Zeit ist ein Pferd, das im Herzen rennt, ein Pferd Ohne Reiter auf einer Straße bei Nacht.
Der Verstand sitzt da, lauschend, und hört es vorbeiziehen.
Wallace Stevens, All the Vrelud.es to Felicity
Staubfinger lehnte an der Burgmauer, hinter den Ständen, zwischen denen sich die Menschen drängten. Der Duft von Honig und heißen Maronen zog ihm in die Nase, und hoch über ihm balancierte der Seiltänzer, dessen blaue Gestalt ihn aus der Ferne so sehr an Wolkentänzer erinnerte. Er hielt eine lange Stange, winzige Vögel hockten darauf, rot wie Blutstropfen, und jedes Mal, wenn der Tänzer die Richtung änderte - leichtfüßig, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt als auf einem schwankenden Seil zu stehen -, flogen die Vögel auf und schwirrten schrill zwitschernd um ihn herum. Der Marder auf Staubfängers Schulter sah zu ihnen hinauf und leckte sich das runde Maul. Er war noch sehr jung, kleiner und zierlicher als Gwin, nicht halb so bissig und, was das Wichtigste war, er fürchtete das Feuer nicht. Abwesend kraulte Staubfinger ihm den gehörnten Kopf. Schon kurz nach seiner Ankunft auf Roxanes Hof hatte er ihn hinter ihrem Stall gefangen, als er versucht hatte, sich an die Hühner heranzupirschen. Schleicher hatte er ihn getauft, weil das kleine Biest es liebte, sich lautlos anzuschleichen und ihn dann so plötzlich anzuspringen, dass es ihn fast umwarf. Bist du verrückt?, hatte er sich selbst gefragt, als er ihn mit einem frischen Ei zu sich gelockt hatte. Es ist ein Marder. Woher willst du wissen, dass es dem Tod nicht gleich ist, welchen Namen er trägt? Aber er hatte ihn trotzdem behalten. Vielleicht hatte er ja all seine Angst in der anderen Welt gelassen, die Angst, die Einsamkeit, das Unglück.
Schleicher lernte schnell, er sprang durch die Flammen, als hätte er nie etwas anderes getan. Es würde leicht sein, mit ihm auf den Märkten ein paar Münzen zu verdienen, mit ihm und dem Jungen.
Der Marder stieß Staubfinger die Schnauze gegen die Wange. Vor der leeren Tribüne, die immer noch auf das Geburtstagskind wartete, bauten ein paar Gaukler einen Turm aus Menschenleibern. Farid hatte Staubfinger überreden wollen, auch etwas von seiner Kunst darzubieten, aber ihm war an diesem Tag nicht danach, angestarrt zu werden. Er wollte selber schauen, wollte sich satt sehen an all dem, was er so lange vermisst hatte. Deshalb trug er auch nur die Kleider, die Ro-xane ihm von ihrem toten Mann gegeben hatte. Offenbar waren sie fast gleich groß gewesen. Armer Hund! Weder Orpheus noch Zauberzunge konnten ihn von dort zurückbringen, wo er war.
»Warum verdienst du heute nicht zur Abwechslung mal das Geld?«, hatte er zu Farid gesagt. Der Junge war vor Stolz erst rot und dann kreidebleich geworden - und hatte sich ins Getümmel gestürzt. Er lernte schnell. Nur ein winziges Bröck-chen von dem heißen Honig und Farid sprach schon mit den Flammen, als wäre er mit den Worten auf der Zunge geboren worden. Natürlich sprangen sie nicht so willig aus der Erde wie bei ihm, wenn der Junge mit den Fingern schnippte, aber wenn er das Feuer mit leiser Stimme rief, sprach es schon mit ihm - herablassend, spottend, aber es antwortete.
»Und er ist doch dein Sohn!«, hatte Roxane gesagt, als Farid sich am frühen Morgen fluchend einen Eimer Wasser aus dem Brunnen gezogen hatte, um sich die verbrannten Finger zu kühlen. »Ist er nicht!«, hatte Staubfinger erwidert - und in ihren Augen gesehen, dass sie ihm nicht glaubte.
Bevor sie zur Burg aufgebrochen waren, hatte er mit Farid noch ein paar Kunststücke geübt und Jehan hatte zugesehen. Doch als Staubfinger ihn näher gewinkt hatte, war er davongelaufen. Farid hatte ihn dafür laut verspottet, aber Staubfinger hatte ihm den Mund zugehalten. »Das Feuer hat seinen Vater gefressen, hast du das vergessen?«, hatte er ihm zugeraunt, und Farid hatte beschämt den Kopf gesenkt.
