»Und sie legte ihm das Heilkraut in den Mund - er schlief gleich ein. Sie deckte ihn behutsam zu. Er schlief den ganzen Tag hindurch.«
Dieter Kühn, Der Parzival des Wolfram von Eschenbach
Die Höhle war leer bis auf Resa und Mo, als sie kamen, zwei Frauen und vier Männer. Zwei der Männer hatten mit Wolkentänzer am Feuer gesessen: Rußvogel, der Feuerspucker, und der Zweifinger. Sein Gesicht sah bei Tageslicht nicht freundlicher aus, und auch die Übrigen blickten so feindselig drein, dass Resa unwillkürlich näher an Mo heranrückte.
Nur der Rußvogel schien verlegen.
Mo schlief, den unruhigen fiebrigen Schlaf, den er nun schon mehr als einen Tag lang schlief und der die Nessel sorgenvoll den Kopf schütteln ließ. Die sechs blieben nur wenige Schritte entfernt von ihm stehen. Sie versperrten Resa den Blick auf das Tageslicht, das von draußen hereinfiel.
Eine der Frauen trat vor die anderen. Sie war nicht sonderlich alt, aber ihre Finger waren verkrümmt wie die Klauen eines Vogels. »Er muss fort!«, sagte sie. »Heute noch. Er ist keiner von uns, ebenso wenig wie du.«
»Wie meinst du das?« Resas Stimme zitterte, sosehr sie sich auch bemühte, ruhig zu klingen. »Er kann nicht fort. Er ist noch zu schwach.«
Wenn doch nur die Nessel da gewesen wäre! Aber sie war fort, hatte irgendetwas von kranken Kindern gemurmelt - und einem Kraut, dessen Wurzel das Fieber vielleicht vertreiben würde. Vor der Nessel hätten die sechs Angst gehabt, Angst, Respekt, Scheu, während sie selbst für die Spielleute nur eine Fremde war, irgendeine verzweifelte Fremde mit einem todkranken Mann - auch wenn keiner hier ahnte, wie fremd sie in dieser Welt waren.
»Die Kinder. du musst uns verstehen!« Die andere Frau war noch sehr jung, und sie war schwanger. Schützend hatte sie eine Hand auf den Bauch gelegt. »Einer wie er bringt unsere Kinder in Gefahr, und Martha hat Recht, ihr gehört nicht mal zu uns. Dies ist der einzige Platz, an dem man uns bleiben lässt. Keiner jagt uns hier fort, doch wenn sie hören, dass der Eichelhäher hier ist, ist das vorbei. Sie werden sagen, dass wir ihn versteckt haben.«
»Aber er ist nicht der Eichelhäher! Ich hab es euch doch schon gesagt. Und wer sind >sie«
Mo flüsterte etwas im Fieber, seine Hand klammerte sich an Resas Arm.
Beruhigend strich sie ihm über die Stirn, zwang ihm einen Schluck von dem Sud über die Lippen, den die Nessel angerührt hatte. Ihre Besucher beobachteten sie schweigend.
»Als ob du das nicht wüsstest!«, sagte einer der Männer, ein großer hagerer Mann, den ein trockener Husten schüttelte. »Der Natternkopf sucht nach ihm. Er wird die Gepanzerten herschicken. Er wird uns alle aufhängen lassen, weil wir ihn hier verstecken.«
»Ich sage es euch noch mal!« Resa griff nach Mos Hand, hielt sie ganz fest. »Er ist kein Räuber oder sonst jemand aus euren Geschichten! Wir sind erst seit ein paar Tagen hier! Mein Mann bindet Bücher, das ist sein Handwerk, nichts sonst!«
Wie sie sie ansahen!
