Audienz für Fenoglio



»Lady Cora«, sagte er, »manchmal muß man einfach Dinge tun, die nicht sehr angenehm sind. Wenn es sich um große Dinge handelt, kann man die Situation nicht mit seidenen Handschuhen angehen. Nein. Wir machen Geschichte.«

Melvyn Peake, Gormenghast, Erstes Buch: Der junge Titus


Fenoglio ging in seiner Kammer auf und ab. Sieben Schritte zum Fenster, sieben zurück zur Tür. Meggie war fort, und es gab niemanden, der ihm erzählen konnte, ob sie ihren Vater noch lebend angetroffen hatte. Was für ein abscheuliches Durcheinander! Immer wenn er gerade hoffte, alles wieder in den Griff zu bekommen, passierte etwas, das nicht im Entferntesten in seine Pläne passte. Vielleicht gab es ihn tatsächlich irgendwo - den teuflischen Erzähler, der seine Geschichte weiterspann, ihr immer neue Wendungen gab, tückische unvorhersehbare Wendungen, seine Figuren herumschob wie Schachfiguren oder gar einfach neue auf das Schachbrett setzte, die nichts in seiner Geschichte zu suchen hatten.

Und Cosimo hatte immer noch keinen Boten geschickt! Nun ja, etwas mehr Geduld!, sagte Fenoglio sich, er ist immerhin gerade erst auf seinen Thron gestiegen, und es gibt sicherlich viel zu tun. All die Untertanen, die ihn sehen wollen, Bittsteller, Witwen, Waisen, seine Verwalter, Jagdaufseher, sein Sohn, seine Frau. »Ach was. Unfug! Mich - mich hätte er zuallererst rufen lassen müssen.« Fenoglio stieß die Worte so aufgebracht aus, dass ihn der Klang seiner eigenen Stimme zusammenschrecken ließ. »Mich! Den Mann, der ihn zurück ins Leben geholt, der ihn überhaupt erst erschaffen hat!«

Er trat ans Fenster und blickte zur Burg hinüber. Am linken Turm wehte die Fahne der Natter. Ja, der Natternkopf war in Ombra, wie der Teufel musste er geritten sein, um sich seinen vom Tod zurückgekehrten Schwiegersohn höchstpersönlich anzusehen. Den Brandfuchs hatte er diesmal nicht mitgebracht, vermutlich plünderte und mordete der gerade andernorts für seinen Herrn, doch dafür strich der Pfeifer noch durch Ombras Gassen, immer ein paar Gepanzerte im Schlepptau. Was wollten sie noch hier? Hoffte der Natternkopf allen Ernstes, seinen Enkel doch noch auf den Thron zu setzen?

Nein, das würde Cosimo nicht zulassen.

Für einen Moment vergaß Fenoglio seine finstere Stimmung und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Ja, wenn er dem Natternkopf doch nur hätte erzählen können, wer seine schönen Pläne zunichte gemacht hatte. Ein Dichter! Wie ihn das gewurmt hätte! Eine böse Überraschung hatten sie ihm bereitet, mit seinen Worten und Meggies Stimme.

Arme Meggie. Armer Mortimer.

Wie flehend sie ihn angesehen hatte. Und was für ein Schmierentheater er ihr vorgespielt hatte! Aber wie hatte das arme Ding auch nur glauben können, dass er ihrem Vater mit ein paar Wörtern helfen konnte, wo er ihn doch nicht einmal hergebracht hatte! Ganz abgesehen davon, dass er nicht eins seiner Geschöpfe war. Aber dieser Blick von ihr! Er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, sie ganz ohne Hoffnung ziehen zu lassen!

Rosenquarz saß auf dem Schreibpult, die durchsichtigen Beine verschränkt, und warf Brotkrumen nach den Feen.

»Hör auf damit!«, fuhr Fenoglio ihn an. »Willst du, dass sie dich wieder bei den Beinen nehmen und versuchen, aus dem Fenster zu werfen? Glaub mir, diesmal werde ich dich nicht retten. Ich werde dich nicht mal zusammenfegen, wenn du als ein Häufchen Scherben da unten im Schweinemist liegst. Soll der Abfallmann dich ruhig auf seinen Karren kehren.«

»Ja, ja, lass deinen Ärger ruhig an mir aus!« Der Glasmann kehrte ihm den Rücken zu. »Dadurch ruft Cosimo dich trotzdem nicht schneller zu sich!«