Wie stolz er zwischen den anderen Gauklern stand. Staubfinger schob sich zwischen den Ständen hindurch, um ihn besser sehen zu können. Er hatte sein Hemd ausgezogen, wie Staubfinger es auch manchmal tat - brennender Stoff war gefährlicher als ein Brandfleck auf der Haut, und den nackten Körper konnte man leicht mit Fett gegen die leckenden Feuerzungen schützen. Der Junge machte seine Sache gut, so gut, dass selbst die Händler so gebannt zu ihm hinüberstarrten, dass Staubfinger ein paar Feen aus den Käfigen befreien konnte, in die man sie gesteckt hatte, um sie irgendeinem Dummkopf als Glücksbringer zu verkaufen. Kein Wunder, dass Ro-xane dich verdächtigt, sein Vater zu sein!, dachte er. Dir schwillt ja die Brust vor Stolz, wenn du ihm zusiehst. Gleich neben Farid gaben ein paar Possenreißer ihre derben Scherze zum Besten, zu seiner Rechten rang der Schwarze Prinz mit seinem Bären, und trotzdem blieben immer mehr Leute bei dem Jungen stehen, der so selbstvergessen dastand und mit dem Feuer spielte. Staubfinger beobachtete, wie der Rußvogel die Fackeln sinken ließ und neidisch herübersah. Er würde es nie lernen. Er war immer noch so schlecht wie vor zehn Jahren.
Farid verbeugte sich, und ein Regen von Münzen fiel in die Holzschale, die Roxane ihm mitgegeben hatte. Stolz blickte er zu Staubfinger herüber. Er hungerte nach Lob wie ein Hund nach einem Knochen, und als Staubfinger in die Hände klatschte, wurde er rot vor Glück. Was für ein Kind er noch war, obwohl er ihm vor ein paar Monaten stolz die ersten Bartstoppeln an seinem Kinn gezeigt hatte!
Staubfinger schob sich an zwei Bauern vorbei, die um ein paar Ferkel feilschten, als das Tor zur Inneren Burg sich erneut öffnete - diesmal nicht für den Natternkopf wie beim letzten Mal, als er sich noch gerade hinter einem Kuchenstand vor den suchenden Blicken des Pfeifers hatte verbergen können. Nein. Offenbar erschien endlich das Geburtstagskind selbst auf seinem Fest - und seine Mutter würde den Jungen begleiten, mitsamt ihrer Dienerin. Wie viel schneller sein dummes Herz plötzlich schlug. »Sie hat deine Haarfarbe«, hatte Roxane gesagt, »und meine Augen.«
Die fürstlichen Pfeifer machten das Beste aus ihrem Auftritt. Stolz wie Gockel standen sie da und reckten ihre Fanfaren in die Luft. Alle freien Spielleute rümpften die Nase über die, die ihre Kunst nur an einen Herrn verkauften. Dafür waren die anderen besser gekleidet: nicht lumpenbunt wie ihresgleichen auf der Straße, sondern in den Farben ihres Fürsten. Für die Pfeifer des Speckfürsten hieß das Grün und Gold.
Seine Schwiegertochter trug Schwarz. Cosimo der Schöne war erst knapp ein Jahr tot, aber sicher hatte es schon einige Anwärter auf die junge Witwe gegeben, trotz des Males, dunkel wie ein Brandfleck, das ihr Gesicht entstellte. Die Menge umdrängte die Tribüne, sobald Violante mit ihrem Sohn Platz genommen hatte. Staubfinger musste auf ein leeres Fass steigen, um hinter all den Köpfen und Leibern einen Blick auf ihre Dienerin zu erhaschen.
Brianna stand hinter dem Jungen. Trotz des hellen Haares glich sie ihrer Mutter. Das Kleid, das sie trug, ließ sie sehr erwachsen aussehen, und doch entdeckte Staubfinger in ihrem Gesicht noch Spuren des kleinen Mädchens, das versucht hatte, ihm die brennenden Fackeln aus der Hand zu winden, oder wütend mit dem Fuß aufgestampft hatte, wenn er ihr nicht erlauben wollte, in die Funken zu fassen, die er vom Himmel regnen ließ.
