehen können - als sie sich ein Buch angesehen hatte, das sie als kleines Kind sehr geliebt hatte - ein Buch mit Mäusen in Rüschenkleidern und winzigen Anzügen, die Marmelade kochten und Picknicks veranstalteten. Sie hatte das erste Wort schon auf den Lippen gespürt, als sie das Buch doch noch zugeschlagen hatte, weil sie plötzlich ein paar abscheuliche Bilder gesehen hatte: eine der bekleideten Mäuse in Elinors Garten, umstellt von ihren wilden Verwandten, die nie auf die Idee kommen würden, Marmelade zu kochen, das Bild eines Rüschenkleidchens samt grauem Schwanz zwischen den Zähnen einer der Katzen, die regelmäßig Elinors Rhododendronbüsche durchstreiften. Nein, Meggie hatte noch nie etwas nur zum Spaß aus den Worten gelockt, und auch heute Abend würde es nicht so sein.

»Das Atmen, Meggie«, hatte Mo einmal zu ihr gesagt, »ist das ganze Geheimnis. Es gibt deiner Stimme Kraft und füllt sie mit deinem Leben. Aber nicht nur mit deinem. Manchmal kommt es mir fast so vor, als nehme man mit einem Atemzug alles auf, was einen umgibt, alles, was die Welt ausmacht und bewegt, und auch das fließt dann in die Worte.«

Sie versuchte es. Sie versuchte so ruhig und tief zu atmen wie das Meer, dessen Rauschen von draußen hereindrang, ein und aus, ein und aus, als könnte sie auf die Art seine Kraft in ihre Stimme bannen. Die Öllampe, die Roxane gebracht hatte, verbreitete ein warmes Licht in der Kammer, und draußen ging auf leisen Sohlen eine der Heilerinnen vorbei.

»Ich erzähle sie nur weiter!«, flüsterte Meggie. »Ich erzähle die Geschichte weiter, sie wartet schon darauf. Na los!« Sie stellte sich die massige Gestalt des Natternkopfes vor, wie er oben in der Nachtburg schlaflos auf und ab ging, ohne eine Ahnung, dass es ein Mädchen gab, das vorhatte, in ebendieser Nacht dem Tod seinen Namen ins Ohr zu flüstern.

Sie zog den Brief aus dem Gürtel, den Fenoglio ihr geschrieben hatte. Es war gut, dass Staubfinger ihn nicht gelesen hatte.


Liebe Meggie, hieß es darin, ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht sein von dem, was ich dir schicke. Es ist seltsam, aber ich habe festgestellt, dass ich offenbar nur schreiben kann, was nicht dem widerspricht, was ich bisher über die Tintenwelt geschrieben habe. Ich muss die Regeln befolgen, die ich selbst festgelegt habe, auch wenn ich das oft ganz unbewusst getan habe.

Ich hoffe, deinem Vater geht es gut. Nach dem, was ich gehört habe, ist er inzwischen ein Gefangener auf der Nachtburg - und ich bin nicht ganz unschuldig daran. Ja, ich gebe es zu. Schließlich habe ich ihn, wie du inzwischen sicherlich herausgefunden hast, als lebende Vorlage für den Eichelhäher benutzt. Es tut mir Leid, aber ich hielt das wirklich für einen guten Einfall. Dein Vater gab einen sehr edlen Räuber ab in meiner Phantasie, und wie konnte ich ahnen, dass er jemals tatsächlich in meine Geschichte hineingeraten würde? Wie auch immer - er ist hier, und der Natternkopf wird ihn nicht freilassen, nur weil ich es schreibe. So habe ich ihn nicht erschaffen, Meggie. Die Geschichte muss sich selber treu bleiben, das ist der einzige Weg, und deshalb kann ich dir nur diese Worte senden, die die Hinrichtung deines Vaters zunächst zwar lediglich aufhalten, zum guten Schluss aber hoffentlich doch zu seiner Befreiung führen werden. Vertrau mir. Ich glaube, die Worte, die ich beifüge, sind die einzig möglichen, um dieser Geschichte zu einem wahrhaft guten Ende zu verhelfen, und du liebst doch Geschichten mit einem guten Ende, oder?

