Kapitel 21

Stirling Oliphaunt

Die Tage vergingen, und immer mehr Dorfleute profitierten von Joes Hilfe, die nicht nur in seiner großzügigen Bezahlung für ihre verpfändeten Sachen, sondern auch in seinem mitternächtlichen Handel bestand. Obwohl niemand über die glückliche Wendung seines persönlichen Schicksals sprach, war deutlich zu spüren, dass etwas vor sich ging. Ohne Zweifel war Joe der frische Wind, den das Dorf seit Langem so dringend ersehnt hatte. Der ganze Ort schien irgendwie heller, so als hätten sogar die Häuser tief aufgeseufzt und sich dann entspannt zurückgelehnt, um das Licht hereinzulassen. Als eines Morgens für ein, zwei Minuten die Wolken aufrissen und dazwischen ein Stück blauer Himmel zu sehen war, blieben die Leute auf der Straße stehen.

»Ein Wunder«, erklärte Ruby Sourdough. Der blaue Himmel verschwand, doch dieser eine Moment hatte genügt, um zu wissen: Es gibt ihn tatsächlich.

Ob es nun ein Wunder war oder nicht, der einzige Mensch im Dorf, der zu einer solchen Feststellung berufen war, lag noch im Bett und verpasste das historische Ereignis.

Das war Stirling Oliphaunt, der Pfarrer.

Schon seit zwanzig Jahren betrachtete sich Stirling Oliphaunt jeden Morgen im Spiegel (sein Morgen begann gewöhnlich um die Mittagszeit) und beglückwünschte sich zu seinem Posten in Pagus Parvus. Eine bessere Stelle konnte sich ein Mann seines Charakters kaum wünschen – und sein Charakter war der eines faulen, oberflächlichen Menschen, dessen angeblicher Glaube an eine höhere Macht ihm ein leichtes Leben ermöglichte. Als er vor zwei Jahrzehnten ins Dorf gekommen war, war er eine Weile an der Kirchentür stehen geblieben und hatte den Blick aus seinen fettgepolsterten Augen bedächtig hangabwärts über die Häuser wandern lassen.

Auf einen solchen Ort habe ich schon lange gewartet, hatte er gedacht. Dieser Berg muss eine Steigung von vierzig Prozent haben, wenn nicht mehr.

Zu jener Zeit waren die Dorfleute noch eher dazu bereit, dem Wort Gottes zu lauschen, deshalb sah sich Stirling – sehr zu seiner Enttäuschung – gezwungen, fast acht Monate lang jeden Sonntag zu predigen. Seine monotone Stimme und die immer gleichen Themen (der Teufel, die Dunkle Seite, Hölle, Pech und Schwefel und alles, was damit zusammenhing) garantierten, dass er zu einer allmählich schwindenden Zuhörerschaft sprach. Zuletzt schwand sie auf null, ganz nach Stirlings Wunsch. Von da an verbrachte er seine Tage ruhig und beschaulich, erfreute sich an edlen Weinen und gutem Essen auf Kosten der Kirche und tat im Großen und Ganzen, was ihm gefiel – und das war wenig. Er dachte auch an Gott. Es musste einen Gott geben, denn wie sonst konnte ein Mensch mit einem so glücklichen Schicksal gesegnet sein?

Nun war Stirling mehr als leicht irritiert durch die Ereignisse der vergangenen Wochen. Von seiner erhöhten Lage oben auf dem Berg war ihm nicht entgangen, dass immer öfter immer mehr Menschen die Straße heraufkamen. Zuerst hatte er gedacht, die Leute wollten möglicherweise zu ihm und ihm einen Gottesdienst abverlangen. Als er jedoch erkannte, dass Joe Zabbidou ihr Ziel war, hatte er tief aufgeseufzt vor Erleichterung.

Stirling hatte sich an ein bequemes Leben gewöhnt, in dem es kaum Störungen und gewiss keine Forderungen von seiner Gemeinde gab. Als Jeremiah wegen des Leichenraub-Plans zu ihm gekommen war, hatte er keinen Grund gesehen, ihm im Wege zu stehen. Für diese Haltung war er reichlich mit Geschenken aus Jeremiahs Weinkeller belohnt worden. Man täusche sich aber nicht in Jeremiahs Charakter: Den größten Teil seiner Gaben trank er selbst, wenn er Stirling jeden Donnerstag besuchte.

Damals, an dem ersten Morgen, hatte Stirling Joe Zabbidou und seinen jungen Gehilfen auf dem Friedhof gesehen, aber er hatte keine Lust gehabt, die neuen Mitglieder seiner Gemeinde förmlich zu begrüßen. Polly, die nach einer Übereinkunft zwischen Stirling und Jeremiah jeden Tag heraufkam, um bei ihm zu kochen und zu putzen, hatte ihm später erzählt, dass der Hutladen einen neuen Besitzer habe.