Zehn Jahre. Zehn Jahre, die er in der falschen Geschichte verbracht hatte. Zehn Jahre, in denen die eine Tochter der Tod geholt hatte, nichts als Erinnerungen zurücklassend, so blass und unscharf, als hätte es sie nie gegeben, und die andere gewachsen war, all die Jahre, gelacht und geweint hatte, ohne dass er dabei gewesen war. Heuchler!, sagte er sich, während er die Augen nicht von Briannas Gesicht wenden konnte. Willst du dir jetzt etwa weismachen, dass du ein treu sorgender Vater warst, bevor Zauberzunge dich in seine Geschichte lockte?
Cosimos Sohn lachte laut auf. Mit kurzem Finger zeigte er mal auf den einen, mal auf den anderen Gaukler und fing die Blüten auf, die die Spielfrauen ihm zuwarfen. Wie alt war er? Fünf? Sechs?
So alt war Brianna auch gewesen, als Zauberzunges Stimme ihn fortgelockt hatte. Bis zum Ellbogen hatte sie ihm gereicht, und so leicht war sie gewesen, dass er es kaum bemerkt hatte, wenn sie ihm auf den Rücken geklettert war. Wenn er wieder einmal die Zeit vergessen und viele Wochen fort gewesen war, an Orten, deren Namen sie noch nie gehört hatte, hatte sie ihn geschlagen mit ihren kleinen Fäusten und ihm die Geschenke, die er ihr mitbrachte, vor die Füße geworfen. Dann war sie in der nächsten Nacht aus dem Bett geschlüpft, um sie sich doch zu holen: bunte Bänder, weich wie Kaninchenfell, Stoffblüten, die sie sich ins Haar stecken konnte, kleine Pfeifen, mit denen sich die Stimme einer Lerche oder einer Eule nachahmen ließ.
Sie hatte es ihm nie erzählt, natürlich nicht, sie war stolz, noch stolzer als ihre Mutter, aber er hatte immer gewusst, wo sie seine Geschenke versteckte - in einem Beutel zwischen ihren Kleidern. Ob sie ihn noch besaß?
Ja, sie hatte seine Geschenke aufbewahrt, doch ein Lächeln hatten sie ihr nicht aufs Gesicht zaubern können, wenn er lange fort gewesen war. Das hatte immer nur das Feuer vermocht, und für einen Moment, einen verführerischen Moment war er versucht, hinauszutreten aus der gaffenden Menge, sich zwischen die anderen Gaukler zu stellen, die dem Fürstenenkel ihre Kunststücke vorführten, und das Feuer zu rufen, nur für seine Tochter. Aber er blieb stehen, unsichtbar hinter all den Menschen, beobachtete, wie sie sich mit der flachen Hand übers Haar strich, auf die gleiche Art, wie ihre Mutter es so oft tat, wie sie sich unauffällig die Nase rieb und von einem Fuß auf den anderen trat, als würde sie viel lieber dort unten mittanzen, statt so steif dazustehen.
»Friss ihn, Bär! Friss ihn auf der Stelle! Er ist tatsächlich zurück, aber denkst du, er lässt sich bei einem alten Freund sehen?«
Staubfinger fuhr herum, so abrupt, dass er fast von dem Fass stolperte, auf dem er immer noch stand. Der Schwarze Prinz sah zu ihm hoch, hinter sich den Bären. Staubfinger hatte gehofft, dass er ihn hier treffen würde, umgeben von Fremden, statt im Lager der Spielleute, wo es zu viele gab, die fragen würden, fragen, wo er gewesen sei. Seit sie beide so alt gewesen waren wie der Fürstensohn, der dort oben in seinem Sessel thronte, kannten sie sich - Gauklersöhne, elternlos, erwachsen vor der Zeit, und Staubfinger hatte das schwarze Gesicht fast ebenso vermisst wie das von Roxane.
»Frisst er mich wirklich, wenn ich von dem Fass steige?«
Der Prinz lachte. Es klang immer noch so unbekümmert wie früher. »Vielleicht. Schließlich merkt er, dass ich es dir wirklich sehr übel nehme, dass du dich noch nicht hast sehen lassen.
Außerdem - hast du ihm nicht bei eurer letzten Begegnung den Pelz verbrannt?«
Schleicher duckte sich auf Staubfingers Schulter zusammen, als sein Herr von dem Fass sprang, und keckerte ihm aufgeregt ins Ohr. »Keine Sorge, so was wie dich frisst der Bär nicht!«, raunte Staubfinger ihm zu - und umarmte den Prinzen so fest, als könnte man mit einer Umarmung zehn Jahre wettmachen.
