»Gut, dann wäre das ja beschlossen«, sagte eine Stimme am anderen Ende
des Kerkers ungeduldig. Sie gehörte dem Schniffkobold, der immer noch
gefesselt war. Twig hatte ihn ganz vergessen.
»Kann dann bitte jemand auch mir die Fesseln aufschließen?«
Paul Stewart, Twig im Auge des Sturms
Die Fenster des Gasthauses leuchteten Staubfinger wie schmutzig gelbe Augen entgegen, als er sich über die Straße schlich. Schleicher sprang ihm voran, kaum mehr als ein Schatten in der Dunkelheit. Die Nacht war mondlos, und auf dem Hof und zwischen den Ställen war es so dunkel, dass auch sein narbiges Gesicht wohl kaum mehr als ein blasser Fleck sein würde.
Vor dem Stall, in den sie die Gefangenen gesperrt hatten, standen Wachen, gleich vier, aber sie bemerkten ihn nicht. Gelangweilt starrten sie in die Nacht, die Hände an den Schwertern, und blickten immer wieder begehrlich zu den erleuchteten Fenstern hinüber. Aus dem Gasthaus drangen Stimmen, laute, betrunkene Stimmen - und dann ein paar wohlgezupfte Lautenklänge, gefolgt von seltsam gepresstem Gesang. Ah, der Pfeifer war also auch aus Ombra zurück und gab eins seiner Lieder zum Besten, trunken von Blut und dem Rausch des Tötens. Dass die Silbernase hier war, war ein Grund mehr, unsichtbar zu bleiben. Meggie und Farid warteten wie verabredet hinter den Ställen, aber sie stritten sich, so laut, dass Staubfinger hinter den Jungen trat und ihm die Hand auf den Mund presste. »Was soll das?«, zischte er ihm ärgerlich zu. »Wollt ihr, dass sie euch zu den anderen stecken?«
Meggie senkte den Kopf. Sie hatte schon wieder Tränen in den Augen.
»Sie will in den Stall!«, flüsterte Farid. »Sie denkt, sie schlafen alle! Als ob - «
Staubfinger presste ihm erneut die Hand auf den Mund. Stimmen klangen über den Hof. Offenbar hatte jemand den Wachen vorm Stall etwas zu essen gebracht. »Wo ist der Schwarze Prinz?«, flüsterte er, als es wieder still war.
»Bei seinem Bären, zwischen dem Back- und dem Haupthaus. Sag ihr, sie kann nicht in den Stall! Mindestens fünfzehn Soldaten sind dadrin.«
»Wie viele sind beim Prinzen?«
»Drei.«
Drei. Staubfinger sah zum Himmel hinauf. Kein Mond. Er verbarg sich hinter den Wolken und die Dunkelheit war schwarz wie ein Mantel. »Willst du ihn befreien? Drei sind nicht viel!« Farids Stimme klang aufgeregt. Keine Spur von Angst. Irgendwann würde sie ihn noch umbringen, diese Furchtlosigkeit. »Wir schneiden ihnen die Kehlen durch, bevor sie einen Laut von sich geben. Das wird ganz leicht.« Er sagte oft solche Dinge. Staubfinger fragte sich immer wieder, ob er nur von ihnen sprach oder sie tatsächlich schon getan hatte.
»Himmel, bist du ein abgebrühter Kerl!«, sagte er leise. »Aber ich bin nicht gut im Kehledurchschneiden, das weißt du genau. Wie viele Gefangene sind es?«
»Elf Frauen, drei Kinder, neun Männer, Zauberzunge nicht mitgerechnet!«
»Wie geht es ihm?« Staubfinger blickte Meggie an. »Hast du ihn gesehen? Kann er laufen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und deine Mutter?«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. Sie mochte es nicht, wenn er von Resa sprach.
»Nun sag schon, geht es ihr gut?«
»Ich glaub schon!« Sie presste eine Hand gegen die Stallmauer, als könnte sie ihre Eltern dahinter spüren. »Aber ich konnte nicht mit ihr sprechen. Bitte!« Wie flehend sie ihn ansah. »Bestimmt schlafen alle. Ich werd ganz vorsichtig sein!«
Farid warf einen verzweifelten Blick hinauf zu den Sternen, als müssten sie über so viel Unvernunft ihr ewiges Schweigen brechen.
