Seht her, hier baumeln wir, fünf Kameraden, und wenn wir auch den Leib noch in der Sonne baden, den fetten Leib genährt mit Fleisch und Weizenbrot; bald frißt uns auf mit Haar und Haut der Tod.
Frangois Villon, Die Ballade von den Galgenbrüdern
»Wann gehen wir zurück?« Mehrmals am Tag stellte Farid Staubfinger die Frage, und jedes Mal bekam er dieselbe Antwort: »Noch nicht.«
»Aber wir sind schon so lange hier.« Fast zwei Wochen waren seit dem Gemetzel im Wald verstrichen und er war es leid, so leid, im Dachsbau zu sitzen. »Was ist mit Meggie? Du hast versprochen, dass wir zurückgehen!«
»Wenn du weiter so drängst, vergess ich das Versprechen«, sagte Staubfinger darauf nur - und ging zu Roxane.
Tag und Nacht kümmerte sie sich um die Verwundeten, die sie zwischen den Toten entdeckt hatten, in der Hoffnung, dass wenigstens diese Männer nach Ombra zurückkehren würden, doch auch von ihnen pflegte sie einige vergebens. Er wird bei ihr bleiben, dachte Farid jedes Mal, wenn er Staubfinger neben ihr sitzen sah. Und ich werd allein zur Nachtburg zurückgehen müssen. Der Gedanke tat so weh, als würde das Feuer ihn beißen.
Am fünfzehnten Tag, als Farid schon das Gefühl hatte, er würde den Geruch von Mäusedreck und bleichen Pilzen nie wieder von der Haut waschen können, brachten gleich zwei Spitzel des Schwarzen Prinzen dieselbe Nachricht: Dem Natternkopf war ein Sohn geboren worden. Und zur Feier dieses Ereignisses, so verkündeten es seine Ausrufer auf jedem Marktplatz, würde er in genau zwei Wochen, um seine große Güte und Barmherzigkeit zu beweisen, alle Gefangenen, die auf der Nachtburg eingekerkert waren, freilassen. Einschließlich des Eichelhähers.
»Unsinn!«, sagte Staubfinger, als Farid ihm davon erzählte. »Der Natternkopf hat eine gebratene Wachtel dort, wo andere ihr Herz haben. Er würde niemals irgendjemanden aus Barmherzigkeit freilassen, und wenn ihm noch so viele Söhne geboren werden. Nein, falls er wirklich vorhat, sie freizulassen, dann, weil Fenoglio es so geschrieben hat. Aus keinem anderen Grund.«
Fenoglio schien der gleichen Ansicht zu sein. Seit dem Gemetzel hatte er meist mit trübsinnigem Blick in irgendeiner dunklen Ecke des Dachsbaus gehockt und kaum ein Wort von sich gegeben, aber nun verkündete er mit trotziger Stimme jedem, der es hören wollte, dass nur ihm die guten Nachrichten zu verdanken seien.
Keiner hörte ihm zu, keiner wusste, wovon er redete - bis auf Staubfinger, der ihn immer noch mied wie die Mensch gewordene Pest. »Hör dir den Alten an! Wie er prahlt und sich brüstet!«, sagte er zu Farid. »Cosimo und seine Männer sind kaum kalt, und er hat sie schon vergessen. Der Schlag soll ihn treffen!«
Natürlich glaubte der Schwarze Prinz ebenso wenig an die Gnade des Natternkopfes wie Staubfinger, trotz Fenoglios Beteuerungen, dass genau das eintreten würde, was die Spitzel berichteten. Bis tief in die Nacht saßen die Räuber zusammen, um zu beratschlagen, was sie tun würden. Farid erlaubten sie nicht, dabei zu sein, aber Staubfinger schon.
»Was haben sie vor? Nun sag schon!«, fragte Farid ihn, als er endlich aus der Höhle kam, in der die Räuber seit Stunden die Köpfe zusammensteckten.