»Du riechst immer noch mehr nach Bär als nach Mensch.«
»Und du riechst nach Feuer. Nun sag schon. Wo warst du?« Der Prinz schob Staubfinger auf Armeslänge von sich und musterte ihn, als könnte er ihm alles, was während seiner Abwesenheit geschehen war, von der Stirn ablesen. »Die Brandstifter haben dich nicht aufgeknüpft, wie manche behaupten, dazu siehst du zu gesund aus. Was ist mit der anderen
Geschichte - dass der Natternkopf dich in seinen feuchtesten Kerker gesperrt hat? Oder hast du dich, wie es in einigen Liedern heißt, für eine Weile in einen Baum verwandelt, in einen Baum mit brennenden Blättern, tief im Weglosen Wald?«
Staubfinger lächelte. »Das hätte mir gefallen. Aber glaub mir, die wirkliche Geschichte würdest selbst du mir nicht glauben.«
Ein Raunen lief durch die Menge. Staubfinger spähte über die Köpfe und sah, wie Farid mit hochrotem Kopf den Applaus entgegennahm. Der Sohn der Hässlichen klatschte so heftig, dass er fast aus seinem Sessel fiel. Farid aber suchte in der Menge nach Staubfingers Gesicht. Er lächelte dem Jungen zu - und spürte, wie der Prinz ihn nachdenklich ansah.
»Der Junge gehört also wirklich zu dir?«, sagte er. »Nein, keine Sorge, ich stell dir keine weiteren Fragen. Ich weiß, du liebst es, deine Geheimnisse zu haben. Das wird sich kaum geändert haben. Aber die Geschichte, von der du gesprochen hast, will ich trotzdem irgendwann hören. Und eine Vorstellung bist du uns auch schuldig. Wir können alle ein bisschen Aufmunterung brauchen. Die Zeiten sind schlecht, selbst auf dieser Seite des Waldes, auch wenn es heute nicht so aussieht.«
»Ja, das hab ich schon gehört. Und der Natternkopf liebt dich offenbar immer noch. Was hast du angestellt, dass er dir mit dem Galgen droht? Hat dein Bär sich einen seiner Hirsche geholt?« Staubfinger strich Schleicher über das gesträubte Fell. Der Marder ließ den Bären nicht aus den Augen.
»Oh, glaub mir, die Natter ahnt kaum die Hälfte von dem, was ich anstelle, sonst hinge ich längst von den Zinnen der Nachtburg!«
»Ach ja?« Über ihnen hockte der Seiltänzer auf seinem Seil, inmitten seiner Vögel, und ließ die Beine baumeln, als ginge das Menschengewimmel unter ihm ihn nichts an. »Prinz, mir gefällt der Ausdruck in deinen Augen nicht«, sagte Staubfinger, während er zu dem Gaukler hinaufblickte. »Reiz den Natternkopf nicht noch mehr, sonst wird er dich jagen lassen, so wie er es schon mit anderen getan hat. Und dann bist du auch auf dieser Seite des Waldes nicht mehr sicher!«
Jemand zupfte ihn am Ärmel. Staubfinger wandte sich so abrupt um, dass Farid erschrocken zurückfuhr.
»Entschuldige!«, stammelte er und nickte dem Prinzen unsicher zu. »Meggie ist da. Mit Fenoglio!« Er klang so aufgeregt, als hätte er den Speckfürsten persönlich getroffen.
»Wo?« Staubfinger blickte sich um, doch Farid starrte nur auf den Bären, der dem Prinzen zärtlich die Schnauze auf den Kopf gelegt hatte. Der Schwarze Prinz lächelte und schob die Bärenschnauze zur Seite.
»Wo?«, wiederholte Staubfinger ungeduldig. Fenoglio war wahrhaftig der letzte Mensch, den er treffen wollte.
»Dahinten, gleich hinter der Tribüne!«
Staubfinger spähte in die Richtung, in die Farids Finger wies. Tatsächlich, da stand der Alte, zwei Kinder neben sich, wie damals, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Zauberzunges Tochter stand neben ihm. Sie war groß geworden - und ihrer Mutter noch ähnlicher. Staubfinger stieß einen leisen Fluch aus. Was wollten sie hier, in seiner Geschichte? Sie hatten damit ebenso wenig zu schaffen wie er mit der ihren. Ach ja?, spottete eine Stimme in seinem Inneren. Das sieht der Alte vermutlich anders. Hast du schon vergessen, dass er behauptet, der Schöpfer von alldem hier zu sein?