Damit hatte er leider Recht. Fenoglio trat ans Fenster. Unten in den Gassen hatte sich die Aufregung über Cosimos Rückkehr gelegt, vielleicht hatte auch die Anwesenheit des Natternkopfes sie gedämpft. Die Leute gingen wieder ihrem Gewerbe nach, die Schweine stöberten in den Abfällen, Kinder jagten sich zwischen den eng stehenden Häusern, und ab und zu bahnte sich ein berittener Soldat seinen Weg durch das Gedränge. Soldaten sah man eindeutig mehr als sonst, offenbar ließ Cosimo sie im Ort patrouillieren, vielleicht um zu verhindern, dass die Gepanzerten noch einmal seine Untertanen niederritten, nur weil sie ihnen im Weg standen. Ja, Cosi-mo wird alles richten!, dachte Fenoglio. Er wird ein guter Fürst, soweit es so etwas geben kann. Wer weiß, vielleicht erlaubte er den Spielleuten sogar schon bald wieder, auch an gewöhnlichen Markttagen in die Stadt zu kommen.

»Genau. Das wird mein erster Ratschlag sein. Er soll die Spielleute wieder hereinlassen«, murmelte Fenoglio. »Und wenn er mich bis heute Abend nicht holen lässt, dann gehe ich ohne Einladung zu ihm. Was bildet der undankbare Kerl sich ein? Glaubt er, es geschieht alle naselang, dass jemand von den Toten zurückgeholt wird?«

»Ich dachte, er wäre nie tot gewesen?« Rosenquarz kletterte hinauf zu seinem Nest. Dort war er außer Reichweite, das wusste er nur zu gut. »Was ist mit Meggies Vater? Glaubst du, er lebt noch?«

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Fenoglio gereizt. Er wollte nicht an Mortimer erinnert werden. »Nun, wenigstens kann mich für den Schlamassel niemand verantwortlich machen!«, brummte er. »Ich kann nichts dafür, dass sie alle an meiner Geschichte herumpfuschen, als wäre sie ein Obstbaum, den man nur gründlich genug beschneiden muss, damit er Früchte trägt.«

»Beschneiden?«, flötete Rosenquarz. »Sie fügen Dinge hinzu. Deine Geschichte wächst, sie wächst sich zu einem regelrechten Unkraut aus! Und zu keinem sonderlich hübschen, wenn du mich fragst.«

Fenoglio überlegte gerade, ob er einen Wurf mit dem Tintenfass wagen sollte, als Minerva den Kopf durch die Tür schob.

»Ein Bote, Fenoglio!« Ihr Gesicht war rot, als wäre sie zu schnell gelaufen. »Ein Bote von der Burg! Er will dich sehen! Cosimo will dich sehen!«

Fenoglio hastete zur Tür. Er strich sich die Tunika glatt, die Minerva ihm genäht hatte. Seit Tagen steckte er nun schon darin, sie war reichlich zerknittert, aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Als er Minerva hatte bezahlen wollen, hatte sie nur den Kopf geschüttelt und gesagt, dass er bereits bezahlt hätte - mit den Geschichten, die er ihren Kindern Tag für Tag und Abend für Abend erzählte. Trotzdem, die Tunika war prächtig, auch wenn sie mit Kindermärchen bezahlt worden war.

Der Bote wartete auf der Gasse vor dem Haus, mit wichtiger Miene und Falten der Ungeduld auf der Stirn. Er trug den schwarzen Tränenumhang, als säße immer noch der seufzende Fürst auf dem Thron.

Ach was. Alles wird anders werden!, dachte Fenoglio. Ganz gewiss! Von nun an werde ich diese Geschichte wieder erzählen und nicht meine Figuren. Sein Führer blickte sich nicht einmal zu ihm um, während er ihm durch die Gassen nachhastete. Mürrischer Klotz!, dachte Fenoglio. Aber vermutlich entstammte selbst er seiner Feder, einer der vielen Namenlosen, mit denen er diese Welt bevölkert hatte, damit seine Hauptfiguren nicht allzu einsam darin herumstapften.

Auf dem Äußeren Burghof lungerte eine Schar Gepanzerter vor den Ställen herum. Fenoglio fragte sich irritiert, was sie dort zu suchen hatten. Oben zwischen den Zinnen gingen Co-simos Männer auf und ab, wie eine Meute Hunde, die ein Rudel Wölfe bewachen sollten. Feindselig starrten die Gepanzerten zu ihnen hinauf. Ja, starrt nur!, dachte Fenoglio. Für euren finsteren Herrn wird es keine Hauptrolle in meiner Geschichte geben, nur einen guten Abgang, wie es sich für einen anständigen Bösewicht gehört. Vielleicht würde er irgendwann einen neuen Schurken erfinden, Geschichten wurden schnell langweilig ohne einen anständigen Bösewicht, aber um den ins Leben zu rufen, würde Meggie ihm wohl kaum ihre Stimme leihen.

Die Wächter vor dem Tor zum Inneren Hof hoben die Lanzen.

