Die beste aller Nächte



»Iss«, sagte Merlot.

»Das kann ich auf keinen Fall«, sagte Despereaux und wich von dem Buch zurück. »Warum nicht?«

»Es würde die Geschichte zerstören«, sagte Despereaux.

Kate DiCamillo, Despereaux - Von einem der auszog, das Fürchten zu verlernen


Keiner von ihnen wusste später, wie sie von der Mühle fortgekommen waren. Farid erinnerte sich nur an Bilder, an Meggies Gesicht, als sie zum Fluss hinunterstolperten, an das Blut auf dem Wasser, als Staubfinger hineinsprang, an den Rauch, den sie noch in den Himmel steigen sahen, als sie schon mehr als eine Stunde durch das kalte Wasser gewatet waren. Aber niemand kam ihnen nach, weder der Schlitzer noch der Müller oder sein Knecht und auch Basta nicht. Nur Gwin tauchte irgendwann am Ufer auf. Dummer Gwin.

Es war tiefe Nacht, als Staubfinger aus dem Wasser stieg, das Gesicht blass vor Erschöpfung. Während er sich ins Gras fallen ließ, lauschte Farid besorgt in die Dunkelheit, aber alles, was er hörte, war ein Rauschen, laut und stetig, wie das Atmen eines riesigen Tieres.

»Was ist das?«, flüsterte er.

»Das Meer. Hast du schon vergessen, wie es klingt?«

Das Meer. Gwin sprang auf Farids Rücken, als er sich Staubfingers Bein ansah, aber er scheuchte ihn fort. »Verschwinde!«, fuhr er den Marder an. »Geh jagen! Für heute hast du genug angerichtet.« Dann ließ er Schleicher aus dem Rucksack und suchte nach etwas, mit dem er die Wunde verbinden konnte. Meggie wrang ihr nasses Kleid aus und hockte sich neben sie.

»Ist es schlimm?«

»Ach was!«, sagte Staubfinger, aber er zuckte zusammen, als Farid den tiefen Schnitt säuberte. »Armer Wolkentänzer!«, murmelte er. »Da ist er dem Tod einmal entkommen, und nun holt der Kalte Mann ihn sich doch noch. Wer weiß. Vermutlich mögen die Weißen Frauen es nicht, wenn man ihnen so knapp durch die Finger schlüpft.«

»Es tut mir Leid.« Meggie sprach so leise, dass Farid sie kaum verstand. »Es tut mir so Leid. Es ist alles meine Schuld, und er ist ganz umsonst gestorben. Denn wo soll Fenoglio uns nun erreichen, selbst wenn er etwas geschrieben hat?«

»Fenoglio.« Staubfinger sprach den Namen aus wie den einer Krankheit.

»Hast du sie auch gespürt?« Meggie sah ihn an. »Ich dachte, ich spüre seine Worte auf der Haut. Ich dachte, jetzt töten sie Staubfinger und wir können nichts dagegen tun!«

»Konnten wir aber doch«, sagte Farid trotzig.

Staubfinger jedoch lehnte sich zurück und blickte hinauf zu den Sternen. »Tatsächlich? Wir werden sehen. Vielleicht hat der Alte ja inzwischen etwas anderes für mich vorgesehen. Vielleicht wartet der Tod schon an einer anderen Ecke?«

»Soll er warten!«, sagte Farid nur und fischte einen Beutel aus Staubfingers Rucksack. »Ein bisschen Feenstaub kann niemals schaden«, murmelte er, während er das glitzernde Pulver auf die Wunde rieseln ließ. Dann zog er sich das Hemd über den Kopf, trennte mit seinem Messer einen Streifen ab und schlang ihn vorsichtig um Staubfingers Bein. Das war nicht leicht mit verbrannten Fingern, aber er tat sein Bestes. Auch wenn der Schmerz ihn das Gesicht verziehen ließ.

Staubfinger griff nach seiner Hand und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Himmel, deine Finger haben ja so viel Blasen, als hätten Feuerelfen darauf getanzt«, stellte er fest. »Schätze, wir brauchen wohl beide einen Bader. Roxane ist ja leider nicht hier.« Mit einem Seufzer ließ er sich wieder auf den Rücken fallen und blickte zum dunklen Himmel hinauf. »Weißt du was, Farid?«, sagte er, als spreche er mit den Sternen. »Eins ist schon wirklich seltsam. Hätte Meggies Vater mich nicht aus meiner Geschichte gepflückt, dann hätte ich wohl nie einen so fabelhaften Wachhund wie dich bekommen.« Er zwinkerte Meggie zu. »Hast du gesehen, wie er zugebissen hat? Ich wette, der Schlitzer dachte, der Bär des Prinzen knabbert ihm an der Schulter.«

»Ach, hör schon auf!« Farid wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Verlegen zupfte er sich einen Grashalm zwischen den nackten Zehen hervor.

»Ja, aber Farid ist klüger als der Bär!«, sagte Meggie. »Viel klüger.«

»Allerdings. Er ist auch klüger als ich!«, stellte Staubfinger fest. »Und was er mit dem Feuer anstellt, macht mir langsam wirklich Sorgen.«

Farid konnte nicht mehr anders, er musste grinsen. Das Blut schoss ihm in die Ohren vor Stolz, aber zum Glück würde das in der Dunkelheit niemand sehen.

Staubfinger betastete sein Bein und stellte sich vorsichtig auf die Füße. Beim ersten Schritt verzog er das Gesicht, aber dann humpelte er ein paar Mal am Flussufer auf und ab. »Na bitte«, sagte er. »Etwas langsamer als sonst, aber es wird gehen. Es muss.« Dann blieb er vor Farid stehen. »Ich denke, ich bin dir etwas schuldig«, sagte er. »Wie soll ich bezahlen? Vielleicht, indem ich dir etwas Neues zeige? Ein Spiel mit dem Feuer, das niemand außer mir kann? Wie wäre das?«

Farid hielt den Atem an. »Was für ein Spiel ist das?«, fragte er.