»Ich will ihn nicht sehen«, sagte er zu Farid. »An dem Alten klebt das Unglück und Schlimmeres, merk dir das.«
»Redet der Junge vom Tintenweber?« Der Prinz trat so dicht an Staubfingers Seite, dass der Marder ihn anzischte. »Was hast du gegen ihn? Er schreibt gute Lieder.«
»Er schreibt auch noch anderes.« Wer weiß, was er schon über dich geschrieben hat!, fügte Staubfinger in Gedanken hinzu. Ein paar wohlgesetzte Worte und schon bist du tot, Prinz.
Farid blickte immer noch zu dem Mädchen hinüber. »Und Meggie? Willst du sie auch nicht sehen?« Seine Stimme klang belegt vor Enttäuschung. »Sie hat nach dir gefragt.«
»Grüß sie von mir. Sie wird schon verstehen. Nun geh schon! Ich seh es dir doch an, du bist immer noch verliebt in sie. Wie hast du damals ihre Augen beschrieben? Kleine Stücke vom Himmel?«
Farid wurde scharlachrot. »Lass das!«, sagte er ärgerlich.
Aber Staubfinger nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn um. »Geh!«, sagte er. »Geh und grüß sie von mir. Aber richte ihr aus, dass sie sich unterstehen soll, meinen Namen in ihren zauberkräftigen Mund zu nehmen, verstanden?«
Farid warf dem Bären einen letzten Blick zu, nickte - und schlenderte zurück zu dem Mädchen, betont langsam, als wollte er beweisen, dass er es nicht allzu eilig hatte, zu ihr zurückzukommen. Auch sie gab sich alle Mühe, nicht allzu oft in seine Richtung zu sehen, während sie verlegen an den Ärmeln ihres Kleides zupfte. Sie sah aus, als gehörte sie hierher - eine Magd aus nicht sonderlich reichem Hause, die Tochter eines Bauern oder Handwerkers vielleicht. Nun, ihr Vater war ein Handwerker, oder? Wenn auch einer mit besonderen Talenten. Vielleicht blickte sie etwas zu unbefangen drein. Mädchen taten das hier gewöhnlich nicht, sie hielten den Kopf gesenkt -und manchmal waren sie in ihrem Alter schon verheiratet. Ob seine Tochter schon an so etwas dachte? Roxane hatte nichts erzählt.
»Der Junge ist gut. Er ist schon jetzt besser als der Rußvogel.« Der Prinz streckte die Hand nach dem Marder aus - und zog sie zurück, als Schleicher die winzigen Zähne bleckte.
»Das ist keine Kunst.« Staubfinger ließ den Blick zu Fenoglio wandern. Tintenweber, so nannten sie ihn also. Wie zufrieden er aussah, der Mann, der seinen Tod niedergeschrieben hatte. Ein Messer in den Rücken, so tief hinein, dass es sein Herz fand, das hatte er für ihn vorgesehen gehabt. Staubfinger griff sich unwillkürlich zwischen die Schulterblätter. Ja. Irgendwann hatte er sie schließlich doch gelesen, Fenoglios tödliche Worte, eines Nachts, in der anderen Welt, als er wieder mal wach gelegen und vergebens versucht hatte, sich Ro-xanes Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Du kannst nicht zurück! Immer wieder hatte er Meggies Stimme die Worte sagen hören. Es ist irgendeiner von Capricorns Männern, irgendeiner, der schon auf dich wartet. Sie wollen Gwin töten, und du willst ihm helfen und dafür töten sie dich. Mit bebenden Fingern hatte er das Buch aus seinem Rucksack gezerrt, hatte es aufgeschlagen und auf den Seiten nach seinem Tod gesucht. Und gelesen, wieder und wieder, was dort schwarz auf weiß stand. Danach hatte er beschlossen, Gwin zurückzulassen, falls er je zurückkehren sollte. Staubfinger strich Schleicher über den buschigen Schwanz. Nein, vermutlich war es wirklich nicht klug gewesen, sich wieder einen Marder zu fangen.