»Was heißt das?«

Die Stimme des Natternkopfs schallte Fenoglio schon entgegen, als er den Inneren Hof kaum betreten hatte. »Willst du damit sagen, dass er mich weiter warten lässt, du verlaustes Pelzgesicht?«

Eine leisere Stimme antwortete, eingeschüchtert, ängstlich. Fenoglio sah Tullio, den zwergengroßen Diener des Speckfürsten, vor dem Natternkopf stehen. Er reichte dem Fürsten gerade bis zum silberbeschlagenen Gürtel. Zwei Wachen des Speckfürsten standen hinter ihm, doch hinter dem Natternkopf standen mindestens zwanzig schwer bewaffnete Männer, ein beunruhigender Anblick, auch wenn der Brandfuchs nicht dabei und selbst vom Pfeifer nichts zu entdecken war.

»Eure Tochter wird Euch empfangen.« Tullios Stimme bebte wie ein Blatt im Wind.

»Meine Tochter? Wenn mich nach Violantes Gesellschaft verlangt, lasse ich sie auf meine Burg kommen. Ich will endlich diesen Toten sehen, der zu den Lebenden zurückgekehrt ist! Und deshalb bringst du mich jetzt auf der Stelle zu Cosimo, du stinkender Koboldbastard!«

Der bedauernswerte Tullio begann zu zittern. »Der Fürst von Ombra«, begann er erneut mit dünner Stimme, »wird Euch nicht empfangen!«

Die Worte ließen Fenoglio zurückstolpern wie Schläge vor die Brust - mitten hinein in den nächsten Rosenbusch, der die Dornen in seine frisch geschneiderte Tunika hakte. Was bedeutete das nun wieder? Nicht empfangen? War das nach seinem Plan?

Der Natternkopf schob die Lippen vor, als hätte er etwas übel Schmeckendes auf der Zunge. Die Adern an seinen Schläfen traten hervor, dunkel auf der fleckig roten Haut. Er starrte auf Tullio hinab mit seinem Echsenblick. Dann nahm er dem nächsten Soldaten die Armbrust aus der Hand und richtete sie, während Tullio sich wie ein erschrockenes Kaninchen zusammenduckte, auf einen der Vögel am Himmel. Es war ein sicherer Schuss. Der Vogel fiel dem Natternkopf direkt vor die Füße, die gelben Federn rot vom Blut. Ein Goldspötter, Fenoglio hatte sie eigens für die Burg des Speckfürsten erfunden. Der Natternkopf bückte sich und zog den Pfeil aus der winzigen Brust.

»Da, nimm!«, sagte er und drückte Tullio den toten Vogel in die Hand. »Und richte deinem Herrn aus, dass er seinen Verstand ganz offenbar im Reich der Toten gelassen hat. Für diesmal soll das als Entschuldigung gelten, doch sollte er dich bei meinem nächsten Besuch mit einer ähnlich unverschämten Botschaft zu mir schicken, so bekommt er keinen Vogel, sondern dich mit einem Pfeil in der Brust zurück. Wirst du das ausrichten?«

Tullio starrte auf den blutigen Vogel in seiner Hand - und nickte.

Der Natternkopf aber drehte sich abrupt um und winkte seinen Männern, ihm zu folgen. Fenoglios Führer senkte furchtsam den Kopf, als sie an ihm vorbeistiefelten. Sieh ihn an!, dachte Fenoglio, als der Natternkopf so dicht an ihm vorbeischritt, dass er seinen Schweiß zu riechen glaubte. Du hast ihn erfunden! Aber stattdessen zog er den Kopf zwischen die Schultern wie eine Schildkröte, die Gefahr witterte, und rührte sich nicht, bis das Tor sich hinter dem letzten Gepanzerten geschlossen hatte.

Vor dem Portal, das dem Natternkopf verschlossen geblieben war, wartete immer noch Tullio und starrte auf den toten Vogel in seiner Hand. »Soll ich ihn Cosimo zeigen?«, fragte er mit verstörtem Gesicht, als sie auf ihn zutraten.

»Lass ihn dir in der Küche braten, wenn du willst!«, fuhr ihn Fenoglios Führer an. »Aber geh aus dem Weg.«

Der Thronsaal hatte sich nicht verändert seit Fenoglios letztem Besuch. Vor den Fenstern hingen immer noch schwarze Tücher. Kerzen spendeten das einzige Licht und die Standbilder blickten aus leeren Augen jedem entgegen, der auf den Thronsessel zuschritt. Dort aber saß nun ihr atmendes Vorbild, so ähnlich seinen steinernen Abbildern, dass Fenoglio der dunkle Saal wie ein Spiegelkabinett erschien.

