Geburtstagsmorgen



»Nein, nicht ohne eine Wunde in der Seele werde ich diese Stadt verlassen.

Zu viele Splitter meines Geistes habe ich in diesen Straßen verstreut, und zu zahlreich sind die Kinder meiner Sehnsucht, die nackt zwischen diesen Hügeln wandeln.«

Khalil Gibran, Der Prophet


Meggie schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie hatte geträumt, schlimm geträumt, aber sie wusste nicht, wovon. Nur die Angst war noch da, wie ein Stechen im Herzen. Lärm drang an ihre Ohren, Geschrei und lautes Lachen, Kinderstimmen, Hundegebell, das Grunzen von Schweinen, Hämmern, Sägen. Sie spürte Sonnenlicht auf dem Gesicht, und die Luft, die ihr in die Nase zog, schmeckte nach Mist und frisch gebackenem Brot. Wo war sie? Erst als sie Fenoglio an seinem Schreibpult sitzen sah, fiel es ihr wieder ein - Ombra. Sie war in Ombra.

»Guten Morgen!« Fenoglio hatte ganz offensichtlich hervorragend geschlafen. Er sah sehr zufrieden aus mit sich und der Welt. Nun ja, wer sonst sollte mit ihr zufrieden sein, wenn nicht der, der sie erschaffen hatte? Neben ihm stand der Glasmann, den Meggie gestern schlafend neben dem Federkrug entdeckt hatte.

»Rosenquarz, begrüß unseren Gast!«, sagte Fenoglio.

Der Glasmann verbeugte sich steif in Meggies Richtung, nahm die tropfende Feder entgegen, strich sie an einem Fetzen Stoff ab und stellte sie zurück in den Krug zu den anderen. Dann beugte er sich über das, was Fenoglio geschrieben hatte.

»Ah. Zur Abwechslung mal kein Lied über diesen Eichelhäher!«, stellte er spitz fest. »Bringt Ihr das hier heute auf die Burg?«

»In der Tat!«, antwortete Fenoglio von oben herab. »Und jetzt sorg endlich dafür, dass die Tinte nicht verwischt.«

Der Glasmann rümpfte die Nase, als sei ihm so etwas noch nie passiert, griff mit beiden Händen in die Schale Sand, die neben den Federn stand, und warf die feinen Körner mit geübtem Schwung auf das frisch beschriebene Pergament.

»Rosenquarz, wie oft soll ich es dir noch sagen?«, fuhr Fenoglio ihn an. »Du nimmst zu viel Sand und mit zu viel Schwung, so verschmiert alles.«

Der Glasmann klopfte sich ein paar Sandkörner von den Händen und verschränkte mit gekränkter Miene die Arme. »Dann macht es doch besser!« Seine Stimme erinnerte Meggie an das Geräusch, das entstand, wenn man mit den Fingernägeln gegen ein Glas klopfte. »Ja, wahrlich, das würde ich gern sehen!«, sagte er spitz und musterte Fenoglios klobige Finger mit solcher Verachtung, dass Meggie lachen musste.

»Ich auch!«, sagte sie, während sie sich ihr Kleid über den Kopf zog. Ein paar vertrocknete Blüten aus dem Weglosen Wald hafteten noch daran, und Meggie musste an Farid denken. Ob er Staubfinger gefunden hatte?

»Hört Ihr?« Rosenquarz warf ihr einen wohlwollenden Blick zu. »Sie klingt nach einem klugen Mädchen.«

»O ja, Meggie ist sehr klug«, antwortete Fenoglio. »Wir zwei haben einiges zusammen erlebt. Nur ihr ist es zu verdanken, dass ich jetzt hier sitze und einem Glasmann erklären muss, wie man Sand auf die Tinte wirft.«

Rosenquarz warf Meggie einen neugierigen Blick zu, doch er fragte nicht nach, was Fenoglios rätselhafte Bemerkung zu bedeuten hatte.