»In einer Woche brechen sie auf.«
»Wohin? Zur Nachtburg?«
»Ja.« Staubfinger schien darüber nicht halb so erfreut wie Farid. »Himmel, du zappelst ja herum wie das Feuer, wenn der Wind hineinfährt«, fuhr er ihn gereizt an. »Mal sehen, ob du dich immer noch so freust, wenn wir erst mal da sind. Wie die Würmer werden wir wieder unter die Erde kriechen müssen, und dort sehr viel tiefer als hier.«
»Noch tiefer?«
Natürlich. Farid sah den Natternberg vor sich: kein Fleck, an dem man sich verbergen konnte, kein Busch, kein Baum.
»Es gibt da eine verlassene Mine, am Fuß des Nordhangs.« Staubfinger verzog das Gesicht, als verursachte schon der Gedanke an diesen Ort ihm Übelkeit. »Irgendein Vorfahre des Natternkopfes hat dort wohl zu tief graben lassen und etliche Stollen sind eingestürzt, doch das ist schon so lange her, dass offenbar nicht einmal der Natternkopf sich noch an die Mine erinnert. Kein netter Ort, aber ein gutes Versteck, das einzige auf dem Natternberg. Der Bär hat den Einstieg entdeckt.«
Eine Mine. Farid schluckte. Schon der Gedanke ließ ihn nach Luft ringen. »Und dann?«, fragte er. »Wenn wir dort sind, was machen wir dann?«
»Warten. Warten, ob der Natternkopf sein Versprechen tatsächlich hält.«
»Warten? Nichts weiter?«
»Alles Weitere erfährst du früh genug.«
»Dann gehen wir mit?«
»Hast du etwas anderes vor?«
Farid umarmte ihn so fest, wie er es seit langem nicht mehr getan hatte. Auch wenn er wusste, dass Staubfinger Umarmungen nicht sonderlich mochte.
»Nein!«, sagte Roxane, als der Schwarze Prinz ihr anbot, sie vor ihrem Aufbruch von einem seiner Männer zurück nach Ombra bringen zu lassen. »Ich komme mit euch. Wenn du einen Mann entbehren kannst, schick ihn zu meinen Kindern, und lass ihnen ausrichten, dass ich bald nach Hause komme.«
Bald! Farid fragte sich, wann das sein sollte, aber er sagte nichts. Obwohl nun feststand, wann sie losgehen würden, vergingen die Tage weiterhin quälend langsam und fast jede Nacht träumte er von Meggie, schlimme Träume, voll Dunkelheit und Angst. Als der Tag des Aufbruchs endlich gekommen war, blieb ein halbes Dutzend Räuber im Dachsbau, um sich weiter um die Verwundeten zu kümmern. Der Rest machte sich auf den Weg zur Nachtburg: dreißig Männer, zerlumpt, aber gut bewaffnet. Und Roxane. Und Fenoglio.
»Ihr nehmt den Alten mit?«, fragte Staubfinger den Prinzen entgeistert, als er Fenoglio zwischen den Männern entdeckte. »Seid ihr verrückt geworden? Schickt ihn zurück nach Ombra. Bringt ihn sonst wohin, am besten geradewegs zu den Weißen Frauen, aber schickt ihn fort!«
Doch der Prinz wollte davon nichts wissen. »Was hast du bloß gegen ihn?«, fragte er. »Und komm mir nicht wieder damit, dass er Tote zurückholt! Er ist ein harmloser alter Mann. Selbst mein Bär mag ihn. Er hat uns ein paar schöne Lieder geschrieben, und er kann wunderbare Geschichten erzählen, auch wenn ihm zurzeit die Lust daran vergangen ist. Außerdem will er nicht zurück nach Ombra.«
»Nun, das wundert mich nicht, bei all den Witwen und Waisen, die es dort seinetwegen gibt«, erwiderte Staubfinger bitter, und als Fenoglio in seine Richtung sah, warf er ihm einen so eisigen Blick zu, dass der Alte den Kopf schnell wieder abwandte.