Cosimo war allein. Weder die Hässliche noch sein Sohn waren zu entdecken. Nur sechs Wachen standen im Hintergrund, fast unsichtbar in dem dämmrigen Licht.

Fenoglio blieb in gebührendem Abstand vor den Thronstufen stehen und verbeugte sich. Er war zwar der Ansicht, dass niemand in dieser oder einer anderen Welt es verdiente, dass er, Fenoglio, vor ihm den Nacken beugte, schon gar nicht die, die er mit seinen Worten erst ins Leben gerufen hatte, aber er musste die Spielregeln seiner eigenen Welt befolgen, und eine Verbeugung vor denen, die sich in Samt und Seide kleideten, war hier ebenso selbstverständlich wie ein Händedruck in seiner alten Welt.

Los, krümm dich schon, alter Mann, auch wenn der Rücken dabei schmerzt!, dachte er, während er den Kopf noch etwas demütiger senkte. Du hast es selbst so eingerichtet.

Cosimo musterte ihn, als wäre er nicht sicher, ob er sich an sein Gesicht erinnerte. Er war in Weiß gekleidet, ganz in Weiß, als wollte er die Ähnlichkeit mit den Statuen noch unterstreichen.

»Du bist Fenoglio, der Dichter, nicht wahr, der, den sie den Tintenweber nennen?« Fenoglio hatte sich seine Stimme etwas voller vorgestellt. Cosimo blickte auf die Standbilder, ließ den Blick von einem zum nächsten wandern. »Irgendjemand hat mir empfohlen, dich rufen zu lassen. Ich glaube, es war meine Frau. Sie behauptet, du seist der schlaueste Kopf, den man zwischen dieser Burg und der des Natternkopfs findet, und dass ich schlaue Köpfe brauchen werde. Aber deshalb habe ich dich nicht kommen lassen.«

Violante? Violante hatte ihn empfohlen? Fenoglio versuchte seine Überraschung zu verbergen. »Nicht? Weshalb dann, Euer Gnaden?«, fragte er.

Cosimo sah ihn an, so abwesend, als blickte er durch ihn hindurch. Dann sah er an sich hinunter, zupfte an der prächtigen Tunika, die er trug, und rückte den Gürtel zurecht. »Meine Kleider passen mir nicht mehr«, stellte er fest. »Alles ist ein bisschen zu lang oder zu weit, als wären sie für die Standbilder dort und nicht für mich angefertigt worden.«

Etwas ratlos lächelte er Fenoglio zu. Es war das Lächeln eines Engels.

»Ihr. ähm. habt schwere Zeiten hinter Euch, Euer Gnaden«, sagte Fenoglio.

»Ja. Ja, das erzählt man mir. Wisst Ihr, ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nur an sehr wenig. Mein Kopf fühlt sich seltsam leer an.« Er strich sich über die Stirn und blickte erneut die Statuen an. »Deshalb habe ich Euch rufen lassen«, sagte er. »Ihr sollt ein Meister der Worte sein, und ich will, dass Ihr mir helft, mich zu erinnern. Ich übertrage Euch hiermit die Aufgabe, niederzuschreiben, was es über Cosimo zu berichten gibt. Lasst es Euch erzählen, von meinen Soldaten, meinen Knechten, meiner Amme, meiner. Frau.« Er zögerte einen Moment, bevor er das Wort aussprach. »Balbulus wird Eure Geschichten abschreiben und illuminieren, und dann werde ich sie mir vorlesen lassen, damit sich die Leere in meinem Kopf und meinem Herzen wieder mit Bildern und Worten füllt. Fühlt Ihr Euch dieser Aufgabe gewachsen?«

Fenoglio nickte hastig. »O ja, ja, natürlich, Euer Gnaden. Ich werde alles aufzeichnen. Geschichten aus Eurer Kindheit, als Euer ehrenwerter Vater noch lebte, Geschichten von Euren ersten Ausritten in den Weglosen Wald, alles über den Tag, als Eure Frau auf diese Burg kam, und über den, an dem Euer Sohn geboren wurde.«

Cosimo nickte. »Ja. Ja!«, sagte er mit erleichtert klingender Stimme. »Ich sehe, Ihr versteht. Und vergesst nicht meinen Sieg über die Brandstifter und meine Zeit bei den Weißen Frauen.«

»Keineswegs.« Fenoglio betrachtete das schöne Gesicht so unauffällig wie möglich. Wie hatte das passieren können? Natürlich hatte er nicht nur glauben sollen, er sei der wahre Cosimo, er hatte auch alle Erinnerungen mit dem Toten teilen sollen.