Meggie trat auf das Schreibpult zu und blickte dem alten Mann über die Schulter. »Deine Handschrift ist lesbarer geworden«, stellte sie fest.

»Oh, danke sehr«, murmelte Fenoglio. »Du musst es wis-sen. Aber da, siehst du das verwischte P?«

»Solltet Ihr allen Ernstes versuchen, mir dafür die Schuld zu geben«, sagte Rosenquarz mit seiner klingenden Stimme, »dann bin ich zum letzten Mal Euer Federhalter gewesen und suche mir auf der Stelle einen Schreiber, bei dem ich nicht vor dem Frühstück arbeiten muss.«

»Schon gut, schon gut, ich gebe nicht dir die Schuld. Ich habe das P verwischt, nur ich!« Fenoglio zwinkerte Meggie zu. »Er ist schnell beleidigt«, raunte er ihr vertraulich zu. »Sein Stolz ist ebenso zerbrechlich wie seine Glieder.«

Der Glasmann kehrte ihm wortlos den Rücken zu, griff nach dem Stoff, mit dem er die Feder gesäubert hatte, und versuchte sich einen noch feuchten Tintenfleck vom Arm zu wischen. Seine Glieder waren nicht gänzlich farblos, wie es die der Glasmenschen in Elinors Garten gewesen waren. Alles an ihm war von einem feinen Rosa, wie die Blüten einer Hundsrose. Nur sein Haar war etwas dunkler gefärbt.

»Du hast noch gar nichts zu dem neuen Lied gesagt«, bemerkte Fenoglio. »Es ist wunderbar, nicht wahr?«

»Es ist nicht übel!«, erwiderte Rosenquarz ohne sich umzudrehen und begann seine Füße zu polieren.

»Nicht übel? Es ist ein Meisterwerk, du madenfarbiger tintenverschmierender Federhalter!« Fenoglio schlug so heftig auf das Pult, dass der Glasmann wie ein Käfer auf den Rücken fiel. »Ich werde noch heute auf den Markt gehen und mir einen neuen Glasmann besorgen, einen, der so etwas erkennt und auch meine Räuberlieder zu schätzen weiß!« Er öffnete eine längliche Schachtel und nahm eine Stange Siegellack heraus. »Wenigstens hast du diesmal nicht vergessen, Feuer fürs Versiegeln zu besorgen!«, brummte er.

Rosenquarz zog ihm den Siegellack mit einem Ruck aus der Hand und hielt ihn in die brennende Kerze, die neben dem Federkrug stand. Mit unbewegtem Gesicht drückte er das schmelzende Ende auf die Pergamentrolle, wedelte noch ein paar Mal mit seiner gläsernen Hand über dem roten Abdruck herum und warf dann Fenoglio einen auffordernden Blick zu, worauf der mit wichtiger Miene den Ring, den er am rechten Mittelfinger trug, in den feuchten Lack drückte. »F für Fenoglio, F für Fantasie, F für Fabelhaft«, verkündete er. »Das wäre geschafft.«

»F für Frühstück fände ich jetzt passender«, sagte Rosenquarz, aber Fenoglio überhörte diese Bemerkung.

»Wie findest du das Lied für den Fürsten?«, fragte er Meggie.

»Ich. konnte nicht alles lesen wegen eurer Streiterei«, antwortete sie ausweichend. Sie wollte Fenoglios Stimmung nicht zusätzlich verdüstern, indem sie verkündete, dass die Verse ihr bekannt vorkamen. »Warum will der Speckfürst ein so trauriges Gedicht?«, fragte sie stattdessen.

»Weil sein Sohn tot ist«, antwortete Fenoglio. »Ein trauriges Lied nach dem anderen, das ist alles, was er seit Cosimos Tod hören will. Ich bin es so leid!« Mit einem Seufzer legte er das Pergament auf das Pult zurück und trat zu der Truhe, die unter dem Fenster stand.