»Die Wachen werden nicht schlafen«, sagte Staubfinger. »Also lass dir eine gute Lüge für sie einfallen. Hast du was zu schreiben?«
Meggie sah ihn ungläubig an, mit den Augen ihrer Mutter. Dann griff sie in den Beutel, den sie bei sich trug. »Ich hab Papier dabei«, flüsterte sie, während sie hastig eine Seite aus einem kleinen Buch riss. »Und einen Stift auch!« Wie die Mutter, so die Tochter. Immer etwas zu schreiben dabei.
»Du lässt sie gehen?« Farid sah ihn entgeistert an.
»Ja! «
Meggie blickte ihn erwartungsvoll an.
»Schreib: Morgen wird auf der Straße, die sie nehmen werden, ein umgestürzter Baum liegen. Wenn er Feuer fängt, sollen alle, die kräftig und jung genug sind, nach links in den Wald rennen. Links, das ist wichtig! Schreib: Wir werden auf sie warten und sie verstecken. Hast du das?«
Meggie nickte. Ihr Stift hastete über das Papier. Er konnte nur hoffen, dass Resa die winzige Schrift in dem dunklen Stall würde entziffern können, denn er würde nicht da sein, um ihr Feuer zu machen.
»Hast du dir überlegt, was du den Wachen erzählst?«, fragte er.
Meggie nickte. Für einen Moment sah sie fast wieder so aus wie das kleine Mädchen, dass sie vor mehr als einem Jahr noch gewesen war, und Staubfinger fragte sich, ob es nicht doch ein Fehler war, sie gehen zu lassen, aber bevor er es sich anders überlegen konnte, war sie schon fort. Mit schnellen Schritten lief sie über den Hof und verschwand im Gasthaus. Als sie wieder herauskam, hielt sie einen Krug in der Hand.
»Bitte! Das Moosweibchen schickt mich!«, hörten sie sie mit klarer Stimme zu den Wachen sagen. »Ich soll den Kindern Milch bringen.«
»Sieh nur. Klug wie ein Schakal ist sie!«, flüsterte Farid, als die Wachen zur Seite traten. »Und mutig wie eine Löwin.« Es klang so viel Bewunderung aus seiner Stimme, dass Staubfinger lächeln musste. Der Junge war wirklich verliebt.
»Ja, vermutlich ist sie klüger als wir beide zusammen«, raunte er ihm zu. »Mutiger ist sie auf jeden Fall, zumindest, was mich betrifft.«
Farid nickte nur. Er starrte auf die offene Stalltür - und lächelte erleichtert, als Meggie wieder heraustrat.
»Hast du gesehen?«, flüsterte sie ihm zu, als sie erneut neben Farid stand. »Es war ganz leicht.«
»Gut!«, sagte Staubfinger und winkte Farid an seine Seite. »Dann drück uns die Daumen, dass das, was wir jetzt zu erledigen haben, ebenso leicht wird. Wie sieht es aus, Farid? Hast du Lust, etwas mit dem Feuer zu spielen?«
Der Junge erledigte seine Aufgabe mit ebensolcher Kaltblütigkeit wie Meggie. Scheinbar selbstvergessen, aber gut sichtbar für die Männer, die den Prinzen bewachten, begann er das Feuer tanzen zu lassen, so unbefangen, als stünde er auf irgendeinem friedlichen Markplatz und nicht vor einem Gasthaus, in dem der Brandfuchs und der Pfeifer saßen. Die Wachen stießen sich an, lachten, dankbar für die Abwechslung in dieser schlaflosen Nacht. Scheint, ich bin hier der Einzige, dem das Herz bis zum Hals schlägt, dachte Staubfinger, während er sich an stinkenden Schlachtabfällen und faulendem Gemüse vorbeischlich. Offenbar warfen die Köche des fetten Wirtes all das, was sie ihren Gästen nicht auftischen konnten, einfach hinters Haus. Ein paar Ratten huschten davon, als sie Staubfingers Schritte hörten, und zwischen den Büschen leuchteten die hungrigen Augen eines Kobolds.