Cosimo erhob sich aus dem Thronsessel, in dem vor noch nicht allzu langer Zeit sein Vater gesessen hatte, und begann auf und ab zu schreiten. »Einige Geschichten habe ich selbst schon gehört. Von meiner Frau.«

Die Hässliche. Schon wieder sie. Fenoglio sah sich suchend um. »Wo ist Eure Frau?«

»Sie sucht meinen Sohn. Er ist fortgelaufen, weil ich seinen Großvater nicht empfangen habe.«

»Erlaubt mir die Frage, Euer Gnaden - warum habt Ihr ihn nicht empfangen?«

Hinter Fenoglios Rücken öffnete sich die schwere Tür und Tullio huschte herein. Den toten Vogel hielt er nicht mehr in der Hand, als er sich zu Cosimos Füßen auf die Treppe kauerte, doch die Angst war immer noch auf seinem Gesicht zu sehen.

»Ich habe nicht vor, ihn jemals wieder zu empfangen.« Co-simo blieb vor dem Thronsessel stehen und strich über das Wappen seines Hauses. »Ich habe die Wachen am Tor angewiesen, meinen Schwiegervater sowie alle, die ihm dienen, niemals wieder auf diese Burg zu lassen.«

Tullio sah zu ihm hoch, so ungläubig und erschrocken, als spürte er den Pfeil des Natternkopfes schon in der eigenen pelzigen Brust.

Cosimo aber sprach ungerührt weiter. »Ich habe mir berichten lassen, was in meinem Reich vorgegangen ist, während ich - «, wieder zögerte er einen Moment, bevor er weitersprach, » - abwesend war. Ja, nennen wir es so: abwesend. Ich habe meinen Verwaltern zugehört, Jagdaufsehern, Kaufleuten, Bauern, meinen Soldaten und meiner Frau. Auf die Art habe ich höchst interessante Dinge erfahren, beunruhigende Dinge. Und stellt Euch vor, Dichter, fast alles, was mir an Schlimmem berichtet wurde, hatte mit meinem Schwiegervater zu tun! Sagt mir, da Ihr ja angeblich bei den Spielleuten ein und aus geht, was erzählt sich das Bunte Volk über den Natternkopf?«

»Das Bunte Volk?« Fenoglio räusperte sich. »Nun, das, was alle sagen. Dass er sehr mächtig ist, vielleicht etwas zu mächtig?«

Cosimo stieß ein unfrohes Lachen aus. »O ja. Das ist er wohl. Und?«

Worauf wollte er hinaus? Du solltest es wissen, Fenoglio, dachte er beunruhigt. Wenn du nicht weißt, was in seinem Kopf vorgeht, wer dann? »Nun, sie sagen, der Natternkopf regiert mit eiserner Faust«, fuhr er mit zögernder Stimme fort. »Es gibt kein Gesetz in seinem Reich außer seinem Wort und Siegel. Rachsüchtig und eitel ist er, presst seinen Bauern so viel ab, dass sie hungern, schickt aufmüpfige Untertanen, ja, selbst Kinder in seine Silberminen, bis sie dort unten Blut spucken. Wilderer, die man in seinem Teil des Waldes fängt, werden geblendet, Dieben lässt er die rechte Hand abschlagen - was Euer Vater zum Glück schon vor einiger Zeit abgeschafft hat - und der einzige Spielmann, der gefahrlos in die Nähe der Nachtburg kommen kann, ist der Pfeifer - wenn er nicht gerade mit dem Brandfuchs plündernd über die Dörfer zieht.« Himmel, hab ich das alles so niedergeschrieben?, dachte Fenoglio. Vermutlich.

»Ja, all das habe ich auch gehört. Was noch?« Cosimo verschränkte die Arme vor der Brust und begann auf und ab zu gehen, auf und ab. Er war tatsächlich schön wie ein Engel. Vielleicht hätte ich ihn etwas weniger schön machen sollen, dachte Fenoglio. Er sieht fast ein bisschen unecht aus.

»Und? Ja. was noch?« Er runzelte die Stirn. »Der Natternkopf hatte schon immer Angst vor dem Tod, aber mit zunehmendem Alter soll es fast zur Besessenheit geworden sein. In der Nacht liegt er angeblich schluchzend und fluchend auf den Knien, schlotternd vor Angst, dass die Weißen Frauen ihn holen. Er soll sich mehrmals am Tag waschen, aus Angst vor Krankheit und Ansteckung, und Abgesandte mit Kisten voll Silber in ferne Länder schicken, damit sie ihm Wundermittel gegen das Alter kaufen. Außerdem heiratet er immer jüngere Frauen, in der Hoffnung, dass ihm endlich ein Sohn geboren wird.«