»Cosimo? Cosimo der Schöne ist tot?« Meggie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Resa hatte ihr so viel über den Sohn des Speckfürsten erzählt: dass jeder, der ihn sah, ihn liebte, dass selbst der Natternkopf ihn fürchtete, dass seine Bauern ihm ihre kranken Kinder brachten, weil sie glaubten, jemand, der so schön wie ein Engel war, könnte auch jede Krankheit heilen.

Fenoglio seufzte. »Ja, furchtbar. Eine bittere Lektion! Diese Geschichte ist nicht mehr meine Geschichte! Sie tut, was sie will!«

»Oje! Nun geht das wieder los!« Rosenquarz stöhnte auf. »Seine Geschichte. Ich werde das Gerede nie begreifen. Vielleicht solltet Ihr wirklich mal zu einem der Bader gehen, die kranke Köpfe kurieren.«

»Mein lieber Rosenquarz«, erwiderte Fenoglio darauf nur, »dieses Gerede, wie du es nennst, ist einfach zu groß für deinen kleinen, durchsichtigen Kopf. Aber glaub mir, Meggie weiß sehr genau, wovon ich spreche!« Mit missmutiger Miene öffnete er die Truhe und nahm ein langes dunkelblaues Gewand heraus. »Ich müsste mir ein neues schneidern lassen«, murmelte er. »Ja, das müsste ich fürwahr. Das ist kein Gewand für einen Mann, dessen Worte landauf, landab gesungen werden und dem ein Fürst den Auftrag gibt, den Schmerz um seinen Sohn in Worte zu kleiden! Sieh sich doch nur einer die Ärmel an! Löcher, überall Löcher. Die Motten waren drin, trotz Minervas Lavendelsträußchen.«

»Für einen armen Dichter reicht es allemal!«, stellte der Glasmann nüchtern fest.

Fenoglio legte das Gewand zurück in die Truhe und ließ den Deckel mit einem dumpfen Knall zufallen. »Irgendwann«, sagte er, »werf ich mit etwas wirklich Hartem nach dir!«

Rosenquarz schien diese Drohung nicht weiter zu beunruhigen.

Die beiden stritten sich weiter, über dies und das, es schien ein Spiel zwischen ihnen zu sein, und Meggies Anwesenheit hatten sie offenbar vollkommen vergessen. Sie trat ans Fenster, schob den Stoff zur Seite und blickte hinaus. Es würde ein sonniger Tag werden, auch wenn über den umliegenden Hügeln noch Nebel hing. Auf welchem sollte die Spielfrau leben, bei der Farid nach Staubfinger suchen wollte? Sie hatte es vergessen. Würde er zurückkommen, wenn er Staubfinger tatsächlich fand, oder würde er einfach mit ihm davonziehen, so wie er es das letzte Mal getan hatte, und vergessen, dass sie auch hier war? Meggie versuchte gar nicht erst zu ergründen, welches Gefühl sich bei dem Gedanken in ihr regte. In ihrem Herzen herrschte schon genug Verwirrung, so viel Verwirrung, dass sie Fenoglio am liebsten nach einem Spiegel gefragt hätte, um sich für einen Augenblick selbst zu sehen - ihr eigenes vertrautes Gesicht in all dem Fremden, das sie umgab, in all dem Fremden, das sich in ihrem Herzen regte. Aber stattdessen ließ sie den Blick über die nebelverhangenen Hügel wandern.

Wie weit reichte Fenoglios Welt? Nur gerade so weit, wie er sie sich ausgemalt hatte? »Interessant!«, hatte er geflüstert, als Basta sie beide in Capricorns Dorf verschleppt hatte. »Weißt du, dass dieser Ort einem der Schauplätze, die ich für Tintenherz erfunden habe, durchaus ähnlich sieht?« Damals musste er Ombra gemeint haben.