»Einen Hutmacher?«, hatte der Pfarrer gefragt.

»Nein, einen Pfandleiher.«

»Einen Pfandleiher?«

Polly antwortete nicht. Stirling hatte nämlich den Hang, eine Erklärung in eine Frage umzuwandeln, was er immer dann äußerst hilfreich fand, wenn er keine Antworten wusste. Er hatte diese Angewohnheit in einer früheren Pfarrei angenommen. Die Leute dort waren schrecklich wissbegierig gewesen, sie liebten ein lebhaftes Gespräch über Glaubensfragen und waren der festen Überzeugung, dass auch Stirling Vergnügen daran finden müsse.

»Ein Pfandleiher?«, wiederholte er. Er überlegte kurz, wie sich das auf seine Stellung im Dorf auswirken könnte, und kam zu dem Schluss, dass es wohl für ihn persönlich folgenlos sei. Im Grunde genommen glaubte er, dass Joes Ankunft hier überhaupt niemanden groß berühren würde. Er war deshalb verblüfft von dem Ausmaß an Feindseligkeit, das Jeremiah Ratchet dem Neuankömmling gegenüber empfand.

Es war später Nachmittag. Der Pfarrer saß in einem Sessel und döste vor sich hin, da riss ihn ein Poltern an der Tür jäh aus dem Schlaf. Polly öffnete, wurde aber zur Seite gestoßen, als Jeremiah schnurstracks an ihr vorbei ins Wohnzimmer stürmte.

»Jeremiah?«, sagte Stirling. »Freut mich. Haben wir denn schon Donnerstag?«

»Es ist Dienstag, aber ich habe eine wichtige Sache mit Euch zu besprechen.«

»Geht es um Obadiah und die Leichen?«

»Nicht um Obadiah. Um diesen verdammten Pfandleiher.«

Stirling richtete sich auf.

»Mr Sebbi… oder wie ist sein Name noch mal? Ist er nicht ein harmloser Zeitgenosse?«

»Harmlos!«, sprudelte Jeremiah. »Harmlos! Der Mann ist der Teufel in Person.«

Erschöpft von seinem Ausbruch und dem steilen Weg bergauf sank Jeremiah in den Sessel dem Pfarrer gegenüber. Polly reichte ihm etwas zu trinken und goss Stirling nach, dann machte sie sich eiligst aus dem Staub. Es war nicht ratsam, sich im selben Zimmer wie die beiden aufzuhalten. Lieber lauschte sie von draußen an der Tür.

Jeremiah leerte sein Glas in einem Zug. Er griff nach der Karaffe und stellte sie neben sich auf den Kaminsims.

»Ich sag Euch, Stirling«, verkündete er, »dieser Pfandleiher ist schlecht fürs Geschäft. Besonders für mein Geschäft. Sein Schaufenster hat er vollgestellt mit der größten Sammlung an Plunder, die Ihr je gesehen habt. Und nicht nur das, er hat auch noch dafür bezahlt.«

»Wie kann das ein Problem sein?« Stirling gab sich Mühe, Interesse zu heucheln, aber er spürte einen aufkommenden Kopfschmerz und musste ein Gähnen unterdrücken.

»Seine Bezahlung liegt so weit über dem wahren Wert der Sachen, dass ich befürchte, in Kürze werden alle Leute im Dorf ihre Schulden bezahlen können.«

»Verstehe«, sagte Stirling.

»Und wenn mir die Leute nichts mehr schulden, wie soll ich dann an Geld kommen?«, fuhr Jeremiah fort. Um seinen Worten zusätzlich Nachdruck zu verleihen, beugte er sich vor und tippte Stirling mit seinem dicken Zeigefinger an die Brust. »Ihr müsst etwas tun. Es geht um meine Existenzgrundlage.«

Jetzt wurde Stirling hellwach. »Ich? Etwas tun? Was kann ich denn tun?«

»Ihr müsst diese Bauern davon überzeugen, dass Joe Zabbidou eine Ausgeburt des Teufels ist.«

»Eine Hausgeburt? Stimmt denn das?«

»Aus! Eine Ausgeburt!«, rief Jeremiah höchst verärgert. »Was hat denn die Wahrheit damit zu tun? Das ist eben Geschäft. Sie dürfen sich nicht mehr mit ihm abgeben, sonst werden sie unter Höllenqualen leiden.«

»Also, ich weiß nicht recht«, sagte Stirling vorsichtig.

»Ihr tut es und basta!«, fuhr Jeremiah ihn an.

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