Cosimo war stehen geblieben. »Ja!«, sagte er leise. »Ja, all das wurde mir auch berichtet. Aber es gibt noch schlimmere Geschichten. Wann kommt Ihr zu denen - oder muss ich sie erzählen?« Bevor Fenoglio antworten konnte, fuhr er an seiner Stelle fort: »Man sagt, der Natternkopf schicke nachts den Brandfuchs über die Grenze, damit er meine Bauern erpresst. Man sagt, er beansprucht den ganzen Weglosen Wald für sich, lässt meine Kaufleute ausplündern, wenn sie in seinen Häfen landen, erpresst Abgaben von ihnen, wenn sie seine Straßen und Brücken benutzen, und bezahlt Wegelagerer, die meine Straßen unsicher machen. Man sagt, er lässt das Holz für seine Schiffe in meinem Teil des Waldes schlagen und dass er sogar Spitzel in dieser Burg hat und in jeder Gasse von Ombra. Selbst meinen eigenen Sohn soll er dafür bezahlt haben, dass er ihm alles berichtet, was mein Vater in diesem Saal mit seinen Beratern besprach. Und zu guter Letzt - «, Cosimo machte eine wirkungsvolle Pause, bevor er fortfuhr, » - hat man mir versichert, dass der Bote, der die Brandstifter vor meinem bevorstehenden Angriff warnte, von meinem Schwiegervater kam. Er soll, um meinen Tod zu feiern, mit Silber überzogene Wachteln verspeist und meinem Vater zum Trost einen Brief gesandt haben, dessen Pergament so geschickt mit Gift bestrichen war, dass jeder Buchstabe darauf tödlich wie Schlangengift war. Nun. Fragt Ihr immer noch, warum ich ihn nicht empfangen will?«

Vergiftetes Pergament? Himmel, wer kommt denn auf so was?, dachte Fenoglio. Ich bestimmt nicht.

»Haben die Worte Euch verlassen, Dichter?«, fragte Cosimo. »Nun, glaubt mir, es ging mir ähnlich, als man mir all diese Ungeheuerlichkeiten berichtete. Was sagt man zu solch einem Nachbarn? Was sagt Ihr zu dem Gerücht, dass der Natternkopf die Mutter meiner Frau vergiften ließ, weil sie allzu gern einem Spielmann lauschte? Was sagt Ihr dazu, dass er dem Brandfuchs seine Gepanzerten zur Verstärkung schickte, damit ich auch ganz gewiss nicht von der Brandstifter-Festung zurückkehrte? Mein Schwiegervater hat versucht mich auszulöschen, Dichter! Ich habe ein Jahr meines Lebens vergessen, und alles davor ist so undeutlich, als hätte ein anderer es erlebt. Sie sagen, ich war tot. Sie sagen, die Weißen Frauen hätten mich geholt. Sie fragen: Wo warst du, Cosimo? Und ich weiß die Antwort nicht! Aber ich weiß nun, wer meinen Tod wünschte und schuld daran ist, dass ich mich leer fühle wie ein ausgenommener Fisch, jünger als mein eigener Sohn. Sagt mir, was ist die angemessene Strafe für Vergehen so ungeheuerlicher Art gegen mich und andere?«

Fenoglio aber konnte ihn nur ansehen. Wer ist er?, fragte er sich. Um Himmels willen, Fenoglio, du weißt, wie er aussieht, aber wer ist er? »Sagt Ihr es mir!«, antwortete er schließlich heiser.

Und Cosimo schenkte ihm erneut sein Engelslächeln. »Es gibt nur eine angemessene Strafe, Dichter!«, sagte er. »Ich werde Krieg führen, Krieg gegen meinen Schwiegervater, bis die Nachtburg nicht mehr steht und sein Name vergessen ist.«

Fenoglio stand da, in dem abgedunkelten Saal, und hörte das eigene Blut in seinen Ohren rauschen. Krieg? Ich muss mich verhört haben!, dachte er. Von Krieg habe ich nichts geschrieben. Aber in seinem Innern begann es zu flüstern: Große Zeiten, Fenoglio! Hast du nicht etwas von großen Zeiten geschrieben?

»Er hat die Unverschämtheit, auf meine Burg zu reiten, mit Männern in seinem Gefolge, die schon für Capricorn gebrand-schatzt haben: Er hat den Brandfuchs zu seinem Herold gemacht, gegen den ich ausgezogen bin, hat den Pfeifer hergeschickt als Beschützer meines Sohnes! Stellt Euch die Dreistigkeit vor! Meinen Vater konnte er vielleicht auf diese Art verhöhnen, aber nicht mich. Ich werde ihm zeigen, dass er es nicht länger mit einem Fürsten zu tun hat, der entweder weint oder zu viel isst.« Cosimos Gesicht überzog eine feine Röte. Der Zorn machte ihn nur noch schöner.