Es wurde ein schweigsamer Marsch. Über ihren Köpfen flüsterten die Bäume, als wollten sie sie davor warnen, auch nur einen Schritt weiter nach Süden zu gehen, und ein paar Mal musste Staubfinger das Feuer rufen, um Wesen fortzuscheuchen, die keiner von ihnen sah, aber alle spürten. Farid war müde, todmüde, sein Gesicht und seine Arme waren zerkratzt von Dornen, als über den Baumwipfeln endlich die silbernen Türme auftauchten. »Wie eine Krone auf einem kahlen Kopf«, flüsterte einer der Räuber, und für einen Augenblick glaubte Farid die Angst greifen zu können, die jeder der zerlumpten Männer beim Anblick der gewaltigen Festung verspürte. Vermutlich waren sie alle froh, als der Prinz sie zum Nordhang des Natternberges führte und die Turmspitzen wieder verschwanden. Die Erde schlug Falten wie ein zerknittertes Gewand auf dieser Seite und die wenigen Bäume duckten sich, als hörten sie zu oft den Klang von Äxten. Farid hatte solche Bäume noch nie gesehen. Ihr Laub schien schwarz wie die Nacht selbst, und ihre Rinde war stachlig wie der Pelz eines Igels. Rote Beeren wuchsen an den Zweigen. »Mortolas Beeren!«, raunte Staubfinger ihm zu, als er im Vorbeigehen eine Hand voll pflückte. »Sie soll sie überall am Fuß des Hügels verteilt haben, bis die Erde gespickt mit ihnen war. Die Bäume wachsen sehr schnell, sie schießen wie Pilze aus dem Boden und halten alle anderen Bäume fern. Die Beißenden Bäume nennt man sie, alles an ihnen ist giftig, Beeren, Blätter, und ihre Rinde verbrennt dir die Haut schlimmer, als das Feuer es tut.« Farid ließ die Beeren fallen und wischte sich die Hand an der Hose ab.
Kurze Zeit später, es war schon stockdunkel, liefen sie fast in eine der Patrouillen hinein, die der Natternkopf regelmäßig ausschickte, aber der Bär warnte sie. Wie Silberkäfer tauchten die Reiter zwischen den Bäumen auf. Das Mondlicht spiegelte sich auf ihren Brustpanzern, und Farid wagte kaum zu atmen, während er sich neben Staubfinger und Roxane in einen Erdspalt duckte und darauf wartete, dass die Hufschläge verklangen. Wie Mäuse unter den Augen einer Katze, so schlichen sie weiter, bis sie ihr Ziel endlich erreicht hatten.
Teufelszwirn und Geröll verbargen den Einstieg, durch den der Prinz sich als Erster in den Schoß der Erde zwängte. Farid zögerte, als er sah, wie steil es in die Dunkelheit hinabging. »Nun komm schon!«, flüsterte Staubfinger ihm ungeduldig zu. »Die Sonne geht bald auf, und die Soldaten der Natter werden dich sicherlich nicht für ein Eichhörnchen halten.«
»Aber es riecht wie in einer Gruft«, sagte Farid und blickte sehnsüchtig zum Himmel hinauf.
»Ah, der Junge hat eine feine Nase!«, sagte der Schnapper. »Ja, da unten gibt es viele Tote. Der Berg hat sie gefressen, weil sie zu tief gegraben haben. Man sieht sie nicht, aber man riecht sie. Sollen die Stollen verstopfen wie eine Ladung toter Fische.«
Farid sah ihn entsetzt an, aber Staubfinger gab ihm nur einen Stoß in den Rücken. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dich nicht vor den Toten, sondern vor den Lebenden fürchten sollst. Los, lass ein paar Funken auf deinen Fingern tanzen, damit wir Licht haben.«
Die Räuber hatten sich in den Stollen eingenistet, die nicht verschüttet waren. Decken und Wände hatten sie zusätzlich abgestützt, aber Farid traute den Balken nicht, die sich gegen Stein und Erde stemmten. Wie sollten sie das Gewicht eines ganzen Berges tragen? Er glaubte ihn seufzen und stöhnen zu hören, und während er es sich notdürftig auf den schmutzigen Decken bequem machte, die die Räuber auf den harten Boden gebreitet hatten, fiel ihm plötzlich wieder der Rußvogel ein. Aber der Prinz lachte nur, als er ihn besorgt nach ihm fragte. »Nein, der Rußvogel kennt diesen Ort nicht. Er kennt keins unserer Verstecke. Er hat uns oft überreden wollen, ihn mitzunehmen, aber wer traut schon jemandem, der ein so hundsmiserabler Feuerschlucker ist? Vom Geheimen Lager wusste er nur, weil er ein Spielmann ist.«
Sicher fühlte Farid sich trotzdem nicht. Fast eine Woche noch, bis der Natternkopf die Gefangenen freilassen wollte! Das würde eine lange Zeit werden. Er sehnte sich schon jetzt nach dem Mäusedreck im Dachsbau zurück. In der Nacht starrte er unentwegt das Geröll an, das den Stollen, in dem sie schliefen, verschloss. Er glaubte zu hören, wie bleiche Finger an den Steinen kratzten. »Dann halt dir eben die Ohren zu!«, sagte Staubfinger nur, als er ihn deswegen wachrüttelte, und schlang die Arme wieder um Roxane.
