Ein Klopfen an der Tür



Lanzelot blickte in seinen Becher.

»Er ist unmenschlich«, sagte er endlich. »Aber weshalb sollte er menschlich sein? Erwartet Ihr von Engeln, daß sie menschlich sind?«

T. H. White, Der König auf Camelot, Teil 2


Seit Tagen schon war der Reiter fort, den Fenoglio Meggie nachgeschickt hatte. »Du musst reiten wie der Wind«, hatte er ihm gesagt - und dass es um Leben und Tod eines jungen und natürlich wunderschönen Mädchens ging. (Schließlich wollte er, dass der Kerl auch wirklich sein Bestes gab!) »Leider wirst du sie wohl nicht überreden können, mit dir zurückzukommen, sie ist sehr starrköpfig«, hatte er noch hinzugesetzt, »also mach mit ihr einen neuen und diesmal sicheren Treffpunkt aus und sag ihr, du kommst so bald wie möglich mit einem Brief von mir zurück. Kannst du dir das merken?«

Der Soldat, noch ein richtiger Milchbart, hatte die Worte ohne Mühe wiederholt und war davongaloppiert, mit der Versicherung, in spätestens drei Tagen zurück zu sein. Drei Tage. Wenn der Bursche sein Versprechen hielt, würde er bald zurück sein - aber Fenoglio würde keinen Brief haben, den er Meggie bringen lassen konnte. Denn die Worte, die diese ganze Geschichte wieder zurechtrücken sollten: die Guten retten, die Bösen bestrafen, wie sich das eben so gehörte, wollten sich einfach nicht einstellen!

Tag und Nacht saß Fenoglio in der Kammer, die Cosimo ihm hatte zuweisen lassen, und starrte auf die Pergamentbögen, die Minerva ihm gebracht hatte, zusammen mit dem reichlich verschreckten Rosenquarz. Aber es war wie verhext: Was immer er begann, zerlief ihm wie Tinte auf feuchtem Papier. Wo waren sie nur hin, die verdammten Wörter? Warum blieben sie tot wie trockenes Laub? Er stritt sich mit Rosenquarz, befahl ihm, Wein zu besorgen, Gebratenes, Süßes, andere Tinte, eine neue Feder - während draußen auf den Burghöfen gehämmert und geschmiedet wurde, das Tor der Burg verstärkt, die Pechpfannen gesäubert, die Lanzen geschärft. Es verursachte Lärm, einen Krieg vorzubereiten. Vor allem, wenn man es damit eilig hatte. Und Cosimo hatte es sehr eilig.

Die Worte für ihn hatten sich fast von selbst geschrieben: Worte voll gerechtem Zorn. Cosimos Ausrufer hatten sie bereits auf Marktplätze und Dörfer getragen. Seither strömten die Freiwilligen nach Ombra, Soldaten für den Kampf gegen den Natternkopf. Aber wo waren die Worte, mit denen gleichzeitig Cosimos Krieg gewonnen und Meggies Vater vor dem Galgen bewahrt wurde?

Oh, wie er sich seinen alten Kopf zermarterte! Aber ihm wollte einfach nichts einfallen! Die Tage verstrichen und in Fenoglios Herzen machte sich Verzweiflung breit. Was, wenn der Natternkopf Mortimer inzwischen längst aufgehängt hatte? Würde Meggie dann überhaupt noch lesen wollen? Würde es ihr nicht ganz gleichgültig sein, was mit Cosimo und dieser Welt geschah, wenn ihr Vater erst einmal tot war? »Unsinn, Fenoglio«, murmelte er, als er erneut seit Stunden einen Satz nach dem anderen durchstrich. »Und weißt du was? Wenn dir keine Worte einfallen, dann muss es diesmal eben ohne sie gehen. Dann wird Cosimo eben Mortimer retten!«

Ach ja? Und was, wenn sie die Burg des Natternkopfs stürmen und dabei alle im Kerker der brennenden Burg sterben?, flüsterte es in ihm. Oder wenn Cosimos Truppen an den steil aufragenden Mauern der Nachtburg zerschellen?