»Eine schlechtere Lüge hab ich selten gehört!« Der Zweifinger verzog den Mund. Er hatte eine hässliche Stimme. Den flickenbunten Kleidern nach zu urteilen war er einer von denen, die auf den Märkten Komödie spielten, laut und derb, bis die Zuschauer sich allen Kummer vom Herzen gelacht hatten. »Was sollte ein Buchbinder mitten im Weglosen Wald bei Capricorns alter Festung suchen? Niemand geht freiwillig dorthin, wegen der Weißen Frauen und all der anderen Scheusale, die sich zwischen den Ruinen herumtreiben. Und Morto-la, was sollte die mit einem Buchbinder zu schaffen haben? Warum sollte sie auf ihn schießen, mit irgendeiner Hexenwaffe, von der noch nie jemand gehört hat?«
Die anderen nickten zustimmend - und machten noch einen Schritt auf Mo zu. Was sollte sie tun? Was konnte sie sagen? Was nützte es, eine Stimme zu haben, wenn niemand zuhörte? »Mach dir nichts draus, dass du nicht sprechen kannst«, hatte Staubfinger oft zu ihr gesagt. »Die Leute hören eh nicht zu, oder?«
Vielleicht konnte sie um Hilfe rufen, aber wer sollte kommen? Wolkentänzer war mit der Nessel aufgebrochen, ganz früh am Morgen, die Blätter hatten noch rot geleuchtet von der aufgehenden Sonne, und die Frauen, die Resa zu essen brachten und sie manchmal an Mos Seite ablösten, damit sie für ein paar Stunden schlafen konnte - sie waren am nahen Fluss, um Wäsche zu waschen, mitsamt der Kinder. Dort draußen waren nur noch ein paar alte Männer, Männer, die hergekommen waren, weil sie die Menschen leid waren und auf den Tod warteten. Sie würden ihr kaum helfen.
»Wir werden ihn nicht an den Natternkopf ausliefern! Wir bringen ihn nur zurück, dorthin, wo die Nessel euch gefunden hat. Zu der verfluchten Festung.« Das war wieder der mit dem Husten.
Ein Rabe hockte auf seiner Schulter. Resa kannte solche Raben, aus der Zeit, die sie auf den Märkten gesessen hatte, Urkunden und Bittbriefe schreibend - ihre Besitzer richteten sie ab, ein paar zusätzliche Münzen zu stehlen, während sie ihre Kunststücke vorführten.
»In den Liedern heißt es, der Eichelhäher schützt das Bunte Volk«, fuhr sein Besitzer fort. »Und die, die er getötet haben soll, haben unsere Frauen und Kinder bedroht. Wir wissen das zu schätzen und haben alle schon die Lieder über ihn gesungen, aber aufknüpfen lassen werden wir uns nicht für ihn.«
Sie hatten es längst entschieden. Sie würden Mo fortbringen. Resa wollte sie anschreien, aber sie hatte einfach keine Kraft mehr zum Schreien. »Es wird ihn töten, wenn ihr ihn zurückbringt!« Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
Es interessierte sie nicht, Resa sah es in ihren Augen. Wie auch?, dachte sie. Was würde sie tun, wären das dort draußen ihre Kinder? Sie erinnerte sich an einen Besuch des Natternkopfes auf Capricorns Festung, er hatte der Hinrichtung eines gemeinsamen Feindes beigewohnt. Seit diesem Tag wusste sie, wie ein Mensch aussah, der Vergnügen daran hatte, anderen Leid zuzufügen.
Die Frau mit den krummen Fingern kniete sich neben Mo und schob ihm den Ärmel hoch, bevor Resa es verhindern konnte. »Da, seht ihr?«, sagte sie triumphierend. »Er hat die Narbe, genau wie sie in den Liedern beschrieben ist - dort, wo die Hunde der Natter ihn gebissen haben.«
Resa stieß sie so heftig weg, dass sie den anderen vor die Füße fiel. »Die Hunde gehörten nicht dem Natternkopf. Sie gehörten Basta!«
Der Name ließ sie alle zusammenfahren. Aber fort gingen sie trotzdem nicht. Der Rußvogel half der Frau auf die Füße, und der Zweifinger trat näher zu Mo. »Los!«, sagte er zu den anderen. »Heben wir ihn hoch.« Sie traten alle an seine Seite. Nur der Feuerspucker zögerte.
»Bitte! So glaubt mir doch!« Resa stieß ihre Hände zurück. »Wie könnt ihr glauben, dass ich euch belüge? Was für ein Dank wäre das für eure Hilfe?«
Keiner beachtete sie. Der Zweifinger zog Mo die Decke weg, die die Nessel ihnen gegeben hatte. Es wurde nachts kalt in der Höhle.
»Ah, sieh an! Ihr besucht unsere Gäste. Das ist wirklich nett.«
Wie sie herumfuhren. Wie Kinder, die man bei einem bösen Streich ertappt hatte. Ein Mann stand im Höhleneingang. Für einen Moment dachte Resa, es sei Staubfinger, und fragte sich verwirrt, wie es möglich war, dass Wolkentänzer ihn so schnell hergebracht hatte. Doch dann sah sie, dass der Mann, den die sechs so schuldbewusst anstarrten, schwarz war. Alles an ihm war schwarz, sein langes Haar, seine Haut, seine Augen, selbst seine Kleider. Und neben ihm, fast einen Kopf größer, stand, ebenso schwarz wie sein Herr, ein Bär.
