Ein Brief von Fenoglio



Es gibt also eine Welt, deren unabhängiges Schicksal ich bestimme?

Eine Zeit, die ich mit Ketten von Zeichen binde? Eine Existenz, die beständig ist durch meine Verfügung?

Wislawa Szymborska, Freude am Schreiben


Staubfinger schlief, als Roxane kam. Draußen war es schon dunkel. Farid und Meggie waren an den Strand gegangen, aber er hatte sich hingelegt, weil sein Bein schmerzte. Als er Roxa-ne in der Tür stehen sah, dachte er zuerst, seine Phantasie würde ihm einen Streich spielen, wie sie es bei Nacht so gerne tat. Schließlich war er vor langer Zeit schon einmal mit ihr hier gewesen. Die Kammer damals hatte fast genauso ausgesehen, und er hatte auf genau so einem Strohsack gelegen, das Gesicht zerschnitten und verklebt vom eigenen Blut.

Roxane trug das Haar offen. Vielleicht brachte sie deshalb die Erinnerung zurück an jene andere Nacht. Sein Herz begann immer noch zu stolpern, wenn er nur daran dachte. Rasend vor Schmerz und Angst war er gewesen, hatte sich verkrochen wie ein verwundetes Tier, bis Roxane ihn gefunden und hierher gebracht hatte. Der Schleierkauz hatte ihn zuerst kaum erkannt. Er hatte ihm etwas eingeflößt, das ihn schlafen ließ, und als er wieder erwacht war, hatte Roxane in der Tür gestanden, genau wie sie es jetzt tat. In den Wald war sie mit ihm gegangen, als die Schnitte trotz der Kunst des Baders nicht hatten heilen wollen, tiefer und tiefer hinein zu den Feen - und war bei ihm geblieben, bis sein Gesicht so weit verheilt war, dass er sich wieder unter Menschen traute. Es gab wohl nicht viele Männer, denen man die Liebe zu einer Frau mit einem Messer ins Gesicht geschrieben hatte.

Aber wie begrüßte er sie, als sie plötzlich dastand?

»Was machst du hier?«, fragte er. Die Zunge hätte er sich abbeißen können. Warum sagte er nicht, dass er sie vermisst hatte, so sehr, dass er ein Dutzend Mal fast umgekehrt wäre?

»Ja, was mache ich hier?«, fragte Roxane zurück. Früher hätte sie ihm für die Frage den Rücken zugekehrt, aber nun lächelte sie nur, so spöttisch, dass er verlegen wie ein Junge wurde.

»Wo hast du Jehan gelassen?«

»Bei einer Freundin.« Sie küsste ihn. »Was ist mit deinem Bein? Fenoglio hat mir schon gesagt, dass du verwundet bist.«

»Es wird schon besser. Was hast du mit Fenoglio zu schaffen?«

»Du magst ihn nicht. Warum?« Roxane strich ihm übers Gesicht.

Wie schön sie aussah. So schön.

»Sagen wir, er hatte Pläne für mich, die ich gar nicht mochte. Hat der Alte dir zufällig etwas für Meggie mitgegeben? Einen Brief vielleicht?«

Wortlos zog sie ihn unter dem Umhang hervor. Da waren sie, die Worte - Worte, die Wahrheit werden wollten. Roxane hielt ihm das versiegelte Pergament hin, aber Staubfinger schüttelte den Kopf. »Den gibst du besser Meggie«, sagte er. »Sie ist am Strand.«

Verwundert sah Roxane ihn an. »Du siehst fast so aus, als hättest du Angst vor einem Stück Pergament.«

»Ja«, sagte Staubfinger und griff nach ihrer Hand. »Ja, das habe ich wohl. Vor allem, wenn Fenoglio es beschrieben hat. Komm, lass uns Meggie suchen.«

Meggie schenkte Roxane ein verlegenes Lächeln, als sie ihr den Brief reichte, und sah für einen Moment neugierig von ihr zu Staubfinger, doch dann hatte sie nur noch Augen für Fenoglios Brief. Sie brach das Siegel so hastig, dass sie das Pergament fast einriss. Es waren drei Bögen, dicht beschrieben.

Der erste war ein Brief an sie, Meggie schob ihn achtlos unter ihren Gürtel, nachdem sie ihn gelesen hatte. Die Worte, auf die sie so sehnsüchtig gewartet hatte, füllten die anderen beiden Bögen. Meggies Augen wanderten so schnell über die Zeilen, dass Staubfinger kaum glauben konnte, dass sie wirklich las. Schließlich hob sie den Kopf, blickte hinauf zur Nachtburg -und lächelte.

»Nun, was schreibt der alte Teufel?«, fragte Staubfinger.

Meggie hielt ihm die beiden Bögen hin. »Es ist anders, als ich erwartet hatte. Ganz anders, aber es ist gut. Hier, sieh selbst.«

Zögernd nahm er das Pergament entgegen, mit spitzen Fingern, als könnte er sich daran leichter als an einer Flamme verbrennen.