Die Hügel ringsum glichen tatsächlich denen, über die Meggie mit Mo und Elinor geflohen war, damals, als Staubfinger sie aus Capricorns Verliesen befreit hatte, nur dass diese noch grüner schienen, falls das möglich war, verwunschener, als ließe jedes Blatt ahnen, dass unter den Bäumen Feen und Feuerelfen zu Hause waren. Und die Häuser und Gassen, auf die man von Fenoglios Kammer aus blickte, hätten die von Capricorns Dorf sein können, wären sie nicht so viel bunter und lauter gewesen.

»Sieh dir das Gedränge an, heute wollen sie alle auf die Burg«, sagte Fenoglio hinter ihr. »Ziehende Händler, Bauern, Handwerker, reiche Kaufleute und Bettler, sie alle werden hingehen, um Geburtstag zu feiern, um ein paar Münzen zu verdienen oder auszugeben, um Spaß zu haben und vor allem, um die hohen Herrschaften anzustarren.«

Meggie blickte zu den Mauern der Burg. Fast bedrohlich ragten sie über den rostroten Dächern auf. An den Türmen flatterten schwarze Banner im Wind.

»Wie lange ist Cosimo schon tot?«

»Knapp ein Jahr. Ich hatte gerade diese Kammer bezogen. Wie du dir denken kannst, hatte deine Stimme mich genau dorthin verpflanzt, wo sie den Schatten aus der Geschichte gepflückt hatte: mitten hinein in Capricorns Festung. Zum Glück herrschte dort eine heillose Verwirrung, weil das Ungeheuer verschwunden war, und keiner der Feuerfinger bemerkte den alten Mann, der da plötzlich mit dummem Gesicht in ihrer Mitte stand. Ich habe ein paar fürchterliche Tage im Wald zugebracht, und leider hatte ich keinen so gewitzten Begleiter dabei wie du, der mit einem Messer umgehen, Kaninchen fangen und Feuer mit ein paar trockenen Zweigen machen kann. Dafür hat der Schwarze Prinz selbst mich schließlich aufgesammelt - stell dir vor, wie ich ihn angestarrt habe, als er plötzlich vor mir stand! Von den Männern, die bei ihm waren, kam mir keiner bekannt vor, aber ich gebe zu, dass ich mich an die unwichtigeren Figuren in meinen Geschichten schon immer nur nebelhaft, wenn überhaupt erinnern konnte. nun, wie dem auch sei. einer von ihnen brachte mich nach Ombra, zerlumpt und mittellos, wie ich war. Aber zum Glück hatte ich einen Ring, den ich versetzen konnte. Ein Goldschmied gab mir genug dafür, um mich bei Minerva einzumieten, und alles schien gut. Ja, wirklich, geradezu fabelhaft. Mir fielen Geschichten ein, Geschichten über Geschichten, wie schon lange nicht mehr, die Worte quollen nur so aus mir heraus, aber kaum hatte ich mir einen Namen gemacht mit den ersten Liedern, für den Speckfürsten geschrieben, kaum fanden die Spielleute Geschmack an meinen Versen, da steckt der Brandfuchs ein paar Höfe unten am Fluss an - und Cosimo zieht aus, um der Bande ein für alle Mal den Garaus zu machen. Gut!, denke ich. Warum nicht? Kann ich ahnen, dass er sich umbringen lässt? Ich hatte so wunderbare Pläne für ihn! Ein wahrlich großer Fürst sollte er werden, ein Segen für seine Untertanen, der meiner Geschichte schließlich ein gutes Ende beschert, indem er diese Welt vom Natternkopf befreit. Aber stattdessen lässt er sich im Weglosen Wald von einer Bande Brandstifter erschlagen!« Fenoglio seufzte. »Zuerst wollte sein Vater nicht an seinen Tod glauben. Cosimos Gesicht war verbrannt, wie das all der anderen Toten, die man zurückbrachte. Das Feuer hatte ganze Arbeit geleistet, aber als er auch nach Monaten nicht zurückkam.« Fenoglio seufzte erneut und griff noch einmal in die Truhe, in der sein mottenzerfressenes Gewand lag. Er reichte Meggie zwei blassblaue lange Wollstrümpfe, Lederbänder und ein Kleid aus verwaschenem, dunkelblauem Stoff. »Ich fürchte, das Kleid wird zu groß sein, es gehört Minervas Zweitältester Tochter«, sagte er, »aber das, was du da anhast, muss dringend gewaschen werden. Die Strümpfe befestigst du mit den Bändern, etwas unbequem, aber man gewöhnt sich daran. Herrgott, du bist wahrlich groß geworden, Meggie«, sagte er und wandte ihr den Rücken zu, als sie sich umzog. »Rosenquarz! Du drehst dich auch um.«