Erzähl meine Geschichte weiter, Meggie! Bevor sie es selber tut!

Ich hätte dir die Worte gern selbst gebracht, aber ich muss mich um Cosimo kümmern. Ich fürchte fast, dass wir es uns in seinem Fall etwas zu leicht gemacht haben. Pass auf dich auf, grüß deinen Vater von mir, wenn du ihn wiedersiehst (was hoffentlich bald ist), und den Jungen, der den Boden unter

deinen Füßen anbetet - ach ja, und sag Staubfinger, auch wenn er das sicherlich nicht hören will, dass seine Frau viel zu schön für ihn ist.

Sei umarmt!

Fenoglio

PS: Da dein Vater noch lebt, habe ich mich gefragt, ob die Worte, die ich dir für ihn mit in den Wald gegeben habe, vielleicht doch gewirkt haben? Sollte das so sein, Meggie, dann vermutlich nur deshalb, weil ich in gewisser Weise aus ihm eine meiner Figuren gemacht habe - womit an der ganzen Eichelhäher-Geschichte doch etwas Gutes wäre, oder?


Ach, Fenoglio. Was für ein Meister er doch darin war, alles zu seinen Gunsten sprechen zu lassen. Ein Windzug fuhr durchs Fenster und ließ die Pergamentbögen erzittern, als würde die Geschichte ungeduldig, als wollte sie endlich die neuen Worte hören. »Ja, ja, schon gut. Ich fang ja schon an«, flüsterte Meggie.

Sie hatte ihren Vater nicht oft lesen hören, doch sie erinnerte sich sehr genau daran, wie Mo jedem Wort den richtigen Klang gegeben hatte, jedem einzelnen. In der Kammer war es still, so still. Die ganze Tintenwelt, jede Fee, jeder Baum, selbst das Meer, schien auf ihre Stimme zu warten.

»Seit vielen Nächten schon«, begann Meggie, »konnte der Natternkopf keine Ruhe finden. Seine Frau schlief tief und fest. Die fünfte war es, jünger als seine drei ältesten Töchter. Ihr Leib wölbte sich unter der Decke, schwanger mit seinem Kind. Diesmal musste es ein Junge werden, zwei Töchter hatte sie ihm schon geboren. Wenn auch dieses Kind ein Mädchen war, würde er sie verstoßen, so wie er schon drei andere Frauen verstoßen hatte. Zurück zu ihrem Vater würde er sie schicken oder auf irgendeine einsame Burg in den Bergen.

Warum konnte sie schlafen, obwohl sie ihn fürchtete, während er auf und ab ging in der prächtigen Kammer wie ein alter Tanzbär in seinem Käfig?

Weil die große Angst nur zu ihm kam. Die Angst vor dem Tod.

Sie wartete draußen vor den Fenstern, vor den Scheiben aus Glas, die er mit seinen kräftigsten Bauern bezahlt hatte. Sie drückte ihr hässliches Gesicht dagegen, sobald die Dunkelheit seine Burg verschlang wie die Schlange die Maus. Jede Nacht ließ er mehr Fackeln entzünden, mehr Kerzen, und doch kam die Angst - ließ ihn schlottern und auf die Knie fallen, weil sie allzu sehr zitterten, ließ ihn seine Zukunft sehen: wie das Fleisch ihm von den Knochen welkte, wie die Würmer ihn fraßen und die Weißen Frauen ihn fortzerrten.

Der Natternkopf presste die Hände vor den Mund, damit der Wächter vor der Tür sein Schluchzen nicht hörte. Angst. Angst vor dem Ende aller Tage, Angst vor dem Nichts, Angst, Angst, Angst. Angst, dass der Tod schon in seinem Körper nistete, unsichtbar, irgendwo, wuchs und wucherte und an ihm fraß! - Der einzige Feind, den er nicht erschlagen konnte, nicht verbrennen, erstechen, aufhängen, der einzige, vor dem es kein Entkommen gab.