»Das sind bestimmt die Besucher, von denen die Nessel mir erzählt hat, nicht wahr?« Der Bär zog grunzend den Kopf ein, als er seinem Herrn in die Höhle folgte. »Sie sagt, dass sie einen alten und sehr guten Freund von mir kennen. Staubfinger. Natürlich habt ihr alle schon von ihm gehört, oder? Und ihr wisst sicherlich, dass seine Freunde schon immer auch meine Freunde waren. Für seine Feinde gilt natürlich dasselbe.«
Die sechs stolperten auseinander, fast eilfertig, als wollten sie dem Fremden den Blick auf Resa freigeben. Und der Feuerspucker lachte nervös. »Na so was, Prinz, was treibt dich denn hierher?«
»Oh, dies und das. Warum stehen draußen keine Wachen? Denkt ihr, den Kobolden schmecken unsere Vorräte nicht mehr?« Er schlenderte langsam auf sie zu, während sein Bär sich auf alle viere niederließ und ihm nachtappte, schnaufend, als gefiele die enge Höhle ihm nicht. Sie nannten ihn Prinz. Natürlich! Der Schwarze Prinz! Sie hatte seinen Namen auf dem Markt von Ombra gehört, von den Mägden auf Capri-corns Festung, ja, selbst von Capricorns Männern. Zu Gesicht bekommen hatte sie ihn, damals, als Fenoglios Geschichte sie zum ersten Mal verschlungen hatte, dennoch nie. Ein Messerwerfer war er, Bärenzähmer. und Staubfingers Freund, seit die beiden kaum halb so alt wie Meggie gewesen waren.
Die anderen wichen zur Seite, als der Prinz mit seinem Bären zwischen sie trat, aber er beachtete sie nicht. Er blickte auf Resa herab. Drei Messer steckten in seinem bunt bestickten Gürtel, blank und schmal, obwohl es keinem Spielmann erlaubt war, Waffen zu tragen, »damit man sie ungestörter aufspießen kann!«, hatte Staubfinger oft gespottet.
»Willkommen im Geheimen Lager«, sagte der Schwarze Prinz, während sein Blick zu Mos blutigem Verband wanderte.
»Staubfingers Freunde sind hier immer willkommen - auch wenn es gerade vielleicht nicht den Anschein hat.« Spöttisch musterte er die Umstehenden. Nur der Zweifinger erwiderte trotzig seinen Blick, dann senkte auch er den Kopf.
Der Prinz aber blickte wieder auf Resa herab. »Woher kennst du Staubfinger?«
Was sollte sie darauf antworten? Aus einer anderen Welt? Der Bär schnüffelte an dem Brot, das neben ihr lag. Der heiße Raubtieratem ließ sie schaudern. Sag die Wahrheit, Resa, dachte sie. Du musst ja nicht erzählen, in welcher Welt sie sich zugetragen hat.
»Ich war Magd bei den Brandstiftern, einige Jahre lang«, sagte sie. »Ich bin weggelaufen, aber eine Schlange hat mich gebissen. Staubfinger hat mich gefunden und mir geholfen. Ohne ihn wäre ich gestorben.« Er hat mich versteckt, setzte sie in Gedanken hinzu, aber sie haben mich bald gefunden, Basta und die anderen, und ihn halb totgeschlagen.
»Was ist mit deinem Mann? Ich höre, er ist keiner von uns.« Die schwarzen Augen forschten in ihrem Gesicht. Sie schienen geübt darin, Lügen zu entdecken.
»Sie sagt, er ist Buchbinder, aber wir wissen es besser!« Der Zweifinger spuckte verächtlich aus.
»Was wisst ihr?« Der Prinz blickte sie an, und sie schwiegen.
»Er ist Buchbinder! Bringt ihm Papier, Leim und Leder, und er wird es euch beweisen, wenn es ihm besser geht.« Nicht weinen, Resa, dachte sie. Du hast genug geweint in den letzten Tagen.
Der Hagere hustete schon wieder.