Sonderlich gut saß das Kleid wirklich nicht, und Meggie war plötzlich fast froh, dass Fenoglio keinen Spiegel besaß. Zu Hause hatte sie ihr Spiegelbild in letzter Zeit oft betrachtet. Es war so seltsam zuzusehen, wie der eigene Körper sich verwandelte. Als wäre man ein verpuppter Schmetterling.

»Fertig?«, fragte Fenoglio und drehte sich um. »Na bitte, das geht doch, auch wenn so ein hübsches Mädchen eigentlich ein hübscheres Kleid verdient hätte.« Mit einem Seufzer blickte er an sich selbst herunter. »Nun, ich werde wohl auch besser so bleiben, dies Gewand hier hat wenigstens keine Löcher. Was soll’s, auf der Burg wird es heute so von Gauklern und feinem Volk wimmeln, dass eh niemand auf uns zwei achten wird.«

»Zwei? Was soll das heißen?« Rosenquarz legte die Klinge zur Seite, mit der er gerade eine Feder anspitzte. »Ihr werdet mich doch wohl mitnehmen?«

»Bist du des Wahnsinns? Damit ich dich in Splittern zurücktrage? Nein. Außerdem müsstest du dir ja das schlechte Gedicht anhören, das ich dem Fürsten bringe.«

Rosenquarz schimpfte immer noch, als Fenoglio die Tür hinter ihnen zuzog. Die Holztreppe, die Meggie in der vergangenen Nacht vor Müdigkeit kaum hinaufgekommen war, führte hinunter in einen von Häusern umstandenen Hof, in dem sich Schweinepferche, Holzverschläge und Gemüsebeete den wenigen Platz streitig machten. Ein schmales Rinnsal von Bach wand sich zwischen all dem hindurch, zwei Kinder scheuchten ein Schwein von den Beeten und eine Frau mit einem Baby auf dem Arm fütterte eine Schar magerer Hühner.

»Ein wunderbarer Morgen, nicht wahr, Minerva?«, rief Fenoglio ihr zu, während Meggie ihm zögernd die letzten steilen Stufen hinunterfolgte.

Minerva trat an den Fuß der Treppe. Ein Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, klammerte sich an ihren Rock und starrte misstrauisch zu Meggie hinauf. Unsicher blieb sie stehen. Vielleicht sieht man es!, dachte sie. Vielleicht sieht man, dass ich nicht hierher gehöre.

»Pass auf!«, rief das Mädchen ihr zu, aber bevor Meggie verstand, riss etwas an ihrem Haar. Das Mädchen warf mit Erde, und eine Fee flatterte schimpfend mit leeren Händen davon.

»Himmel, wo kommst du denn her?«, fragte Minerva, während sie Meggie von der Treppe zog. »Gibt es dort etwa keine Feen? Sie sind ganz verrückt auf Menschenhaar, vor allem auf so schönes wie deins. Wenn du dein Haar nicht hochsteckst, wirst du bald einen kahlen Kopf haben. Außerdem bist du zu alt, um es noch offen zu tragen, oder willst du, dass man dich für eine Spielfrau hält?«

Minerva war klein und untersetzt, kaum größer als Meggie. »Gott, bist du ein dünnes Ding!«, sagte sie. »Das Kleid rutscht dir ja fast von den Schultern. Ich werd es dir enger machen, gleich heute Abend. Hat sie gefrühstückt?«, fragte sie und schüttelte den Kopf, als sie Fenoglios verdutztes Gesicht sah. »Herrgott, du hast doch wohl nicht vergessen, dem Mädchen was zu essen zu geben?«