»Was ist los? Du machst ja plötzlich ein Gesicht, als hätte dir der Henker zugewunken.« Der Prinz legte ihm den Arm um die Schultern, während sein Bär neugierig an Staubfingers Rucksack schnupperte. »Der Junge hat dir bestimmt erzählt, dass wir ihn im Wald aufgelesen haben, oder? Er war furchtbar aufgeregt, hat behauptet, er sei hier, um dich zu warnen. Als er sagte, vor wem, legte so mancher meiner Männer die Hand ans Messer.«
Basta. Staubfinger fuhr mit dem Finger über seine narbige Wange. »Ja, vermutlich ist auch der zurück.«
»Mitsamt seinem Herrn?«
»Nein. Capricorn ist tot. Ich hab ihn sterben sehen.«
Der Schwarze Prinz griff seinem Bären ins Maul und kraulte ihm die Zunge. »Das ist eine gute Nachricht. Es gäbe auch nicht viel, zu dem er zurückkehren könnte, nur ein paar niedergebrannte Mauern. Die Einzige, die sich dort manchmal herumtreibt, ist die Nessel. Sie schwört, man findet nirgendwo bessere Schafgarbe als in der alten Brandstifter-Festung.«
Staubfinger sah, wie Fenoglio in seine Richtung blickte. Auch Meggie schaute herüber. Rasch kehrte er ihnen den Rücken zu.
»Wir haben jetzt ein Lager dort in der Nähe, du weißt schon, bei den alten Koboldhöhlen«, fuhr der Prinz mit gesenkter Stimme fort. »Seit Cosimo die Brandstifter ausgeräuchert hat, sind die Höhlen wieder ein gutes Quartier. Nur Spielleute wissen davon. Alte, Gebrechliche, Krüppel, Frauen, die es leid sind, mit ihren Kindern auf der Straße zu leben - sie können dort alle eine Weile ausruhen. Weißt du was? Das Geheime Lager wäre ein guter Ort, um mir deine Geschichte zu erzählen! Die, die so schwer zu glauben ist. Ich bin oft wegen des Bären dort, er wird griesgrämig, wenn er allzu lange zwischen festen Mauern ist. Roxane kann dir den Weg erklären, sie kennt sich im Wald inzwischen fast ebenso gut aus wie du.«
»Ich kenne die alten Koboldhöhlen«, sagte Staubfinger. Er hatte sich dort so manches Mal vor Capricorns Männern versteckt. Aber er war nicht sicher, dass er dem Prinzen wirklich von den letzten zehn Jahren erzählen wollte.
»Sechs Fackeln!« Farid stand wieder neben ihm. Er rieb sich an den Hosen den Ruß von den Fingern. »Mit sechs Fackeln hab ich jongliert und nicht eine fallen lassen. Ich glaub, es hat ihr gefallen.«
Staubfinger verkniff sich ein Lächeln. »Vermutlich.« Zwei Gaukler hatten den Prinzen zur Seite gezogen. Staubfinger war nicht sicher, ob er sie kannte, und kehrte ihnen vorsichtshalber den Rücken zu.
»Weißt du, dass alle von dir reden?« Farids Augen waren rund wie Münzen vor Aufregung. »Alle sagen, dass du zurück bist. Und ich glaub, ein paar haben dich schon erkannt.«
»Ach ja?« Staubfinger blickte sich unbehaglich um. Seine Tochter stand immer noch hinter dem Sessel des kleinen Prinzen. Er hatte Farid nichts von ihr erzählt. Es reichte, dass er eifersüchtig auf Roxane war.
»Sie sagen, dass es nie einen Feuerspucker wie dich gab! Der andere da drüben, Rußvogel nennen sie ihn«, Farid schob Schleicher ein Stück Brot ins Maul, »hat mich nach dir gefragt, aber ich wusste nicht, ob du ihn treffen willst. Er sagt, er kennt dich. Stimmt das?«
»Ja, aber treffen will ich ihn trotzdem nicht.« Staubfinger drehte sich um. Der Seiltänzer war doch noch von seinem Seil heruntergestiegen, Wolkentänzer sprach mit ihm und zeigte in seine Richtung. Es wurde Zeit zu verschwinden. Er wollte sie alle gern wiedersehen, aber nicht heute, nicht hier.
»Ich hab genug«, sagte er zu Farid. »Bleib du hier und verdien uns noch ein paar Münzen. Ich bin bei Roxane, wenn du mich suchst.«
Auf der Tribüne hielt die Hässliche ihrem Sohn einen goldbestickten Beutel hin. Der Kleine griff mit seiner runden Hand hinein und warf den Gauklern ein paar Münzen zu. Hastig bückten sie sich und klaubten sie aus dem Staub. Staubfinger aber warf dem Schwarzen Prinzen einen letzten Blick zu und machte sich davon.
Was Roxane wohl sagen würde, wenn sie hörte, dass er nicht ein einziges Wort mit seiner Tochter gewechselt hatte!
Er kannte die Antwort. Lachen würde sie. Sie wusste nur zu gut, was für ein Feigling er manchmal war.