Krieg. Denk nach, Fenoglio. Denk nach. Krieg! Ist es das, was du gewollt hast? Er spürte, wie seine alten Knie zu zittern begannen.

Cosimo aber legte fast zärtlich die Hand an sein Schwert. Langsam zog er es aus der Scheide. »Nur dafür hat der Tod mich gehen lassen, Dichter«, sagte er, während er die lange, schlanke Klinge die Luft zerschneiden ließ. »Damit ich Gerechtigkeit in diese Welt bringe und den Teufel selbst vom Thron stoße. Dafür lohnt es sich doch zu kämpfen, oder? Dafür lohnt es sich sogar zu sterben.«

Er war ein schöner Anblick, wie er so dastand, mit dem gezogenen Schwert in der Hand. Und ja! Hatte er nicht Recht? Vielleicht war ein Krieg tatsächlich der einzige Weg, den Natternkopf in seine Schranken zu weisen.

»Ihr müsst mir dabei helfen, Tintenweber! So nennt man Euch doch, oder? Der Name gefällt mir!« Cosimo schob das Schwert voll Anmut zurück in die Scheide. Tullio, der immer noch zu seinen Füßen auf der Treppe saß, schauderte, als die scharfe Klinge über das Leder schabte. »Ihr werdet den Aufruf an meine Untertanen für mich schreiben. Ihr werdet ihnen unsere Sache erklären, werdet Begeisterung in alle Herzen pflanzen und Abscheu für unseren Feind. Auch die Spielleute werden wir brauchen, Ihr seid ein Freund von ihnen. Schreibt ihnen feurige Lieder, Dichter! Lieder, die Lust aufs Kämpfen machen. Ihr schmiedet die Worte, ich lasse Schwerter schmieden, viele, viele Schwerter.«

Wie ein zorniger Engel stand er da, dem nichts als die Flügel fehlten, und zum ersten, zum allerersten Mal in seinem Leben empfand Fenoglio so etwas wie Zärtlichkeit für eins seiner Tintengeschöpfe. Ich werde ihm Flügel geben, dachte er. Ja, das werde ich. Mit meinen Worten.

»Euer Hoheit!« Als er diesmal den Kopf neigte, fiel es nicht schwer, und für einen köstlichen Moment schien es ihm fast, als hätte er sich den Sohn herbeigeschrieben, den er nie gehabt hatte. Nun werd nicht sentimental auf deine alten Tage!, sagte er sich, aber an der ungewohnten Weichheit in seinem Herzen änderte diese Ermahnung nichts.

Ich sollte mit ihm reiten!, dachte er. Ja, das sollte ich. Ich werde mit ihm gegen den Natternkopf ziehen. auch wenn ich ein alter Mann bin. Fenoglio, Held in seiner eigenen Welt, Dichter und Kämpfer zugleich. Das war eine Rolle, die ihm gefallen würde. Als hätte er sie sich auf den Leib geschrieben.

Cosimo lächelte noch einmal. Fenoglio hätte jeden seiner Finger darauf verwettet, dass es kein schöneres Lächeln gab, weder in dieser noch in irgendeiner anderen Welt.

Auch Tullio schien Cosimos Zauber erlegen zu sein, trotz der Angst, die der Natternkopf ihm ins Herz gepflanzt hatte. Verzückt starrte er zu seinem wiedergewonnenen Herrn empor, die kleinen Hände im Schoß, als hielten sie immer noch den Vogel mit der durchbohrten Brust.

»Ich höre sie schon, die Worte!«, sagte Cosimo, während er zu seinem Thronsessel zurückkehrte. »Wisst Ihr, meine Frau liebt die geschriebenen Worte. Wörter, die wie tote Fliegen auf Pergament und Papier kleben, bei meinem Vater soll es ebenso gewesen sein, aber ich will Worte hören und nicht lesen! Denkt daran, wenn Ihr nach den richtigen sucht: Wie sie klingen, müsst Ihr Euch fragen! Klebrig von Leidenschaft, dunkel von Traurigkeit, süß von Liebe, so müssen sie sein. Schreibt Worte, in denen all unser gerechter Zorn über die Untaten des Natternkopfs zittert, und bald wird dieser Zorn in den Herzen aller sein. Ihr werdet die Anklage schreiben, die flammende Anklage, wir werden sie auf jedem Marktplatz verkünden und von den Spielleuten verbreiten lassen: Hüte dich, Natternkopf! Bis auf seine Seite des Waldes soll man es hören. Deine verbrecherischen Tage sind gezählt! Und bald wird jeder Bauer unter meinem Wappen kämpfen wollen, jeder junge, jeder alte Mann, sie werden hierher strömen, auf die Burg, durch Eure Worte! Ich habe gehört, dass der Natternkopf in den Kaminen seiner Burg bisweilen gern Bücher verbrennen lässt, deren Inhalt ihm nicht gefällt, aber wie will er Worte verbrennen, die jeder singt und spricht?«

Er könnte den Mann verbrennen, der sie ausspricht, dachte Fenoglio. Oder den, der sie geschrieben hat. Ein beunruhigender Gedanke, der sein feurig klopfendes Herz etwas abkühlte, doch Cosimo schien ihn gehört zu haben.