Fenoglio legte die Feder zur Seite und vergrub das Gesicht in den Händen. Draußen wurde es schon wieder dunkel und sein Kopf war ebenso leer wie das Pergament vor ihm. Cosimo hatte ihn von Tullio an seine Tafel bitten lassen, aber er hatte keinen Appetit, auch wenn er Cosimo zu gern dabei beobachtete, wie er mit leuchtenden Augen den Liedern lauschte, die er über ihn geschrieben hatte. Selbst wenn die Hässliche zehnmal behauptete, ihren Mann langweilten Worte - dieser Cosimo liebte, was Fenoglio lieferte: wunderschöne Märchen über seine vergangenen Heldentaten, über seine Zeit bei den Weißen Frauen und den Kampf bei Capricorns Festung.

Ja, er stand in hoher Gunst bei dem schönen Fürsten, genau wie er es geschrieben hatte - während die Hässliche immer häufiger vergebens darum bat, bei ihrem Mann vorgelassen zu werden. Und so saß Violante noch öfter als vor Cosimos Rückkehr in der Bibliothek. Seit dem Tod ihres Schwiegervaters musste sie sich nicht länger heimlich hineinschleichen oder Balbulus mit ihrem Schmuck bestechen, denn es interessierte Cosimo nicht, ob sie las. Ihn interessierte nur, ob sie Briefe an ihren Vater schrieb oder sonst wie versuchte, mit dem Natternkopf Kontakt aufzunehmen. Als ob sie das je getan hätte!

Violante tat Fenoglio Leid in ihrer Einsamkeit, aber er tröstete sich damit, dass sie schon immer einsam gewesen war. Selbst ihr Sohn hatte daran nichts geändert. Dennoch - vermutlich hatte sie noch nie die Gesellschaft eines Menschen so sehr begehrt wie die Cosimos. Das Mal auf ihrem Gesicht war verblasst, aber nun brannte etwas anderes darauf - die Liebe, ebenso nutzlos, wie es das Mal gewesen war, denn Cosimo liebte nicht zurück. Im Gegenteil, er ließ seine Frau bewachen. Seit einiger Zeit folgte Violante ein vierschrötiger Mann mit kahlem Kopf, der früher die Jagdhunde des Speckfürsten abgerichtet hatte. Er folgte der Hässlichen, als hätte er sich selbst in einen Hund verwandelt, einen schnüffelnden Hund, der versuchte, jeden ihrer Gedanken zu wittern. Angeblich ließ Violante Balbulus Briefe an Cosimo schreiben, flehende Briefe, in denen sie ihn der Treue und Ergebenheit versicherte, aber ihr Mann, sagte man, las sie nicht. Einer seiner Verwalter behauptete gar, Cosimo habe das Lesen verlernt.

Fenoglio nahm die Hände vom Gesicht und betrachtete voll Neid den schlafenden Rosenquarz, der neben dem Tintenfass lag und friedlich vor sich hin schnarchte. Er griff gerade erneut nach der Feder, als es an der Tür klopfte.

Wer konnte das sein so spät in der Nacht? Cosimo ritt um die Zeit meist aus.

Es war seine Frau, die vor der Tür stand. Violante trug eins der schwarzen Kleider, die sie bei Cosimos Rückkehr abgelegt hatte. Ihre Augen waren gerötet, als wären sie wund vom Weinen, aber vielleicht benutzte sie auch nur den Beryll zu oft.

Fenoglio erhob sich von seinem Stuhl. »Kommt herein!«, sagte er. »Wo ist Euer Schatten?«

»Ich habe einen Wurf junger Hunde gekauft und ihm gesagt, dass er sie abrichten soll, als Überraschung für Cosimo. Seither verschwindet er ab und zu.«

Sie war klug, o ja, sehr klug sogar. Hatte er das gewusst? Nein, er erinnerte sich ja kaum daran, sie erfunden zu haben.

»Setzt Euch doch!« Er schob ihr seinen eigenen Stuhl hin -einen anderen gab es nicht - und setzte sich auf die Truhe unterm Fenster, in der er seine Kleider aufbewahrte, nicht die alten, mottenzerfressenen, sondern die, die Cosimo ihm hatte schneidern lassen, prächtige Kleider, angefertigt für einen Hofdichter.