Fenoglio hob hilflos die Hände. »Ich bin ein alter Mann, Minerva!«, rief er. »Ich vergesse solche Dinge! Was ist nur heute Morgen los? Ich hatte wirklich die allerbeste Laune, aber alles nörgelt an mir herum. Rosenquarz hat mich auch schon ganz verrückt gemacht.«

Minerva drückte ihm zur Antwort nur das Baby auf den Arm und zog Meggie mit sich.

»Was ist das für ein Baby?«, rief Fenoglio, während er ihr folgte. »Laufen hier nicht schon genug Kinder herum?«

Das Baby studierte sein Gesicht so ernsthaft, als suchte es darin nach etwas Interessantem, schließlich griff es nach seiner Nase.

»Das ist von meiner ältesten Tochter«, antwortete Minerva nur. »Du hast es schon ein paar Mal gesehen. Wirst du jetzt so vergesslich, dass ich dir meine eigenen Kinder auch besser noch mal vorstelle?«

Despina und Ivo, so hießen Minervas Kinder. Der Junge hatte Fenoglio in der letzten Nacht die Fackel getragen, er lächelte Meggie zu, als sie mit seiner Mutter in die Küche kam.

Minerva zwang Meggie, eine Schale Polenta zu essen und zwei Scheiben Brot, bestrichen mit einer Paste, die nach Oliven roch. Die Milch, die sie ihr hinschob, war so fett, dass Meggies Zunge sich nach dem ersten Schluck ganz pelzig anfühlte. Während sie aß, steckte Minerva ihr das Haar hoch. Meggie erkannte sich selbst kaum wieder, als sie ihr eine Waschschüssel hinschob, damit sie ihr Spiegelbild betrachten konnte.

»Woher hast du die Stiefel?«, fragte Ivo. Seine Schwester musterte Meggie immer noch wie ein fremdes Tier, das sich in ihre Küche verirrt hatte.

Ja, woher? Meggie versuchte hastig, den Saum des Kleides über ihre Stiefel zu ziehen, aber es war zu kurz.

»Meggie kommt von weit her«, erklärte Fenoglio, der ihnen in die Küche gefolgt war und ihre Verlegenheit bemerkte. »Von sehr weit her. Dort gibt es sogar Menschen mit drei Beinen und solche, denen die Nase am Kinn wächst.«

Die Kinder starrten erst ihn und dann Meggie an.

»Hör auf, was redest du da schon wieder?« Minerva gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Sie glauben dir jedes Wort. Irgendwann werden sie sich noch aufmachen, um all die verrückten Orte zu suchen, von denen du erzählst, und ich steh ohne Kinder da.«

Meggie verschluckte sich an der fetten Milch. Sie hatte ihr Heimweh ganz vergessen, aber Minervas Worte brachten es zurück - und das schlechte Gewissen. Fünf Tage war sie schon fort, wenn sie richtig gezählt hatte.

»Du und deine Geschichten!« Minerva schob Fenoglio einen Becher Milch hin. »Als ob es nicht reicht, dass du ihnen ständig diese Räubergeschichten erzählst. Weißt du, was Ivo gestern zu mir gesagt hat? Wenn ich groß bin, geh ich auch zu den Räubern! Wie der Eichelhäher will er werden! Was richtest du da nur an? Erzähl ihnen meinetwegen von Cosimo, von den Riesen oder dem Prinzen und seinem Bären, aber kein Wort mehr über diesen Räuber, verstanden?«

»Ja, ja, schon gut, kein Wort mehr«, brummte Fenoglio. »Aber gib mir nicht die Schuld, wenn der Junge irgendwo eines der Lieder über ihn aufschnappt. Alle singen sie.«