Man hatte den Prinzen gleich neben einem Berg von Knochen angebunden und seinen Bären gerade so weit entfernt davon, dass er die Knochen nicht erreichen konnte. Angekettet hockte er da, schnaufte unglücklich durch die zugebundene Schnauze und ließ ab und zu ein jämmerlich dumpfes Heulen hören.
Die Wachen hatten nicht weit entfernt eine Fackel in den Boden gerammt, aber die Flamme erlosch sofort, als der Wind Staubfingers leise Stimme zu ihr trug. Nichts als ein Glühen blieb von ihr - und der Schwarze Prinz hob den Kopf. Er begriff sofort, wer im Dunkeln herumschleichen musste, wenn das Feuer so plötzlich schläfrig wurde. Noch ein paar schnelle, lautlose Schritte, und Staubfinger duckte sich hinter den pelzigen Rücken des Bären.
»Der Junge ist wirklich gut!«, flüsterte der Prinz, ohne sich umzudrehen. Für die Stricke, die ihn hielten, reichte ein scharfes Messer.
»O ja, er ist sehr gut. Und er hat vor nichts Angst, im Gegensatz zu mir.« Staubfinger untersuchte die Schlösser an den Ketten des Bären. Rostig waren sie, doch nicht sonderlich schwer zu öffnen. »Was hältst du von einem Ausflug in den Wald? Aber der Bär muss leise sein, leise wie eine Eule. Kann er das?« Er duckte sich, als einer der Wachen sich umdrehte, doch er hatte offenbar nur die Magd gehört, die aus der Küche trat, um einen Eimer Abfälle hinters Haus zu kippen. Mit einem neugierigen Blick auf den gefesselten Prinzen verschwand sie wieder - und nahm den Lärm mit sich, der aus der Tür gedrungen war.
»Was ist mit den anderen?«
»Vier Wachen vor dem Stall, noch mal vier, die der Brandfuchs nur für Zauberzunge abgestellt hat, und bestimmt zehn weitere, die die übrigen Gefangenen bewachen. Unwahrscheinlich, dass wir die alle ablenken können, schon gar nicht lange genug, um Verwundete und Krüppel in Sicherheit zu bringen.«
»Zauberzunge?«
»Ja. Der Mann, den sie bei euch gesucht haben. Wie nennst du ihn?« Ein Schloss sprang auf. Der Bär brummte. Vielleicht machte ihn Schleicher unruhig. Besser, die zweite Kette blieb noch fest, sonst würde er den Marder womöglich fressen. Staubfinger machte sich ans Zerschneiden der Stricke, mit denen der Schwarze Prinz gefesselt war. Er musste sich beeilen, sie mussten fort sein, bevor Farid die Arme schwer wurden. Das zweite Schloss klickte. Noch ein schneller Blick zu dem Jungen. Beim Feuer der Elfen!, dachte Staubfinger. Er wirft die Fackeln inzwischen fast so hoch wie ich! Doch als der Prinz gerade die Fesseln abstreifte, stapfte ein fetter Mann auf Farid zu, hinter sich eine Magd und einen Soldaten. Er schrie den Jungen an, wies empört auf die Flammen. Farid lächelte nur, tänzelte zurück, während Gwin ihm um die Beine sprang, und jonglierte weiter mit den brennenden Fackeln. O ja, er war ebenso klug wie Meggie! Staubfinger winkte den Prinzen mit sich. Der Bär tappte hinterher, auf allen vieren, der leisen Stimme seines Herrn folgend. Leider war er wirklich nur ein Bär und kein Nachtmahr. Dem hätte man nicht erklären müssen, dass er still sein musste. Aber wenigstens war er schwarz, schwarz wie sein Herr, und die Nacht schluckte sie, als wären sie ein Teil von ihr.
»Wir treffen uns unten an der Straße, bei dem umgestürzten Baum!« Der Prinz nickte und verschmolz mit der Nacht. Staubfinger aber machte sich auf die Suche nach dem Jungen und Resas Tochter. Auf dem Hof schrien die Soldaten durcheinander, die Flucht des Schwarzen Prinzen und seines Bären war entdeckt worden. Selbst der Pfeifer war aus dem Haus gekommen. Aber weder Farid noch das Mädchen konnte Staubfinger entdecken.
