Kapitel 36

Fragment aus den

Erinnerungen des Ludlow Fitch

Jeremiahs Sterbewort hatte meine Welt zertrümmert. Ich sah in seine Augen und konnte keine Lüge darin erkennen. Langsam ging ich den Berg hinauf, mein Herz war schwer wie Blei. Ich fühlte mich innerlich entzweigerissen. Die ganze Zeit hatte ich Joe für besser gehalten als alle anderen, besser, als ich je hoffen durfte, selbst zu sein. Doch am Ende war er genauso schlecht wie meine Ma und mein Pa, wenn nicht schlechter; meines Wissens hatten sie immerhin noch nie jemanden vorsätzlich umgebracht. Gut, ich hatte mir wie alle andern gewünscht, Joe möge sich gegen Jeremiah wenden. Aber nie hätte ich gedacht, dass es so ausgehen würde. Es ließ sich nicht anders sagen, Joe Zabbidou war ein Mörder.

Aber wie hatte er es getan?

Wieder und wieder ging ich in Gedanken die letzte Begegnung der beiden durch und suchte nach Hinweisen. Es war keine Waffe im Spiel gewesen, Jeremiah hatte keinerlei Verletzung. Vielleicht war er vergiftet worden. Aber wie? In dem Schnaps hätte Gift sein können. Aber sie hatten beide vom selben Schnaps getrunken. War es vielleicht im Glas gewesen?

Das war’s! Joe hatte Gift in Jeremiahs Glas getan, bevor er den Schnaps eingoss. Jeremiah hatte ihn in einem Zug ausgetrunken und das Gift – gewiss zu Joes Freude – mit einem zweiten Glas vollends hinuntergespült.

Joe saß vor dem Kaminfeuer und wartete auf mich. Er hatte ein Glas in der Hand und sah aus, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Sogar das Zimmer hatte er aufgeräumt.

»Hast du’s?«

Ich gab ihm das Buch.

»Gut gemacht. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.«

Ich wollte etwas sagen, aber ich war noch immer ganz durcheinander. Da sah ich seinen Ranzen auf dem Tisch. Er war ausgebeult und so prall gefüllt, dass sich die Nähte spannten. Daneben stand der kleine Beutel zum Zuziehen. Kalte Angst überkam mich. Endlich fand ich meine Stimme wieder.

»Ihr wollt doch nicht weggehen?«

Er hob die Hand, um mir Schweigen zu gebieten.

»Schscht«, sagte er. »Hör mal!«

Draußen ging etwas vor sich. Ich hörte Stimmengemurmel und das Knirschen von Schritten auf verharschtem Schnee. Ich schlich zur Tür des hinteren Zimmers und linste in den Laden. Gestalten in Umhängen bewegten sich auf der anderen Seite des Fensters, Gesichter wie Teufelsfratzen im Schein brennender Fackeln. Dicht zusammengedrängt bildeten sie eine unheimliche Silhouette: Obadiah Strang, daneben die kleine Gestalt von Perigoe Leafbinder und neben ihr die wuchtige von Horatio Cleaver.

»Komm raus, Joe Zabbidou!«, johlten die Schattengestalten vielstimmig. »Oder wir räuchern dich aus!«

Beim Anblick dieser dämonischen Schar wurden mir die Beine schwach, und entsetzt wankte ich zu Joe zurück. »Sie sind draußen!«, flüsterte ich. »Alle! Sie wollen uns was antun, wie Polly gesagt hat. Sie werden uns umbringen.«

Aber Joe blieb seelenruhig sitzen und nahm einen langen Schluck aus seinem Glas.

»Hab Geduld«, sagte er. »Hab Geduld.«

»Dafür ist keine Zeit«, rief ich verzweifelt und zerrte an seinem Umhang.

Er fasste mich an den Handgelenken und hielt mich auf Abstand. »Warte noch.«

»Komm raus, Joe Zabbidou, komm raus!« Die Stimmen schwollen zu einem drohenden Chor an. Dann zersprang mit Getöse die Schaufensterscheibe, Glassplitter prasselten auf den Ladentisch, und der Raum wurde erfüllt von Rauch, vom Geruch nach brennendem Öl und vom durchdringenden Knacken von Flammen. Die Leute auf der Straße traten gegen die Tür und schlugen sie mit Knüppeln ein. Der Lärm war ohrenbetäubend, der Rauch schwarz und erstickend, die Hitze nahm zu.

»Komm raus, Joe Zabbidou!«, schrien sie. »Komm raus!«

Er rührte sich immer noch nicht und hielt mich weiterhin fest. Ich wollte mich losreißen, aber sein Griff war wie ein Schraubstock. »Wollt Ihr mich auch sterben lassen?«, schrie ich, aber er hörte nicht auf mich. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und lauschte gespannt.

Inzwischen schrie ich gellend. Das abscheuliche Konzert draußen hatte sich zu fast unmenschlichen Lauten gesteigert. Dichte Rauchwolken quollen ins hintere Zimmer, sodass ich kaum mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Da drang eine Stimme aus dem Chaos. Eine kreischende Stimme, die alles andere übertönte. Pollys Stimme.

»Ratchet ist tot! Jeremiah Ratchet ist tot!«

Da ließ Joe mein Handgelenk los und hob triumphierend die Arme über seinen Kopf.

»Acta est fabula«, sagte er. »Es ist vorbei.«

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