»Cosimo hat Brianna schon wieder mitgenommen!«, sagte Violante mit gebrochener Stimme. »Sie darf mit ihm ausreiten, mit ihm essen, selbst die Nächte verbringt sie bei ihm. Jetzt erzählt sie ihm Geschichten, nicht mir, liest ihm vor, singt für ihn, tanzt für ihn, so wie sie es früher für mich getan hat. Und ich bin allein. Könnt Ihr nicht mit ihr sprechen?« Violante strich mit fahrigen Händen über ihr schwarzes Kleid. »Brianna liebt Eure Lieder, vielleicht hört sie auf Euch! Ich brauche sie. Ich habe sonst niemanden auf dieser Burg außer Balbulus, und der will nur Gold für neue Farben von mir.«

»Was ist mit Eurem Sohn?«

»Der mag mich nicht.«

Fenoglio schwieg, denn sie hatte Recht. Jacopo mochte niemanden, außer seinem finsteren Großvater, und niemand mochte Jacopo. Es war nicht leicht, ihn zu mögen. Von draußen drang die Nacht herein und das Hämmern der Schmiede.

»Cosimo plant, die Mauern der Stadt zu verstärken«, fuhr Violante fort. »Er will jeden Baum fällen lassen bis hinunter zum Fluss. Die Nessel soll ihn deswegen verflucht haben. Sie soll gesagt haben, dass sie mit den Weißen Frauen sprechen wird, damit sie ihn zurückholen.«

»Keine Sorge. Die Weißen Frauen tun nicht, was die Nessel sagt.«

»Seid Ihr da sicher?« Sie rieb sich die wunden Augen. »Brianna ist meine Vorleserin! Er hat kein Recht, sie mir fortzunehmen. Ich will, dass Ihr ihrer Mutter schreibt. Cosimo lässt all meine Briefe lesen, aber Ihr könnt sie herbitten. Euch traut er. Schreibt Briannas Mutter, dass Jacopo mit ihrem Sohn spielen will und sie ihn gegen Mittag auf die Burg bringen soll. Ich weiß, sie war früher eine Spielfrau, aber jetzt soll sie Kräuter ziehen. Alle Bader der Stadt gehen zu ihr. Ich habe ein paar sehr seltene Pflanzen in meinem Garten. Schreibt ihr, sie kann sich dort nehmen, was sie will, Saat, Wurzelausläufer, Ableger, was immer sie wünscht, wenn sie nur kommt.«

Roxane. Sie wollte, dass Roxane herkam.

»Warum wollt Ihr mit der Mutter sprechen und nicht mit Brianna selbst? Sie ist kein kleines Mädchen mehr.«

»Ich habe es versucht! Sie hört mir nicht zu. Sie sieht mich nur schweigend an, murmelt Entschuldigungen - und geht wieder zu ihm. Nein. Ich muss mit ihrer Mutter sprechen.«

Fenoglio schwieg. Er war nicht sicher, dass Roxane kommen würde, nach allem, was er über sie wusste. Schließlich hatte er es ihr selbst ins Herz geschrieben: ihren Stolz und ihre Abneigung gegen Fürstenblut. Andererseits - hatte er Meggie nicht versprechen müssen, ein Auge auf Staubfingers Tochter zu haben? Wenn er schon sonst kein Versprechen halten konnte, weil die Worte ihn schmählich im Stich ließen, vielleicht sollte er es wenigstens mit diesem versuchen. Himmel!, dachte er. Ich möchte nicht in Staubfingers Nähe sein, wenn er erfährt, dass seine Tochter die Nächte bei Cosimo verbringt!

»Nun gut, ich schicke Roxane einen Boten«, sagte er. »Aber versprecht Euch nicht zu viel davon. Ich habe gehört, dass sie nicht sehr glücklich darüber ist, dass ihre Tochter bei Hof lebt.«

»Ich weiß!« Violante erhob sich und warf einen Blick auf das Papier, das auf seinem Schreibpult wartete. »Schreibt Ihr an einer neuen Geschichte? Ist es eine über den Eichelhäher? Ihr müsst sie zuerst mir zeigen!« Für einen Moment war sie ganz die Tochter des Natternkopfes.