Die Soldaten begannen, mit Fackeln den Waldrand und den Hang hinterm Haus abzusuchen. Staubfinger flüsterte in die Nacht, bis das Feuer schläfrig wurde und eine Fackel nach der anderen erlosch, als hätte der schwache Wind sie ausgeblasen. Beunruhigt blieben die Männer auf der Straße stehen, sahen sich um, die Augen voll Angst - Angst vor der Dunkelheit, Angst vor dem Bären und all dem, was sonst noch nachts im Wald umherstrich.
Bis dorthin, wo der umgestürzte Baum die Straße blockier-te, traute sich keiner von ihnen. Der Wald und die Hügel waren dort so still, als hätte nie ein Mensch sie betreten. Gwin hockte auf dem Baumstamm und Farid und Meggie warteten auf der anderen Seite unter den Bäumen. Der Junge hatte eine blutige Lippe und das Mädchen hatte den Kopf müde gegen seine Schulter gelegt. Verlegen richtete sie sich auf, als Staubfinger vor ihnen auftauchte.
»Ist er frei?«, fragte Farid.
Staubfinger legte ihm die Hand unters Kinn und sah sich die zerschlagene Lippe an. »Ja. Was immer morgen passiert, der Prinz und sein Bär werden uns helfen. Wie ist das passiert?« Die beiden Marder huschten an ihm vorbei und verschwanden Seite an Seite im Wald.
»Ach, das ist nichts. Einer von den Soldaten wollte mich festhalten, aber ich bin ihm entwischt. Nun sag schon! War ich gut?« Als ob er die Antwort nicht wusste.
»So gut, dass ich mir langsam Sorgen mache. Wenn du so weitermachst, werd ich bald aus dem Geschäft sein.«
Farid lächelte.
Wie traurig Meggie dagegen aussah. Sie sah ebenso verloren aus wie das Kind, das sie in dem geplünderten Lager gefunden hatten. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, wie es in ihr aussah, auch wenn man seine Eltern, wie er, nie gekannt hatte. Gaukler, Spielfrauen, ein herumziehender Bader. Staubfinger hatte viele Eltern gehabt. wer sich beim Bunten Volk eben gerade um die Kinder kümmerte, die irgendwie übrig geblieben waren. Na los, sag irgendwas zu ihr, Staubfinger, irgendetwas!, dachte er. Ihrer Mutter hast du doch auch so manches Mal die Traurigkeit vertrieben. Wenn auch meist nur für kurze Zeit. gestohlene Zeit.
»Hör zu.« Er ging vor Meggie in die Knie, sah sie an. »Wenn wir morgen tatsächlich einige frei bekommen, wird der Schwarze Prinz sie in Sicherheit bringen - aber wir drei folgen den anderen.«
Sie blickte ihn so misstrauisch an, als wäre er ein brüchiges Seil, auf das sie den Fuß setzen sollte - hoch in der Luft.
»Warum?«, fragte sie leise. Wenn sie leise sprach, ahnte man nichts von der Kraft, die ihre Stimme entfalten konnte. »Warum willst du ihnen helfen?« Sie sprach es nicht aus: Beim letzten Mal hast du es doch auch nicht getan. Damals, in Capricorns Dorf.
Was sollte er darauf antworten? Dass es leichter war, in einer fremden Welt nur zuzuschauen als in der eigenen?
»Sagen wir, vielleicht habe ich etwas gutzumachen?«, sagte er schließlich. Er wusste, dass er ihr nicht erklären musste, was er meinte. Sie erinnerten sich beide an die Nacht, in der er sie an Capricorn verraten hatte. Und noch etwas, hätte er fast hinzugefügt: Ich finde, deine Mutter ist lange genug eine Gefangene gewesen. Aber die Worte sprach er nicht aus. Er wusste, dass sie Meggie nicht gefallen hätten.
Eine gute Stunde später stieß der Prinz zu ihnen, unverletzt, mit seinem Bären.