Eines Nachts, schwarz und endlos wie keine zuvor, war die Angst besonders schlimm, und er ließ sie alle wecken, wie er es öfter tat, all die, die friedlich in ihren Betten schliefen, statt wie er zu zittern und zu schwitzen, seine Frau, die nutzlosen Bader, die Bittsteller, Schreiber, Verwalter, seinen Herold und den silbernasigen Spielmann. Er ließ die Köche in die Küche treiben, damit sie ihm ein Festmahl kochten, doch als er an seiner Tafel saß, die Finger triefend vom frisch gebratenen fetten Fleisch, kam ein Mädchen auf die Nachtburg. Furchtlos schritt sie an den Wachen vorbei und bot ihm einen Handel an, einen Handel mit dem Tod...«

Ja. So würde es passieren. Weil sie es las. Wie die Worte Meggie über die Lippen drängten. Als webten sie die Zukunft. Jeder Klang, jeder Buchstabe ein Faden. Meggie vergaß alles um sich her: das Siechenhaus, den Strohsack, auf dem sie saß, selbst Farid und sein unglückliches Gesicht, als er ihr nachgeblickt hatte. Sie spann Fenoglios Geschichte weiter, nur dazu war sie noch da, spann sie mit ihrem Atem und ihrer Stimme aus klingenden Fäden - um ihren Vater zu retten und ihre Mutter. Und diese ganze seltsame Welt, die sie verzaubert hatte.

Als Meggie die aufgeregten Stimmen hörte, dachte sie zunächst, sie kämen aus den Worten. Widerstrebend hob sie den Kopf. Noch hatte sie nicht alles gelesen. Ein paar Sätze warteten noch, warteten darauf, dass sie ihnen das Atmen beibrachte. Sieh auf die Buchstaben, Meggie!, dachte sie. Konzentrier dich - und fuhr zusammen, als ein dumpfes Klopfen durch das Siechenhaus schallte. Die Stimmen wurden lauter, hastige Schritte klangen zu ihr herein und Roxane erschien in der Tür. »Sie kommen von der Nachtburg!«, flüsterte sie. »Sie haben ein Bild von dir, ein seltsames Bild. Schnell, komm mit mir!«

Meggie versuchte, das Pergament mit den letzten Sätzen in ihren Ärmel zu schieben, doch dann überlegte sie es sich anders und schob es in den Ausschnitt ihres Kleides. Unter dem festen Stoff würde es sich hoffentlich nicht abzeichnen. Sie schmeckte die Worte immer noch auf der Zunge, sah sich immer noch vor dem Natternkopf stehen, wie sie es gelesen hatte, aber Roxane griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich. Eine Frauenstimme drang den Säulengang hinunter, Bellas Stimme, und dann die eines Mannes, laut und herrisch. Roxa-ne ließ Meggies Hand nicht los, zerrte sie weiter, vorbei an den Türen, hinter denen die Kranken schliefen oder schlaflos ihrem eigenen schweren Atem lauschten. Die Kammer des Schleierkauzes war leer. Roxane zog Meggie mit sich hinein, schob den Riegel vor und sah sich um. Das Fenster war vergittert, und die Schritte kamen näher. Meggie glaubte, die Stimme des Schleierkauzes zu hören und eine andere, grob und drohend. Dann war es plötzlich still. Sie waren stehen geblieben, vor der Tür. Roxane schlang Meggie den Arm um die Schulter.

»Sie werden dich mitnehmen!«, flüsterte sie ihr zu, während draußen der Schleierkauz auf die Eindringlinge einredete.

»Wir werden dem Schwarzen Prinzen Bescheid geben, er hat Spione auf der Burg. Wir werden versuchen, dir zu helfen, hörst du?«

Meggie nickte nur.

Jemand hämmerte gegen die Tür. »Mach auf, kleine Hexe, oder sollen wir dich holen?«

Bücher, nichts als Bücher. Meggie wich zwischen die Stapel zurück. Nicht eins war dabei, aus dem sie sich Hilfe hätte holen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Das Wissen, das sie verwahrten, konnte ihr nicht helfen. Hilfe suchend blickte sie Roxane an - und sah dieselbe Ratlosigkeit in ihrem Gesicht.

Was würde geschehen, wenn sie sie mitnahmen? Wie viele Sätze waren noch ungelesen? Verzweifelt versuchte Meggie sich zu erinnern, wo genau sie unterbrochen worden war.