»Natürlich, natürlich«, versicherte Fenoglio hastig. »Ihr bekommt sie noch vor den Spielleuten. Und ich werde sie so schreiben, wie Ihr es am liebsten habt: finster, hoffnungslos, unheimlich.« - und grausam, setzte er in Gedanken hinzu. Ja, die Hässliche liebte Geschichten voller Dunkelheit. Sie wollte nicht, dass man ihr von Glück und Schönheit erzählte, sie wollte vom Tod hören, von Unglück, Hässlichkeit und tränenschweren Geheimnissen. Sie wollte ihre eigene, ganz eigene Welt, und die hatte noch nie von Schönheit und Glück erzählt.

Sie sah ihn immer noch an - mit demselben überheblichen Blick, den ihr Vater auf die Welt warf. Fenoglio erinnerte sich an die Worte, die er einst über ihre Familie geschrieben hatte: Edles Blut - seit Hunderten von Jahren glaubte die Sippe des Natternkopfes fest daran, dass das Blut, das durch ihre Adern floss, sie kühner, klüger und stärker machte als all die, die ihnen Untertan waren. Hundert und noch mal hundert Jahre derselbe Blick, selbst in den Augen der Hässlichen, die ebendiese Sippe am liebsten gleich nach ihrer Geburt wie einen verkrüppelt geborenen Hund im Burggraben ertränkt hätte.

»Die Diener sagen, Briannas Mutter könnte noch schöner singen als sie. Sie sagen, sie könnte Steine zum Weinen bringen und Rosen zum Blühen.« Violante strich sich übers Gesicht, dort, wo das Mal noch vor kurzer Zeit so rot gebrannt hatte.

»Ja, so etwas habe ich auch gehört.« Fenoglio folgte ihr zur Tür.

»Sie soll früher sogar auf der Burg meines Vaters gesungen haben, aber ich glaube das nicht. Mein Vater hat nie Spielleute durch sein Tor gelassen, er hat sie höchstens davor aufgehängt.« Ja, weil man sich einst erzählt hat, Eure Mutter hätte ihn mit einem Spielmann betrogen, dachte Fenoglio, während er ihr die Tür öffnete.

»Brianna sagt, ihre Mutter singt nicht mehr, weil sie glaubt, dass ihre Stimme allen, die sie liebt, großes Unglück bringt. Bei Briannas Vater soll es so gewesen sein.«

»Ja, auch das habe ich gehört.«

Violante trat auf den Flur hinaus. Selbst aus der Nähe war ihr Mal kaum noch zu sehen. »Ihr schickt den Boten gleich morgen früh zu ihr?«

»Wenn Ihr es wünscht.«

Sie blickte den dunklen Korridor hinunter. »Brianna will nie über ihren Vater reden. Eine der Köchinnen behauptet, er sei ein Feuerspucker. Sie sagt, Briannas Mutter sei sehr verliebt in ihn gewesen, doch dann habe sich einer von den Brandstiftern ebenfalls in sie verliebt und dem Feuerspucker das Gesicht zerschnitten.«

»So habe ich die Geschichte auch gehört!« Fenoglio sah sie nachdenklich an. Staubfingers Geschichte, bitter und süß, sie war nach Violantes Geschmack, ganz gewiss.

»Sie soll ihn zu einem Bader gebracht haben und bei ihm geblieben sein, bis sein Gesicht geheilt war.« Wie abwesend ihre Stimme klang, als hätte sie sich verloren zwischen den Worten, Fenoglios Worten. »Aber verlassen hat er sie trotzdem.« Violante wandte das Gesicht ab. »Schreibt den Brief!«, sagte sie schroff. »Schreibt ihn noch heute Nacht.« Dann hastete sie davon, in ihrem schwarzen Kleid, so eilig, als schämte sie sich plötzlich dafür, zu ihm gekommen zu sein.

»Rosenquarz«, sagte Fenoglio, während er die Tür hinter ihr schloss. »Glaubst du, ich kann nur traurige oder böse Figuren erfinden?«

Aber der Glasmann schlief immer noch, während neben ihm Tinte von der Feder auf das leere Pergament tropfte.



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