Meggie verstand kein Wort von dem, was sie redeten, aber sie war mit ihren Gedanken ohnehin schon auf der Burg. Resa hatte ihr erzählt, dass die Vogelnester dort so dicht an den Mauern klebten, dass das Gezwitscher manchmal den Gesang der Spielleute übertönte. Auch Feen sollten dort nisten, blassgrau wie der Stein der Burgmauern, weil sie allzu oft von den Speisen der Menschen naschten statt sich wie ihre wilden Schwestern von Blüten und Früchten zu ernähren. Und in den Gärten im Inneren Hof sollten Bäume wachsen, die es sonst nur im tiefsten Herzen des Weglosen Waldes gab, Bäume, deren Blätter im Wind murmelten wie ein Chor von Menschenstimmen und in mondlosen Nächten von der Zukunft sprachen - nur dass niemand ihre Worte verstand.

»Willst du noch etwas?«

Meggie schreckte aus ihren Gedanken hoch.

»Tod und Tinte!« Fenoglio erhob sich und gab Minerva das Baby zurück. »Willst du sie jetzt etwa mästen, damit sie in das Kleid hineinpasst? Wir müssen los oder wir verpassen die Hälfte. Der Fürst hat mich gebeten, ihm das neue Lied noch vor Mittag zu bringen. Und du weißt, er mag es gar nicht, wenn man sich verspätet.«

»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Minerva mürrisch, während Fenoglio Meggie auf die Tür zuschob. »Weil ich nicht auf der Burg aus und ein gehe wie du. Was solltest du ihm denn diesmal dichten, dem hohen Herrn, wieder ein Klagelied?«

»Ja, mich langweilt es auch, aber er zahlt gut. Wäre es dir lieber, wenn ich bald keine Münze mehr in den Taschen hätte und du dir einen neuen Mieter suchen müsstest?«

»Schon gut, schon gut«, murrte Minerva, während sie die leeren Schalen der Kinder vom Tisch nahm. »Weißt du was?

Dieser Fürst wird sich noch zu Tode seufzen und klagen, und dann wird der Natternkopf seine Gepanzerten schicken. Wie Fliegen auf frischem Pferdemist werden sie sich hier breit machen, unter dem Vorwand, dass sie nur den armen vaterlosen Enkel ihres Herrn schützen wollen.«

Fenoglio drehte sich so abrupt um, dass er Meggie fast umstieß. »Nein, Minerva. Nein!«, sagte er entschieden. »Das wird nicht geschehen. Nicht, solange ich lebe - was hoffentlich noch sehr lange sein wird!«

»Ach ja?« Minerva zog die Finger ihres Sohnes aus dem Butterfass. »Und wie willst du das verhindern? Mit deinen Räuberliedern? Glaubst du, irgendein Dummkopf mit einer Federmaske, der den Helden spielt, weil er deine Lieder zu oft gehört hat, kann die Gepanzerten von unserer Stadt fern halten? Helden enden am Galgen, Fenoglio«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort und Meggie hörte die Angst hinter ihrem Spott. »In deinen Liedern ist das vielleicht anders, aber im wirklichen Leben hängt man sie auf. Daran ändern die schönsten Worte nichts.«

Die beiden Kinder sahen ihre Mutter beunruhigt an und Minerva strich ihnen übers Haar, als könnte sie ihre eigenen Worte damit fortwischen.

Fenoglio aber zuckte nur die Schultern. »Ach was, du siehst das alles viel zu schwarz!«, sagte er. »Du unterschätzt die Worte, glaub mir! Sie sind sehr mächtig, mächtiger, als du denkst. Frag Meggie!«

Doch bevor Minerva genau das tun konnte, schob er Meggie auch schon nach draußen. »Ivo, Despina, wollt ihr mit?«, rief er den Kindern zu. »Ich bring sie heil zurück, wie immer!«, rief er, als Minerva mit besorgtem Gesicht den Kopf aus der Tür steckte. »Die besten Gaukler weit und breit werden heute auf der Burg sein, sie werden von weit her kommen. Das dürfen die zwei doch nicht verpassen!«