»Gut, ihr habt sie gehört.« Der Prinz hockte sich neben ihr auf den Boden. »Die beiden bleiben hier, bis Staubfinger kommt, um ihre Geschichte zu bestätigen. Er wird uns schon sagen, ob das da nur ein harmloser Buchbinder oder dieser Räuber ist, von dem ihr immer faselt. Staubfinger kennt ihn doch, deinen Mann, oder?«
»O ja«, erwiderte Resa leise. »Er kennt ihn, länger noch als mich.«
Mo wandte den Kopf. Er flüsterte Meggies Namen.
»Meggie? Ist das dein Name?« Der Prinz stieß die Schnauze seines Bären weg, als er wieder an dem Brot schnupperte.
»Es ist der Name unserer Tochter.«
»Ihr habt eine Tochter? Wie alt ist sie?« Der Bär rollte sich auf den Rücken und ließ sich den Bauch kraulen wie ein Hund.
»Dreizehn.«
»Dreizehn? Fast so alt wie die von Staubfinger.«
Staubfingers Tochter? Er hatte ihr nie von einer Tochter erzählt.
»Was steht ihr noch da herum?«, herrschte der Prinz die anderen an. »Bringt frisches Wasser! Seht ihr nicht, wie er fiebert?«
Die beiden Frauen hasteten davon, erleichtert, wie es Resa schien, dass er ihnen einen Anlass gab, die Höhle zu verlassen. Die Männer aber blieben unschlüssig stehen.
»Was, wenn er es doch ist, Prinz?«, fragte der Hagere. »Was, wenn der Natternkopf von ihm erfährt, bevor Staubfinger hier ist?« Er hustete so heftig, dass er sich die Hand gegen die Brust presste.
»Wenn er was ist? Der Eichelhäher? Unsinn! Den gibt es vermutlich gar nicht. Und selbst wenn! Seit wann liefern wir die aus, die auf unserer Seite sind? Was ist, wenn die Lieder wahr sind, wenn er eure Frauen beschützt hat, eure Kinder.«
»Die Lieder sind nie wahr.« Die Brauen des Zweifingers waren so dunkel, als hätte er sie mit Ruß geschwärzt. »Vermutlich ist er nicht besser als andere Wegelagerer, ein goldgieriger Totschläger, nichts weiter.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, gab der Schwarze Prinz zurück. »Ich seh nur einen Verwundeten und eine Frau, die um Hilfe bittet.«
Die Männer schwiegen. Doch die Blicke, die sie Mo zuwarfen, waren immer noch feindselig.
»Verschwindet jetzt. Nun macht schon!«, fuhr der Prinz sie an. »Wie soll es ihm besser gehen, wenn ihr ihn so anstarrt. Oder glaubt ihr, dass seiner Frau an eurer hässlichen Gesellschaft liegt? Macht euch nützlich, es gibt genug Arbeit draußen.«
Sie gingen tatsächlich. Mürrisch schlenderten sie davon, wie Männer, die nicht erledigt hatten, wozu sie gekommen waren.
»Er ist es nicht!«, flüsterte Resa, als sie fort waren.
»Vermutlich nicht!« Der Prinz strich seinem Bären über die runden Ohren. »Aber ich fürchte, die da draußen sind vom Gegenteil überzeugt. Und die Natter hat eine hohe Belohnung auf den Kopf des Eichelhähers ausgesetzt.«
»Eine Belohnung?« Resa sah zum Höhleneingang. Zwei der Männer standen immer noch davor. »Sie werden zurückkommen«, flüsterte sie. »Und versuchen, ihn doch noch fortzubringen.«
Aber der Schwarze Prinz schüttelte den Kopf.
»Nicht, solange ich hier bin. Und ich bleibe, bis Staubfinger kommt. Die Nessel hat gesagt, du hast ihm eine Nachricht geschickt, also wird er wohl bald hier sein und ihnen sagen, dass du nicht lügst. Oder?«
Die Frauen kehrten mit einer Schüssel Wasser zurück. Resa tauchte einen Fetzen Stoff hinein und kühlte Mo die Stirn. Die Schwangere beugte sich über sie und legte ihr ein paar getrocknete Blumen in den Schoß. »Hier«, flüsterte sie ihr zu. »Leg ihm die aufs Herz. Das bringt Glück.«
Resa strich den Blumen über die strohigen Köpfe.
»Sie gehorchen dir«, sagte sie, als die Frauen wieder fort waren. »Warum?«
»Weil sie mich zu ihrem König gewählt haben«, antwortete der Schwarze Prinz. »Und weil ich ein sehr guter Messerwerfer bin.«