Wieder schlugen sie gegen die Tür. Das Holz ächzte, bald würde es splittern und brechen. Meggie trat auf die Tür zu, schob den Riegel zurück und öffnete. Sie konnte so schnell nicht zählen, wie viele Soldaten auf dem schmalen Korridor standen. Es waren viele, sehr viele. Ihr Anführer war der Brandfuchs. Meggie erkannte ihn trotz des Tuches, das er sich vor Mund und Nase gebunden hatte. Sie alle trugen Tücher vorm Gesicht, und ihre unverdeckten Augen waren voll Angst. Ich hoffe, ihr habt euch hier alle die Pest geholt, dachte Meg-gie. Ich hoffe, ihr sterbt wie die Fliegen. Der Soldat neben dem Brandfuchs stolperte zurück, als hätte er ihre Gedanken gehört, doch es war Meggies Gesicht, vor dem er erschrak. »Hexe!«, stieß er hervor und starrte auf das, was der Brandfuchs in der Hand hielt. Meggie erkannte den schmalen Silberrahmen sofort. Es war ihr Foto, aus Elinors Bibliothek.

Ein Murmeln erhob sich unter den bewaffneten Männern. Der Brandfuchs aber griff ihr grob unters Kinn, bis sie ihm das Gesicht zuwandte. »Wusste ich’s doch. Du bist die Kleine aus dem Stall«, sagte er. »Ich geb zu, dort kamst du mir nicht wie eine Hexe vor!«

Meggie versuchte den Kopf abzuwenden, aber die Hand des Brandfuchses ließ nicht los. »Gut gemacht!«, sagte er zu einem Mädchen, das verloren zwischen all den Bewaffneten stand, mit bloßen Füßen und dem schlichten Kittel, den alle trugen, die in dem Siechenhaus arbeiteten. Carla. War das nicht ihr Name gewesen?

Sie hielt den Kopf gesenkt und betrachtete das Silberstück, das der Soldat ihr in die Hand drückte, als hätte sie eine so schöne, glänzende Münze noch nie gesehen. »Er hat gesagt, ich bekomme Arbeit«, flüsterte sie kaum hörbar. »Arbeit in der Burgküche. Der mit der Silbernase hat es gesagt.«

Der Brandfuchs zuckte nur höhnisch die Achseln. »Da redest du mit dem Falschen«, sagte er und wandte ihr achtlos den Rücken zu. »Diesmal soll ich dich auch mitnehmen, Steinschneider«, sagte er zum Schleierkauz. »Du hast einmal zu oft die falschen Besucher durch dein Tor gelassen. Ich habe dem Natternkopf gesagt, dass es Zeit wird, hier ein Feuer zu machen, ein großes Feuer, ich kann so etwas immer noch sehr gut, aber er wollte nichts davon hören. Irgendjemand hat ihm erzählt, dass sein Tod aus dem Feuer kommen wird. Seitdem lässt er uns nur noch Kerzen anzünden.« Die Verachtung für die Milde seines Herrn war nicht zu überhören.

Der Schleierkauz blickte Meggie an. Es tut mir Leid, sagte sein Blick. Und eine Frage las sie auch noch heraus: Wo ist Staubfinger? Ja, wo?

»Lasst mich mit ihr gehen.« Roxane trat an Meggies Seite und versuchte, ihr den Arm um die Schultern zu legen, aber der Brandfuchs stieß sie grob zurück.

»Nur das Mädchen auf dem Hexenbild«, sagte er. »Und der Bader.«

Roxane, Bella und ein paar der anderen Frauen folgten ihnen bis an die Pforte, die zum Meer hinausführte. Die Gischt leuchtete im Mondlicht, und der Strand lag verlassen da, bis auf ein paar Fußspuren, die sich zum Glück niemand genauer ansah. Die Soldaten hatten Pferde für ihre Gefangenen mitgebracht, und das von Meggie legte die Ohren an, als einer der Soldaten sie auf den hageren Rücken hob. Erst als es mit ihr auf die Berge zutrottete, wagte sie, sich unauffällig umzusehen. Aber von Staubfinger und Farid war nichts zu entdecken. Bis auf die Fußspuren im Sand.



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