Der Strom der Menschen zog sie mit sich, sobald sie hinaus auf die Gasse traten. Von allen Seiten drängten sie herbei -ärmlich gekleidete Bauern, Bettler, Frauen mit Kindern und Männer, deren Reichtum sich nicht nur in der Pracht ihrer bestickten Ärmel zeigte, sondern vor allem in den Dienern, die ihnen grob einen Weg durch die Menge bahnten. Reiter trieben ihre Pferde durch die Menschen ohne einen Blick auf die, die sie gegen die Mauern drängten, Sänften blieben stecken zwischen all den Leibern, sosehr ihre Träger auch schimpften und fluchten.

»Teufel, das ist ja schlimmer als an Markttagen!«, rief Fenoglio Meggie über die Köpfe hinweg zu. Ivo schlüpfte flink wie ein Hering durch das Menschengedränge, aber Despina blickte so erschrocken, dass Fenoglio sie schließlich auf seine Schultern hob, bevor sie zwischen Körben und Bäuchen zerquetscht wurde. Auch Meggie schlug das Herz schneller von all dem Durcheinander, dem Stoßen und Schieben, den tausend Gerüchen, all den Stimmen, die die Luft erfüllten.

»Meggie, sieh dich um! Ist es nicht prachtvoll?«, rief Fenoglio voll Stolz.

Ja, das war es. Es war so, wie Meggie es sich ausgemalt hatte, an all den Abenden, an denen Resa ihr von der Tintenwelt erzählt hatte. Ihre Sinne waren wie betäubt. Augen, Ohren. sie konnten kaum ein Zehntel von dem aufnehmen, was um sie her geschah. Von irgendwo klang Musik herüber, Trommeln, Schellen, Trompeten. Und dann öffnete sich die Gasse und spuckte sie mit all den anderen vor die Mauern der Burg. So hoch und wuchtig ragten sie zwischen den Häusern auf, als hätten größere Menschen sie gebaut als die, die jetzt auf das Tor zudrängten. Bewaffnete Wachen standen vor dem Tor, in ihren Helmen spiegelte sich blass der Morgen. Ihre Umhänge waren von einem dunklen Grün, ebenso wie die Kittel, die sie über den Kettenhemden trugen. Auf beiden prangte das Wappen des Speckfürsten - Resa hatte es Meggie beschrieben: ein Löwe auf grünem Grund, inmitten weißer Rosen -, doch das Wappen hatte sich verändert. Der Löwe weinte silberne Tränen, und die Rosen rankten sich um ein zerbrochenes Herz.

Die meisten der Herandrängenden ließen die Wachen pas-sieren, nur manchmal stießen sie jemanden zurück, mit dem Lanzenschaft oder der behandschuhten Faust. Niemanden schien das zu bekümmern, alles drängte weiter, und auch Meggie fand sich schließlich im Schatten der meterdicken Mauern wieder. Natürlich war sie schon in Burgen gewesen, mit Mo, aber es war ein völlig anderes Gefühl, statt an einem Postkartenhäuschen an lanzenbewehrten Wachen vorbeizugehen. Die Mauern schienen so viel bedrohlicher und abweisender. Seht her!, schienen sie zu rufen. Wie klein ihr seid, wie machtlos und zerbrechlich.

Fenoglio schien nichts dergleichen zu empfinden, er strahlte wie ein Kind an Weihnachten. Er beachtete weder die Fallgitter über ihren Köpfen noch die Luken, durch die man ungebetenen Besuchern heißes Pech auf die Köpfe schütten konnte. Meggie dagegen sah unwillkürlich hoch, als sie unter ihnen hindurchging, und fragte sich, wie frisch die Pechspuren auf dem verwitterten Holz waren. Doch schließlich war über ihr wieder der offene Himmel, blau und klar, wie blank gefegt für den fürstlichen Geburtstag - und Meggie stand auf dem Äußeren Hof der Burg von Ombra.



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