Kapitel 9

Obadiah Strang

Ein uralter Friedhof umgab die Kirche. Der Hang war so steil, dass sich keine Graböffnung ausheben ließ, ohne dass die eine Seite des Grabes höher lag als die andere. Glücklicherweise verrichtete Obadiah, der Totengräber, seine Arbeit sehr gewissenhaft und gab sich große Mühe, damit der Boden eines jeden Grabes schön eben war und die arme tote Seele im Sarg in Frieden auf dem Rücken liegen konnte und nicht etwa auf die Seite rollte. Bei Beerdigungen waren die Trauernden in ständiger Bewegung und traten von einem Fuß auf den anderen, um aufrecht stehen zu bleiben. Nur die Bergziegen, die ab und zu über den Friedhof wanderten, bewegten sich hier sichtlich ohne Mühe: Sie besitzen ganz einfach die Fähigkeit, sich bei jeder Steigung im Gleichgewicht zu halten. Offenbar fühlten sie sich auf dem Friedhof wie zu Hause.

Dicht gefolgt von Ludlow trat Joe durch das rostige Tor und blieb stehen, um zu lauschen. Der Wind trug das rhythmische Geräusch einer grabenden Schaufel heran, und als er zwischen den Grabsteinen hangabwärts blickte, sah er Obadiah Strang beim Ausheben einer frischen Grube.

Obadiah, der schon als Kind bucklig gewesen war, hatte endlich das Alter erreicht, das ein gekrümmter Rücken normalerweise vermuten lässt. Man sah dem Mann an, dass er seinen Lebensunterhalt mit dem Schaufeln von Löchern verdiente, und im Lauf der Jahre hatte sich die Form seiner Hände dem Schaufelgriff angepasst. Kleine Gegenstände aufzunehmen, bereitete ihm Probleme, doch war er schon dankbar, dass seine gekrümmten Finger noch bequem eine Flasche Bier halten konnten.

Obadiah arbeitete eine ganze Weile weiter, bevor er merkte, dass er Besuch hatte. Schließlich stieg er mithilfe einer kleinen Leiter aus der Grube und steckte seine Schaufel mit Nachdruck in den Erdhaufen. In seinen Augenbrauen klebten gefrorene Schweißtropfen, er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und hinterließ dabei einen dunklen Schmierer. Es war nicht einfach, im Winter ein zwei Meter tiefes Loch zu graben.

Joe begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck. »Ich habe Euch vor meinem Laden gesehen«, erklärte er.

»Aha«, sagte Obadiah schroff. »Ihr seid der Pfandleiher. Also, ich will Euch gleich sagen, dass Ihr mit mir kein Geschäft machen werdet. Ich besitze kaum mehr als die Kleider, in denen ich hier stehe.«

Misstrauisch sah er zu Ludlow hin, der hinter einem halb eingesunkenen Grabstein zurückgeblieben war. Dieser Junge gefiel ihm kein bisschen. Dem traute er nicht über den Weg. Überhaupt, einem Menschen, der nicht blinzelte, traute er nun mal nicht, und Ludlows Blick ging ihm schlichtweg auf die Nerven.

»Und wer ist das?«

»Mein Gehilfe«, erklärte Joe ruhig und zog Ludlow zu sich heran.

Ludlow lächelte und streckte Obadiah die Hand entgegen, wenn auch zögernd. Obadiah übersah sie.

»Gehilfe? Ihr bezahlt einen Gehilfen? Ihr Pfandleiher seid doch alle gleich. Ihr beruft euch auf eure Armut, dabei lebt ihr ganz anders.« Er griff wieder nach seiner Schaufel, doch Joe nahm ihn am Arm.

»Wartet.«

»Was wollt Ihr von mir?«, sagte Obadiah ungeduldig. »Ich habe zu tun.«

Joe blickte fest in Obadiahs müde Augen. Eigentlich wollte der Totengräber Joes Blick ausweichen, aber aus irgendeinem Grund war ihm das nicht möglich. In seinen Ohren rauschte es plötzlich, sanft wie Meereswellen an einem Kiesstrand. Er spürte, wie seine Knie zitterten, und in seinen Fingerspitzen kribbelte es. Staunend sah Ludlow, wie der ruppige alte Mann sichtlich milder wurde und sich entspannte.

»Ihr seht aus wie ein Mann, der etwas zu erzählen hat«, sagte Joe langsam. »Kommt doch heute Nacht in meinen Laden. Um Mitternacht. Niemand muss davon erfahren.«

Obadiah brachte nur mühsam eine Antwort heraus. »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht auch nicht.«

»Also, bis dahin«, erwiderte Joe, als wäre seine Einladung angenommen. Dann brach er mit einem Zwinkern den Bann, und Obadiah musste sich erst mal auf seine Schaufel stützen.

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