»Man kann es nur am Meer zeigen«, antwortete Staubfinger, »aber da müssen wir sowieso hin, denn wir brauchen beide einen Bader. Und der beste wohnt am Meer. Im Schatten der Nachtburg.«

Sie beschlossen, abwechselnd Wache zu halten. Farid übernahm die erste, und während Meggie und Staubfinger hinter ihm schliefen, unter den tief herabhängenden Zweigen einer Steineiche, saß er im Gras und sah hinauf zum Himmel, an dem die Sterne zahlreicher leuchteten als die Glühwürmchen, die über dem Fluss schwirrten. Farid versuchte sich an eine Nacht zu erinnern, irgendeine, in der er sich so gefühlt hatte wie in dieser, so ganz und gar zufrieden mit sich selbst, aber nicht eine fiel ihm ein. Diese war die beste - trotz all der Schrecken, die hinter ihm lagen, trotz seiner verbrannten Finger, die immer noch schmerzten, obwohl Staubfinger sie mit Feenpulver und der kühlenden Paste bestrichen hatte, die Roxane ihm angerührt hatte.

Er fühlte sich so lebendig. Lebendig wie das Feuer.

Er hatte Staubfinger gerettet. Er war stärker gewesen als die Wörter. Alles war gut.

Hinter ihm stritten die beiden Marder, vermutlich um irgendeine Beute. »Wenn der Mond über dem Hügel da steht, dann weckst du mich!«, hatte Staubfinger gesagt, doch als Farid zu ihm ging, schlief er tief und fest, das Gesicht so friedvoll, dass Farid beschloss, ihn schlafen zu lassen, und zurückkehrte zu seinem Platz unter den Sternen.

Als er kurz darauf Schritte hinter sich hörte, war es nicht Staubfinger, sondern Meggie, die hinter ihm stand. »Ich wache immer wieder auf«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht aufhören zu denken.«

»Wie Fenoglio dich nun finden soll?«

Sie nickte.

Wie sehr sie immer noch an die Wörter glaubte. Farid glaubte an andere Dinge, an sein Messer, an List und Mut. Und an Freundschaft.

Meggie lehnte den Kopf gegen seine Schulter und sie schwiegen beide, wie die Sterne über ihnen. Irgendwann kam ein Wind auf, kalt und böig, salzig wie Meerwasser, und Meggie setzte sich auf und schlang fröstelnd die Arme um ihre Knie.

»Diese Welt«, sagte sie. »Gefällt sie dir eigentlich?«

Was für eine Frage. Farid stellte sich nie solche Fragen. Es gefiel ihm, wieder bei Staubfinger zu sein. Wo das war, war ihm egal.

»Sie ist grausam, findest du nicht?«, fuhr Meggie fort. »Mo hat das oft zu mir gesagt: dass ich zu leicht vergesse, wie grausam sie ist.«

Farid strich ihr mit seinen verbrannten Fingern über das helle Haar. Selbst in der Dunkelheit schimmerte es. »Sie sind alle grausam«, sagte er. »Die, aus der ich komme, die, aus der du stammst, und diese hier. In deiner Welt sieht man die Grausamkeit vielleicht nicht gleich, sie ist versteckter, aber da ist sie trotzdem.«

Er schlang seinen Arm um sie, spürte ihre Angst, ihre Sorge, ihren Zorn, es war fast, als könnte er ihr Herz flüstern hören, deutlich wie die Stimme des Feuers.

»Weißt du, was seltsam ist?«, fragte sie. »Selbst wenn ich es genau jetzt könnte - ich würde nicht zurückgehen. Das ist verrückt, oder? Es ist fast, als wollte ich immer hierher, an einen Ort wie diesen. Warum? Er ist schrecklich!«

»Schrecklich und schön«, sagte Farid und küsste sie. Es schmeckte gut, sie zu küssen. Viel besser als Staubfingers Feuerhonig. Viel besser als alles, was er je geschmeckt hatte. »Du kannst sowieso nicht zurück«, flüsterte er ihr zu. »Sobald wir deinen Vater befreit haben, werde ich ihm das erklären.«

»Was erklären?«

»Na, dass er dich leider hier lassen muss. Weil du jetzt zu mir gehörst und ich bei Staubfinger bleibe.«

Sie lachte und presste verlegen das Gesicht gegen seine Schulter. »Davon will Mo sicher nichts hören.«

»Na und? Sag ihm, hier heiraten die Mädchen, wenn sie so alt sind wie du.«

Sie lachte noch einmal, doch dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Vielleicht bleibt Mo ja auch«, sagte sie leise. »Vielleicht bleiben wir alle. Resa und Fenoglio. Und Elinor und Darius holen wir auch noch nach. Und dann leben wir glücklich bis an unser Lebensende.« Die Traurigkeit hatte sich zurück in ihre Stimme geschlichen. »Sie dürfen Mo nicht aufhängen, Farid!«, flüsterte sie. »Wir retten ihn, ja? Und meine

Mutter und die anderen. In den Geschichten ist es doch auch immer so: Es passieren schlimme Sachen, aber dann geht alles gut aus. Und das hier ist eine Geschichte.«

»Sicher!«, sagte Farid, auch wenn er sich dieses gute Ende beim besten Willen noch nicht vorstellen konnte. Glücklich war er trotzdem.

Irgendwann schlief Meggie neben ihm ein. Und er saß da und bewachte sie - sie und Staubfinger, die ganze Nacht hindurch. Die beste aller Nächte.



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