Staubfinger träumte wieder schlecht, so wie er es auch in der anderen Welt oft getan hatte, aber nun war es Roxane, die ihn beruhigte und wieder in den Schlaf flüsterte. Ihre leise Stimme, weich vor Zärtlichkeit, erinnerte Farid an Meggies Stimme und er vermisste sie so sehr, dass er sich dafür schämte. Es war schwer, in dieser Dunkelheit, umgeben von Toten, daran zu glauben, dass sie ihn auch vermisste. Was, wenn sie ihn vergessen hatte, so wie Staubfinger ihn oft vergaß, seit Roxane gekommen war.? Nur Meggie hatte ihn die Eifersucht vergessen lassen, aber Meggie war nicht da.
In der zweiten Nacht kam ein Junge in die Mine, der in den Ställen auf der Nachtburg arbeitete und für den Schwarzen Prinzen spionierte, seit der Pfeifer seinen Bruder hatte aufhängen lassen. Er berichtete, der Natternkopf wolle die Gefangenen auf der Straße ziehen lassen, die hinunter zu den Häfen führte, unter der Bedingung, dass sie dort ein Schiff besteigen und nie zurückkehren würden.
»Die Straße zu den Häfen, so, so!«, sagte der Prinz nur, als der Spitzel wieder fort war - und machte sich noch in derselben Nacht mit Staubfinger auf den Weg. Farid fragte erst gar nicht, ob er mitdürfte. Er folgte ihnen einfach.
Die Straße war kaum mehr als ein Fußweg zwischen den Bäumen. Schnurgerade kam sie den Natternberg herab, als hätte sie es eilig, endlich wieder unter ein Blätterdach zu schlüpfen. »Der Natternkopf hat schon einmal eine Schar Gefangener begnadigt und auf diese Straße entlassen«, sagte der Schwarze Prinz, als sie unter den Bäumen am Straßenrand standen. »Sie sind auch wirklich ohne Zwischenfall bis ans Meer gekommen, wie er es versprochen hatte, doch das Schiff, das bereitlag, war ein Sklavenschiff, und der Natternkopf soll ein besonders schönes Silberzaumzeug für das knappe Dutzend Menschen bekommen haben.«
Sklaven? Farid erinnerte sich an Märkte, auf denen Menschen verkauft wurden, begafft und betastet wie Vieh. Mädchen mit blondem Haar waren sehr begehrt gewesen.
»Nun schau nicht so drein, als wäre Meggie schon verkauft!«, sagte Staubfinger. »Dem Prinzen wird schon etwas einfallen. Oder?«
Der Schwarze Prinz versuchte es mit einem Lächeln, aber er konnte nicht verbergen, dass er die Straße voller Sorge hinaufsah. »Bis zu diesem Schiff dürfen sie nie kommen«, sagte er. »Und wir können nur hoffen, dass der Natternkopf ihnen nicht allzu viele Soldaten zum Geleit mitgibt. Wir müssen sie rasch verstecken, am besten erst einmal in der Mine, bis sich alles wieder beruhigt hat. Vermutlich«, setzte er fast beiläufig hinzu, »werden wir das Feuer brauchen.«
Staubfinger blies auf seine Finger, bis Flammen zart wie Falterflügel darauf tanzten. »Warum, glaubst du, bin ich noch hier?«, fragte er. »Das Feuer wird da sein. Aber ich werde kein Schwert in die Hand nehmen, falls du das hoffst. Du weißt, ich bin nicht sonderlich geschickt mit so einem Ding.«