»Natürlich werde ich Euch ab sofort unter meinen persönlichen Schutz stellen«, sagte er. »Ihr werdet künftig hier auf der Burg wohnen, in angemessenen Gemächern, wie es sich für einen Hofdichter gehört.«

»Auf der Burg?« Fenoglio räusperte sich, so verlegen machte ihn das Angebot. »Das. ist sehr großzügig von Euch. Ja, wirklich.« Neue Tage brachen an, ganz neue, prachtvolle Tage. Große Tage.

»Ihr werdet ein guter Fürst sein, Euer Gnaden!«, sagte er mit bewegter Stimme. »Ein guter und ein großer Fürst. Und meine Lieder über Euch wird man noch in Jahrhunderten singen, wenn der Natternkopf längst vergessen ist. Das verspreche ich Euch.«

Hinter ihm ertönten Schritte. Fenoglio fuhr herum, verärgert, in einem so bewegenden Moment gestört zu werden. Violante kam durch den Saal gehastet, ihren Sohn an der Hand, hinter sich ihre Dienerin.

»Cosimo!«, rief sie. »Hör ihn an. Dein Sohn will sich entschuldigen!«

Fenoglio fand, dass Jacopo nicht danach aussah. Violante musste ihn hinter sich herzerren und sein Gesicht war finster. Er schien sich nicht sonderlich über die Rückkehr seines Vaters zu freuen. Seine Mutter dagegen strahlte, wie Fenoglio sie noch nie gesehen hatte, und das Mal auf ihrem Gesicht war kaum dunkler als ein Schatten, den die Sonne ihr auf die Haut gezeichnet hatte.

Das Mal der Hässlichen verblasste auf ihrem Gesicht. Oh, Meggie, ich danke dir, dachte er. Wie schade, dass du nicht hier bist.

»Ich entschuldige mich nicht!«, verkündete Jacopo, als seine Mutter ihn unsanft die Treppe zum Thronsessel hinaufschob. »Er muss sich entschuldigen, bei meinem Großvater!«

Fenoglio machte unauffällig einen Schritt zurück. Es wurde Zeit zu gehen.

»Erinnerst du dich an mich?«, hörte er Cosimo fragen. »War ich ein strenger Vater?«

Jacopo zuckte nur die Schultern.

»O ja, du warst streng«, antwortete die Hässliche an seiner Stelle. »Du hast ihm seine Hunde fortgenommen, wenn er sich so benahm wie jetzt. Und sein Pferd.«

Oh, sie war schlau, schlauer, als Fenoglio gedacht hatte. Leise ging er auf die Tür zu. Wie gut, dass er bald auf der Burg wohnen würde. Er musste Violante im Auge behalten, sonst würde sie Cosimos leeres Gedächtnis bald ganz nach ihrem Geschmack gefüllt haben - wie einen ausgenommenen Truthahn. Als die Diener ihm das Portal öffneten, sah er, wie Cosimo seiner Frau abwesend zulächelte. Er ist ihr dankbar, dachte Fenoglio. Er ist dankbar, dass sie seine Leere mit ihren Worten füllt, aber lieben tut er sie nicht.

Nun, daran hast du natürlich wieder nicht gedacht, Fenoglio !, tadelte er sich, während er über den Inneren Hof schritt. Warum hast du kein Wort darüber geschrieben, dass Cosimo seine Frau liebt? Hast du nicht selbst Meggie vor langer Zeit die Geschichte von dem Blumenmädchen erzählt, das sein Herz an den Falschen verschenkte? Wozu sind denn Geschichten da, wenn man nicht auch etwas aus ihnen lernt? Nun, wenigstens liebte Violante Cosimo. Man musste sie nur ansehen. Das war doch schon etwas. Andererseits. Violantes Dienerin, die mit dem wunderschönen Haar, Brianna, von der Meggie behauptete, sie sei Staubfingers Tochter - hatte sie Cosimo nicht ebenso verzückt angesehen? Und Cosimo - hatte der nicht öfter zu der Dienerin geblickt als zu seiner Frau? Unwichtig!, dachte Fenoglio. Hier wird es bald um größere Dinge gehen als um Liebe. Um viel größere Dinge.




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