»Seit wann kannst du lesen?« Roxanes Stimme klang so überrascht, dass er lächeln musste.

»Meggies Mutter hat es mir beigebracht.« Dummkopf. Wieso erzählte er ihr das? Roxane warf Meggie einen langen Blick zu, während er sich abmühte, Fenoglios Schrift zu entziffern. Resa hatte meist in Druckbuchstaben geschrieben, um es ihm leichter zu machen.

»Es könnte gehen, nicht wahr?« Meggie blickte ihm über die Schulter.

Das Meer rauschte, als würde es ihr zustimmen. Ja, vielleicht würde es so tatsächlich gehen. Staubfinger folgte den Buchstaben wie einem gefährlichen Pfad. Aber es war ein Pfad, und er führte mitten hinein in das Herz des Natternkopfes. Die Rolle, die der Alte Meggie dabei zugedacht hatte, gefiel Staubfinger allerdings gar nicht. Schließlich hatte ihre Mutter ihn gebeten, auf sie aufzupassen.

Farid blickte mit unglücklichem Gesicht auf die Buchstaben. Er konnte immer noch nicht lesen. Manchmal hatte Staubfinger das Gefühl, dass er die winzigen schwarzen Zeichen der Hexerei verdächtigte. Was sollte er auch sonst über sie denken, nach all dem, was er erlebt hatte?

»Nun erzählt schon!« Ungeduldig trat Farid von einem Fuß

auf den anderen. »Was schreibt er?«

»Meggie wird auf die Burg müssen. Geradewegs in den Bau der Natter.«

»Was?« Entgeistert starrte der Junge erst ihn und dann das Mädchen an. »Aber das geht nicht!« Er fasste Meggie an den Schultern, drehte sie unsanft zu sich herum. »Du kannst nicht dorthin. Das ist viel zu gefährlich!«

Armer Kerl. Natürlich würde sie gehen. »Fenoglio hat es so geschrieben«, sagte sie und schob Farids Hände von ihren Schultern.

»Nun lass sie schon«, sagte Staubfinger und gab Meggie die Bögen zurück. »Wann willst du es lesen?«

»Jetzt gleich.«

Natürlich. Sie wollte keine Zeit verlieren. Warum auch? Je eher die Geschichte eine neue Wendung nahm, desto besser. Schlimmer konnte es kaum werden. Oder?

»Was bedeutet das alles?« Roxane blickte sie ratlos an, einen nach dem anderen. Farid musterte sie am wenigsten freundlich, sie mochte ihn immer noch nicht. Vermutlich würde sich das erst ändern, wenn irgendetwas sie davon überzeugte, dass er nicht Staubfingers Sohn war. »Erklärt es mir!«, sagte sie. »Fenoglio hat behauptet, dieser Brief könnte ihre Eltern retten. Was kann ein Brief für jemanden tun, der im Kerker der Nachtburg steckt?«

Staubfinger strich ihr das Haar zurück. Es gefiel ihm, dass sie es wieder offen trug. »Hör zu!«, sagte er. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber wenn etwas die Kerkertüren der Nachtburg öffnen kann, dann die Worte in diesem Brief - und Meggies Zunge. Sie kann Tinte zum Atmen bringen, Roxane, so wie du es mit einem Lied vermagst. Ihr Vater besitzt dieselbe Gabe. Wüsste der Natternkopf davon, dann hätte er ihn vermutlich längst aufgehängt. Die Worte, mit denen Meggies Vater Capricorn getötet hat, sahen ebenso harmlos aus wie diese.«

Wie sie ihn ansah! Genauso ungläubig, wie sie es früher getan hatte, wenn er ihr wieder einmal versucht hatte zu erklä-ren, wo er wochenlang gewesen war.

»Du sprichst von Zauberei!«, flüsterte sie.

»Nein. Ich spreche vom Vorlesen.«

Natürlich verstand sie kein Wort. Wie auch? Vielleicht würde sie es tun, wenn sie Meggie lesen hörte, wenn sie die Worte plötzlich in der Luft zittern sah, sie riechen und auf der Haut spüren konnte.

»Ich möchte allein sein, wenn ich lese«, sagte Meggie und sah Farid dabei an. Dann drehte sie sich um und ging zum Siechenhaus zurück, Fenoglios Brief in der Hand. Farid wollte ihr nach, aber Staubfinger hielt ihn fest.

»Lass sie!«, sagte er. »Denkst du, sie wird zwischen den Worten verschwinden? Das ist Unsinn. Wir stecken ohnehin alle bis zum Hals in der Geschichte, die sie lesen wird. Sie will nur dafür sorgen, dass der Wind sich dreht, und das wird er -wenn der Alte ihr die richtigen Worte geschrieben hat!«



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